ORTE = Be RAR ” PERS Hana » are rn 5 en je‘ we wer % Bier erh ; I, ea r er Bar ns) ri ‚raue DT Er PCRREN, ee Ir a FETT, } a # r p He PER apa 2 & De TPESREE N TER EERTUTE LEN, BEUrZE ER! en a N rag E DR # Kane EL “ = a Ei Sn 7 HE it ch e EDER LTE Dt 122 AR RN Kunde Kun, ’ ERBEN gu; = 2 R Be sa Se Er BER my = Eee le re a BEER I ee : Arie aA ee” ARE ee EI PRE aa SE e; a ER ee ET a EEE PETE ir ar r ee FT RT MATHISTT I a u 2 a! E 9 rt 5 Be ER ee Ä 3 E en = nr sn 2 AIG = ER e I VORLESUNGEN ÜBER - GESCHICHTE DER MATHEMATIK VON MORITZ CANTOR. ERSTER BAND. VON DEN ÄLTESTEN ZEITEN BIS ZUM JAHRE 1200 N. CHR. MIT 114 FIGUREN IM TEXT UND 1 LITHOGR. TAFEL. DRITTE AUFLAGE. & LEIEZIG, DRUCK UND VERLAG VON B. 6. TEUBNER. 1907. ! [2 « « ..%o « « « « =: ‘ ®-,6 « * er eig € “ « en. © KR « e tt « gie « Ei e e « « PER: , c Ce “ « < < Su oc nt; « ‘ € r « € < fi BI A « er 4 hu e 2 c e < « . « « « ALLE RECHTE, EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN. Vorwort. Als ich im Dezember 1593 der zweiten Auflage dieses 1. Bandes meiner Vorlesungen über Geschichte der Mathematik ein Vorwort zur Begleitung gab, äußerte ich mich in einer Weise, die heute Wieder- holung finden könnte. Abermals liegt ein Zwischenraum von 13 Jahren zwischen dem Erscheinen der vorigen und der neuen Auflage. Aber- mals habe ich gesucht, die Ergebnisse zu verwerten, welche neue Be- arbeiter des geschichtlichen Bodens, die sich von Jahr zu Jahr mehren, gewonnen haben oder gewonnen zu haben wähnen. Abermals spreche ich die Überzeugung aus, daß jener Boden noch lange nicht erschöpft ist, daß es immer noch offene Fragen gibt, über deren Beantwortung man uneinig sein kann, und daß es die Pflicht des gewissenhaften Geschichtschreibers ist, seine Leser auf die Streitpunkte aufmerksam zu machen. Ich hoffe dieser Pflicht genügt zu haben. Heidelberg, Dezember 1906. Moritz Cantor. 419799 AN Be Er N Einleitung I. Babylonier. Inhaltsverzeichnis. "Eh, ee a ee Seen. A En Yrsims, ME GEHN U Tre Acta Dana nase) Aula, ARE Sale Kae SE TE Fa Tr, ed a Tan nn ya ee un Re Tarsze Sara HE ET N Tee Kam Sr 3: Kanal; Die Dabyloalee , 2, 3,7; u ER RERERT E ER. ee Ber a 2. Kapitel. Die Ägypter. Atlinotläches De 3. Kapitel. Die Ägypter. Geometrisches . ...2..... BECIRRN n u 4. Kapitel. Gahinahen. Bingessoähicik Rechenbrett . . . . 5. Kapitel. Thales und die älteste griechische Geometrie . . . 6. Kapitel. Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. . . 7. Kapitel. Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie. . . 8. Kapitel. Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Schule 9. Kapitel. Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Schule. (Fortsetzung) Hippokrates von Chios . . . 2... .2.2.. ER Gr Ta 11. Kapitel. Die Akademie. Anikiotelen KERN ge a PO 12. Kapitel. Die Elemente des Euklid . . . .. 2.2.2 2 2.0. 13. Kapitel. Die übrigen Schriften des Euklid . . 14. Kapitel. Archimedes und seine geometrischen TER 15. Kapitel. Die übrigen Leistungen des Archimedes . . . . . 16. Kapitel. Eratosthenes. Apollonius von Pergä. re 17. Kapitel. Die Epigonen der großen Mathematiker . . 18. Kapitel. Heron von Alexandria . . :. 2... 2.2... SE 19. Kapitel. Heron von Alexandria (Fortsetzung) . . . ...» . 20. Kapitel. Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus . 21. Kapitel. Neupythagoräische Arithmetiker. Nikomachus. Theon 22. Kapitel. Sextus Julius Africanus. Pappus von Alexandria . 23. Kapitel. Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. . 24. Kapitel. Die griechische Mathematik in ihrer Entartung. . STE a ae a 25. Kapitel. Älteste Rechenkunst =“ Balken RN 26. Kapitel. Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agri- en en ee Or Re 27. Kapitel. Die spätere Eihernattiche Lileraker der Römer. Y.inder.. yo, 28. Kapitel. 29. Kapitel. 30. Kapitel. Eenlsikouden. "Denise Rechenkunst. .... . Höhere Rechenkunst. Algebra . .... 2... Geometrie und Trigonometrie . .. . 2... 2... ER ERRE ARR SRER Hrn ARRESL Dean FON, Seit Yen. MirEı AL re Seite 1—16 17—52 19 55—114 55 90 115—518 117 134 147 170 188 201 213 234 258 278 295 310 327 349 365 386 406 426 438 456 488 519—592 521 595 VI Inhaltsverzeichnis. Seite VOR ae 2. 661—690 31. Kapitel. Die Mathematik der Chinesen. ..... RAR 663 TR Arader 020.0 EIER . ... 691—817 32. Kapitel. Einleitendes. Arabische Übersetzer ...... 693 33. Kapitel. Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä | Alchwarımt. 720... 2, RS Bee 707 34. Kapitel. Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer. unter: den Bupden . : ... „an... ,.%7, 733 35. Kapitel. Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Alge- braiker von 950 etwa bis 1100 . . ....... Se 751 36. Kapitel. Der Niedergang der ostarabischen Mathematik. Ägyptische Mathematiker. . . 4... 2.....%.., 777 37. Kapitel. Die Mathematik der Westaraber. . ...... 792 VII. Klostergelehrsamkeit des Mittelalters ........ 819— 911 38. Kapitel. Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahr- hunderba ... „ur, ee ee 821 80° Rapitel.: Gerbert: ; u ee ta 847 40. Kapitel. Abacisten und Algorithmiker . . ....... 879 Ergänzungen und Verbesserungen .„ . . . ua «in 912— 913 MRmIntor . ; si 914— 941 Längst war der Erdball so weit erkaltet, daß auf der festge- wordenen Oberfläche Organismen sich entwickeln konnten. In Zeit- räumen, deren jeder weitaus die Spanne übertrifft, welche wir mit dem stolzen Namen der Geschichte belegen — als ob nur durch den Menschen etwas geschehen könnte! — hatten neue und neue Arten lebender Wesen sich abgelöst. Jetzt erschien der Mensch, ausge- zeichnet durch Entwicklungsfähigkeit vor allen anderen Geschöpfen, hilflos wie keines in das Leben tretend, mächtig wie keines auf dem Gipfel seiner Ausbildung. Ä Der einzelne Mensch liefert nur das verkleinerte Bild des Menschen- geschlechtes. Die Entwicklung des Menschengeistes hat in den, Völker genannten, Gesamtheiten stattgefunden, und ihre aufeinanderfolgenden Stufen zu vergleichen ist von spannender Anziehung. Eines dürfen wir freilich bei Anerkennung der Ähnlichkeit der Entwicklung des Einzelmenschen mit der des Menschengeschlechtes nicht außer Augen lassen. Das Kind lernt vom Tage seiner Geburt an durch Menschen. Das Menschengeschlecht begann damit, von ‚ niedrigeren Geschöpfen lernen zu müssen. Werden doch wohl Tiere sein Vorbild gewesen sein, aus deren Beispiel er entnahm, wie man den Durst, den Hunger stille, wie man in Höhlen Schutz suche vor der Unbill der Witterung, wie man zur Wehr sich setze gegen feind- lichen Angriff. Aber der Mensch war schwächeren Körpers als seine Lehrmeister. Ihm war nicht eine dichtere Behaarung während der kälteren Jahreszeiten gegeben. Er konnte nicht mit Händen und Zähnen des Bären oder der Hyäne Herr werden, denen er, die ihm den Aufenthalt streitig machten. Und seine Schwäche wurde seine Stärke. Er mußte denken! Er mußte erfinden, wenn er leben wollte. Er mußte von der ihm äußerlich gebotenen Erfahrung weiter schreiten. Das Tier führte ihn zum Baume der Erkenntnis, die Frucht des- selben pflückte er selbst. Mit dem Gedanken war das Bedürfnis der Mitteilung desselben erwacht, die Sprache entstand. Der Mensch lernte den Menschen verstehen, nicht nur in dem Sinne wie das Tier das Tier versteht, nicht nur, wo es den Ausdruck besonders starker Empfindungen durch Tonbildung galt, sondern wo bestimmte Ereignisse oder gar Begriffe 2 Bi [" Ba rn er etae.c or Kinleltung. zur Kenntnis des anderen gebracht werden sollten. Freilich begann die Sprachbildung nicht erst, als die Begriffsbildung abgeschlossen war. Ist doch erstere wie letztere bis auf den heutigen Tag noch im Flusse. Die beiden Tätigkeiten gingen offenbar nebeneinander einher, und selbst Begriffe, welche einer und derselben Gedanken- reihe entstammen, sind mit ihrer lautlichen Versinnlichung als zu verschiedenen Zeiten entstanden zu denken. Für das Sprachliche an dieser Behauptung ist es nicht schwer den Beweis zu führen, auch nur unter Zuziehung solcher Wörter, die dem Mathematiker von ältester und hervorragendster Wichtigkeit sind; wir meinen die Zahlwörter. Zählen, insofern damit nur das bewußte Zusammenfassen be- stimmter Einzelwesen gemeint ist, bildet, "wie scharfsinnig hervor- gehoben worden ist!), keine menschliche Eigentümlichkeit; auch die Ente zählt ihre Jungen. Diesem niedersten Standpunkte ziemlich nahe bleibt das, was von einem südafrikanischen Stamme berichtet wird?), daß während wenige weiter zählen können als zehn, dessen- ungeachtet ihre Vorstellung von der Größe einer Herde Vieh so bestimmt ist, daß nicht ein Stück daran fehlen darf, ohne daß sie es sogleich merkten. „Wenn Herden von 400 bis 500 Rindern zu Hause getrieben werden, sieht der Besitzer sie hereinkommen und weiß be- stimmt ob einige fehlen, wieviel und sogar welche. Wahrscheinlich haben sie eine Art zu zählen, bei welcher sie keine Worte brauchen und wovon sie nicht Rechenschaft zu geben wissen, oder ihr Gedächt- nis erlangt für diesen einzelnen Gegenstand durch die Übung eine so ungemeine Stärke“ Ohne nach so fernen Gegenden unseren Blick zu richten, können wir ähnliche Erfahrungen täglich an ganz kleinen Kindern machen, welche sofort wissen, wenn von Dominosteinen etwa, mit denen sie zu spielen gewohnt sind, ein einzelner fehlt, während sie sich und anderen über die Anzahl ihrer Steine noch nicht Rechen- schaft zu geben wissen. Sie kennen eben die Einzel-Individuen als einzelne, nicht als Teile einer Gesamtheit, und ihr Gedächtnis ist ı) H. Hankel, Zur Geschichte der Mathematik im Alterthum und Mittel- alter. Leipzig 1874. 8. 7. Wir zitieren dieses Buch künftig immer als Hankel. Einen ganz ähnlichen Gedanken hat (nach Kaestner, Geschichte der Mathe- matik I, 242) auch schon Pietro Bongo (oder Bungus) in seinem Werke Numerorum mysteria (1599, II. Auflage 1618) ausgesprochen. ?) Pott, Die quinäre und vigesimale Zählmethode bei Völkern aller Welttheile, Halle 1847. 8. 17. Dieses Buch zitieren wir in der ganzen Einleitung als Pott I, während Pott II die Schrift desselben Verfassers: Pott, Die Sprachverschiedenheit in Europa an den Zahlwörtern nachgewiesen, sowie die quinäre und vigesimale Zähl- methode. Halle 1868, bedeuten soll. Einleitung. 5 für die Erinnerung an Angeschautes um so treuer, je weniger andere Eindrücke es zu bewahren hat. In der Sprache drückt sich diese Individualisierung nicht selten dadurch aus, daß dieselbe Anzahl je nach den gezählten Dingen einen anderen Namen führt, wie es bei manchen ozeanischen Völkerstämmen, aber auch für Sammelwörter im Deutschen vorkommt, wenn man von einem Koppel Hunde oder, wenn deren mehrere sind, von einer Meute Hunde, von einer Herde Schafe, von einem Rudel Hirsche, von einer Flucht Tauben, von einer Kette Feldhühner, von einem Zug Schnepfen, von einem Schwarm Bienen zu reden pflegt'). Das eigentliche Zählen, das menschliche Zählen, wenn man so sagen darf, setzt voraus, daß die Gegenstände als solche gleichgültig geworden sind, daß nur das getrennte Vorhandensein unterschiedener Dinge begrifflich erfaßt, dann sprachlich bezeichnet werden soll. Es liegt darin bereits eine keineswegs unbedeutende Äußerung der Fähig- keit zu verallgemeinern, zugleich auch eine ihrer frühesten Äuße- rungen, denn die Zahlwörter gehören zu den ältesten Teilen des menschlichen Sprachschatzes. In ihnen lassen sich oft noch Ähnlich- keiten, mithin Beweise alter Stammesgemeinschaft später getrennter Völker auffinden, während kaum andere Wörter auf die gleiche Zeit eines gemeinsamen Ursprunges zurückdeuten. Und was war nun der ursprüngliche Sinn dieser ältesten, der Entstehungszeit wie dem Inhalte nach ersten Zahlwörter? Die Annahme hat gewiß viel für sich, daß sie anfänglich nicht Zahlen, sondern ganz bestimmte Gegenstände be- deuteten, sei es nun, daß man von der eigenen, von der angeredeten, von der besprochenen Persönlichkeit, also von den Wörtern: ich, du, er ausging, um aus ihnen den Urklang für: eins, zwei, drei zu ge- winnen?), sei es, daß man von Gliedmaßen seines Körpers deren Anzahl entnahm?): „Es war dem Menschen ohne Zweifel ein eben so interessantes Bewußtsein fünf Finger als zwei Hände oder zwei Augen zu haben; und das Interesse an dieser Kenntnis, welche ein- mal einer Entdeckung bedurfte, war ihm die Schöpfung eines zu deren Zählung eigens verwendbaren Ausdruckes wohl wert; von hier aus mag der Gebrauch auf andere zu zählende Dinge übertragen worden sein, zunächst auf solche, bei denen es auffallen mochte, daß sie in ebenso großer Zahl vorhanden waren, als die Hand Finger hat.“ Wir wiederholen es, solche Annahmen haben viel für sich, sie tragen ihre beste Empfehlung in sich selbst, aber leider auch ihre einzige. Die Sprachforschung hat nicht vermocht deren Bestätigung zu liefern, ) Pott I, 8. 126. °) Pott I, S. 119. ®) L. Geiger, Ursprung und Ent- wickelung der menschlichen Sprache und Vernunft. 1868. Bd. I, S. 319. 6 Einleitung. oder vielmehr jeder, der mit der Deutung der Zahlwörter sich be- faßte, hat aus ihnen diejenigen Zusammenhänge zu erkennen gewußt, welche seiner Annahme entsprachen, lauter vollgelungene Beweise, wenn man den einen hört, sich gegenseitig vernichtend, wenn man bei mehreren sich Rat holt, und dieser mehreren sind obendrein recht viele. Sind demnach die eigentlichen Fachmänner über Ursprung der ältesten einfachen Zahlwörter im Hader, so müssen wir um so mehr darauf verzichten, auf die noch keineswegs erledigten Fragen hier einzugehen. Einige Sicherheit tritt erst bei Besprechung der abgeleiteten, also jüngeren Zahlwörter hervor. Es ist leicht begreiflich, daß auch die regste Einbildungskraft, das stärkste Gedächtnis es nicht vermochten, für alle aufeinander folgenden Zahlen immer neue Wörter zu bilden, zu behalten. Man mußte mit Notwendigkeit sehr bald zu gewissen Zusammensetzungen schreiten, welchen die Entstehungsweise einer Zahl aus anderen zu- grunde liegt, welche uns aber damit auch schon einen unumstöß- lichen Beweis für die hochwichtige Tatsache liefern: daß zur Zeit, als die meisten Zahlwörter erfunden wurden, der Mensch von dem einfachsten Zählen bereits zum Rechnen vorgeschritten war. Das älteste Rechnen dürfte durch ein gewisses Anordnen ver- mittelt worden sein, sei es der Gegenstände selbst, denen zuliebe man die Rechnung anstellte, sei es anderer leichter zu handhabender Dinge. Kleine Steinchen, kleine Muscheln können die Vertretung übernommen haben, wie sie es noch heute bei manchen Völkerschaften tun, und diese Marken, diese Rechenpfennige würde man heute sagen, werden in kleinere oder größere Häufehen gebracht, in Reihen ge- lest das Zusammenzählen ebenso wie das Teilen einer gegebenen Menge wesentlich erleichtert haben. So lange man es nur mit kleinen Zahlen zu tun hatte, trug man sogar das leichteste Versinnlichungs- mittel stets bei sich: die Finger der Hände, die Zehen der Füße. Man reichte freilich unmittelbar damit nieht weit, und Völkerschaften des südlichen Afrika zeigen uns gegenwärtig noch, wie genossen- schaftliches Zusammenwirken die Schwierigkeit besiegt, mit nur zehn Fingern größere Anzahlen sich zu versinnlichen '): „Beim Aufzählen, wenn es über Hundert geht, müssen in der Regel immer drei Mann zusammen diese schwere Arbeit verrichten. Einer zählt dann an den Fingern, welche er einen nach dem andern aufhebt und damit den zu zählenden Gegenstand andeutet oder womöglich berührt, die Ein- heiten. Der zweite hebt seine Finger auf (immer mit dem kleinen ) Schrumpf in der Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesell- schaft XVI, 463. Einleitung. 7 Finger der linken Hand beginnend und fortlaufend bis zum kleinen Finger der Rechten) für die Zehner, so wie sie voll werden. Der dritte figuriert für die Hunderte.“ Die hierbei festgehaltene Ordnung der Finger mag man nun er- klären wollen, wie es auch sei!), sie findet statt und wird uns im Ver- laufe der Untersuchungen als Grundlage des sogen. Fingerreehnens noch mehr als einmal begegnen. Sie wird sogar abwechselnd mit der entgegengesetzten Ordnung benutzt, um einem einzelnen zu ermöglichen beliebig viele Gegenstände abzuzählen. Ist nämlich mit dem kleinen Finger der rechten Hand die Zehn erfüllt worden, so beginnt mit eben demselben allein aufgehoben die nächste Zehnzahl, um dieses Mal nach links sich fortzusetzen, d. h. der kleine Finger der linken Hand vollendet die Zwanzig und wird zugleich auch wieder Anfang der nächsten Zehnzahl usf. Natürlich muß bei dieser Zahlenangabe, wenn es nicht um ein allmähliches Entstehen, sondern um ein einmaliges Ausdrücken einer Zahl sich handelt, besonders an- gedeutet werden, daß und wie oft Zehn vollendet wurde, was etwa 8o geschehen kann wie bei den Zulukaffern?), die in solchem Falle beide Hände mit ausgestreckten Fingern wiederholt zusammenschlagen. Es ist wohl zu beachten, daß diese letztere Methode der Ver- sinnlichung einer Zahl, einfacher insoweit als sie nur die Hände eines einzigen beschäftigt, begrifflich weit unter jener anderen Methode steht, die unmittelbar vorher gekennzeichnet wurde und drei oder gar noch mehrere Darsteller einer Zahl erfordert. Der einzelne kommt durch die Zehnzahl der menschlichen Finger allerdings dazu, die Gruppe Zehn als eine besonders hervortretende zu erkennen, aber wie oft diese Gruppe selbst auch erzeugt werde, jede Neuerzeugung ist für ihn der anderen ebenbürtig. Ganz anders bei der Methode stufenmäßiger Darstellung durch mehrere Personen. Wie der Erste so hat der Zweite, der Dritte nur je zehn Finger, und so erscheint die Gruppierung von zehn Einern zwar zunächst, aber in gleicher Weise auch die von zehn Zehnern, von zehn Hundertern. Das schein- bar umständlichere Verfahren führt zu dem einfacheren Gedanken, zum Zahlensystem. Wenn von einem Schriftsteller?) darauf hin- gewiesen worden ist, daß die Wiederholung der Zehnzahl bis zu 10 mal 10 sich bei Erfüllung der nächsten 10 ebensowohl zu 11 mal 10 als zu 10 mal 10 und 10, in Worten ebensowohl zu elfzig als zu hundertzehn fortsetzen konnte, und daß es ein besonders glücklicher Griff war, der fast allen Völkern der Erde gelang, soweit ı) Pott II, 8. 46, aber auch S. 31 und 42. °) Pott I, 8.47. °) Hankel, 8. 10-11. 8 Einleitung. ihre Fassungskraft überhaupt bis zum Bewußtwerden bestimmter höherer Zahlen ausreicht, gerade die Wahl zu treffen, welche dem Zahlensystem seine Grundlage gab, so ist diese feine Bemerkung vielleicht dahin zu ergänzen, daß auf eine der hier erörterten nahe- stehende Weise jene glückliche Wahl eingeleitet worden sein mag. Uber die Grundzahlen solcher Zahlensysteme. werden wir so- gleich noch reden. Fürs erste halten wir daran fest, daß Zahlen- systeme eine allgemein menschliche Erfindung darstellen, in allen bekannt gewordenen Sprachen zu einer Grundlage der Bildung von bald mehr bald weniger Zahlwörtern benutzt, indem höhere Zahlen durch Vervielfältigung von niedrigeren zusammengesetzt werden und bei Benennung der Zwischenzahlen auch Hinzufügungen noch not- wendig erscheinen. Multiplikation und Addition sind also zwei Rechnungsverfahren so alt wie die Bildung der Zahl- wörter. Das Zahlensystem, welches wir in seinem Entstehen uns zu ver- gegenwärtigen suchten, wurde, sofern es auf der Grundzahl Zehn | fußte, zum Dezimalsystem, heute wie unserem Zifferrechnen so auch in unseren Maßen, Gewichten, Münzen fast der ganzen gebil- deten Erdbevölkerung unentbehrlich. Wir haben als wahrscheinlich erkannt, daß es nach der Zahl der Finger sich bildete, aber eben vermöge dieses Ursprunges war es nicht das allein mögliche. Wie man sämtliche Finger durchzählen konnte, um eine Einheit höheren Ranges zu gewinnen, so konnte man Halt machen nach den Fingern nur einer Hand, man konnte neben den Fingern der Hände die Zehen der Füße benutzen. In dem einen Falle blieb man beim Quinar- systeme, in dem anderen ging man zum Vigesimalsystem über. Ein strenges Quinarsystem würde, wie leicht ersichtlich, 5 mal 5 oder 25, 5 mal 5 mal 5 oder 125 usw. als Einheiten höheren Ranges nächst der 5 selbst besitzen müssen, welche durch einfache oder auch zusammengesetzte Namen bezeichnet mit den Namen der Zahlen 1, 2, 3, 4 sich vereinigen, um so alle zwischenliegende Zahlen zu benennen. Ein solches strenges Quinarsystem gibt es nicht!). Dagegen gibt es Quinarsysteme in beschränkterem Sinne des Wortes, wenn zur Benutzung dieses Wortes schon der Umstand als genügend erachtet wird, daß die Fünf bei allmählicher Zahlenbildung einen Ruhe- punkt gewähre, von dem aus eine weitere Zählung wieder anhebt. Was dementsprechend von einem strengen Vigesimalsysteme zu verlangen ist, leuchtet gleichfalls ein: ein solches muß die Grund- zahl 20 durchhören lassen, muß die Einheit höheren Ranges 20 mal 1) Pott II, S. 35 und 46 in den Anmerkungen. Einleitung. 9 20 oder 400, vielleicht auch noch höhere Einheiten unter besonderen Namen besitzen. Sprachen, in welchen dieses System maßgebend ist, hat man mehrfach gefunden. Die Mayas in Yukatan!) haben eigene Wörter für 20, 400, 8000, 160000. Die Azteken in Mexiko?) hatten wenigstens besondere Wörter für 20, 400, 8000 mit der Ur- bedeutung: das Gezählte, das Haar, der Beutel, wobei auffallend er- scheinen mag, daß das Haar eine verhältnismäßig niedrige Zahlen- bedeutung hat, während es in karaibischen Sprachen ?) weit überein- stimmender mit der Wirklichkeit eine sehr große Zahl auszudrücken bestimmt ist. Noch andere Beispiele eines bemerkbaren mehr oder minder durchgeführten Vigesimalsystems hat vornehmlich Pott, dem wir hier fast durchweg folgen, in Fülle gesammelt. Wir erwähnen davon nur als den meisten unserer Leser zweifellos bekannt die Überreste eines keltischen Vigesimalsystems in der französischen Sprache in Wörtern wie quatrevingts, sixvingts, quinzevingts*). Von dänischen Überresten eines Systems, in welchem Vielfache von 20 eine Rolle spielen, ist weiter unten in etwas anderem Zusammenhange die Rede. Den Ursprung der drei Systeme, deren Grundzahlen 5, 10, 20 heißen, haben wir oben in die Finger und Zehen des Menschen ver- legt. Auch dafür sind sprachliche Anklänge vorhanden. Zwischen den Wörtern für 5 und für Hand ist in manchen Sprachen völlige Gleichheit, in anderen nahe Verwandtschaft?). Alsdann darf man aber wohl annehmen, daß es früher wünschenswert war die Glieder des eigenen Körpers zu benennen, als Zahlwörter zu bilden, daß also 5 von Hand abgeleitet wurde, nicht umgekehrt. Das Wort für 10 heißt in der Korasprache®) (einem amerikanischen Idiome) so viel wie Darreichung der Hände, und daß ein und dasselbe Wort 20 und Mensch bedeutet kommt mehrfach vor”). Ob freilich, wie manche wollen, auch das deutsche zehn mit den Zehen, das lateinische decem mit digiti in Verbindung gebracht werden darf, darüber gehen die Meinungen weit auseinander, und Pott, unser Gewährsmann, steht auf der Seite der Verneinenden. Jedenfalls ist aber schon durch die erwähnten Beispiele ein innerer Zusammenhang der drei genannten Systeme untereinander und mit den menschlichen Extremitäten hin- länglich unterstützt. Gibt es nun Sprachen, in welchen auch andere Grundzahlen als 5, 10 oder 20 sich nachweisen lassen? .B Pott IL 8.98. ®) Pott], 8.97—98. ®) Pott I, 8.68. *) Pott], 8.88. 5) Pott I, S. 27 figg. und 8. 128 flgg. führt Beispiele aus ozeanischen Sprachen, aus dem Sanskrit und dem Hebräischen an, wenn er auch den letzteren gegen- über, die von Benary und Ewald herrühren, sich ziemlich skeptisch verhält. = Pott, 8 90.: 9, Poth L. 8:92: 10 Einleitung. Wenn man gesagt hat'), daß kein Volk auf der ganzen Erde je von einer anderen Grundzahl, als einer der genannten aus, sein Zahlensystem mit einiger Konsequenz ausgebildet habe, so ist dieser Ausspruch entschieden allzu verneinend, selbst wenn man einen be- sonderen Nachdruck auf.das Wort Konsequenz legt, dem gegenüber die Frage erhoben werden möchte, wo denn folgerichtige Anwendung des Quinarsystems sich finde? Allerdings hat man einige Gattungen von Gaklansyeleiien nur mit Unrecht nachweisen zu können geglaubt. Falsch war es, wenn Leibniz bei den Chinesen ein Binarsystem annahm ?). Falsch scheint Kohl den Osseten im Kaukasus ein Oktodezimalsystem zugeschrieben zu haben?). Dagegen sind andere Angaben doch zu wohl beglaubigt, um sie ohne weiteres leugnen oder totschweigen zu dürfen. Die Neuseeländer mit ihrem merkwürdigen Undezimalsysteme *), welches besondere Wörter für 11, für 11 mal 11 oder 121, für 11 mal 11 mal 11 oder 1331 besitzt, welches 12 durch 11 mit 1, 13 durch 11 mit 2, 22 durch 2 mal 11, 33 durch 3 mal 11 usw. ausdrückt, lassen ° sich nicht vornehm beiseite schieben. Ob der Zeitraum von 110 Jahren, nach welchen, wie Horaz im 21. und 22. Verse seines (armen saeculare berichtet, die römische Erinnerungsfeier wiederkehrte, der man den Namen der saecularen beilegte, mit einer Vermengung dezi- maler und undezimaler Zählweise zusammenhängt, bleibe dahingestellt. Das Wort triouech oder 3 mal 6 für 18 in der Sprache der Nieder- bretagner ist neben dem: deunaw oder 2 mal 9 der Welschen’) für eben dieselbe Zahl nun einmal vorhanden. Die Bolaner oder Bura- maner an der Westküste Afrikas ®) lassen, wenn sie 6 und 1 für 7, wenn sie 2 mal 6 für 12, wenn sie 4 mal 6 für 24 sagen, die Grund- zahl 6 gleichfalls durchhören. Einige assyrische Zahlwörter (7 und 3), auf welche wir im 1. Kapitel zurückkommen werden, zeigen dieselbe Abhängigkeit von 6. Und wenn der Altfriese 120 mit dem Worte tolftich benannte ”), so ist das sogar ein Hinweis darauf, daß auch das vorhin als menschlichem Geiste im allgemeinen fremdverpönte elfzig seine Analogien besitzt, ist es zugleich ein Beispiel für ein eigentümlich gemischtes System mit Dezimal- und Duodezimalstufen wie Skandinaven und Angelsachsen es teilweise besaßen), wie eine verhältnismäßig spätere Wissenschaft es in Babylon einbürgerte, von wo es als Sexagesimalsystem das astronomische Rechnen aller ı) Hankel, 8.19. °) M. Cantor, Mathematische Beiträge zum Kultur- leben der Völker. Halle 1863. 8. 48flgg., auch S. 44. Wir zitieren dieses Buch künftig immer als: Math. Beitr. Kultur. °) Kohl, Reisen in Südrußland. Bd. II, S. 216 und Pott I, S. 81. *, Pott I, S. 75 figg. 5) Pott I, 8. 33. 6) Pott I, S.30. ”) Pott II, S. 38. °®) Math. Beitr. Kulturl. S. 147. BR, Einleitung. 47 Völker durch Jahrhunderte beherrscht. Die Vermengung dezimalen und duodezimalen Zählens könnte auch als Stütze der Möglichkeit dienen, welche oben für dezimale und undezimale Zahlen beansprucht wurde. Das Vorhandensein von Zahlensystemen, deren Grundzahl nicht 5 oder Vielfaches von 5 ist, dürfte damit nachgewiesen sein. Aber allerdings bilden dieselben nur Ausnahmen von seltenem vereinzeltem Vorkommen. Auch eine andere Gattung von Ausnahmen gegen früher Erwähntes müssen wir kurz berühren. Wir haben hervor- gehoben, daß die Zwischenzahlen zwischen den Einheiten aufein- anderfolgenden Ranges multiplikativ und additiv gebildet werden; wir haben daraus auf das hohe Alter dieser Rechnungsverfahren geschlossen. ‘Es gibt nun Sprachen, welche die Bildung der Zahl- wörter auf Subtraktionen und Divisionen stützen, wodurch das hohe Alter auch dieser Rechnungsverfahren wenigstens bei den . Völkern, denen jene Sprachen angehören, gleichfalls zur Möglichkeit gelangt. Die Subtraktion wird am häufigsten bezüglich der Zahlwörter eins und zwei geübt). Dieses entspricht z.B. in der lateinischen Sprache durchweg dem Gebrauch bei den Zehnern. Man sagt duode- . viginti, d.h. 2 von 20 für 18, ebenso undecentum 1 von 100 für 99 usw. Auch im Griechischen werden 1 und 2 bei den Zehnern zuweilen ab- gezogen, wozu das Zeitwort dsiv in seiner transitiven wie in seiner intransitivren Bedeutung als bedürfen und als fehlen angewandt . wird. So drückt man 58 aus durch Övoiv deovres Eiijnovre« = 60 welche 2 bedürfen, 49 durch &vog deovrog mevrinovr« — 50 woran 1 fehlt, und ein vereinzeltes Vorkommen von 9700 = 10000, welche 300 bedürfen rgıexooiwv anodtovre wögıe wird aus den Schriften des Thukydides angeführt ?). Auch im Gotischen findet subtraktive Bil- dung von Zahlwörtern statt. In der gemeinsamen Stammsprache, im Sanskrit, ist gleichfalls eine Subtraktion mittels des Wortes una (vermindert, weniger) im Gebrauch. Sei es nun, daß das una selbst ‚allem einem Zahlwort vorgesetzt wird, und man im Gedanken eka eins hinzuhören muß, z. B. unävingsati, vermindertes 20 statt 19, oder daß das eka wirklich ausgesprochen wird und sich dabei mit una zu ekona zusammensetzt, z. B. ekonaschaschta, um 1 vermindertes 60 statt 59, oder daß andere Zahlen als 1 abgezogen werden, z. B. pamtschonangsatam, um 5 vermindertes 100 statt 95. Ob die baby- lonische Benutzung von lal = weniger hierher gehört?) oder als eigentliche Subtraktion aufzufassen ist, sei dahingestellt. ') Math. Beitr. Kulturl. S. 157. °) PottI, 8.181, Anmerkung. °) Reisner in Berl. Akad. Ber. 1896, S. 425—426 mit Berufung auf Tontafeln von Ur. 12 | Einleitung. Am seltensten dient die Division zur sprachlichen Bildung der Zahlwörter. Hier kommen neben den sofort verständlichen Teilungen: ein viertel Hundert, ein halbes Tausend usw., namentlich solche Wörter in Betracht, welche eine nicht voll vorhandene Einheit zur Teilung bringen. Anderthalb, dritthalb, sechsthalb besagen, daß das Andere, d. h. Zweite, daß das Dritte, daß das Sechste halb zu nehmen sei, die Existenz des Ersten, der 2, der 5 Vorhergehenden als selbstverstanden vorausgesetzt. Verwandte Bildungen sind in latei- nischer und in griechischer Sprache sesquwialter = Enıdevtegos = 1}, sesquitertius = Enirgirog —= 1/,, sesquioctavus = Endydoog = 1), usw. Besonderer Hervorhebung scheint es wert, daß die dänische Sprache in Europa und im fernen Süden und Osten die Sprache der Dajacken und Malaien auf den nächsten Zwanziger beziehungsweise Zehner übergreift, um ihn hälftig vorweg zu nehmen !). Ein altes Vigesimal- system in deutlichen Spuren verratend (S. 9) sagt die dänische Sprache nicht bloß tresindstyve oder 3 mal 20 für 60, firesindstyve oder 4 mal 20 für 80, sondern auch halvtredsindstyve, halvfirdsindstyve für 50 und 70, d. h. der dritte, der vierte Zwanziger, welcher bei 60, bei 80 voll vorhanden ist, kommt hier nur zur Hälfte in Rechnung. Ja man hat sogar halvfemsindstyve oder fünfthalb Zwanziger für 90, während 100 nur durch hundrede und nie durch femsindstyve aus- gedrückt wird. Bei den Malaien heißt halb dreißig, halb sechzig es solle von dem letzten, also hier von dem dritten, sechsten Zehner nur die Hälfte genommen werden, man meine also 25, 55. Im Alt- türkischen wird das Vorgreifen auf den nächsten Zehner noch weiter ausgedehnt’). „Vier dreißig“ bedeutet „vier von dem dritten Zehner“ also 24. Endlich im Äthiopischen findet sich ein merkwürdiger Aus- nahmefall?). Die Äthiopen besitzen besondere Zeichen für die Einer, die Zehner, die Hunderter, mittels deren sie die Zwischenzahlen zusammen- setzen. Sie schreiben also z. B. 59 durch die Zeichen „fünfzig neun“. Einzig und allein 99 wird anders geschrieben, nämlich nicht „neunzig neun“, sondern „neunzig hundert“, d.h. also etwa „ein Neunziger nahe bei Hundert“. Der Grund dieser Ausnahme ist unermittelt. Alle diese Teilungen in sich schließende Ausdrücke sind gewiß merkwürdig, eine genaue Einsicht in das Alter der Division ver- glichen mit dem Alter der Sprachbildung geben sie uns deshalb doch nicht. Es sind eben Wörter mit Zahlenbedeutung, aber es sind nicht die Zahlwörter! Neben ihnen und statt ihrer sind auch andere mög- 'ı) PottI, S.103 und I, 8.88. °) J. Marquart, Die Chronologie der alt- türkischen Inschriften. Leipzig 1898. °) C. Bezold, Kebra Nagast. München 1905. 8. XV, Note 3. Einleitung. 13 licherweise viel ältere Ausdrücke in Gebrauch und lassen die Ent- stehungszeit der jüngeren Benennung im dichtesten Dunkel. Nicht anders verhält es sich mit den vorerwähnten subtraktiven Bildungen, zu welchen als weiteres Beispiel bestimmter Grenzpunkte, auf welche Vorhergehendes ebenso wie Folgendes bezogen wird, die Kalender- bezeichnung der Römer mit ihren Calenden, Nonen und Iden treten mag. Entscheidend dagegen sind die subtraktiven Zahlwörter einiger Sprachen, z. B. der Krähenindianer in Nordamerika'). Bei ihnen heißen 8 und 9 nie anders als nopape, amaätape, d. h. wörtlich 2 da- von, 1 davon, und das Wort Zehn, d. h. die Anzahl, von welcher 2, beziehungsweise 1 weggenommen werden sollen, ist als selbstverständ- lich weggelassen. Hier kann ein Zweifel kaum walten: die Namen ° der 8 und 9 sind erst entstanden, nachdem der Begriff der 10 sich gebildet hatte, nachdem das Rechnungsverfahren der Subtraktion er- funden war. Mit dieser Bemerkung kehren wir zu unserer früheren Behauptung zurück (8. 4), zu deren Begründung wir die ganze Er- örterung über Zahlwörter und über die ersten Anfänge des Rechnens gleich hier anknüpfen durften. Die Sprache hielt in ihrer Entstehung nicht immer gleichen Schritt mit der Entstehung der Begriffe. Das aufeinanderfolgende Zählen wurde unterbrochen durch das Bewußt- sein notwendiger Zahlenverknüpfungen, Sprünge in der Erfindung der Zahlwörter sind nahezu sicher. Und wieder machte der menschliche Erfindungsgeist einen Schritt vorwärts, einen Schritt, zu welchem er auch nicht die geringste An- regung von außen erhielt, der ganz aus eigenem Antriebe erfolgend mindestens ebenso sehr wie die künstliche Entfachung des Feuers als wesentlich menschlich, als keinem anderen Geschöpfe möglich aner- kannt werden muß: er erfand die Schrift. Bilderschrift, so nimmt man gegenwärtig wohl ziemlich allgemein an, war die erste, welche dem Spiegel der Rede (wie bei einem Negervolke das Geschriebene heißt)?) den Ursprung gab. Aber mit Bildern allein kam man nicht aus. Neben wirklichen Gegenständen mußten Tätigkeiten, Eigen- schaften, Empfindungen dem künftigen Wissen aufbewahrt werden. Die Notwendigkeit symbolischer oder willkürlich eingeführter Zeichen für diese nicht gegenständlichen Begriffe zwang zur Abhilfe. So müssen Begriffszeichen entstanden sein, gemeinsam mit den früheren Bildern eine Wortschrift herstellend. Jetzt erst — aber wer weiß in wie langer Zeit? — konnte man dahin gelangen in dem Ge- sprochenen nicht nur den ganzen Klang, sondern die einzelnen Laute, oO aus welchen er sich zusammensetzt, zu verstehen, und diese Einzel- ) Pott I, 8.65. 2) Pott], S. 18. 14 Einleitung. laute dem Auge zu versinnlichen. Die Silben- und Buchstabenschrift entstand. Für die Zahlen behielt man allgemein das Verfahren bei, welches in anderer Beziehung sich überlebt hatte. Inmitten der Silben-, der Buchstabenschrift treten Zahlzeichen, d. h. Wort- zeichen auf, und wer ein Freund philosophischen Grübelns ist, mag darüber sinnen, warum gerade hier eine Ausnahme sich aufdrängte. Warum hat gerade das mathematische Denken von jeher durch Wort- zeichen, sei es durch Zahlzeichen, sei es durch andere sogenannte mathematische Zeichen, Unterstützung, Erleichterung und Förderung gefunden? Wir stellen die Frage, wir wagen nicht sie zu beant- worten. Aber die Tatsache, an welche wir die Frage knüpften, steht fest, ebenso wie es feststeht, daß ein Zahlenschreiben in älteste Kulturzeiten hinaufreicht, wo dessen Zeichen inmitten geschichtlicher Inschriften vorkommen. Die Verschiedenheit der Zahlzeichen ist eine gewaltige Wir werden in mannigfachen Kapiteln dieses Bandes von solchen zu reden haben und wünschen nicht vorzugreifen. Aber ein Prinzip der Zahlen- schreibung hat sich fast überall Bahn gebrochen, dessen Entdeckung dem Scharfsinne Hankels!) um so größere Ehre macht, als es trotz seiner großen Einfachheit stets übersehen worden war. Es ist das Gesetz der Größenfolge, wie wir, um eine kürzere Redeweise zu besitzen, es künftig nennen wollen, und besteht darin, daß bei allen additiv vereinigten Zahlen das Mehr stets dem Weniger vorausgeht?). Natürlich ist die Richtung der Schrift bei Prüfung dieses Gesetzes wohl zu beachten, und wenn bei der von links nach rechts gehenden Schrift des Abendlandes der Hauptteil der Zahl links auftreten muß, so ist die Stellung bei Zahlendarstellungen semitischen Ursprunges entgegengesetzt, und wieder eine andere, wenn, wie bei den Chinesen, die Schrift in von oben nach unten gerichteten Reihen verläuft. Die mathematischen Begriffe, bei denen wir in unserer flüchtigen Betrachtung der Anfänge menschlicher Kulturentwicklung, Anfänge, welche selbst Jahrtausende in Anspruch genommen haben mögen, zu verweilen Gelegenheit nahmen, gehören sämtlich dem einen Zweige der Größenlehre an, welcher über das Wieviel? der nebeneinander auftretenden Dinge das Was? derselben vernachlässigt. Es ist aber wohl keinem Zweifel unterworfen, daß neben Kenntnis und einfachster Verbindung der Zahlen einfache astronomische wie geometrische Be- griffe wach geworden sein müssen. !) Hankel, 8.32. 2) Über Abweichungen von diesem Gesetze vergl. Kapitel 4. Einleitung. | 15 Wir werden der Geschichte der Astronomie grundsätzlich fern bleiben, um nicht den schon so für uns fast unbezwingbar sich ge- staltenden Gegenstand unserer Darstellung ohne Not zu vergrößern, aber zwei Bemerkungen können wir hier nicht unterdrücken. Auf- gang und Untergang der Sonne waren gewiß schon in den Zeiten nomadischen Wanderns die beiden Marksteine, die Zeit und Raum in Grenzen schlossen. Morgen und Abend, Ost und West waren Begriffepaare, deren Entstehung wohl nicht früh genug angenommen werden können. Und als beim Ansässigwerden der Völker die Sonne zwar immer noch ihre Uhr, aber nicht ihren täglichen Wegweiser bildete, nach deren Stande sie sich zu richten pflegten, war das Örientierungsgefühl doch noch geblieben, hatte womöglich an Genauig- keit noch zugenommen. Am Südende des Pfäffiker-Sees in der Schweiz sind Pfahlbauten beobachtet worden, welche genau nach den Himmels- gegenden gerichtet sind !), und jene Bauten reichen jenseits der soge- nannten Bronzezeit in eine Periode hinauf, welche nach geologischer Schätzung etwa 4000 Jahre vor Christi Geburt lag. Wir stellen in keiner Weise in Abrede, daß man bei der Orientierung der Wehn- häuser an praktische Rücksichten, an Besonnung, Wind und Wetter dachte, aber man dachte doch, man übte nicht Zufälliges und Un- beabsichtigtes. Von ähnlichen Orientierungen werden wir verschiedent- lich zu reden haber. .Die Richtung nach den Himmelsgegenden selbst wird uns niemals als Beweis der Übertragung von Begriffen von einem Volke zum andern gelten dürfen. Nur die Ermittlungs- weise dieser Richtung wird zum genannten Zweck tauglich erscheinen. Auch geometrische Begriffe, sagten wir, müssen frühzeitig ent- standen sein. Körper und Figuren mit geradliniger, mit krummliniger Begrenzung müssen dem Auge des Menschen aufgefallen sein, sobald er anfing nicht bloß zu sehen, sondern um sich zu schauen. Die Zahl der Ecken, in welchen jene Flächen, jene Linien aneinander- stoßen, wird ihm der Bemerkung wert gewesen sein, wird ihn heraus- gefordert haben jenen Gebilden Namen zu geben. Vielleicht ist auch in ältesten Zeiten und in gegenseitiger Unabhängigkeit an vielen Orten zugleich beachtet worden, daß der Arm beim Biegen am Ellen- bogen, das Bein beim Biegen am Knie, daß die beiden Beine beim Ausschreiten einen Winkel bilden, und der Name jeder: von zwei einen Winkel bildenden Linien als ox&4og bei den Griechen, crus bei den Römern, Schenkel bei den Deutschen, leg bei den Engländern, jambe bei den Franzosen, bähu, d. h. Arm bei .den Indern, kou, d.h. ') Diese Beobachtung rührt von Professor Quincke her, der uns freund- lichst gestattete, von dieser seiner mündlichen Mitteilung Gebrauch zu machen. 16 Einleitung. Hüfte bei den Chinesen, der Zusammenhang p@vos Winkel mit yovv . Knie, dieses und ähnliches braucht nicht in allen Fällen Übertragung zu sein. Die genannten modernen Namen werden allerdings kaum anders als durch Übersetzung aus dem Lateinischen, wenn nicht aus dem Griechischen entstanden sein, aber die antiken Wörter können sehr wohl uraltes Ergebnis mehrfacher Selbstbeobachtung sein, uraltes Wissen. Ist nun uraltes Wissen auch uralte Wissenschaft? Muß eine Geschichte der Mathematik so weit zurückgreifen, als sie noch hoffen darf mathematischen Begriffen zu begegnen? Wir haben unsere Auffassung, unsere Beantwortung dieser Fragen darzulegen geglaubt, indem wir diese Einleitung vorausschickten. Kein Erzähler hat das Recht das Brechen, das Zusammentragen der ersten Bausteine, aus welchen Jahrhunderte dann ein stolzes Gebäude aufgerichtet haben, ganz unbeachtet zu lassen; aber die Bausteine sind noch nicht das Gebäude. Die Wissenschaft beginnt erzählbar erst dann zu werden, wenn sie Wissenschaftslehre geworden ist. Erst von diesem Zeitpunkte an kann man hoffen wirkliche Überreste von Regeln und Vorschriften zu finden, welche es erlauben mit einiger Sicherheit und nicht in allem und jedem dem eigenen Gedankenfluge vertrauend Bericht zu erstatten. Mögen Schriftsteller früherer Jahr- hunderte ihre eigentlichen historisch-mathematischen Untersuchungen mit der Schöpfung begonnen haben den Worten der Schrift folgend: Aber du hast alles geordnet mit Maß, Zahl und Gewicht!). Uns be- ginnt eine wirkliche Geschichte der Mathematik mit dem ersten Schriftdenkmal, welches auf Rechnung und Figurenvergleichung Be- zug hat. !) Weisheit Salomos XI, 22. ser 1. Kapitel. Die Babylonier. Es wird die älteste menschliche Erfahrung sein, welche sich zur- zeit an das vorderasiatische Zweistromland knüpft, in welchem be- stimmte Königsnamen bis auf eine Zeit zurückweisen, die fünfthalb- tausend Jahre vor dem Beginne der christlichen Zeitrechnung liegt). Wenn wir auch von der politischen Geschichte der, wie wir gleich sehen werden, sich dort ablösenden Reiche nicht genauer berichten dürfen, so ist uns die Geschichte ihrer Kulturentwicklung um so wichtiger, insoweit sie Mathematisches betrifft, und diese wieder nötigt uns weniges von den mindestens zwei Volksstämmen vorauszuschicken, die dort in engste Verbindung traten und zu einem Mischvolke sich vereinigten, dessen Bildung nur Wahrscheinlichkeitsschlüsse dafür ge- stattet, welchem der Urstämme wir diesen oder jenen Bestandteil des später gemeinsamen Wissens gutschreiben sollen. Neuere Völkerkunde hat die Gegend der Hochebene Pamir’?), etwa unter dem 38. Grade nördlicher Breite und dem 90. Grade öst- licher Länge gelegen, als das in Wirklichkeit freilich nichts weniger als paradiesische Paradies der orientalischen Sagen erkannt. Vier Gewässer fließen von ihr nach den vier Himmelsrichtungen ab, der Indus, der Helmund, der Oxus, der Yaxartes. Von dort zunächst, mutmaßlich noch weiter von Nordosten, von den Abhängen des erzreichen Altaigebirges, drangen Skythenvölker turanischen Stammes, ihrem Hauptbestandteile nach Sumerier?°), herab, eine bereits ziem- lich entwickelte mathematische Bildung mit sich bringend, wie wir nachher sehen wollen. Sie setzten sich fest auf dem Hochlande von Iran, besonders in dem nördlichsten Teile, der später Medien genannt !) G. Maspero, Geschichte der morgenländischen Völker im Alterthum nach der 2. Auflage des Originals und unter Mitwirkung des Verfassers über- setzt von Dr. Rich. Pietschmann. Leipzig 1877. C. Bezold, Niniveh und Babylon. Bielefeld und Leipzig 1903. ?) Maspero-Pietschmann $. 128. °) Diesen Namen erkannt zu haben gehört zu den zahlreichen Verdiensten von J. Oppert. Über die Wanderung der Sumerier vergl. Maspero-Pietsch- mann S. 131. 9* - 20 L. Kapitel. wurde. Die Sumerier drangen dann weiter südlich bis nach Chaldäa vor. Und ein zweites Volk kam ebendahin!). Es war, wie man früher annahm, aus dem Lande Kusch aufgebrochen, welches man gleichfalls im Osten aber weiter südlich, etwa in Baktrien, suchte. Von seiner Heimat führte es den Namen der Kuschiten und hatte, wie man glaubte, den eigenen Namen bei seiner Wanderung auf das Gebirge des Hindukusch übertragen, welches das Hochland von Iran, wo wir die Turanier Niederlassungen gründend fanden, von den Ebenen der Bucharei trennt. Heute ist man bezüglich der Wanderrichtung der Kuschiten der entgegengesetzten Meinung. Man nimmt an, sie seien von Westen gekommen und hätten ihre Heimat in Afrika, ge- nauer gesprochen in Ägypten, gehabt. Die Sumerier sprachen eine jener sogenannten agglutinativen Sprachen, in welchen alle möglichen Beziehungen vermittels neuer Bestandteile bezeichnet werden, die sich mit den Wurzeln nie verschmelzen, also nie das hervorbringen, was man Beugung zu nennen pflegt. Die Sprache der Kuschiten dagegen war dem Hebräischen und Arabischen sehr nahe verwandt, sie war eine semitische Sprache, und die meisten nehmen auch ge- radezu an, Semiten und Kuschiten seien nur zwei zu verschiedenen Zeiträumen zur Gesittung gelangte Teile ein und derselben Rasse. Die erste Begegnung von Sumeriern und Kuschiten auf chaldäi- schem Boden gehört in die vorgeschichtliche Zeit, ein Wort, dessen Geltungsgebiet gegen früher weit zurückverlegt ist, seitdem die Ent- zifferungskunde alter Denkmäler gestattet hat, selbst als mythisch geltende Zustände und Ereignisse näher zu beleuchten. Aber so weit man auch die Ziele der Geschichtswissenschaften stecken mag, sie reichen nicht weiter als schriftliche Aufzeichnung, und solche sind uns in Chaldäa nur aus der Zeit der erfolgten Vereinigung jener Volkselemente erhalten, geben über die Vereinigung selbst keinen Aufschluß. Dagegen wissen wir aus einheimischen und fremden schriftlichen Denkmälern mancherlei über die Schicksale des Misch- volkes. Sein staatlicher Verband blieb keineswegs unverändert, Haupt- städte und Fürstengeschlechter wechselten. Auf Ninive folgte Ba- bylon, auf dieses wieder Ninive als Herrschersitz. Das altassyrische, das babylonische, das zweite assyrische Reich lösten einander in ge- schichtlicher Bedeutung ab, in bald siegreichen, bald ungünstig ver- laufenden Kämpfen untereinander und mit den Nachbarvölkern, den Hebräern, den Phönikern, den Ägyptern, bis endlich das Perserreich alles verschlang. Wir haben einheimische Schriftdenkmäler erwähnt. Deren Schrift ı) Maspero-Pietschmann S$. 141flgg. Bezold 8. 22—23. Die Babylonier. | >31 war, wie man annimmt, ursprünglich eine Bilderschrift, welche aber vermöge der gewählten Unterlage eine eigentümliche Umbildung er- fuhr. Man ritzte die Schriftzüge mittels eines Griffels in eine gleich- viel wie zur nachträglichen Erhärtung gebrachte Tonmasse ein, und dadurch entstanden in Winkeln aneinander stoßende Eindrücke, welche man bei der Wiederauffindung nicht unglücklich als keilförmig be- zeichnet hat; es entstand die Keilschrift. Die meisten Fach- gelehrten glauben, die Keilschrift sei bereits den Sumeriern eigen- tümlich gewesen, doch mag sie entstanden sein, wo sie wolle, darüber ist kein Zweifel, daß sie in Chaldäa einer semitischen Sprache dienst- bar wurde, die somit wundersam genug von links nach rechts, statt wie in allen anderen Fällen von rechts nach links zu lesen ist, eine Erscheinung, auf welche wir gleich jetzt bei Erörterung der Zahl- zeichen der Keilschrift hinweisen müssen !). Das Prinzip der Größen- folge wird nämlich ihr entsprechend, wo es zur Geltung kommt, ver- anlassen, daß wir die Zahlzeichen, welche den höheren Wert be- sitzen, stets links von denen zu suchen haben, welche mit niedrigerem Werte behaftet durch Addition mit jenen verbunden sind. Unter den vielfältigen Vereinigungen, welche aus keilförmigen Eindrücken sich bilden lassen, sind es vornehmlich drei, welche beim Anschreiben ganzer Zahlen benutzt wurden, der Vertikalkeil Y, der Horizontalkeil >, der aus zwei mit dem breiten Ende verschmolzenen, die Spitzen nach rechts oben und unten neigenden Keilen zusammen- gesetzte Winkelhaken (<. Der Vertikalkeil stellt die Einheit, der Winkelhaken die Zehnzahl dar, und diese Elemente addierten sich durch Nebeneinanderstellung. Teils aus Gründen der Raumersparung, teils aus solchen der besseren Übersehbarkeit wurden oft mehrere Keile oder Winkelhaken übereinander in zwei bis drei Reihen ab- gebildet, stets höchstens drei Zeichen in einer Reihe. Blieb bei dieser Art der Zerlegung ein einzelnes Element übrig, so wurde dasselbe meistens in breiterer Form unter den übrigen beigefügt. Vielleicht kam auch die Beifügung eines solchen einzelnen Zeichens rechts von den übrigen vor, wie es durch das Gesetz der Größenfolge gestattet. war, während ein additives Einzelelement links neben anderen in Reihen verbundenen gleichartigen Elementen jenem Gesetze wider- !) Wir haben diesen Gegenstand ausführlich und mit Verweisung auf Quellenschriften schon früher behandelt: Math. Beitr. Kulturl. 8.28 flgg. Unsere gegenwärtige teilweise wörtlich übereinstimmende Darstellung dürfte dem heutigen etwas veränderten Standpunkte des Wissens über diese Dinge ent- sprechen. Mit den assyrischen Zahlwörtern beschäftigt sich George Bertin, The Assyrian Numerals, abgedruckt in den Transactions of the Society of Biblical Archaeology Vol. VII, pag. 370—389. 22 1. Kapitel. sprochen haben würde. Mit diesen Bemerkungen erledigt sich die schriftliche Wiedergabe sämtlicher ganzer Zahlen unter 100, aber von dieser Zahl an, deren Zeichen ein Vertikalkeil mit rechts folgen- dem Horizontalkeile Y» ist, tritt eine wesentliche Veränderung ein. Zwar die Richtung der Zeichen im großen und ganzen, also der Hunderter, Zehner, Einer, bleibt wie vorher von links nach rechts abnehmend, aber neben der Juxtaposition der Zahlteile verschiedener Ordnung erscheint plötzlich ein vervielfachendes Verfahren, indem links vor das Zeichen von 100 die kleinere Zahl gesetzt wird, welche andeutet, wie viele Hundert gemeint sind. Die Vermutung wird da- durch sehr nahe gelegt, es sei infolge dieses multiplikativen Ge- dankens, daß 1000 durch Vereinigung des Winkelhakens, des Ver- tikal- und Horizontalkeils (P- als 10 mal 100 dargestellt werde. Aber dieses 1000 wird dann selbst wieder als neue Einheit benutzt, welche kleinere multiplizierende Koeffizienten links vor sich nimmt. ‚Gemäß der Deutung unserer Assyriologen kam sogar „ein mal tausend“ vor, d. h. multiplikatives Vorsetzen eines einzelnen Vertikalkeils links von dem Zeichen für 1000, und jedenfalls erscheint 10 mal 1000 als die gesicherte Bedeutung von «(J>-, welches man nicht etwa 20 mal 100, d. i. 2000 lesen darf. Vielfache von 10000 werden als Tausender bezeichnet, mithin 30000 als 30 mal 1000, 100000 als 100 mal 1000, indem 30, beziehungsweise 100 links von 1000 ge- schrieben sind. Eine höchst bedeutsame Tatsache tritt dabei zutage, diejenige nämlich, daß die Babylonier das Bewußtsein der Einheiten verschiedener dekadischer Ordnungen in viel höherem Maße hatten, als ihre Bezeichnungsweise der Zehntausender vermuten läßt. Wer be- sondere Zeichen für 10000, für 100000 zur Verfügung hat, wird natürlich 127000 in 100000 + 2. 10000 + 7. 1000 zerlegen, von den Babyloniern dagegen, denen solche besondere Zeichen fehlten, wäre mit höherer Wahrscheinlichkeit ein Anschreiben in der Form 127. 1000 zu erwarten. Nichtsdestoweniger bedienten sie sich jener für sie viel umständlicheren, aber mathematisch durchsichtigeren Schreibweise. Wenigstens ist 36000 in der Form 30 - 1000 + 6 - 1000 wahrscheinlich gemacht und 120000 in der Form 100 - 1000 + 20. 1000 sichergestellt. Bis zur Million scheint die Zahlenschreibung der Keilschrift sich nicht erstreckt zu haben; zum mindesten sind keine Beispiele davon bekannt '). Von Brüchen ist eine Bezeichnung der verschiedenen Sechstel, ') M&nant, Expose des elements de la grammaire assyrienne. Paris 1868, pag. 81: Les inscriptions ne nous ont pas donne, jusqu’ici du moins, de nombre superieur aux centaines de mille; le signe qui represente um million nous est encore inconmu. Die Babylonier. 23 1 7:8 RL TE ı . 5 . dar a a AT ae nachgewiesen worden, deren Entstehung nicht ersichtlich ist"). Von den wichtigen Sexagesimalbrüchen müssen wir nachher in anderem Zusammenhange reden. Wir haben soeben gesagt, die Million sei bisher noch nicht auf- gefunden worden. Müssen wir bei diesem Ausspruche das Wort „bis- her“ besonders betonen oder dürfen wir in der Tat eine solche Be- schränkung des Zahlbegriffes annehmen? Für die große Menge der Bevölkerung scheint uns die letztere Annahme nicht bloß keine Schwierigkeit zu haben, sondern allgemein verbreitete Notwendigkeit zu sein. Bis auf den heutigen Tag, wo doch mit den Wörtern Million und sogar Milliarde nicht gerade haushälterisch umgegangen wird, ist der Begriff, wie viele Einheiten zu einer Million gehören, keineswegs vielen Menschen geläufig. Mancherlei Verdeutlichungen müssen diesen Begriff erst klarstellen. So hat z.B. am 13. Juni 1864 die Direktion des Londoner Kristallpalastes den 10jährigen Be- stand jenes Gebäudes feierlich begangen. Damals wurde bekannt ge- macht, daß in jenem ersten Jahrzehnt der Palast von 15266882 Menschen besucht worden war, und um eine Veranschaulichung der Massenhaftigkeit der Zahl zu gewähren, ließ man auf weißes Baum- wollzeug eine Million schwarzer Punkte drucken. Jeder Punkt war = Zoll breit und nur 2 Zoll von dem nächsten Punkte entfernt und doch bedeckten jene Punkte einen Flächenraum von 225 Fuß Länge auf 3 Fuß Breite, den Fuß zu 12 Zoll gerechnet. Daß in den jeden- falls weit geringfügigeren Verkehrsverhältnissen einer um Jahrtausende zurückliegenden Zeit die Höhe der Zahlen noch viel früher zu einer Vergleichungslosigkeit verschwimmen mußte, welche wir eine dunkle Ahnung des mathematischen Unendlichgroßen nennen würden, wenn wir nicht befürchteten dadurch die Meinung zu erwecken, als solle dadurch diesem Unendlichgroßen selbst ein solches Uralter ver- schafft werden, ist nur selbstverständlich. Vielfache Stellen biblischer Schriften, die nach dem Exile unter der Einwirkung babylonischer Kultur entstanden zu sein scheinen, geben der Vermutung Raum, daß nur die beiden großen Zahlen 1000 und 10000, sowie deren Vervielfältigung zur Schätzung aller- größter Vielheiten benutzt wurden. Saul hat Tausend geschlagen, David aber Zehntausend ?), heißt es in bewußter Steigerung. Tausend mal tausend dieneten ihm, und Zehntausend mal zehntausend standen vor ihm?), heißt es an anderer Stelle, und noch auffallender bei dem ) Oppert, Etalon des mesures assyriennes. Paris 1875, p. 35. °) I. Samuel 18, 7. ) Daniel 7, 10. 24 1. Kapitel. Psalmisten: Der Wagen Gottes ist Zehntausend mal tausend). Auch steht nicht im Widerspruche, wenn der sterbende König David seine Schätze aufzählend erklärt: Siehe ich habe in meiner Armut ver- schafft zum Hause des Herrn hunderttausend Zentner Goldes und tausend mal tausend Zentner Silbers ?), denn die Unmöglichkeit diese konkreten Zahlen buchstäblich zu nehmen, zwingt zur Auffassung, nur das unfaßbar Große seines Reichtums sei gemeint. Sollte eine noch größere Zahl bezeichnet werden, so mußten Vergleichungs- wörter dienen. Ich will Deinen Samen machen wie den Staub auf Erden; kann ein Mensch den Staub auf Erden zählen, der wird auch Deinen Samen zählen °). Oder: Wer kann zählen den Staub Jakobs? *) Und unter Anwendung eines anderen Bildes: Siehe gen Himmel und zähle die Sterne, kannst Du sie zählen? Also soll Dein Same werden’). Ja es wird unter Anwendung desselben Gedankens die Vollführung der unmöglichen Aufgabe nur dem Höchsten vorbehalten: Er zählet die Sterne und nennet sie alle mit Namen ®). Auch anderswo finden wir, wenn wir Umfrage halten, außer- gewöhnliche Vielheiten durch die dritte und vierte Einheit des deka- dischen Zahlensystems angedeutet. In China wünscht das Volk, wenn es einen Großen des Reiches leben läßt, ihm 1000 Jahre, während der dem Kaiser allein zukommende Heilruf sich auf 10000 Jahre erstreckt‘). Das altslavische Wort tma bedeutete sowohl 10000 als dunkel, während es im Russischen nur die letztere Bedeutung noch beibehalten hat °). Jedenfalls gehören Zahlzeichen, mag ihre Anwendung sich er- strecken so weit oder so wenig weit als sie will, zu Zeichen, welche niemals ganz entbehrt werden konnten, welche sicherlich dem Volke bekannt gewesen sein müssen, das die betreffende Schrift, hier die Keilschrift, überhaupt erfand. War dieses, wie man annimmt, das. Volk der Sumerier, so mußte demnach ihm diejenige Bezeichnung der Zahlen, von der wir gesprochen haben, und die, wie wir noch- mals hervorheben, einen durchaus dezimalen Charakter trägt, bekannt gewesen sein. Um so auffallender ist es, daß in sumerischen Schrift- denkmälern, die von eigentlichen Mathematikern und Astronomen herzurühren scheinen, mit der dezimalen Schreibweise eine andere wechselt, beruhend auf dem Sexagesimalsysteme. Es wurde von einem englischen Assyriologen Hincks entdeckt’). ı, Psalm 68, 18. ?2)I. Chronik 23, 14. °) I. Mose 13, 16. *) IV. Mose 23, 10. °) I. Mose 15,5. °) Psalm 147,4. ?) De Paravey, Essai sur Vorigine unique et hieroglyphique des chiffres et des lettres de tous les peuples. Paris 1826, pag. 111. °) Mündliche Mitteilung von H. Schapira. °) E. Hincks in den Tramsactions of the R. Irish Academy. Polite Litterature XXI 6. pag. 406 flgg- Die Babylonier. 25 In dem von ihm entzifferten Denkmale handelt es sich darum anzu- ‘ geben, wieviele Mondteile an jedem der 15 Monatstage, die vom be- ginnenden Mondscheine bis zum Vollmonde verlaufen, beleuchtet seien. Es seien, heißt es, an diesen 15 Tagen der Reihe nach sichtbar: 5 10 20 40 1.20 1.36 1.52 2. 8 2.24 2.40 2.56 3.12 3.28 3.44 4 Hincks erläuterte die rätselhaften Zahlen mit Hilfe der Annahme, die Mondscheibe sei als aus 240 Teilen bestehend gedacht worden, es bedeuten die weiter nach links gerückten Zeichen für 1, 2, 3, 4 je 60 der Einheiten, denen die rechts davon stehenden Zahlen ange- hören, und die Beleuchtungszunahme folge nach Angabe der Tabelle an den fünf ersten Tagen einer geometrischen, an den folgenden Tagen einer arithmetischen Reihe. Daß diese Erklärung Licht über die betreffende Tabelle ver- breitet, ist unzweifelhaft. Unzweifelhaft ist es auch, daß sie dem Gesetze der Größenfolge Rechnung trägt, denn eine 60 bedeutende 1 kann links von 20, von 36, von 52 auftreten, während eine Eins gleichen Ranges mit jenen Zahlen zu ihrer Linken nicht geschrieben werden durfte. Gleichwohl bedurfte es zur vollen Bestätigung der Auffindung neuer Denkmäler, und solche sind die Tafeln von Senkereh. Ein Geologe W. K. Loftus fand 1854 bei Senkereh am Euphrat, dem alten Larsam, zwei kleine auf beiden Seiten mit Keilschriftzeichen bedeckte leider nicht ganz vollständige Täfelchen ?). Solche Täfelchen sind, allerdings nicht entfernt vergleichbaren In- haltes, vielfach gesammelt worden. Die eine konkave Seite ist immer als Vorderseite, die andere konvexe als Rückseite zu betrachten. Läuft der Text auf beiden Seiten fort, so muß zum Weiterlesen ein Umwenden über Kopf stattfinden. Die Täfelchen, aus Ton gebildet, wie fast überflüssigerweise bemerkt sein soll, sind in der Mitte am stärksten und verdünnen sich alsdann gleichmäßig gegen die Ecken. Diese Eigenschaft, vereinigt mit dem Umstande, daß der Rand bei der Zerbrechbarkeit des Stoffes nicht unter einen gewissen Grad von Dünne abnehmen durfte, gestattet bei Bruchstücken von einiger Be- trächtlichkeit, wie z. B. die erste der beiden Täfelehen von Senkereh uns darstellt, Schlüsse auf die Größe des abgebrochenen und ver- !) Eine photographische Abbildung des einen Täfelchens ist der Abhand- lung von R. Lepsius, Die babylonisch-assyrischen Längenmaße nach der Tafel von Senkereh (Abhandlungen der Berliner Akademie für 1877) beigegeben. In eben dieser Abhandlung finden sich genaue Zitate der verschiedenen Gelehrten, welche bei der Entzifferung beteiligt waren. Ebendort S. 111—112 Bemerkungen von Fr. Delitzsch über Gestalt und Anordnung solcher Täfelchen. 26 1. Kapitel. mutlich nicht wieder aufzufindenden Teiles zu ziehen, welche zur Ergänzung des Inhaltes von erheblichem Nutzen sein können. Das eine Täfelchen, und zwar das zweite nach der Bezeichnung, welche den Täfelchen bei der Veröffentlichung beigelegt wurde, enthielt auf Vorder- und Rückseite zusammen 60 Zeilen, die ein fortlaufendes Ganzes bilden. Jede einzelne Zeile enthält links und rechts Zahlen, zwischen denselben sumerische Wörter, unter welchen eines ıbdi zu lesen ist. Rawlinson erkannte zuerst, daß hier die Tabelle der ersten 60 Quadratzahlen vorliegt, und daß ibdi Quadrat bedeutet. Die Anordnung ist eine solche, daß es zu Anfang heißt: 1 ist das Quadrat von 1 4 ıst das Quadrat von 2 9 ıst das Quadrat von 3 16 ıst das Quadrat von 4 25 ist das Quadrat von 5 36 ıst das Quadrat von 6 49 ıst das Quadrat von 7. Diese sieben Zeilen waren vermöge der schon früher erworbenen Kenntnis der Zahlzeichen der Keilschrift verhältnismäßig leicht zu lesen und aus ihnen der Inhalt der Tabelle zu entnehmen. Nun war selbstverständlich als folgende Zeile zu erwarten: 64 ist das Quadrat von 8. Aber so fand es sich nicht, sondern statt dessen 1-4 ist das Quadrat von 8 und dann setzten sich die weiteren Zeilen fort 1-21 ist das Quadrat von 9 1-40 ist das Quadrat von 10 58-1 ist das Quadrat von 59 1 ist das Quadrat von 1. Diese ganze Fortsetzung konnte nur verstanden werden, wenn man den vereinzelt links auftretenden Zahlen eine sexagesimale Wert- steigerung beilegte, mithin 1-4 als 60+4, 1-21 als 60 +21, 58:1 als 58>< 60 +1 las und die letzte Zeile als 1 >< 60°? ist das Quadrat von 1><60. So war die Vermutung von Hincks be- stätigt. Zur vollen Gewißheit wurde sie bei Entzifferung des ersten Täfelehens von Senkereh erhoben. Dessen Vorderseite ist für die Geschichte der Metrologie von unschätzbarer Wichtigkeit, indem sie eine freilich lückenhafte Vergleichung zweier Maßsysteme enthält, deren eines jedenfalls vollständig nach dem Sexagesimalsysteme ein- geteilt ist. Die Rückseite gibt uns in ihrem erhaltenen Teile die Kubikzahlen der aufeinanderfolgenden Zahlen von 1 bis 32, und rt ur a ar Die Babylonier. 7 es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß auf dem seitlich fehlenden Stücke der Tafel auch die Kuben der Zahlen 33 bis 60 gestanden haben werden. Die. Anordnung ist durch- ‚aus der der Quadratzahlentabelle nachgebildet. Auch hier treten regel- mäßig wiederkehrende Wörter in jeder Zeile auf, deren eines badie gelesen und Kubus übersetzt worden ist. Auch hier stehen am linken Anfang jeder Zeile höhere Werte als nach rechts zu, und zwar in den drei ersten Zeilen 1, 8, 27 links neben 1, 2, 3 rechts, von vorn- herein die Vermutung erweckend, daß man es mit einer Kubik- zahlentabelle zu tun habe. Auch hier ist die Schreibweise eine sexa- gesimale, indem gleich die vierte Zeile 64 oder den Kubus von 4 durch 1-4 darstellt. Von der 16. Zeile an geht diese Tabelle noch über die Sechziger hinaus. Ist doch 16°= 4096 =1>< 60?+8>< 60 +16, und so steht zu erwarten, daß in dieser Zeile 1-8-16 als Kubus von 16 angegeben sein werde, eine Erwartung, die sich vollständig erfüllt. Die weiteren Zeilen liefern die Kubikzahlen der folgenden Zahlen bis dahin, wo es heißt: 7-30 ist der Kubus von 30, womit gemeint ist: 7 > 60? +30 >60 = 30°. Dann stehen noch in zwei aufeinanderfolgenden Zeilen rechts erhalten 31 und 32, während deren links zu suchende Kuben und alles weitere fehlt. Ganz ähn- liche Tafeln wurden in Kujundschik aufgefunden. Die Schreiber der Tafeln von Senkereh und Kujundschik waren demnach im Besitz der an sich bedeutsamen Kenntnis von Quadrat- und Kubikzahlen, waren zugleich im Besitz eines folgerichtig ausgebildeten Sexagesimal- systems mit wahrem Stellungswerte der einzelnen Rangordnungen, da die Punkte, welche wir zur größeren Deutlichkeit zwischen Einern und Sechzigern anbrachten, in der Urschrift nieht vorhanden sind. Welcher Stufe des Sexagesimalsystems die geschriebenen Zahlen an- gehörten, wurde in den uns bekannt gewordenen Beispielen dem Sinne entnommen. Dem Sinne nach verstand man offenbar, daß 1 ıst das Quadrat von 1 gelesen werden wollte: 1 >< 60°? ist das Quadrat von 1 60; dem Sinne nach, daß 7.30 ist der Kubus von 30 heißen sollte: 7 >< 60? + 30 >< 60 ist der Kubus von 30 Einheiten. Wir müssen hier einen Augenblick verweilen. Die Wörter ıbdi und badie bedeuten, sagten wir mit Rawlinson, Quadrat und Kubus. Damit ist die Beziehung gemeint, welche zwischen den rechts und links von diesen Wörtern stehenden Zahlen obwaltet. An und für sich könnte also 81 ibdi 9 1) Bezold 8.96. 28 1. Kapitel. ebenso wie 81 ist das Quadrat von 9 auch bedeuten | 81 die Quadratwurzel davon ist 9, und vielleicht wäre diese Übersetzung vorzuziehen. Die wörtliche Bedeutung des Stammes di, welcher sowohl dem ibdi als dem badie zugrunde liegt, ist unbekannt. Man weiß bis jetzt nur, daß di auf anderen Tafeln in Verbindung mit der bei Tieropfern wichtigen Unter- suchung der Leber des geschlachteten Tieres vorkommt, dort also einer mathematischen Bedeutung entbehrt!). Dort kann nur von dem die Rede sein, was in dem Tiere steckt, und erwägen wir, daß die Quadratwurzel in der Zahl steckt, so wäre damit ein Vergleichungs- punkt der beiden Arten des Vorkommens gefunden. Eine fernere Frage ist die nach dem Zwecke, welchen die bereits in zwei Exemplaren bekannten Zahlentafeln erfüllen sollten. Man hat sie Hilfstafeln bei der Vermessung von Feldern und Grundstücken genannt. Das mag ja zutreffen, aber in welchem Sinne? Quadrat- zahlen und Kubikzahlen eine unmittelbare Brauchbarkeit bei Ver- messungen zuzuweisen, fällt schwer. Felder in Gestalt von Quadraten gab es nur in den seltensten Fällen. Nicht der menschliche Wille allein gibt den Grundstücken ihre Umgrenzung, die Bodenbeschaffen- heit tut dazu das meiste. Wir können diese an sich schon einleuch- tende Behauptung noch näher belegen. Pater Scheil hat einen Felderplan veröffentlicht, welcher aus der Zeit des Königs Ine Sin aus der zweiten Dynastie von Ur etwa 2400 v. Chr. stammt. Kein einziges von den dort gezeichneten Feldern ist quadratisch, und wenn auch über die genaue Erklärung der auf dem Plane vorkommenden Zahlenangaben eine ziemlich weitgehende Meinungsverschiedenheit ob- waltet?), soviel ist doch gesichert, daß die Felder bald dreieckig, bald unregelmäßig viereckig aussehen, daß man deren Flächeninhalt durch Vervielfachung von untereinander verschiedenen Zahlen zu er- mitteln suchte. Solche Vervielfachungen wurden ebenfalls um 2400 v. Chr. durch damals vorhandene Tabellen unterstützt. Professor H. V. Hilprecht?) hat bei den unter seiner Leitung vorgenommenen Ausgrabungen in !) Mündliche Mitteilung von Herrn Bezold. °) Aug. Eisenlohr, Ein altbabylonischer Felderplan nach Mitteilungen von F. V. Scheil. Leipzig 1896. Jul. Oppert, L’administration des domaines, les comptes exacts et les faux au cinquieme millenium avant Vere chretienne. Paris 1899. Comptes Rendus des seances de U Academie des inseriptions et des belles-lettres.. °) Die Ausgrabungen der Universität von Pennsylvania im Böltempel zu Nippur. Ein Vortrag von H. V. Hilprecht. Leipzig 1903. Vergl. besonders S. 59—60. Die Babylohier. 29 Nippur außer dem Stufentempel des Bel (dem babylonischen Turm) auch das damit verbundene Schulgebäude und die Bibliothek der Priesterschule bloßgelegt, welche letztere viele Tausende von Tafeln enthielt. In Beziehung auf diese heißt es: „Besondere Aufmerksam- keit wandte man dem Gebiete der Arithmetik, Mathematik und Astro- nomie zu. Zunächst wurde der Schüler im Gebrauche des Sexagesi- malsystems eingedrillt. Da heißt es 60 +7x10=2xX 60 + 10, 60 +8>x<10 = 2 60 +20 usw. In geradezu phänomenaler Weise wurde das Einmaleins geübt. Wir haben eine ganze Menge dieser nach Serien eingeteilten Multiplikationstafeln, darunter mehrere Dupli- kate. Eine Tafel enthält das Einmalsechs (bis 60), eine zweite das Einmalneun. Ich habe derartige Tafeln bis 1 mal 1350 in den Händen gehabt.“ Wenn solche umfassende Rechenknechte, wie wir unter Benutzung eines unserer Gegenwart angehörenden Wortes uns aus- drücken wollen, vorhanden waren, dann muß eine nur Quadratzahlen, nur Kubikzahlen enthaltende gleichfalls in Duplikaten vorhandene Tafel ganz besonderer Zwecke wegen hergestellt worden sein, und als einen solchen Zweck glauben wir die Erkennung einer Zahl als Quadratzahl, als Kubikzahl uns denken zu dürfen. Man hatte beispielsweise durch Vervielfachung 9 > 361 — 3249 gewonnen und fand nun in der Tafel von Senkereh, das Quadrat von 57 sei gleichfalls 3249. Damit wäre die vorhin von uns vorgeschlagene Übersetzung 3249 die Quadratwurzel davon ist 57 in zweekentsprechender Übereinstimmung. Jene gewünschte Verwandlung einer anders beschaffenen Figur in ein Quadrat, denn das ist doch am letzten Ende das hier voraus- gesetzte Verfahren, konnte möglicherweise darin begründet sein, daß irgend eine Besteuerung von Feldern nicht nach Maßstab ihrer Fläche, sondern nach Maßstab der Seite des flächengleichen Quadrates vor- genommen worden wäre, eine Vermutung, welche wir allerdings vor- läufig nicht zu stützen imstande sind. Hatten die Zahlentafeln von Senkereh den hier als denkbar ge- schilderten arithmetischen Zweck, dann konnten sie auch zu einer Interpolation dienen. Man sah, daß 3249 der Wurzelzahl 57, daß 3364 der Wurzelzahl 58 entsprach, also mußte z. B. der Feldinhalt 3300 einer Wurzelzahl entsprechen, welehe zwischen 57 und 58 lag. Im Verlaufe von Jahrhunderten konnte sich dieses Wissen zu immer genauerer Abschätzung irrationaler Quadratwurzeln ent- wickeln. Die andere Tafel von Senkereh stand aber, wir sind wohl oder übel zu dieser unausweichlichen Folgerung gezwungen, in ähn- 30 N 1. Kapitel. licher Beziehung zu der Lehre von den Kubikwurzeln wie die erste zu der von den Quadratwurzeln. Wir kommen noch zu einer dritten Frage. Wir sagten oben, man habe 7.30 badie 30 so gedeutet, daß 7 > 60° +30 60! als Kubus von 30 erscheine, daß man dem Sinne nach verstand, daß so und nicht etwa 7x 60! + 30 = 30° zu lesen war. Genügte der Sinn auch zum Ver- ständnis, wenn Einheiten irgend einer Stufe zwischen den anzuschrei- benden fehlten? Wurde z.B. 7248 =2><60°?+48 nur 2:48 ge- schrieben und überließ man es dem Leser aus dem Sinne zu ent- nehmen, daß in der Tat 7248 und nicht 168 = 2 x 60 + 48 gemeint war? Die Tafeln beantworten uns diese Frage nicht, würden sie auch nicht beantworten, wenn die ganze erste Tafel unzerbrochen auf uns gekommen wäre, da unter sämtlichen Kubikzahlen bis zu 59? = 57 x 60? + 2x 60 + 59 keine einzige vorkommt, welche sich nur aus Einheiten der ersten und der dritten Stufe zusammensetzte. Und doch leuchtet die hohe geschichtliche Wichtigkeit dieser Frage, ob man das Fehlen von Einheiten einer mittleren Stufe besonders andeutete, sofort ein, wenn man ihr die nur der Form nach ver- schiedene Fassung gibt, ob, als die Tafeln von Senkereh entstanden, die Babylonier eine Null besaßen? Eine Null, das ist ja ein Symbol fehlender Einheiten! Ohne ein solches besaßen die Baby- lonier eine immerhin interessante, aber vereinzelte systemlose Be- nutzung des Stellenwertes. Mit einem solchen war von ihnen schon eine ausgebildete Stellungsarithmetik erfunden. Von dem einen zu dem andern führt ein dem Anscheine nach kleiner, in Wahrheit un- ermeßlicher Schritt. Schon der Wunsch auf diese eine Frage eine Antwort zu erhalten, läßt die Veranstaltung weiterer Ausgrabungen in Senkereh zu einem wissenschaftlichen Bedürfnisse heranwachsen. Dort war allem Anscheine nach eine größere Bibliothek. Dort ver- muten Assyriologen wie A. H. Sayce eine erhebliche Menge von Tontafeln mathematischen Inhaltes!). Dort würde die Geschichte der Mathematik möglicherweise wertvolle Ausbeute gewinnen. Fast mit Sicherheit läßt sich mindestens das Eine erwarten, daß Ausgrabungen zu Senkereh Datierungen liefern würden, welche es möglich machten, den Zeitpunkt, dem die Anfertigung jener Täfelchen entspricht, an- nähernd zu bestimmen. Gegenwärtig ist nur aus den Wörtern für Quadrat und für Kubus der Schluß zu ziehen, daß diese Werte, daß auch das Sexagesimalsystem den Sumeriern bekannt gewesen sein !) Briefliche Mitteilung des genannten Gelehrten. Die Babylonier. 31 muß). Es ist dann weiter vielleicht die Folgerung erlaubt, daß jene Täfelehen vor der Regierung des Königs Sargon I. entstanden, weil damals das Sumerische bereits außer Übung geraten war. Sargon selbst ist „Saryukin, der mächtige König von Agana“ nach inschrift- lich erhaltenem Titel ?). Auf ihn folgte sein Sohn Naramsin, auf diesen die Königin Ellatbau und diese wurde durch Chammuragas, König der Kassi im Lande Elam, entthront, von welchem die Kassiter- dynastie gestiftet wurde. Hier gewinnt die Forschung soweit festeren Boden, als es unter den Assyriologen sicher scheint, daß die Kassiter- dynastie bis etwa zu dem Jahre 1700 v. Chr. zurückgeht. Sayce folgert auf diese Wahrscheinlichkeitsrechnung gestützt, daß die Täfel- chen von Senkereh etwa zwischea 2300 und 1600 v. Chr. entstanden sein dürften ?). Für eine wesentlich spätere Zeit können wir die Ba ‚ ob die Babylonier eine Null in dem angegebenen Sinne, d.h. ein Mittel zur Kenntlichmachung einer Lücke in einer sexagesimal geschriebenen Zahl besaßen, allerdings bejahen. In astronomischen Schriften, welche den drei letzten vorchristlichen Jahrhunderten entstammen, und in welchen fast Zeile für Zeile sexagesimal mit Stellungswert versehene Zahlenangaben vorkommen, findet man häufig Beispiele wie 4 11 32 Da Mitunter wird die Tatsache, daß der Bruch, welcher 60° im Nenner hätte, fehlt, dadurch angedeutet, daß, wie wir es in unserer Nachbildung . PR 4 11 nachahmten, die Brüche sg und —.; etwas weiter voneinander entfernt abgebildet sind, als es der Fall wäre, wenn keine Lücke in den Sexa- gesimalbrüchen anzudeuten gewesen wäre. Mitunter ist aber ein die Lücke ausfüllendes aus zwei kleinen Winkelhaken bestehendes Zeichen £ vorhanden *), ein Zeichen, welches auch in nicht mathe- matischen Texten vorkommt und dort mancherlei Zwecken dient, z. B. andeutet, ein Wort, welches auf einer Zeile nicht vollständig angeschrieben werden kann, setze sich auf der nachfolgenden Zeile fort. Die soeben erwähnten Beispiele bestätigen, daß, wie Oppert schon früher gezeigt hat, das Sexagesimalsystem auch nach abwärts führte, daß es Sexagesimalbrüche erzeugte, deren Nenner durch die nach rechts vorrückende Stellung der allein geschriebenen Zähler erkenn- ') Delitzsch, Soss, Ner und Sar. Zeitschr. Ägypt. 1878. ?) Maspero- Pietschmann $. 194. ) Briefliche Mitteilung. °) Fr. Xav. Kugler, Die Babylonische Mondrechnung. Keilinschriftliche Beilagen Tafel IV und öfter (Freiburg i. Br. 1900). 32 1. Kapitel. bar sind. Dahin gehören die Unterabteilungen des sexagesimalen Maßsystems auf der Vorderseite des ersten Täfelehens von Senkereh, von welchem oben im Vorbeigehen die Rede war. Solehen Tatsachen gegenüber gehörte ein gewisser Mut dazu, die auf keinerlei urkundlicher Grundlage beruhende Meinung aus- zusprechen'), die Sumerier hätten ursprünglich ein Siebenersystem besessen und nachträglich das Sechzigersystem hinzuerfunden, weil 60 vielfach teilbar, 7 dagegen teilerlos war. Weit anmutender ist die Annahme?), es habe von den beiden großen Volksbestandteilen, welche in dem Zweistromlande ihre schon weit entwickelte Geistesbildung vermischten, der eine ursprünglich ein Zehnersystem, der andere ein Sechsersystem besessen, und bei dem Zusammenwachsen beider Stämme habe sich das Sechzigersystem bilden können, welches enge Bezie- hungen zu beiden Grundzahlen, zu 10 und zu 6, an den Taglege. Manches bleibt allerdings auch bei dieser Annahme recht rätselhaft, z. B. welchem Volke man die Erfindung des Sechsersystems zuschreiben und wie man diese Erfindung sich denken soll. Die von dem Urheber der Vermischungstheorie (60 = 10 x 6) vorgeschlagene Erklärung, man habe an den Fingern gezählt und nach Erschöpfung der Finger einer Hand diese Hand zum Zeichen eines Ruhepunktes im Zählen ge- schlossen, führt unseres Ermessens zum Fünfersysteme (S. 8) und nicht zum Sechsersysteme. Weitere Bestätigung durch die Überlieferung ist zwar nicht erforderlich, wo bestimmte Inschriften so deutlich reden. Gleichwohl lohnt es bei ihr Umfrage zu halten, was sie bezüglich babylonischen Rechnens überhaupt, was sie über das babylonische Sexagesimalsystem insbesondere uns zu sagen weiß. Strabo läßt in Phönikien die Rechenkunst entstehen?); Josephus hat deren Erfindusg den Chaldäern zugewiesen?), von welchen sie durch Abraham den Weg nach Ägypten gefunden habe, und Cedrenus, ein byzantinischer Geschichtsschreiber der Mitte des XI. S., nennt sogar Phönix, den Sohn des Agenor, der selbst Sohn des Neptun war, als Verfasser des ersten Buches über Philosophie der Zahlen (zeol rv coıduntianv YıLooopiev) in phönikischer Sprache’). Theon von Smyrna im II. S. n. Chr. lebend sagt: bei Untersuchung der Planeten- bewegung hätten sich die Ägypter konstruktiver Methoden bedient, ) H. von Jacobs, Das Volk der Siebener-Zähler. Berlin 1896. ®) @. Kewitsch, Zweifel an der astronomischen und geometrischen Grundlage des 60-Systems. Zeitschrift für Assyriologie XVII, 73—95. Straßburg 1904. %) Strabon XVI, 24 und XVIL, 3 (ed. Meineke pag. 1056 und 1099). *) Josephus, Antiquit. I cap. 8 $ 2. °) Cedrenus, Compendium Historiarum (ed. Xylander). Paris 1647, pag. 19. Die Babylonier. 33 hätten gezeichnet, während die Chaldäer zu rechnen vorzogen, und von diesen beiden Völkern hätten die griechischen Astronomen die Anfänge ihrer Kenntnisse geschöpft‘). Porphyrius, selbst in Syrien geboren und am Ende des III. S. schreibend, erzählt: von alters her hätten die Ägypter mit Geometrie sich beschäftigt, die Phönikier mit Zahlen und Rechnungen, die Chaldäer mit den Lehrsätzen, die sich auf den Himmel beziehen ?). Diese Überlieferungen bezeugen, daß man von einem hohen Alter der Rechenkunst in Vorderasien die Erinnerung bewahrt hatte. Ein Widerspruch gegen eine andere Sage, die neben der Geometrie auch die Rechenkunst in Ägypten entstehen ließ, kann uns in der Bedeutung, die wir solchen Überlieferungen beilegen, nicht irre machen. War doch in der Tat auch dort eine Rechenkunst vielleicht gleich hohen Alters zu Hause, und steht doch der Sage, Abraham habe Rechen- kunst und Astronomie aus Chaldäa nach Ägypten gebracht, die andere gegenüber, Belos, der Ahne eines Iydischen Königsgeschlechtes, sei Führer ägyptischer Einwanderer gewesen?). Beide Bildungen, die des Nillandes, die des Euphratlandes, waren uralt; beide standen in ur- alter Berührung; beide beeinflußten das spätere Griechentum sei es unmittelbar, sei es mittelbar, und das Erfinderrecht, welches griechische Schriftsteller, je weiter wir aufwärts gehen, um so ausschließlicher den Ägyptern zuweisen, hängt wohl damit zusammen, daß’ Griechen in größerer Zahl weit früher nach den Hauptstädten von Ägypten, als nach denen von Vorderasien gelangten. Diese letztere Gegend kann kaum vor dem Alexanderzuge als genügend bekannt betrachtet werden. Spuren des babylonischen Sexagesimalsystems in den Überliefe- rungen aufzufinden, wird uns gleichfalls gelingen, wenn wir nur richtig suchen. Wir werden nämlich hier nicht auf Äußerungen ganz bestimmter Natur fahnden dürfen, die Babylonier oder die Phönikier oder dieses oder jenes dritte Nachbarvolk seien Erfinder eines Zahlen- systems gewesen, welches nach der Grundzahl 60 fortschritt; wır werden uns begnügen müssen, der Zahl 60 und ihren Vielfachen als Zahlen unbestimmter Vielheit zu begegnen. Von Sammelwörtern zur Bezeichnung unbestimmter Vielheiten war in der Einleitung (S. 5), von gewissen Zahlen als Vertretern einer unübersehbar großen Viel- heit in diesem Kapitel (S. 23—24) schon die Rede. Allein neben den Ausdrücken unbestimmter Zusammenfassung, neben den Zahlen ) Theo Smyrnaeus (ed. Ed. Hiller). Leipzig 1878, pag. 177. ?) Por- phyrius, De vita Pythagorica s. 6 (ed. Kiessling, pag. 12). °) Diodor |, 96 TAG CAnTtor, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 3 34 1. Kapitel. außergewöhnlicher Vielheit bilden kleinere ganz bestimmte Zahlen in dem Sinne einer nicht genau abgezählten oder abzuzählenden Menge ein ganz regelmäßiges Vorkommen!). Die Zahlen 5, 10, 20 als in den menschlichen Gliedmaßen be- gründet vertreten oftmals solche unbestimmte Vielheiten. Die Zahl 3 ist unbestimmte Vielheit in roıs«dAıog sowie in ter felix (dreifach unglücklich, dreifach glücklich). Eben dahin gehört es, wenn der Chinese „die vier Meere“ statt alle Meere sagt, wenn wir von „unseren sieben Sachen“ statt von allen unseren Sachen reden, indem dort die vier Weltgegenden den Vergleichungspunkt zeigten, hier die weit und breit besonders geachtete Zahl 7 mutmaßlich den 7 Tagen der Schöpfungswoche, die selbst mit den 7 Wandelsternen der alten Babylonier zusammenhängen dürften, ihre Heiligkeit und ihre häufige Anwendung verdafkt. An diesen wenigen Beispielen erkennen wir bereits, daß nicht jede beliebige Zahl als unbestimmte Vielheit gewählt wird, sondern, daß Gründe, die freilich nicht immer am Tage liegen, den Anlaß gaben, bald dieser bald jener Zahl die genannte Rolle zuzuweisen. So bildet 40 die unbestimmte Vielheit sämtlicher Völker ural-altaischer Abkunft?) bis auf den heutigen Tag. So waren es 40 Amazonen, von denen die skythische Sage berichtet. So ist im Märchen Ali Baba mit 40 Räubern zusammengetroffen. So brachten die Hebräer 40 Jahre in der Wüste, Mose 40 Tage und 40 Nächte auf dem Berge Sinai zu. So dauerte der Regen, der die Sintflut ein- leitete, 40 Tage und 40 Nächte, und so sind noch viele andere biblische Stellen des alten wie des neuen Bundes, letztere wohl meistens bewußte Nachahmungen der ersteren, durch die Annahme zu erklären, die in ihnen vorkommende Zahl 40 sei eine unbestimmte Vielheit. Wie aber 40 zu dieser Rolle kam, und zwar in ältester Zeit kam, denn es sind gerade die ältesten Bibelstellen, welche ein unbestimmtes 40) benutzen, das ist heute nicht bekannt. Ähnlicherweise kommt nun 60 mit seinen Vielfachen und einigen in ihm enthaltenen kleineren Zahlen als unbestimmte Vielheit vor, aber immer und ausschließlich in solchen Verhältnissen, wo eine Beeinflussung von Babylon aus nachweisbar oder wenigstens möglich ist. Wir haben vor wenigen Zeilen von ältesten Bibelstellen ge- sprochen. Theologische Kritik hat nämlich aus Eigentümlichkeiten 1) Über solche unbestimmte Vielheiten vergl. Math. Beitr. Kulturl. 146—148 und 361—362, wo auf verschiedene Quellen hingewiesen ist. Zu diesen kommt noch: Pott I, 119; dann Himly, Einige rätselhafte Zahlwörter (Zeitschr. d. morgenl. Gesellsch. XVII, 292 und 381); Kaempf, Die runden Zahlen im Hohenliede (ebenda XXIX, 629—632) und der Artikel: Zahlen von Kneucker in Schenkels Bibellexikon. ?) Briefliche Mitteilung von Herrn Berth. Laufer. Die Babylonier. 35 der Sprache, der Glaubenssätze, der Vorschriften usw. ein verschie- denes Alter der in den 5 Büchern Mose vereinigten Erzählungen nachzuweisen gewußt. Sie hat beispielsweise festgestellt, daß der Sintflutsbericht der Bibel ein doppelter ist. Der älteren Erzählung gehört der vorerwähnte 4Otägige Regen an. In dem jüngeren Berichte, der erst nach 535, d. h. nach der Rückkehr aus der babylonischen (refangenschaft niedergeschrieben sein soll, sind die Maße der Arche angegeben, 300 Ellen sei die Länge, 50 Ellen die Weite und 30 Ellen die Höhe‘). Die Länge und Weite der Arche in Berichten der Keilschrift scheinen auf 600 und auf 60 zu lauten?). Das goldene Götter- bild, welches König Nebukadnezar errichten ließ, war 60 Ellen hoch und 6 Ellen breit?). Um das Bett Salomos her stehen 60 Starke aus den Starken in Israel, und 60 ist die Zahl der Königinnen). Ander- weitige Parallelstellen gewährt die außerbiblische hebräische und chaldäische Literatur, von welchen wir nur der Reimzeile: „In des einen Hause 60 Hochzeitbälle, in des andern Kreise 60 Sterbefälle“®) gedenken. Auch die griechische Literatur läßt uns keineswegs im Stiche. Den ionischen Truppen wird von dem Perserkönige der Befehl erteilt, an der Brücke über den Ister 60 Tage zu warten; Xerxes läßt dem Hellesponte 300 Rutenstreiche geben; Kyrus läßt den Fluß Gyndes, in welchem eines seiner heiligen Rosse ertrunken war, zur Strafe in 360 Rinsel abgraben. So nach Herodot®). Entsprechend berichtet Strabo: Man sagt, es gebe ein persisches Lied, in welchem die 360 Nutzanwendungen der Palme besungen würden”). Stobäus läßt durch Oinopides und Pythagoras ein großes Jahr von 60 Jahren einrichten®), und wir werden später sehen, daß diese Philosophen als Schüler morgenländischer Weisheit betrachtet wurden. Vielleicht ist damit die freilich von unserem Berichterstatter, Pausanias, anders begründete Sitte in Zusammenhang zu bringen, daß das Fest der großen Dädala mit den Platäern auch von den übrigen Böotern alle 60 Jahre gefeiert wurde: denn so lange war nach der Sage das Fest zur Zeit der Vertreibung der Platäer eingestellt?). "I. Mose 6, 5. ?) Le po&me Chaldeen du deluge traduit de l’assyrien par Jules Oppert (Paris 1885) pag. 8: Le navire que tu bätiras, mesurera un ner d’empans en longueur, un soss d’empans sera le compte de sa hauteur et de sa largeur. Es ist nicht ohne Interesse, daß diese Angaben mit denen der Bibel zusammentreffen, sobald man annimmt, die babylonische Einheit sei die Hälfte der biblischen Elle gewesen. °) Daniel 3, 1. *) Hohes Lied 3, 7 und 6, 8. °) Dieses Beispiel und mehrere andere namentlich bei Kaempf in dem oben- erwähnten Aufsatze Zeitschr. d. morgenl. Gesellsch. XXIX. ©) Herodot IV, 98; VO, 35; I, 189 und 202. ”) Strabo XVII, 1, 14. °) Stobaeus, Eclog. Phys. I, 9,2. ®) Pausanias, IX, 3. 3* 36 1. Kapitel. Endlich gehört sicherlich eine Stelle des Hesychios hierher, Saros sei eine Zahl bei den Babyloniern!). Mit dieser Stelle haben wir den Rückweg zu den Schriftdenkmälern der Babylonier gewonnen, aus welchen unser Gewährsmann unmittelbar oder mittelbar geschöpft haben muß. Die Sprache der Babylonier enthielt nämlich nicht bloß das Wort Sar mit einer Zahlenbedeutung, welche allseitig als 3600 ver- standen wird, sondern auch noch Ner mit der Bedeutung 600 und Soss mit der Bedeutung 60. Wir sagen ausdrücklich Soss, Ner, Sar haben diese Zahlenbedeu- tung, weil wir vermeiden wollen sie Zahlwörter zu nennen. Sie gehören eben zu den Wortformen, deren es in anderen Sprachen auch gibt, welche mit Zahlenwert versehene Nennwörter sind, wie unser Dutzend = eine Anzahl von 12, Mandel = eine Anzahl von 15, Schock — eine Anzahl von 60, aber beim eigentlichen Zählen, ins- besondere beim Bilden größerer Zahlen, nicht anderen Zahlwörtern gleich benutzt werden. Ganz in derselben Weise wie das wohl nur zufällig lautverwandte Schock bezeichnet Soss eine Anzahl von 60 irgendwelcher als Einheit gewählter Gegenstände Das Ner ist so viel wie 10 Soss, der Sar so viel wie 60 Soss, aber immer unter Voraussetzung konkreter Einheiten. So stellt uns der Soss, der Sar die nächsthöheren Stufen des aufsteigenden Sexagesimalsystems vor, welche auf die Einheiten folgen, und die Frage bleibt eine offene, ob es noch Namen über diese hinausgab, ob es etwa ein Wort gab für 60 Sar, d. h. für eine Anzahl von 216000. Was über die den Babyloniern in ihrer Allgemeinheit wohl anhaftende Beschränkung des Zahlenbegriffes 5. 23 gesagt wurde, genügt keineswegs diese Frage beiseite zu schieben, denn wir stellen sie nicht mit Bezug auf bürgerliche, sondern auf wissenschaftliche Rechenkunst. Der Soss freilich, und wohl auch der Ner, sind zum gemeinsamen Volkseigen- tume geworden. Ersterer in mathematischen Schriften, wie z. B. in den Tafeln von Senkereh, durch einen Einheitskeil bezeichnet, wel- chem die Stellung den Rang erteilte, scheint auch sonstigen Inschriften in der Weise sich eingefügt zu haben, daß der Vertikalkeil links von Winkelhaken stehend, zu welchen er dem Gesetze der Größenfolge halber nicht einfach addiert werden konnte, und welche er als Einheit vervielfachen zu sollen keine Veranlassung besaß, die Bedeutung von !) Auf diese Stelle hat J. Brandis in seinem vortrefflichen Werke: Das Münz-, Maß- und Gewichtswesen in Vorderasien bis auf Alexander d. Großen, Berlin 1866, aufmerksam gemacht. Für den Mathematiker von besonderem Interesse sind S. 9, 15, 595. Parallelstellen zu Hesychios bei Suidas und Syn- kellos vergl. in dem Aufsatze von Fr. Delitzsch, Soss, Ner, Sar. Zeitschr. Ägypt. 1878, 8. 56—70. N: Fr Die Babylonier. 37 Soss, d. i. also von 60 gewann, wie in mathematischen Schriften und so sich addierte!). Freilich ist auch diese Behauptung, wie so manche andere, die sich auf Entzifferung von Keilschrif#t bezieht, noch bestritten, und der einzelne links von Winkelhaken befindliche Vertikalkeil wurde von Oppert und Lenormant als 50 gelesen, eine Auffassung, an welcher aber Oppert jedenfalls nicht mehr hartnäckig festgehalten hat. Wir haben oben (8. 32) uns der Ansicht angeschlossen, das Sexagesimalsystem sei aus der Vermischung eines Sechsersystems mit einem Zehnersystem entstanden, welche beide dem Sechziger- systeme sich ein- und unterordnen konnten. Damit fällt die Annahme, der wir selbst früher huldigten, die Grundzahl 60 sei durch Sechs- teilung der 360 Grade des Kreises entstanden, und diese hätten den 360 Tagen eines alten Sonnenjahres entsprochen. Man hat den sehr richtigen Einwand erhoben’), man habe doch das Zählen und An- schreiben der kleineren Zahlen gekannt und benutzt, bevor man zu 360 gelangte, man bilde kein Zahlensystem durch Verkleinerung, sondern allenfalls durch Vergrößerung einer vorhandenen Grundzahl, man könne also nicht den Gedankengang eingeschlagen haben, daß man zuerst 360 und dann 60 als rechnerischen Ruhepunkt benutzte. Man hat den ferneren Einwand erhoben, die Mangelhaftigkeit einer Sonnenbahn von nur 360 Tagen müsse sehr frühzeitig erkannt worden sein und müsse die Notwendigkeit von mindestens 5 Zusatztagen er- zeugt haben; das Jahr von 360 Tagen sei nur ein Rechnungsjahr gewesen, und zwar deshalb gewesen, weil man 6><10—=60 als Grund- zahl besaß, wodurch ebensowohl 6? x 10 = 360 als 6 x 10? = 600 in den Vordergrund arithmetischen Denkens treten mußten. Damit fallen auch die anderen Versuche, welche gemacht worden sind?) das Sexagesimalsystem astronomisch herzuleiten. Aber nicht als hinfällig können wir betrachten, was wir ein Eindringen des Sexagesimalsystems in die Astronomie und Geometrie der Babylonier nennen möchten. Das Sexagesimalsystem der Babylonier hängt, glauben wir, mit astronomisch-geometrischen Dingen zusammen. So ungern wir von unserer Absicht der Geschichte der Astronomie in diesem Werke fern zu bleiben abweichen, hier müssen wir eine kleine Ausnahme inso- weit eintreten lassen, als wir von dem Altertum babylonischer Stern- ')Lepsius, Babylonisch-assyrische Längenmaße (Abhandl. Berlin. Akademie 1877) S. 142—143. °) Kewitsch in der Zeitschrift für Assyriologie Bd. XVII. Straßburg 1904. °) F. Ginzel, C. Lehmann, H. Zimmern haben solche Versuche angestellt. a | 1. Kapitel. kunde wenigstens einiges berichten!). Mag man die Hunderttausende von Jahren, durch welche hindurch Plinius anderen Berichterstattern folgend babylonische Beobachtungen angestellt sein läßt, belächeln, mag man zunächst auch den 31000 Jahren vor Alexander dem Großen mit ungläubigster Abwehr gegenüberstehen, aus welchen nach Por- phyrius eine Beobachtungsreihe durch Kallisthenes an Aristoteles gelangte; folgende Dinge stehen fest: Klaudius Ptolemäus, der Verfasser des Almagest, wußte von einer babylonischen Liste von Mondfinster- nissen seit 747. Die Sonnenfinsternis vom 15. Juni 763 ist in den assyrischen Reichsarchiven angegeben. Für König Sargon, der etwa 3700 v. Chr. gelebt haben mag, ist ein astrologisches Werk verfaßt, welches der englische Assyriologe Sayce entziffert und übersetzt hat. Für eine sehr bedeutende Anzahl von Jahrestagen. ist in diesem Werke, welches wir am deutlichsten als Vorbedeutungskalender be- zeichnen, erörtert, welche Folge eine gerade an diesem Tage eintretende Verfinsterung haben werde. Man überlege nun, welches statistische Material an Verfinsterungen und ihnen folgenden Ereignissen nötig war, um ein solches Wahrscheinlichkeitsgesetz, welches man selbst- verständlich für unfehlbare Wahrheit hielt, herzustellen; selbst wenn manche Ereignisse nicht der Erfahrung sondern der Einbildungskraft des Verfassers des Kalenders entstammten, so wird man so viel zuzugeben geneigt sein, daß wahrscheinlich mehrere tausend Jahre vor Alexander eine babylonische Astronomie bestand, daß es unter allen Umständen zur Zeit von König Sargon eine beobachtende Stern- kunde der Babylonier gab, die damals das Kalenderjahr längst besaßen. Babylonisch und zwar aus ähnlich alter Zeit dürfte auch die Ttägige Woche sein, welche, wie wir schon gelegentlich bemerkt haben, in der biblischen Scnöpfungswoche sich widerspiegelt, während sie der Anzahl der bekannten Wandelsterne ihren eigentlichen Ursprung ver- dankt. Auf die babylonische Heimat weisen die 7 Stufen verschiedenen Materials hin, welche den Tempel des Nebukadnezar bildeten, dessen Trümmer in Birs Nimrud begraben wurden, und der, wie manche glauben, der Sprachenturm der Bibel war. Ebendahin weisen uns die 7 Wälle von Ekbatana?), und die Macht der Planetengötter über das menschliche Geschlecht und dessen Schicksale bildete einen Teil der babylonischen Vorbedeutungswissenschaft?). Babylonisch ist dann weiter die Einteilung des Tages in Stunden. Hier freilich ist eine ganz ') Eine sehr übersichtliche Zusammenstellung aller Quellen bei A.H.Sayce, The astronomy and astrology of the Babylonians with translations of the tablets relating to these subjects in den Transactions of the society of biblical Archaeology. Vol. III, Part. 1. London 1874. Vergl. auch das Programm von A. Häbler, Astrologie im Alterthum, 1879. °) Herodot I, 98. °®) Diodor I, 30. Die Babylonier. 39 bestimmte Kenntnis des Sachverhaltes nicht vorhanden, denn wenn Herodot uns ausdrücklich sagt, die Babylonier hätten den Tag in zwölf Teile geteilt!), so sprechen andere Gründe für eine Teilung des Tages in 60 Stunden, und man hat versucht sich damit zu hel- fen, daß man die 12 bürgerlichen Stunden, welche den Tag ohne die Nacht ausfüllten, von einer wissenschaftlichen Einteilung zu astro- nomischen Zwecken unterschied’). Die Vermutung, man habe in Babylon den Tag in 60 Stunden geteilt, beruht vornehmlich auf zwei Gründen. Erstlich wendet Ptolemäus bei der auf Hipparch und auf die Chaldäer Bezug nehmenden Berechnung der Mondumläufe die Sechzigteilung des Tages an?), und zweitens teilten die Vedakalender der alten Inder gleichfalls den Tag in 30 muhürta, deren jeder aus 2 nädikä bestand, so dab 60 Teile gebildet wurden‘). Indische Astronomie weist aber vielfach mit zwingender Notwendigkeit auf babylonische Beeinflussung zurück. Die Dauer des längsten Tages z. B. wurde in dem Vedakalender auf 18 muhürta, d. h. also auf > Tageslängen oder 14" 24” angegeben. Ptolemäus in seiner Geographie bezeichnet sie zu 14"25” für Babylon. In chinesischen Quellen er- scheint dieselbe Dauer in Gestalt von 60 Khe, deren jeder 14” 24° beträgt?). Die Dauer des längsten Tages ist aber selbstverständlich als von der Polhöhe abhängig nicht aller Orteh gleich; ferner waren in so weit zurückliegenden Zeiten die Beobachtungen wie die daran sich knüpfenden Rechnungen nicht so feiner Natur, daß fast identische Ergebnisse an verschiedenen Orten zu erwarten wären. Die Wahr- scheinlichkeit ist daher nicht zu unterschätzen, daß die Zahlenangabe für den längsten Tag sich von einem der drei Punkte nach den beiden anderen verbreitet haben werde und zwar so, daß Babylon als Verbreitungsmittelpunkt zu gelten hätte‘). In Indien haben übrigens Zeitmesser, welche auf der Einteilung des Tages in 60 Teile beruhen, bis auf die heutige Zeit sich erhalten, und der deutsche Reisende Herm. Schlagintweit war in der Lage der Münchner Akademie eine solche Uhr vorzuzeigen. Sie besteht aus einem Abschnitte einer Hohlkugel aus dünnem Kupferblech, welcher unten fein wie mit einem !) Herodot II, 109. ?) Lepsius, Chronologie der Ägypter $. 129, Note 1. ®) Ptolemäus, Almagestum IV, 2. *) Lassen, Indische Altertumskunde pag. 823. A. Weber, Über den Veda-Kalender genannt Jyotischam (Abhandl. Berlin. Akad. 1862), S. 105. °) Biot, Precis de l’astronomie Chinoise. Paris 1861, pag. 29. © A. Weber in den Monatsber. Berlin. Akad, 1862, $S. 222 und in der vorzitier- ten Abhandlung 8. 14—15 und 29—30. Vergl. auch desselben Verfassers: Vedische Nachrichten von den Naxatra II. Teil (Abhandl. Berlin. Akad. 1862), S. 362. Entgegengesetzter Meinung sind Whitney und G. Thibaut. Vergl. des letz- teren: Oontributions to the explanation of the Jyotisha-Vedänga, pag. 13. 40 1. Kapitel. Nadelstich durchlöchert ist. Setzt man diese Vorrichtung auf Wasser, so füllt sich die Kugelschale allmählich an und sinkt nach bestimmter Zeit, etwa nach anderthalb muhürta, unter hörbarem Zusammenklappen des Wassers über ihr, unter?). Aus dieser ganzen Erörterung geht soviel hervor, daß die Astronomen Babylons die Zahl 60 mehrfach benutzten, und daß, wenn ihnen eine Einteilung des Kreises in 360 Grade geläufig war, diese Einteilung von Laien so gedeutet werden konnte, daß jeder Grad den Weg zu versinnlichen bestimmt war, welchen die Sonne bei ihrem vermeintlichen Umlaufe um die Erde jeden Tag zurücklegte?). Wollte man nun von dieser Kreisteilung, von diesen Graden, wieder größere Mengen zusammenfassen, so lag es nahe, den Halbmesser auf dem Kreisumfang herumzutragen. Man erkannte, wie wir fürs erste uns zu glauben bitten, die Begründung uns bis zum Schlusse des Kapitels versparend, wo wir uns mit baylonischer Geometrie beschäftigen müssen, daß ein sechsmaliges Herumtragen des Halbmessers als Sehne den Kreis vollständig bespannte und zum Ausgangspunkte zurück- führend dem regelmäßigen Sechsecke den Ursprung gab. Dann aber enthielt jeder dieser größeren von einem Halbmesser bespannten Bögen genau 60 Teile und faßte man sie besonders ins Auge, so war damit wieder die Seehzigteilung, war zugleich die Sechsteilung ge- wonnen. Letztere klingt in den Wörtern siba großes sechs = 7 und sam-na = 6 + 2 = 8 wieder?) und könnte auch in den so häufig wiederkehrenden Sechsteln (S. 23) sich erhalten haben. Der Ursprung der Sechzigteilung kann dabei sehr leicht in Vergessenheit geraten sein, so daß man beispielsweise in jener Mondbeleuehtungstheorie (8.25) den vierten Teil der Mondscheibe in 60 Teile zerlegte, während man den Graden entsprechend 90 solcher Teile im Quadranten ange- nommen hätte, wenn nicht, wie wir sagten, der Ursprung der Sech- ziıgteilung bereits vergessen gewesen wäre. Wir haben (S. 37) angedeutet, das Ner von 600 = 6 x 10? habe leicht in das Sexagesimalsystem der Babylonier Eingang finden können. Wie mag man sich seiner bedient haben? Wollen wir unsere Ver- mutung über diesen Gegenstand erörtern, so müssen wir über das Rechnen der Babylonier einiges vorausschicken. Daß sie rechneten, viel und gut rechneten, wissen wir bereits. Daß die Ergebnisse ihres. ‘) Sitzungsbericht der math. phys. Klasse d. bair. Akad. d. Wissenschaft. in München für 1871, S. 128 figg. ?) Diese Hypothese übe» den Ursprung der Kreiseinteilung in 360 Grade ist zuerst von Formaleoni, Saggio sulla nautica. antica dei Veneziani (Venedig 1788) ausgesprochen worden, wie S. Günther, Handbuch der mathematischen Geographie (Stuttgart 1890), 8. 173, Note 1 berichtet. °) Bertin 1. c. p. 383. Die Babylonier. 41 wissenschaftlichen Rechnens im Sexagesimalsysteme niedergeschrieben wurden, wissen wir gleichfalls. Aber wie gelangte man zu diesen Ergebnissen? Nach dem, was wir in der Einleitung (S. 6) auseinan- dergesetzt haben, werden unsere Leser sich nicht erstaunen, wenn wir für die vorderasiatischen Völker der alten Zeiten ein Fingerrechnen und ein instrumentales Rechnen in Anspruch nehmen, allerdings mehr auf allgemeine Notwendigkeit als auf besondere Zeugnisse uns stützend. Für das Fingerrechnen steht eine vereinzelte Notiz zu Gebote, der Perser Orontes behaupte, der kleine Finger bedeute sowohl eine Myriade als Eins!), sowie die Erwähnung dieses Verfahrens bei Schrift- stellern, welche mit der Geschichte jüdischer Wissenschaft sich be- schäftigt haben?). Noch schlimmer vollends steht es mit der äußeren Begründung des babylonischen Rechenbrettes, für welches nur der einzige Umstand geltend gemacht werden kann, daß hei den Stämmen Mittelasiens bis nach China hinüber ein Rechenbrett mit Sehnüren zu allen Zeiten in Übung gewesen zu sein scheint, während gerade in jener Gegend eine Veränderung der Sitten und Gebräuche wenigstens in geschichtlich genauer bekannter Zeit so gut wie nicht vorgekommen ist, während andererseits für babylonisch-chinesische Beziehungen ältester Vergangenheit neben dem, was vorher von der Dauer des längsten Tages gesagt wurde, noch eine andere bedeutungs- volle Ähnlichkeit uns nachher beschäftigen wird. Gibt man uns auf diese ziemlich unsichere Begründung, deren einzige Unterstützung wir im 4. Kapitel in einem griechischen Vasengemälde erlangen werden, zu, daß die Babylonier eines Rechenbrettes sich bedient haben müssen, weil diese Annahme schließlich immer noch naturgemäßer ist, als wenn man voraussetzen wollte, es seien alle Rechnungen von ihnen ohne dergleichen Hilfsmittel vollzogen worden, so schließen wir folgendermaßen weiter?). Das Rechenbrett, auf dessen Schilderung wir im 2. Kapitel zurückkommen werden, muß naturgemäß dem herrschenden Zahlensystem «sich anschließen, und wo es zwei Zahlen- systeme gibt, ein Dezimal- und ein Sexagesimalsystem, da müssen auch zweierlei Bretter existiert haben, oder aber es muß die Möglich- keit geboten worden sein auf demselben Brette bald so, bald so zu rechnen. Die Veränderung bestand im letzteren Falle z. B. darin, daß man bald mehrerer bald weniger Rechenmarken sich bediente. So forderte das Rechenbrett des Dezimalsystems für jede Rangord- nung höchstens 9 Marken, während dasjenige des Sexagesimalsystems ı) Pott I, 36 nach Suidas. °) Friedlein in der Zeitschr. Mathem. Phys. IX, 329. ®) Vergl. unsere Rezension von Opperts Etalon des mesures assyriennes in der Zeitschr. Math. Phys. XX, Histor. literar. Abtlg. 161. 42 1. Kapitel. die Notwendigkeit in sich schloß bis zu 59 Einheiten jeder Rang- ordnung anlegen zu können. Ebensoviele Marken auf dem Raume, welcher für je eine Rangordnung bestimmt war, unmittelbar zur An- schauung zu bringen ist geradezu unmöglich. Alle Übersichtlichkeit und mit ihr die Brauchbarkeit des Rechenbrettes ging verloren, wenn nicht auf ihm in diesem Falle innerhalb des Sexagesimalsystems das Dezimalsystem zu Hilfe gezogen wurde. Das aber hatte so wenig Schwierigkeit, daß ähnliche Vorrichtungen, wie wir sie jetzt beschrei- ben wollen, nur in etwas veränderter Anwendung uns wiederholt begegnen werden. Wir denken uns in jeder Stufenabteilung des Rechenbrettes zwei Unterabteilungen, eine obere und eine untere. Jene etwa sei für die Einer, diese für die Zehner der betreffenden Ordnung bestimmt. Jene bedarf zur Bezeichnung aller vorkommen- den Zahlen 9, diese 5 Marken. Um nun die obere Abteilung der ersten Stufe von der unteren in der Sprache zu unterscheiden, hatte man die althergebrachten Namen Einer und Zehner. In der folgen- den Stufe stand für die Marken der oberen Abteilung der Name Soss, für die der unteren der Name Ner zur Verfügung, beziehungsweise diese Namen wurden zum Zwecke der Benennung der Abteilungen erfunden. In der dritten Stufe ist uns nur Sar als Name der oberen Abteilung bekannt. Für die untere Abteilung, deren Einheit 10 Sar oder 36000 betrug, müßte, wenn unsere Annahmen richtig sind, gleichfalls ein Wort erfunden worden sein. Freilich ist ein solches noch nicht bekannt geworden, aber auch Rechnungen sind noch nicht bekannt geworden, in welchen innerhalb des Rahmens des Sexagesi- malsystems Zahlen über 36000 sich ergaben und schriftlich aufge- zeichnet werden mußten; solche Rechnungen dürften überhaupt zu den Seltenheiten gehört haben. Eine Zeitdauer von 36000 Jahren scheint Berosus allerdings den Babyloniern als besonders hervorge- hobenen Zeitraum zuzuschreiben '). Wir haben die Besprechung einer bedeutungsvollen Ähnlichkeit zugesagt, welche auf babylonisch-chinesische Beziehungen deute. Eigentlich ist es eine Ähnlichkeit zwischen Zahlenträumereien der Griechen und der Chinesen. Bei Plutarch wird den Pythagoräern nacherzählt, die sogenannte Tetraktys oder 36 sei, wie ausgeplaudert worden ist, ihr höchster Schwur gewesen; man habe dieselbe auch das Weltall genannt als Vereinigung der vier ersten Geraden und Ungeraden ?), d.h. 65=2+4+6+8+1+3+5+7. Diese heilige Vierzahl läßt Plutarch an einer zweiten Stelle durch Platon I) Brandis, Das Münz-, Maß- und Gewichtssystem in Vorderasien 8. 11. ®) Plutarch, De Iside et Ösiride. 75. Be Die Babylonier. 453 zu 40 ergänzt werden!). Gewiß ist dieses eine unfruchtbare und darum nicht naturgemäß sich wiederholende Spielerei. Um so auf- fallender muß es erscheinen, wenn in China das erstere System dem Kaiser Fu hi, das zweite vollkommenere dem Oü wäng, dem Vater des Kaisers Oü wäng, der um 1200 v. Chr. regiert haben soll, als Erfinder zugewiesen wird ?). Chinesische Rückdatierungen sind zwar, wie wir seinerzeit erörtern müssen, von Zuverlässigkeit weit ent- fernt. Wir legen den Jahreszahlen als solchen deshalb hier keinen sonderlichen Wert bei, aber um so mehr der Übereinstimmung sinn- loser Träumereien in so weit entlegener Gegend. Selbst die nicht zu vernachlässigende Tatsache, daß die vervollkommnete Tetraktys mit jener runden Zahl 40 übereinstimmt (8. 34), die den ältesten hebräi- schen Sagen vorzugsweise anzugehören schien, kann uns in der Ver- mutung nicht irre machen, daß wir es hier mit einem Stücke baby- lonischer Zahlensymbolik zu tun haben, welches nach Westen und nach Osten sich fortgepflanzt hat. Babylonische Zahlensymbolik selbst ist über allen Zweifel ge- sichert. Träumereien über den Wert der Zahlen nahmen unter den religions-philosophischen Begriffen der Chaldäer einen bedeutsamen Platz ein. Jeder Gott wurde durch eine der ganzen Zahlen zwischen 1 und 60 bezeichnet, welche seinem Range in der himmlischen Hierarchie entsprach. Eine Tafel aus der Bibliothek von Ninive hat uns die Liste der hauptsächlichsten Götter nebst ihren geheimnisvollen Zahlen aufbewahrt. Es scheint sogar, als sei gegenüber dieser Stufenleiter ganzer Zahlen, die den Göttern beigelegt wurden, eine andere von Brüchen vorhanden gewesen, welche sich auf die Geister bezogen und gleichfalls ihrem jeweiligen Range ent- sprachen ?). Als weitere Stütze mögen die zahlensymbolischen Träumereien im VII. und VID. Kapitel des Buches Daniel angeführt sein, eines Buches, das unter dem ersichtlichen Einflusse babylonischer Denk- art geschrieben ist. Ähnliches erhielt sich auf dem Boden Palästinas Jahrhunderte lang, wobei wir nur auf die Offenbarung Johannes als Beispiel hinweisen wollen. Wir könnten aber auch auf die jüdische Kabbala einen Fingerzeig uns gestatten, die, so spät auch das Buch Jezirah und andere kabbalistische Schriften verfaßt sein mögen, der Überlieferung nach bis in die Zeit des Exils hinaufzureichen scheint. Kabbalistisch ist die sogenannte Gematria, wenn ein Wort durch ") Plutarch, De animae procreatione in Timaeo Platonis 14. ») Mon- tucla, Histoire des mathematiques I, 124, wo auch auf die Ähnlichkeit mit den Stellen bei Plutarch aufmerksam gemacht ist. °) F. Lenormant, La magie chez les Chaldeens. Paris 1874, pag. 24. 44 1. Kapitel. das andere ersetzt wurde unter der Voraussetzung, daß die Buchstaben des einen Wortes als Zahlzeichen betrachtet dieselbe Summe gaben, wie die des anderen Wortes. Über diese Zahlenbedeutung hebräischer Buchstaben und ihr vermutliches Alter werden wir zwar erst im vierten Kapitel im Zusammenhange mit ähnlichem Gebrauche der Syrer, der Griechen handeln und können um einiger Beispiele willen unseren Gang nicht unterbrechen; es sei trotzdem gestattet hier die Kenntnis jener Bezeichnungsart für einen Augenblick vorauszusetzen. Gematrie ist es, wenn das jüdische Jahr 355 Tage zählte und damit in Verbindung gebracht wurde, daß die Buchstaben des uralten ursprüng- lich eine Wiederholung bedeutenden Wortes Jahr 1» —=5 + 50 + 300 genau 355 ausmachen. Gematrie macht sich in den Bibelkommen- taren breit. Als nun Abram hörte, heißt es in der Heiligen Schrift, daß sein Bruder gefangen war, wappnete er seine Knechte, 318 ın seinem Hause geboren und jagte ihnen nach bis gen Dan'). Die Erklärer wollen, der Überlieferung folgend, 318 sei hier statt des Namens Elieser gesetzt, der in der Tat 128 = 200 +7 +70 + 10 +30-+1= 318 gibt, wenn man von dem Gesetze der Größenfolge Umgang nimmt und nur den Zahlenwert der einzelnen Buchstaben, wie sie auch durcheinander gewürfelt erscheinen mögen, beachtet. Im Propheten Jesaias verkündet der‘ Löwe den Fall Babels?). Die Erklärer haben wieder die Buchstaben des Wortes Löwe 8 = 5+10+200+1= 216 addiert. Die gleiche Summe geben die Buchstaben pipan = 100 +6+100+2+38= 216 und somit sei Habakuk mit diesem Löwen gemeint. Ja eine Spur solcher Gematrie will man bereits in einer Stelle des Propheten Sacharja erkannt haben °), und wäre die uns einigermaßen gekünstelt vorkommende Er- klärung richtig, so wäre damit schon im VII. vorchristlichen Jahr- hundert ein arithmetisches Experimentieren, wäre zugleich, was viel- leicht noch wichtiger ist, für eben jene Zeit die Benutzung der hebräi- schen Buchstaben in Zahlenbedeutung nachgewiesen. Wir ziehen zu- nächst nur den Schluß, um dessenwillen wir alle diese Dinge vereinigt haben, daß die Babylonier in ältester Zeit Zahlenspielereien sich hinzu- geben liebten, die bei ihnen einen allerdings ernsten magischen Cha- rakter trugen, und daß von ihnen ähnliches zu anderen Völkern übergegangen ist. Es ist keineswegs unmöglich, daß aus den magischen Anfängen sich die Beachtung von merkwürdigen Eigenschaften der Zahlen ent- wickelte, daß eine Vorbedeutungsarithmetik bei ihnen sich zur Kennt- 1) ], Mose 14, 14. °) Jesaias 21, 8. °) Vgl. Hitzig, Die zwölf kleinen Propheten 8.378 figg. zu Sacharja 12, 10. ER EG 1 Die Babylonier. 45 nis zahlentheoretischer Gesetze erhob. Wissen wir doch, woran wir hier zusammenfassend erinnern wollen, von dem Vorkommen eines ausgebildeten Sexagesimalsystems, von der Benutzung arithmetischer und geometrischer Reihen, von der Bekanntschaft mit Quadrat- und Kubikzahlen in alt-babylonischer Zeit, und auch gewisse Teile der Proportionenlehre sollen, wie wir vorgreifend erwähnen, griechischer Überlieferung gemäß aus Babylon stammen. Mit der Lehre von den Vorbedeutungen ist überhaupt die baby- lonische Wissenschaft aufs engste verknüpft gewesen. Vorbedeutungen zu suchen war, wie wir an jenem zu König Sargons Zeiten ver- fertigten Kalender gesehen haben, ein wesentlicher Zweck der Be- obachtungen von Himmelsvorgängen. Neben dem Aufsuchen von Vorbedeutungen widmete sich die Priesterschaft des Landes dem Her- vorbringen von Ereignissen; sie trachtete das Böse abzuwenden und teils durch Reinigungen, teils durch Opfer oder Zauberei zum Guten zu verhelfen”). Die Priesterschaft des medischen Nachbarvolkes be- stand ebenfalls aus gewerbmäßigen Hexenmeistern, und sie, die Magusch, vererbten ihren Namen auf die Magie*), wie in Rom der Name Chaldäer gleichbedeutend war mit Sterndeuter, Wahrsager, ge- legentlich auch mit Giftmischer. Schon im Jahre 139 v. Chr. wurden deshalb nach der genauen Angabe des Valerius Maximus die Chal- däer aus Rom verwiesen?). Die Wahrsagung beschränkte sich keines- wegs auf die Beobachtung der Gestirne, deren Einfluß auf das menschliche Geschick man zu kennen wähnte. Die Punktierkunst‘) der persischen Zauberer, vielfach erwähnt in den Märchen der Tausend und eine Nacht und darin bestehend, daß auf ein mit Sand über- decktes Brett Punkte und Striche gezeichnet wurden, deren Ver- schiebungen und Veränderungen infolge eines Anstoßes an den Rand des Brettes beobachtet wurden, diese Kunst, die sich erhalten hat in dem Wahrsagen aus dem Kaffeesatze, die verwandt ist dem Bleigießen in der Neujahrsnacht, welches da und dort noch heute geübt wird, sie dürfte selbst bis in die babylonische Zeit hinaufragen. Wenig- stens ist es sicher, daß es eine Vorbedeutungsgeometrie in Ba- bylon gab. Wir besitzen die Übersetzung einer solchen°), und wenn ) Diodor I, 29, 3. °) Maspero-Pietschmann, 9.466. °) Fischer, Römische Zeittafeln (Altona 1846) S. 134 mit Beziehung auf Valerius Maximus lib. I, cap. 3, 82. *) Alex. von Humboldt in seinem Aufsatze über Zahl- zeichen usw. (Crelles Journal IV, 216 Note) nennt diese Kunst raml und ver- weist dafür auf Richardson und Wilkins, Diction. Persian and Arabic 1806, T. I, pag. 482. Vgl. über die Punktierkunst auch Steinschneider, Zeitschr. d. morgenl. Gesellsch. XXV, 396 u. XXXI, 762 flgg. °) Babyloniın augury by means of geometrical figures by A. H. Sayce in den Transactions of the society of biblical archaeology IV, 302—314. 46 1. Kapitel. uns schon die Neigung bemerkenswert erscheint Vorbedeutungen aus allem zu entnehmen, was in irgendwie wechselnden Verbindungen . auftritt, so müssen wir andererseits auch die vorkommenden Figuren prüfen, deren Kenntnis die Babylonier somit sicherlich besaßen, eine Kenntnis, die als Anfang der Geometrie gelten darf, so wie wir bei den Ägyptern zu ähnlichem Zwecke alte Wandzeichnungen durch- mustern werden. In jener Vorbedeutungsgeometrie sind insbesondere folgende Figuren hervorzuheben. Fig. 1. Ein Paar Parallellinien (Fig. 1), welche als dop- pelte Linien benannt werden; ein Quadrat (Fig. 2); KEN Fig. 2. Fig. 3. Fig. 4. eine Figur mit einspringendem Winkel (Fig. 3); eine nicht ganz voll- ständig vorhandene Figur, welehe der Übersetzer zu drei einander umschließenden Dreiecken (Fig. 4) zu ergänzen vorschlägt!). Ob auch ein rechtwinkliges Dreieck vorkommt, ist nicht mit ganzer Sicherheit zu erkennen, aber wahrscheinlich. Von Interesse ist im verbindenden Texte das sumerische Wort tim, welches Linie, ursprüng- lich aber Seil bedeutete, so daß es nicht zu dem Unmöglichkeiten gehört, es habe eine Art von Seilspannung, vielleicht freilich nur ein Messen mittels des Seiles, wofür Vermutungsgründe uns sogleich bekannt werden sollen, in Babylon stattgefunden. Von hoher Wichtigkeit ist ferner ein in jenem Texte benutztes, aus drei sich symmetrisch durch- kreuzenden Linien bestehendes Zeichen X, welches der Herausgeber durch „Winkelgrad“ übersetzt hat. Diese Übersetzung ist gerecht- fertigt durch anderweitiges Vorkommen und gestattet selbst weit- gehende Folgerungen. Im britischen Museum befindet sich ein als K 162 bezeichnetes Bruchstück, welches einem babylonischen Astrolabium oder ähn- lichem angehört hat und welches in vier Fächern mit Inschriften in Keilschrift bedeckt ist. Die Bedeutung dieser Inschriften kann nicht anders lauten ?) als daß in zwei Monaten, deren Name angegeben ist, der Ort von vier Sternen, zwei Sterne in dem einen, zwei in dem anderen Monate, aufgezeichnet ist, und diese Örter heißen 140 Grad, 70 Grad, 120 Grad, 60 Grad nach Sayces Übersetzung. Der Grad ist auch hier in allen vier Fällen durch das Zeichen der drei ein- !) Privatmitteilung von H. Sayce ebenso wie die nachfolgende Bemerkung über das rechtwinklige Dreieck. °) Privatmitteilung von H. Sayce. Die Babylonier. 47 ander schneidenden Linien ausgedrückt. Nehmen wir aber diese Über- setzung einmal als richtig an, so ist in ihr eine Bestätigung unserer Meinung über geometrische Benutzung des Sexagesimalsystems enthalten. Bei der Zählung der Winkelgrade, deren 360 auf der Kreisperipherie zu unterscheiden sind, faßte man, meinen wir, je 60 in eine neue Bogeneinheit zusammen, welche man erhielt, indem man den Halb- messer sechsmal auf dem Umkreise herumtrug. Für die erste Hälfte unserer Behauptung gibt es keine bessere Stütze als jenes Grad- zeichen. Die drei symmetrisch gezeichneten Linien teilen ja den um den gemeinsamen Schnittpunkt befindliehen Raum in sechs gleiche Teile und lassen damit jeden dieser sechs Teile als besonders wichtig hervortreten! Auch an weiterer Bestätigung dafür, daß den Babyloniern die Sechsteilung des Kreises bekannt war, fehlt es nicht. Wir werden im 3. Kapitel sehen, daß auf ägyptischen Wandgemälden es gerade asiatische Tributpflichtige sind, welche auf ihren überbrachten Ge- fäßen Zeichnungen haben, bei welchen der Kreis durch sechs Durch- messer in zwölf Teile geteilt ist. Übereinstimmend zeigen ninivi- tische Denkmäler in ihren Abbildungen des Königswagens dessen Räder mit sechs Speichen versehen !) (Fig. 5). Endlich ist damit in Einklang die Dreiteilung einesrechten Winkels, welche auf einer assyrischen Tontafel geometrischen Inhaltes durch @. Smith entdeckt worden ist, bevor er seine letzte Reise, von welcher er nicht mehr heim- kehren sollte, nach den Euphratländern antrat; eine Entdeckung, aus welcher weitere Folgerungen zu ziehen nicht gestattet ist, bevor der ganze Text der Öffentlichkeit übergeben ist. Darauf aber wird man, wie zu befürchten steht, noch lange warten müssen, da die betreffende Tafel seit der Abreise ihres Entdeckers nicht wieder gesehen worden ist, also ver- mutlich durch ihn in irgend eine Ecke für künftiges Studium bei- seite gestellt, eines Zufalles harret, der gerade auf sie unter den zahllos vorhandenen Tafeln die Aufmerksamkeit lenkt. Ist aber nunmehr die Sechsteilung des Kreises als bewußte geo- metrische Arbeit der Babylonier außer Zweifel gesetzt, so wird man auch unsere Behauptung, die Sechsteilung sei durch Herumtragen des Halbmessers erfolgt, habe also die Kenntnis des Satzes von der Seite des regelmäßigen Sechsecks mit eingeschlossen, in den Kauf Fig. 5. ') Niniveh and its remayns by A. H. Layard. London 1849. I, 337. Weitere Abbildungen von sechsspeichigen Rädern bei Bezold, Ninive und Ba- bylon Fig. 17, 46, 52, 98 auf Seite 22, 58, 66, 128. 48 1. Kapitel. nehmen müssen. Es ist nun einmal, außer im Zusammenhang mit diesem Satze, ein Grund zur geometrischen Sechsteilung des Kreises nicht vorhanden. Außerdem sind wir imstande eine Bestätigung aus biblischer Nachahmung anzuführen. Wenn man, ohne mathematische Kenntnisse zu besitzen, sah, daß der Halbmesser 6mal auf dem Kreisumfange als Sehne herumgetragen nach dem Ausgangspunkte zurückführt, so lag es sehr nahe Sehne und Bogen zu verwechseln und zur Annahme zu gelangen, der Kreisumfang selbst sei 6mal der Halbmesser, beziehungsweise 3mal der Durchmesser. Das gab die erste, freilich sehr ungenaue Rektifikation einer krummen Linie, mit m =3. Diese Formel findet sich nun angewandt bei der Schilderung des großen Waschgefäßes, das unter dem Namen des ehernen Meeres bekannt eine Zierde des Tempels bildete, welchen Salomo von 1014 bis 1007 erbauen ließ!). Von diesem Gefäße heißt es: Und er machte ein Meer, gegossen, 10 Ellen weit von einem Rande zum andern, rund umher, und 5 Ellen hoch, und eine Schnur 30 Ellen lang war das Maß ringsum ?). Dabei ist offenbar 30 =3 x 10. Mögen nun die Bücher der Könige erst um das Jahr 500 v. Chr. ab- geschlossen worden sein, so ist doch unbestritten, daß in dieselben ältere Erinnerungen, wohl auch ältere Aufzeichnungen Aufnahme fanden, und so kann insbesondere die Erinnerung an eine Schnur, mit deren Hilfe Längenmessungen vorgenommen wurden, kann die Erinne- rung an die Maße des ehernen Meeres, an den Durchmesser 10 bei einem Kreisumfange 30, eine sehr alte sein. Die letztere hat sich auch nach abwärts durch viele Jahrhunderte fortgeerbt, und der Tal- mud wendet in der Mischna die Regel an: Was im Umfang 3 Hand- breiten hat, ist 1 Hand breit?). Zugleich aber liefert die angeführte Bibelstelle den Beweis, daß der Umfang von 30 Ellen wirklich aus 3 mal 10 berechnet und nicht etwa infolge ungenauer Messung gefunden worden ist. Eine messende Schnur mußte jedenfalls um den äußeren Rand des ehernen Meeres herumgelegt werden und wäre etwa 31'/, Ellen lang gewesen, wenn der Durchmesser von 10 Ellen sich gleichfalls auf die Ausdehnung bis zur äußeren Randgrenze be- zog. War aber, was bei tatsächlicher Messung fast wahrscheinlicher ist, der innere Durchmesser 10 Ellen lang, so konnte eine Meßschnur ringsherum leicht eine Länge von 32 Ellen und mehr erfordern. ') Die Datierung nach Oppert: Salomon et ses successeurs in den Annales de philosophie chretienne T. XIu. XII 1876. ?) I. Könige 7, 23 und II. Chronik 4, 2. ») Zuerst berücksichtigt in unserer Besprechung von Oppert, Etalon des mesures assyriennes in der Zeitschr. Math. Phys. XX, histor.-literar. Abtlg. 164. Ba Sa Zu la een ar Die Babylonier. 49 Es ist daher unmöglich, daß es dann 30 Ellen hieße, wie es der Fall ist. Nachdem wir für die geometrischen Kenntnisse der Bahn auf Schriftsteller zweiter Überlieferung einmal eingegangen sind, wollen wir noch einige ähnlich verwertbare Stellen aufsuchen. Eine solche Stelle führen wir nur an, um sie sogleich zu verwerfen. Bei der Be- schreibung des Salomonischen Tempelbaues heißt es nach Luthers Übersetzung: Und am Eingange des Chors machte er zwei Türen von Ölbaumholz mit fünfeckigen Pfosten!), Danach wäre an eine Kenntnis des Fünfecks, mutmaßlich des regelmäßigen Fünfecks in Vorderasien in sehr alter Zeit zu denken. Da die Konstruktion ‘des regelmäßigen Fünfecks eine verhältnismäßig bedeutende Summe geometrischer Sätze als Vorbedingung enthält, so wäre diese Tatsache um so überraschender, als nirgend auf asiatischen Denkmälern bei eifrigstem Suchen in den betreffenden Kupferwerken ein Fünfeck von uns aufgefunden worden ist. Die Stelle selbst ist aber von Luther falsch übersetzt, und so dunkel ihr Sinn ist, die Bedeutung, daß von einem Fünfecke irgendwie die Rede sei, hat sie sicherlich nicht ’?). Um so häufiger ist von viereckigen Figuren in der Bibel die Rede und zwar von Quadraten sowie von Rechtecken. Es ist viel- leicht zum Vergleiche mit noch zu erwartenden Entzifferungen baby- lonischer Texte nützlich das Augenmerk auf die Maßzahlen dieser biblischen Rechtecke?) zu richten. Das Verhältnis 3 zu 4 für zwei senkrecht zueinander zu denkende Abmessungen, oder auch 10 mal 3 zu 4, 3 zu 5 mal 4 kommt wiederholt vor, und wenn wir nicht ver- schweigen wollen noch dürfen, daß ein Rechteck von 3 zu 5 ebenfalls an häufigeren Stellen sich bemerklich macht, so ist doch nicht aus- geschlossen, daß jene ersterwähnten Maßzahlen 3 zu 4 dazu dienten, einen rechten Winkel mittels des Dreiecks von den Seiten 3, 4, 5 zu sichern. Wenigstens wird die Kenntnis dieses letzteren Dreiecks in China von uns nachgewiesen werden. Dafür aber, daß die Babylonier den rechten Winkel kannten, und zwar nicht bloß als in der Baukunst zur Anwendung kommend, sondern als der Geometrie, der Astronomie dienstbar, sind Beweis- gründe zur Genüge vorhanden. Wir erinnern an das wahrscheinlich gemachte Vorkommen des rechten Winkels in jener von Sayce über- ") I. Könige 6, 31. ?) Wir berufen uns für diese Behauptung auf münd- liche Mitteilungen von Prof. Dr. A. Merx. Allioli hat die Stelle übersetzt „mit Pfosten von fünf Ecken‘ und die Erklärung beigefügt, die Türpfosten bil- deten dadurch fünf Ecken, daß über der viereckigen Türe noch ein dreieckiger ' Giebel angebracht war. °) II. Mose 36, 15 und 21; 37, 10; 39, 9—10. I. Könige 7, 27 und häufiger. CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 4 50 1. Kapitel. setzten Vorbedeutungsgeometrie. Wir erinnern an die den rechten Winkel selbst voraussetzende Dreiteilung desselben. Wir haben ferner den ausdrücklichen Bericht Herodots, daß von Babylon her die Hellenen mit dem Polos und dem Gnomon bekannt geworden seien'). Mag man auch nicht mit aller Sicherheit wissen, welcherlei Vorriehtungen unter diesen Namen verstanden wurden, soviel ist gewiß, daß es bei ihnen um Zeiteinteilung mittels der Länge des von der Sonne erzeugten Schattens sich handelte, daß also ein Stab senkrecht zu einer Grundfläche aufgerichtet werden mußte. Der Übergang des Gnomon zu den Griechen fand von Babylon aus statt, wann, ist zweifelhaft. Ein Berichterstatter nennt Anaximander als den, der um 550 den Gnomon einführte?); ein anderer nennt uns dafür Anaximenes’); ein dritter nennt gar erst Berosus als Er- finder der Sonnenuhr *), womit nur jener Chaldäer gemeint sein kann, welcher unter Alexander dem Großen geboren um 280 v. Chr. seine Blütezeit hatte und als Historiker am bekanntesten ist, wenn auch das Altertum ihn vorzüglich als Astrologen und um seiner auf der Insel Kos gegenüber von Milet gegründeten und stark besuchten Schule wegen rühmte°). Älterer Zeit als diese Angaben gehört der biblische Bericht an, welcher von einer Sonnenuhr zu erzählen weiß. Er geht hinauf bis auf König Ahas von Juda, dessen Regierung von 743— 727 währte®). Wenn in jenem Berichte der Schatten am Zeiger Ahas 10 Stufen (oder Grade) hinter sich zurückging, die er war niederwärts gegangen, so ist diese Beschreibung von größter Deut- lichkeit, mag man über das beschriebene Ereignis selbst denken, wie man will. Wir könnten auf eben diese Stelle zum Überflusse noch hinweisen, um sie als Beleg altasiatischer Kreiseinteilung zu benutzen, wenn ein soleher Beleg noch irgend erwünscht scheinen sollte. Fassen wir wieder zusammen, was auf geometrischem Gebiete den Babyloniern bekannt gewesen ist, so haben wir Gewißheit für die Teilung des Kreises in 6 Teile, dann in 360 Grade, Gewißheit für die Kenntnis von Parallellinien, von Dreiecken, Vierecken, Ge- wißheit für die Herstellung rechter Winkel. Wahrscheinlich ist die Kenntnis der Gleichheit zwischen Halbmesser und Seite des dem Kreise eingeschriebenen regelmäßigen Sechsecks, wahrscheinlich die t) Herodot II, 109. ?) Suidas s. v. ’Avadiuevdgog. °) Plinius Historia naturalis I, 76. *) Vitruvius IX, 9. °) Die von Bailly, Histoire de Vastro- nomie ancienne. Paris 1775, Livre IV, $ 35 und 36 ausgehende Meinung, als seien zwei Berosus zu unterscheiden, der von Kos und der Historiker, ist von neueren Fachgelehrten entschieden verworfen. Vgl. Häbler, Astrologie im Alterthum (1879), S. 14—16. °) Jesaia 38, 8 und Il. Könige 20, 11. Die Datie- rung nach Oppert, Salomon et ses successeurs. Die Babylonier. 51 Benutzung des Näherungswertes m —=3 bei Bemessung des Kreis- umfanges. Möglich endlich ist die Prüfung rechter Winkel durch die Seitenlängen des ein für allemal bekannten Dreiecks 3, 4, 5. Die Hoffnung bleibt für Babylon wie für Ägypten nicht aus- geschlossen, daß Auffindung und Entzifferung neuer Denkmäler es noch gestatten werden, die kaum erst seit wenigen Jahrzehnten fester gestützte Geschichte der Geistesbildung jener Länder umfassender zu gestalten. Für die Geschichte der Mathematik in den Euphratländern bergen, wie wir schon gesagt haben, vielleicht die Scehutthügel von Senkereh noch Unschätzbares. Es muß wohl die Mathematik dort eine erzählenswerte Geschichte erlebt haben, wenn wir auch nur daraus schließen, daß sie alten Schriftstellern würdig däuchte sich mit ihr zu beschäftigen. So wird berichtet, ein gewisser Perigenes habe über die Mathematiker von Chaldäa geschrieben !), wenn diese - Lesart der an sich viel weniger wahrscheinlichen „über die Mathe- matiker von Chaleidien“ vorzuziehen ist, und Mathematisches enthielt jedenfalls auch das umfassende Werk des Jamblichus von Chaleis über Chaldäisches, aus dessen 28. Buche eine Notiz sich erhalten hat?. Nur um Mißverständnissen vorzubeugen, welche auch bei sonst zuverlässigen Schriftstellern sich vorfinden, sei hier bemerkt, daß mit diesem wissenschaftlichen Werke des Jamblichus von Chaleis über Chaldäisches, welches gegen Ende des IV. S.n. Chr. geschrieben sein muß, der Roman, welcher unter dem Titel „Babylonisches“ in der zweiten Hälfte des II. S. n. Chr. auch von einem Jamblichus °) verfaßt worden ist, ja nicht verwechselt werden darf. ') Nesselmann, Die Algebra der Griechen, $.1—2. ?) Zeller, Die Phi- losophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. III. Teil, 2. Abtlg. 2. Aufl. Leipzig 1868, S. 615. °) Erw. Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer. Leipzig 1876, S. 364 figg. 4* 2 % u = Wa et 5 2. Kapitel. Die Ägypter. Arithmetisches. Die älteste einigermaßen ausgiebige mathematische Literatur, über welche man zurzeit verfügt, ist die ägyptische. Mag man die vor- handenen Schriften als Handbücher oder als Schülerhefte betrachten, für den Nutzen, den sie uns gewähren, gilt das gleich. Sie sind ein- mal vorhandeu, und wir haben uns mit ihnen zu beschäftigen, haben vorher weniges über ägyptische Kultur vorauszuschicken. Ägypten sei ein Geschenk des Nils, sagt Herodot!), und derselbe Schriftsteller leitet an einer anderen Stelle?), die uns noch beschäftigen wird, die Erfindung der Geometrie aus der Notwendigkeit her, die infolge der Nilüberschwemmungen verloren gegangenen Begrenzungen wieder her- zustellen. Wirklich ist die Kultur des Landes, wie das Land selbst ohne jenen Strom, der das Erdreich herabgeschwemmt hat aus den Hochlanden des inneren Afrikas, nicht denkbar. Die alljährlich wieder- kehrende Wasserfülle bringt in gleicher Regelmäßigkeit große Schlamm- massen mit sich, die sie dort, wo der Absturz des Stromes an Steil- heit abnimmt, wo das Bett der Überflutung offener ist, fallen läßt. Die Wasser verlaufen sich, und die Sonne Afrikas härtet den neuen Boden. Auf das mögliche Altertum des bewohnten und angebauten Schwemmlandes wirft es ein gewisses Licht, daß man aus dem gegen- wärtig noch wahrnehmbaren und meßbaren Schlammabsatze berechnet hat, daß unter gleichen Bedingungen weit über 70 Jahrtausende not- wendig wären, um die Entstehung Ägyptens in seiner jetzigen Aus- dehnung zu erklären?). Nehme man immerhin an, daß ehemals eine viel schnellere Vergrößerung stattfand, es bleibt unter allen Um- ständen eine Zahl übrig, welche nur mit der sagenmäßigen Ver- gangenheit ehaldäischer und chinesischer Astronomie in Vergleich zu bringen ist. Das so alte Land gewann seine Bevölkerung nach der durch. Diodor *) überlieferten Meinung von Süden her aus Äthiopien, wäh- ) HerodotII, 5. ®) HerodotII, 109. °) Maspero-Pietschmann 8. 7. #) Diodor II, 3—8, 56 2. Kapitel. rend der biblische Berichterstatter Mizraim!) den Stammvater der Ägypter, einen Enkel Noahs, aus Chaldäa einwandern läßt. Die neuere Forschung ?), welche ihre wesentliche Grundlage in ägyptischen Denkmälern besitzt, hat noch immer keine Entscheidung gebracht, ob die eine oder die andere Sage mehr Glauben verdient. Sicher- gestellt ist nur, daß in ältesten Zeiten in Ägypten ein Südland von einem Nordlande sich unterschied. Vielleicht kam dann von Süden her der erste König, der die beiden Gebiete beherrschend die weiße Krone des Südens mit der roten Krone des Nordens auf seinem Haupte vereinigte. Bildung, Kunst und Wissenschaft dagegen sind jedenfalls in nordsüdlicher Richtung vorgedrungen. Die ägyptische Sprache hält man gegenwärtig für eine ältere Schwester der semitischen Sprachen. Freilich muß die Trennung erfolgt sein, als beide in ihrer Entwicklung noch sehr zurück waren, und der semitische Stamm muß als der für Sprachbildung befähigtere angesehen werden. Das ägyptische Reich wurde durch XXX aufeinanderfolgende Dynastien beherrscht. Der Gründer der I. Dynastie Mena, Menes der Griechen, wird auf das Jahr 4455 vor Christi Geburt etwa ge- setzt, wobei allerdings nicht unbemerkt bleiben darf, daß bei diesen ältesten Datierungen eine Unsicherheit von 100, auch von 200 Jahren als selbstverständlich gilt und als Abweichung in den Angaben der verschiedenen Gelehrten, welche sich daran versucht haben, kenntlich wird. Menas Sohn Teta wird schon als Gelehrter, als Verfasser ana- tomischer Schriften ?), genannt, und Nebka, griechisch Tosorthros, der zweite König der III. Dynastie um 3800, trat in Tetas Fußstapfen und verfaßte medizinische Abhandlungen, welche vier Jahrtausende nach seiner Regierung noch bekannt waren und ihn mit dem grie- chischen Gotte der Heilkunst, mit Asklepios, in eine Persönlichkeit vereinigen ließen *). Die Könige der IV. Dynastie, seit 3686 am Ruder, sind die bekannten Pyramidenbauer Chufu, Chafrä, Menkara. Schon in ihrer Zeit muß es Baumeister gegeben haben, deren Aus- bildung nicht zu unterschätzen ist. Wie in den ältesten monumen- talen Grabesräumen der Ägypter stets nach Osten zu eine Denksäule steht), so sind insbesondere die Pyramiden so scharf orientiert, daß man unter den mannigfachen Vermutungen, welche frühere und spätere Schriftsteller über diese riesigen Königsgräber auszusprechen sich bemüßigt fanden, auch derjenigen begegnet, die Pyramiden seien in der Absicht erbaut worden mittels ihrer Grundlinien die Himmels- ') I. Moses 10, 6. 2) Maspero-Pietschmann 9.13 und 16. Stein- dorff, Die Blütezeit des Pharaonenreichs 8. 7. ®) Maspero-Pietschmann S.54. *) Ebenda 8. 59. °) Ebenda S. 60. Die Ägypter. Arithmetisches. | 57 richtungen festzuhalten. Zufall ist es jedenfalls nicht gewesen, wenn der Orientierungsgedanke damals bereits so genau zur Ausführung gebracht wurde. Zufall möchten wir ebensowenig in dem Umstande erkennen, daß in fast allen alten Pyramiden der Winkel, welchen die Seitenwand der Pyramide mit der Grundfläche bildet, wenig oder gar nicht von 52° abweicht‘). Das setzt, wie gesagt, ausgebildete Baumeister, das setzt mathematische Hilfswissenschaften der Baukunst voraus, sei es, daß die Regeln von Mund zu Mund sich fortpflanzten, sei es sogar, daß man sie niederschrieb. Steht es doch fest, daß die Aufbewahrung vererbten Wissens, daß das Sammeln von Bücherrollen zu den Sitten der ältesten Dynastien gehört haben muß, wenn be- reits am Anfange der VI. Dynastie eigene Beamten ernannt wurden, deren Titel „Verwalter des Bücherhauses“ in ihren Grabschriften sich erhalten hat?). Ein Jahrtausend etwa überspringend, nennen wir aus der XII. Dynastie Amenemhat Ill, einen Fürsten von 42jähriger wohlbeglaubigter Regierung, wenn auch ihre Datierung weniger ge- sichert ist als ihre Dauer?). Er war der Erbauer des großartigen Tempelpalastes unweit vom Mörissee, aus dessen Namen Lope-ro-hunt = Tempel am Eingang zum See das Wort Labyrinth entstand. Man hat für Amenemhat III. verschiedene Beinamen in Anspruch ge- nommen *), nämlich Petesuchet = Gabe der Suchet, Aasuchet = Spröß- ling der Suchet und Sasuchet = Sohn der Suchet. Wäre diese An- nahme gesichert, so könnte man in ihm die Persönlichkeiten er- kennen, welche unter verwandten Namen bei mehreren Schriftstellern auftretend bei anderen Ägyptologen als unserem Gewährsmanne nicht verschmolzen zu werden pflegten. Amenemhat Ill. wäre alsdann der Gesetzgeber Asychis des Herodot°), der König Petesuchis, der . das Labyrinth erbaute, des Plinius®), endlich der durch Verstand her- vorragende König Sasyches, der die Geometrie erfand, des Diodor’'). Bereits während der XII. Dynastie begannen von Osten über die Landenge von Suez her die Einfälle plünderungssüchtiger Wüsten- stämme, welche sich selbst als Shus, Shasu bezeichneten. Aber 200 Jahre und mehr waren nötig bis Asses, ein Hik-Shus, d.h. ein Fürst !) Ein mathematisches Handbuch der alten Ägypter (Papyrus Rhind des British Museum), übersetzt und erklärt von Aug. Eisenlohr. Leipzig 1877, 8. 137. Wir zitieren künftig diese Hauptquelle für ägyptische Mathematik als Eisenlohr, Papyrus. °) Maspero-Pietschmann 9.74. °) Nach Lepsius regierte Amenemhat III. von 2221 bis 2179; nach Lauth dagegen (vgl. dessen Aufsatz „Der geometrische Papyrus“ in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 20. September 1877, Nr. 263) von 2425 bis 2383. Nach Steindorff füllte die ganze XII. Dynastie die Zeit von 1996 bis 1783. *) Vgl. Lauth 1. c. Seine Gründe hängen mit seinen chronologischen Annahmen aufs engste zusammen. 5), HerodotII, 136. ®) Plinius, Histor. natur. XXXVI, 13. ”) Diodor I, 94. 58 2. Kapitel. jener Shus genannten Wüstenstämme, die XV. ägyptische Dynastie stürzen und sich an deren Stelle setzen konnte. Die zwei folgenden Dynastien gehören gewissermaßen den Hiksoskönigen an, wie man in Nachbildung jenes eben erläuterten Titels zu sagen sich gewöhnt hat, und erst mit Ahmes, dem Gründer der XVIII. Dynastie um 1600, gelang es einem Sohne uralter ägyptischer Abstammung die Ein- dringlinge zu vertreiben. Unter den Hiksoskönigen war es, daß das mathematische Handbuch niedergeschrieben wurde, zu dessen ge- nauer Inhaltsangabe wir uns nun wenden müssen. Die Anfangsworte lauten): „Vorschrift zu gelangen zur Kenntnis aller dunklen Dinge .... aller Geheimnisse, welche enthalten sind in den Gegenständen. Verfaßt wurde dieses Buch im Jahre 33, Mesori Tag .. unter dem König von Ober- und Unterägypten Ra-aä-us Leben gebend, nach dem Vorbild von alten Schriften, die verfertigt wurden in den Zeiten des Königs [Ra-en-m]ät’ durch den Schreiber Ahmes verfaßt diese Schrift.“ Aus dieser Angabe, daß an einem ursprünglich angegebenen, jetzt durch einen Riß verloren gegangenen Tage des Monats Mesori des 33. Regierungsjahres Königs Ra-aä-us’ der Schreiber Ahmes das Buch verfaßt habe, ist eine so bestimmte Datierung möglich, als sie überhaupt für so weit zurückliegende Zeiten tunlich ist. Ra-ä-us ist nämlich, wie aus einem dem ägyptischen Süden, dem sogenannten Fayum, entstammenden Holzfragmente des Berliner ägyptischen Mu- seums erkannt worden ist”), niemand anders als der Hiksoskönig Apepa, der Apophis der Griechen. Alle Zweifel, welche an die Zeit und Dauer der Hiksosherrschaft sich knüpfen, in Rechnung gebracht irrt man gewiß nicht, wenn man Ra-ä-us zwischen die Jahre 2000 und 1700 v. Chr. setzt, und da überdies das Äußere des Papyrus, die Schrift usw. dieser Zeit genau entspricht, so ist damit eine Ver- mutung über dessen Alter gewonnen, in welcher die sonst nicht immer übereinstimmenden Kenner ägyptischer Sprache sich sämtlich begegnen. Wenn auch nicht ganz das Gleiche mit Bezug auf den Namen jenes Königs stattfindet, unter welchem die alten als Vorbild dienenden Schriften verfaßt worden waren, so ergänzt man doch meistens diese Lücke durch Raenmat?), und das ist kein anderer ') Eisenlohr, Papyrus $S.27—29. ?°) Die Entdeckung stammt von Herrn Dr. Ludwig Stern, dessen brieflichen Mitteilungen wir diese Tatsache ent- nehmen. °) G. Ebers in einer Rezension von Eisenlohr, Papyrus im Lite- rarischen Zentralblatt vom 12. Oktober 1878 hält diese Ergänzung für zweifel- haft. Dagegen stimmt er durchaus damit überein, der Papyrus könne nach allen äußeren Anzeichen nur in der Zeit zwischen der XVII. und der XVII. Dynastie geschrieben sein. Die Ägypter. Arithmetisches. 59 als König Amenemhat Ill. Ist diese Ergänzung richtig, und hat man in Amenemhat wirklich auch Sasyches zu erkennen, so könnte Diodors Angabe über den Erfinder der Geometrie in Beziehung auf unsern Papyrus gedeutet werden. Das Original zu der Bearbeitung des Ahmes würde dann viele Jahrhunderte hindurch in der Über- lieferung fortlebend sich mythisch mit der Erfindung der Geometrie vereinigt haben!). Und wenn diese genaue Beziehung sich nicht fest- halten ließe, so ist doch merkwürdigerweise die Zeit der XII. Dy- nastie auch durch ein anderes Schriftstück als Blütezeit ägyptischer Rechenkunst bestätigt. In Kahun, südlich von der Pyramide von Dlahun, die auf Usertesen ll. aus der XII. Dynastie zurückgeht, wurden 1889 und 1890 zwei mathematische Papyri aufgefunden ?), welche, ohne mit dem Papyrus des Ahmes übereinzustimmen, hoch- bedeutsame Ähnlichkeiten mit demselben aufweisen. So ist dort eine F 2 5 1 1 Anzahl von Bruchzerlegungen vorhanden, wie . =; +75, + a und ähnliche, von denen wir gleich zu reden haben werden. Auf andere Bestandteile zurückzugreifen werden wir da und dort in der Lage sein. Ein weiterer mathematischer Papyrus, von dessen Inhalt leider nicht einmal Andeutungen bekannt sind, gehört Herrn Wladimir Golenischeff an, Konservator der kaiserlichen Sammlung in der Eremi- tage in Petersburg. Unbedeutende Papyrusteile mit Hau-Rechnungen — wir werden bald sehen, was das ist — sind im Besitze des Äoyp- tischen Museums in Berlin °). Über einen in einem koptischen Grabe aufgefundenen Papyrus in griechischer Sprache berichten wir im 24. Kapitel. Von vollstän- digen alten Schriften ist bisher nur das Rechenbuch des Ahmes der Öffentlichkeit übergeben, und zu ihm kehren wir zurück. „Vorschrift zu gelangen zur Kenntnis aller dunklen Dinge“, so lauten die Anfangsworte des Papyrus. Später spricht Ahmes von einer „Vorschrift der Ergänzung“, von einer „Vorschrift zu berechnen ein rundes Fruchthaus“, von einer „Vorschrift zu berechnen Felder“, von einer „Vorschrift zu machen einen Schmuck“ und dergleichen mehr. Wer aber aus diesen Überschriften den Schluß ziehen wollte, es seien hier überall wirkliche Vorschriften gegeben, Regeln gelehrt, ı, Vgl. Lauth l.c. 2», W. M. Flinders Petrie, Illahun, Kahun and Gurob. London 1891, pag. 486. Die Herausgabe der Fragmente erfolgte 1897 in London durch F. Ll. Griffith. Über einzelne Stellen vgl. Cantor, Die mathematischen Papyrusfragmente von Kahun in der Orientalischen Literatur- zeitung 1898, Nr. 10. °) Alle Notizen über mathematische Papyri verdanken wir Herrn Prof. August Eisenlohr. 60 2. Kapitel. wie man zu verfahren habe, der würde in einem gewaltigen Irrtume befangen sein. Einzelne Vorschriften in unserem heutigen Sinne des Wortes kommen allerdings vor, aber weitaus in einer überwiegenden Zahl von Fällen begnügt sich Ahmes damit mehrere Aufgaben gleicher Gattung nacheinander zu behandeln. Eine Induktion aus diesen Auf- gaben und ihrer Lösung auf allgemeine Regeln ist nicht gerade schwierig, allein Ahmes vollzieht sie nicht. Er überläßt diese Folge- rungen dem Leser oder dem mündlichen Unterrichte des Lehrers, ohne welchen die Benutzung des Handbuches kaum gedacht werden kann. Das häufige Auftreten des Wortes „Vorschrift“ entspricht nur der ägyptischen Gewohnheit der Gedächtnisübung, wie sie geradezu als Grundlage jeder Unterweisung beigeblieben ist!. Lassen sich doch regelmäßig wiederkehrende Ausdrücke am leichtesten einprägen. Gewiß entstammen noch andere gleichfalls unaufhörlich sich wieder- holende Redensarten bei Ahmes derselben Rücksicht auf das Gedächt- nis des Schülers. So heißt es bei ihm: „gesagt ist dir“, oder „wenn dir sagt der Schreiber“, oder „wenn dir gegeben ist“ und „mache, wie geschieht“, oder „mache es also“, wo ein Schriftsteller unserer Zeit: Aufgabe und Auflösung sagen würde. Wir haben den sogleich genauer zu besprechenden Papyrus das Rechenbuch des Ahmes genannt. Andere?) sind, wie wir in den ersten Worten dieses Kapitels andeuteten, der Meinung, man dürfe nicht von einem Rechenbuche reden, es sei nur das Heft eines Schülers, und zwar eines sich mitunter recht ungeschickt anstellenden Schülers, welches sich erhalten habe. Für unsere Kenntnis der ägyp- tischen Mathematik ist es gleichgültig, ob die eine, ob die andere Bezeichnung für richtig gehalten wird, wir möchten jedoch auf die seinerzeit von uns nach reiflicher Überlegung in Gemeinschaft mit dem Übersetzer des Papyrus gewählte Bezeichnung nicht verzichten. Wir geben zu, daß in den Rechnungen Irrtümer vorkommen, daß manch- mal Verbesserungen angebracht sind, allein wir sehen nicht ein, dab ein solches Vorkommen den Papyrus zu einem Schülerhefte stemple. Irrtümer kommen vermutlich in jedem Manuskripte vor und gehen nicht selten als Druckfehler in die vollendetsten Werke der berühm- testen Verfasser über. Um so weniger kann man Anstoß daran nehmen, wenn ein Abschreiber sich einen Irrtum zuschulden kommen läßt. Zudem sind keineswegs alle Irrtümer verbessert, der Vorwurf der Minderwertigkeit würde also von dem Schüler auf den Lehrer 1) Herodot II, 77. °) Max Simon, Über die Mathematik der Ägypter (Verhandlungen des III. internationalen Mathematikerkongresses in Heidelberg 1904, S. 526535) im Anschluß an eine früher von Eugene Revillout ausge- sprochene Meinung. eg Die Ägypter. Arithmetisches. 61 übergehen. Ferner sind die Anfangsworte des Papyrus, welche wir S.59 zum Abdruck gebracht haben, weit ungezwungener auf ein sorg- fältig oder nicht niedergeschriebenes oder abgeschriebenes Buch als auf ein Schülerheft zu deuten. Endlich berufen wir uns auf die Frag- mente von Kahun, welche mit dem, was wir nicht aufhören das Rechenbuch des Ahmes zu nennen, in vielen Beziehungen so sehr übereinstimmen, daß wir anzunehmen genötigt wären, auch jene seien die Überreste eines um Jahrhunderte älteren Rechenheftes eines Schülers, wozu wir uns nicht entschließen können. Die Zahlen, mit welchen gerechnet wird, sind teils ganze Zahlen, teils und zwar größtenteils Brüche, woraus sich von selbst ergibt, daß der Leserkreis, für welchen Ahmes schrieb, als ein in der Rechen- kunst schon vorgeschrittener gedacht werden muß. Ein Handbuch für Anfänger müßte und mußte zu allen Zeiten sich namentlich am Anfange auf den Gebrauch ganzer Zahlen beschränken. Über die Zeichen, deren Ahmes sich für ganze und für gebrochene Zahlen be- dient, werden wir zwar noch in diesem Kapitel aber in einem anderen Zusammenhange reden. Für jetzt muß eine Bemerkung über die Art der vorkommenden Brüche und über deren Bezeichnung unter Voraus- setzung gegebener Zeichen für ganze Zahlen genügen. Ahmes benutzt nämlich nicht Brüche in dem allgemeinsten Sinne des Wortes, d. h. angedeutete Teilungen, wobei der Zähler wie der Nenner von be- liebiger Größe sein können, sondern nur Stammbrüche, d.h. solche, die bei ganzzahligem Nenner die Einheit als Zähler haben und die er dadurch anzeigte, daß er die Zahl des Nenners hinschrieb und ein Pünktchen darüber setzte. Brüche mit anderem Zähler konnte er wohl denken, wie aus dem ganzen Charakter seiner Auf- gaben zur Genüge hervorgeht, er konnte sie aber nur dann schreiben, wenn mehrere derselben mit gemeinsamem Nenner in Zwischenrech- nungen auftraten. Er begnügte sich sonst jeden beliebigen Bruch PA . a : 2 als Summe von Stammbrüchen anzuschreiben, z. B. sy, statt, wenn das bloße Nebeneinandersetzen zweier Stammbrüche deren addi- tive Zusammenfassung bezeichnen soll. Eine einzige Ausnahme bildet von dem hier Ausgesprochenen der Bruch >. Ahmes weiß ganz _ genau, daß derselbe eigentlich = = ist und versteht diese Zerlegung vortrefflich zu benutzen, aber daneben hat er ein eigenes Zeichen für 5, so daß auch dieser Bruch in seinen Rechnungen mitten unter Stammbrüchen vielfältig vorkommt und uneigentlich zu denselben ® gezählt werden mag. 62 2. Kapitel. Nach dieser Bemerkung läßt sich sofort erkennen, daß es eine Aufgabe gab, welche Ahmes unbedingt an die Spitze stellen mußte, mit deren Lösung der Schüler vertraut sein mußte, bevor er an irgend eine andere Rechnung ging, die Aufgabe: einen beliebigen Bruch als Summe von Stammbrüchen darzustellen. Das scheint uns denn auch die Bedeutung einer Tabelle zu sein, deren Entwicklung die ersten Blätter des Papyrus füllt. Allerdings ist diese Bedeutung nicht unmittelbar aus dem Wortlaute zu erkennen. Dieser heißt viel- mehr zuerst): „Teile 2 durch 3% dann „durch 5“, später wieder z. B. „teile 2 durch 17“ kurzum es handelt sich um die Darstellung von 2 2n+1 (wo n der Reihe nach die ganzen Zahlen von 1 bis 49 bedeutet, als Divisoren mithin alle ungeraden Zahlen von 3 bis 99 erscheinen), als Summe von 2, 3 oder gar 4 Stammbrüchen. Tabellarisch geordnet unter Weglassung aller Zwischenrechnungen gewinnt Ahmes folgende Zerlegungen ?): 2 2 ee er ee | 1 ir Fe 293 4 58 11 332 2 VERS | | 1 8:7R 28 IE 31 2% 14 15 2 | 2 iu Bee Val!" 3 2 66 2 or | Et 9 "pen >» 02% 2 1:4 2 | 1 11. ; 692266 RB :.96 188, 206 ARD KR ae ae 18 8:88. 10% 1:,5:89.. 26: 98 ) 1 | 2 1 1 1 15 10 3 | 41 24 26 328 1 1 1: N 1 BG @ I BR 86 18 301 2 1 1 0 2 »n»2 7 14 15 30 90 2 je 2 4 1 1 14 2 47 30 141 470 2 E 2 0 23 12 276 49 28 196 2 Re 2 134 > 55 531 3 10 2 Fire 2 45/4 1 2718 54 | 0: 80° SIR 708 ) Eisenlohr, Papyrus 8. 36—45. *) Ebenda S. 46—48. Die Ägypter. Arithmetisches. 63 2 04 2 I: 9 1 1 55 30 330 79 60 27 316 790 2 1 2 1 57.738 114 831 54 16 2 ,. 1 2 1 1 1 59 36 236 531 83 60 332 415 498 2 ee 1 2 1 61 40 244 448 610 5 51 235 2 0 2 1 638 42 126 87:88. .174 2 243 2 1:43 1 1 66 589 19% 89 60 356 534 890 2 0 1 2 IM 67 40 335 536 di 70 190 2 > 2 10% 69 46 138 93 62 186 2 ER 1 2 1.04 1 71 40 568 710 95 60 380 5% 2 BE 1 1 2 4 1 73 60 219 292 365 97 56 679 776 2 54 2 Be | 75 50 150 9° 66 198 2 ER 77 44 308 Es ist einleuchtend, daß unter wiederholter Anwendung dieser Tabelle ein Bruch, dessen Zähler auch die 2 übersteigt, wenn er nur seinem Nenner nach in der Tabelle sich findet, in Stammbrüche zer- legt werden kann. Zeigen wir versuchsweise an wie wir dieses 7 29? Verfahren uns denken. Zunächst ist "=1+2+2+2, a: ee ns kapie Seer la Be ara ma) een) + la Ira m) 1 1 1 x 1 (a) 29 24 58 174 232 | \94 58 174 232 Re Ah 1 1 ee ee 1 TU a 8 a 2 m 29 87 Te ar ng 1 1 > VERY HEbTR | "IE lee Br: 116 er I 1 ne GBR | 1 1 a Ursaae | BR. BE 1A. RI BR EE.. 170 1.988.112 87 106 A ER. 47 1 NE BE IT 98818 ,87.8116 SEE Sn a Me Be IE BEE 1 19 7 118 a ge lee! 213% 90.0 Ge SU 64 2. Kapitel. Ban 6:58: 176 08.29 RAU T N 58:9. IE SB a 29. 6 174 29 2 1 1 ”e 6 IM K., I 1 1 1 SR 24 58 174 232 6 174 ER, 1 1 1 174 24 58 232 6 ee BT... BR a © EEE 6 24 58 87 232 wollen, diese Zerlegungsweise sei besonders elegant, oder sie führe besonders schnell zum Ziele. Aber sie führt doch dazu, sie ist aus- reichend, vorausgesetzt wenigstens, daß im Verlaufe der Rechnung kein mit dem Zähler 2 versehener Bruch auftrete, dessen ungerader Nenner die Zahl 100 überschreitet, widrigenfalls von einer größeren Ausdehnung der Tabelle nicht abgesehen werden könnte. Drei Bemerkungen drängen sich von selbst auf. Die eine geht dahin, daß es nicht bloß eine Zerlegung eines Bruches gibt, sondern daß man die Auswahl zwischen man kann fast sagen beliebig vielen FA: | 5 29 145 Be ea on ERST WTT RT Be der Tabelle angegebenen Werte usw. Daran knüpft sich die zweite Bemerkung, daß für die komplizierteren Fälle allmählicher Zerlegung, deren wir einen (5) behandelt haben, es sich als zweckdienlich er- weist, wenn die Nenner der in der Tabelle als erste Zerlegungsergeb- nisse vorhandenen Stammbrüche gerade Zahlen sind, weil dadurch ein Aufheben durch 2 vielfach ermöglicht wird. Der ägyptische Rechner war nämlich, und das ist unsere dritte Bemerkung, gewöhnt wenn auch mutmaßlich nicht die Teilbarkeit einer Zahl durch irgend ‚eine andere, doch jedenfalls ihre Teilbarkeit durch 2 sofort zu erkennen. Das geht ohne die Möglichkeit eines Zweifels aus der a. IR oder besser geordnet 2 = Niemand wird behaupten Zerlegungen hat. So ist z. B. auch _— neben der oben erhaltenen Zerlegung. So ist = Tabelle selbst hervor. Nur wenn die Verwandlungen rn | a, ‘g = usw. von vornherein klar waren, ist deren folgerichtige Aus- schließung aus der Tabelle erklärlich. Die Ägypter. Arithmetisches. 65 Aber auch eine Frage drängt sich auf: wie ist die Tabelle entstanden!)? Wie wäre ihre Fortsetzung zu beschaffen, welche doch, wie wir sahen, bei Zerlegung von Brüchen, deren Zähler die 2 über- ‚steigen, unter Umständen notwendig wird? Die Vermutung dürfte eine nicht allzugewagte sein, daß die Tabelle, ein altes Erbstück schon zur Zeit des Ahmes, wohl niemals auf einen Schlag gebildet worden ist. Eine allmähliche Entstehung, so daß die Zerlegung bald dieses bald jenes Bruches, bald dieser bald jener Gruppe von Brüchen gelang, daß die gewonnenen Erfahrungen aufbewahrt und gesammelt wurden, dürfte der Wahrheit so nahe kommen, daß man sich berech- tigt fühlen möchte, die Mathematik ihrem geschichtlichen Ursprunge nach und ohne in die Streitfragen nach der philosophischen Begrün- dung ihrer einfachsten Begriffe einzutreten eine Erfahrungswissen- schaft zu nennen. Wie wir oben (S. 59) sagten, sind die Zerlegungen des Ahmes schon in den Fragmenten von Kahun vorhanden, oder, um uns deutlicher auszudrücken, wo in den Fragmenten von Kahun richtige Zerlegungen vorkommen — einige wenige sind irrig oder lückenhaft — stimmen sie Zahl für Zahl mit Ahmes überein. Jeden- falls kann man auch mit Bezug auf die uns gegenwärtig beschäfti- gende Tabelle nicht Vorsicht genug gegen die Versuchung. üben, allgemeine Methoden aus gegebenen Fällen herauszudeuten, damit man sie nicht vielmehr hineindeute. Eine allgemeine Methode weist allerdings der Text des Papyrus selbst durch eine der seltenen Stellen, in welchen eine wirkliche Vorschrift gegeben ist, auf. Wir meinen die Aufgabe 61 nach der Numerierung, mit welcher der Herausgeber des Papyrus die auf die Tabelle folgenden Aufgaben versehen hat. Dort heißt es?): 2 zu . . ; TR | 1 machen von einem Bruch. Wenn dir gesagt ist: was ist von so mache du sein Doppeltes und sein Sechsfaches, das ist sein zwei Drittel. Also ist es zu machen in gleicher Weise für jeden gebro- chenen Teil, welcher vorkommt.“ Um diese Vorschrift zu verstehen, müssen wir uns erinnern, daß zum Anschreiben eines Stammbruches (S. 61) der mit einem Pünkt- chen versehene Nenner genügte. „Sein Doppeltes“ von einem Bruche gesagt heißt demnach: der doppelte Nenner, selbst mit einem Punkte ‚darüber, und ist dem Werte nach nicht ein Doppeltes sondern ein ') Eisenlohr, Papyrus $. 30—34 hat sich eingehend mit dieser Frage beschäftigt. Unsere Auseinandersetzung trifft in vielen Punkten mit der dort gegebenen überein, weicht aber auch in einigen nicht ganz nebensächlichen Dingen davon ab. ?) Ebenda $. 150. CAnToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 9) 66 2. Kapitel. Halbes. Die erwähnte Vorschrift zeigt also erstlich, daß, wie wir früher vorgreifend gesagt haben, die Zerlegung — - = bekannt war, wenn sie auch in der Tabelle nicht enthalten ist. Sie zeigt ferner, daß man „für jeden gebrochenen Teil, welcher vorkommt“, Be ur Ä SE, 1 e* für jedes — in gleicher Weise — x —- =, —- rechnete. Aber ein a 3 a 2ada ® * [2 2 1 ® anderes ist immerhin „ von — zu nehmen, ein anderes 2 durch 3a zu teilen! Wir sind nicht berechtigt ohne weiteres vorauszusetzen, daß EL 1 2 2 ER 5 [0% E — — zz — — = — —— man gewußt habe, es sei „ x —;,_, also auch , ER Die Tabelle beweist uns das Vorhandensein dieser Kenntnis, denn sie liefert ausnahmslos bei jedem durch 3 teilbaren Nenner gerade diese a regung er Fr ir aan Bezieht sich etwa das „also ist es zu machen für jeden ge- 1 brochenen Teil, welcher vorkommt“ wie auf den Bruch —- so auch auf en oder mit anderen Worten ist auch, wenn » eine von 3 ver- schiedene Primzahl bedeutet, in der Tabelle eine Verwertung der Zerlegung von nr bei der Zerlegung von — ersichtlich? Gibt es R 2 2 All 5, ferner eine Zerlegung von gm selbst, welche zur Zerlegung TYR et eine geistige Verwandtschaft besitzt? Die zweite dieser Fragen läßt sich sofort bejahend beantworten. Wenn p eine Primzahl ist (und zwar selbstverständlich eine von 2 Be verschiedene Primzahl), so muß #7 eine ganze Zahl sein. Nun i 2 1 ist — = p ERNEST 2 2 f schichtliche Berechtigung freilich erst im 41. Kapitel im folgenden Bande dieses Werkes zur Sprache kommen kann, entspricht = r 4 Ihr folgen ebenso die Zerlegungen der Tabelle unter Annahme von a N En re a Wer PT N ET a nat, Te 60%.38 7 19.9769 aber » = 13, 17,.19, 29, 13, 37, 41, 43, 47, 53, 59, 61, 67, 71, 73, 79, 83, 89, 97, oder eine Mehrheit von neunzehn Primzahlen gegen fünf beweist, daß es irrig wäre anzunehmen, diese Zerlegungsart sei als Gesetz rg: gewesen. Noch weniger fügt sich die Zerlegung 2 2 9 2 a | der Brüche Fo einem Gesetze. Wie — hätte man — ‚ und dieser Zerlegungsformel, deren ge- 3a 2a6a’ ba 3alda zu erwarten. Diese Erwartung erfüllt sich nur bei a=5, 13, 17. Die Ägypter. Aritbmetisches. 67 Die Zerlegung rn findet nur statt bi a=T1, 11. Die Zerlegung - = nn zn sollte man vermuten, könne nur bei a>11l eintreten, also die Ausdehnung der Tabelle überschreiten. Statt dessen gilt sie für a=5, so daß 55 als Vielfaches seines größeren Faktors 11, nicht seines kleineren Faktors 5 behandelt ist. Noch auffallender #1 2 1 Sr. 2 ER ist die Ausnahmestellung, welche ,- — ,,,, und 51 70.150 einnehmen. Die erstere Zerlegung kümmert sich, nach unserer bisherigen Auf- fassung betrachtet, weder um den Faktor 5 noch um den Faktor 7 von 35, die letztere um keinen der Faktoren 7 oder 13 von 91. Und doch lassen sich diese Zerlegungen in unter sich gleicher Weise aus jenen Faktoren herleiten. Wenn p und q zwei ungerade Zahlen sind, 1 p> 7 nicht die ganzen 2, sondern nur 152. Im Kopfe wird jetzt (die Subtraktion 2 — ji = - vollzogen und erwogen, daß dieser Rest durch 7 mal einem zweiten Stammbruche erzeugt werden muß, dessen Nenner folglich 7 mal 4 oder 4 mal 7 sein muß. Das ist die Bedeutung der an zweiter Stelle auftretenden Multiplikation 1x<7=-1,2x7=14,4x7=28. Man könnte freilich, namentlich mit Beziehung auf die von uns als im Kopfe ausgeführt behauptete Subtraktion 2 — h = zweifel- haft sein, ob wir hier nicht Dinge hineinlesen, an welche Ahmes Me, $ 177.197 37? 41.58 Bestätigungen unserer Darstellung erschienen. Dort «wo die Zer- legung der Tabelle drei Stammbrüche gibt, enthält die Ausrechnung ganz ähnliche Subtraktionen mit ausdrücklicher Erwähnung derselben. 8 : er | a Überzeugen wir uns bei 7 — 15 57 98° nicht dachte, wenn nicht die Zerlegungen von als Die Ausrechnung hat folgende Gestalt ?): 4:34.17 1 + 2 1 a FW der, 2 1 pr 1 1 7093 "a !) Eisenlohr, Papyrus S. 36. ?°) Ebenda 8. 37. 70 2. Kapitel. ae ee) 197 1 1 e ie lg Rest r © wo die Worte „Rest - = Ze bedeuten, daß -; a 17 von den verlangten e ; 2 abgezogen noch -_- zum Reste lassen. Statt des so beseitigten Einwurfes droht uns ein zweiter, der die Ausrechnung selbst, den auftretenden Rest, die durch denselben erzwungenen ergänzenden Stammbrüche in Widerspruch setzen möchte gegen unsere Behauptung, eine Ableitungsmethode der Tabelle sei nicht ersichtlich. Und dennoch können wir diese Behauptung auf- recht erhalten. Mag immerhin, wenn der erste Teilbruch der Zer- legung gegeben war, auf den oder die anderen Teilbrüche durch eine Restrechnung geschlossen worden sein, die Wahl des ersten Teilbruches selbst war davon unbeeinflußt, und auf sie kam alles an. So gibt z. B. die Tabelle Er = _ n nu =. Wollte man zum ersten Teilbruche nur einen solchen wählen, dessen 43faches unterhalb der 2, aber nahe bei ihr lag, so hinderte nichts folgende Rechnung an- zustellen, der wir zum Vergleiche mit den übrigen eine ganz ägyp- tische Anordnung geben: 1 43 1 43 2 2 kr 2 86 5 145 3.129 de «6 258 = 822 12 516 1 | 4:2 ' * 24 7 5 24 Rest 6 94 * 24 1032 und man hätte re = — 2 . gefunden. Der Rechner muß doch irgend eine Veranlassung gehabt haben mit r statt etwa, wie es hier gezeigt wurde, mit n zu beginnen, und welches diese Veranlassung waı; wissen wir eben nicht. Das heißt wir kennen nicht die Ablei- tung der Tabelle. Man fasse übrigens die Ausrechnung auf, wie immer man wolle, der Umstand bleibt jedenfalls bemerkenswert, daß ein Rest bei ihr EEE Die Ägypter. Arithmetisches. 71 zur Rede kommt, daß also eine gegebene Zahl von einer anderen (hier von der Zahl 2) abgezogen wurde, daß man diesem Rest ent- sprechend eine Ergänzung durch Vervielfachung wieder einer gege- benen Zahl (des Nenners des zu zerlegenden Bruches 4) mit zu suchenden Stammbrüchen zu beschaffen hatte. So sehen wir die Möglichkeit, wenn nicht die Notwendigkeit einer eigentlichen Er- gänzungs- oder Vollendungsreehnung, und eine solche unter dem ägyptischen Namen Segem schließt sich mit 17 Beispielen un- mittelbar an die große und die auf letztere folgende kleine Zer- legungstabelle an!). Die Segemrechnung hat es mit multiplikativen und additiven Ergänzungen zu tun, d. h. es wird in den ersten Bei- spielen gelehrt, womit eine bald aus Brüchen allein, bald aus mit Brüchen verbundenen Ganzen bestehende gegebene Zahl vervielfacht werden muß, es wird in späteren Beispielen gelehrt, wieviel zu einer ähnlichen gegebenen Zahl hinzugefügt werden muß, um einen ge- gebenen Wert hervorzubringen. Wir könnten kürzer sagen: es wird mit einer gegebenen Zahl in eine andere dividiert, oder aber sie wird von einer anderen subtrahiert, wenn nicht dadurch der Zweck wie die Verfahrungsweise des Ägypters durchaus verwischt würde. Das Verfahren besteht wesentlich in einer Zurückführung der gegebenen Brüche auf einen gemeinsamen Nenner, die als Hilfsrechnung durch andersfarbige (rote) Schriftzüge sich hervorhebt, und wobei gewissermaßen über unsere moderne Anwendung von Generalnennern hinausgegangen wird, indem man sich nicht versagt, auch solche gemeinsame Nenner zu wählen, in welchen die Nenner der gegebenen Stammbrüche nicht eine ganzzahlige Anzahl von Malen enthalten sind. Maßgebend ist nur, daß jener Generalnenner zur Aufgabe selbst oder zu der bis dahin geführten Rechnung in Be- ziehung stehe, und nicht etwa Scheu vor zu großen Generalnennern bestimmt die Wahl desselben. Eine solche Scheu kannte man tat- sächlich nicht, wie Aufgabe No. 33 beweist, in welcher 5432 als Generalnenner vorkommt?). Zwei von den Segemrechnungen, No. 23. und No. 13., mögen jene die additive, diese die multiplikative Er- gänzung erkennen lassen. a Fans: Bar In No. 23. soll 7 810303 nenner wird 45, allerdings ohne daß ein Wort davon verlautete. Es werden eben nur die genannten Stammbrüche durch die Zahlen N | 1 1,9, 9 4 additiv zu 1 ergänzt werden. General- >, 1 ersetzt, und damit ist für den Sachkundigen ') Eisenlohr, Papyrus 8. 53—60.. °) Ebenda 8. 73. 12 2. Kapitel. hinlänglich erklärt, daß Fünfundvierzigstel gemeint sind. Deren Summe 23 = 2 Fünfundvierzigstel bedarf zur Ergänzung auf - noch 3 215 _ 11, dann fehlt noch + ithin ist die g un Er ch „, mithin ist die ganze E 2:18 rgänzung 55 70- In No. 13. soll este multiplikativ zu = ergänzt werden. Wohl mit Rücksicht darauf, daß 112 = 7 x< 16, wird ein gerades Vielfaches von 7, nämlich 28, zum Generalnenner gewählt, also n Ab = > —i und deren Summe = = gesetzt. Diese soll zu n = = ge- macht werden, und das geschieht, indem man die ne selbst, deren Hälfte } . nd die Hälfte laser Halfte = vereinigt. Mit anderen [0 0) Worten . a wird durch Vervielfachung mit v. zu - vollendet. Unsere Darstellung des letzten Beispieles gibt uns nicht bloß einen Einblick in eine Segemaufgabe, sondern in das Dividieren der Ägypter überhaupt, wie es im ganzen Papyrus an den verschieden- sten Stellen wiederkehrt, stets den Weg mittelbarer Vervielfältigung wählend, in verwickelteren Fällen zunächst mit einem angenäherten Ergebnisse sich begnügend, welches dann selbst noch nachträglich eine Ergänzung notwendig macht. Wenn es in No. 58. heißt): „Mache du ann die Zahl 93 um zu finden 70. a die Zahl 931 3, Ihre Hälfte 46, ihr Viertel 23%. Mache du „ ,“, so ist die Meinung keine andere, als die, daß jene Hälfte mit 46, und jenes Viertel mit 234 ZU- sammen die verlangten 70 geben. Wenn No. 32. verlangt 1 z 7 zu 2 zu Bash so vervielfältigt Ahmes die gegebene Zahl zunächst mit = (wobei der Umweg R - 61 erst , mid dann noch -, - der Zahl statt dieser selbst zu nehmen nur dureh den Wunsch orklärn werden kann, bei der weiteren Arbeit möglich viele Multiplikationsergebnisse von 12 zu er und 4 Bang die Summe aller dieser Teilprodukte in die Form de a n MAT : rn !) Eisenlohr, Papyrus $. 144. ?°) Ebenda 8. 70. Die Ägypter. Arithmetisches. 13 1 2 8 .. = er Er will aber 2 = > erhalten, zu deren Ergänzung noch 4 11000, erforderlich sind. Nun war bei der Gewinnung des an- 144 72 144 genäherten Produktes Pr in die Form SE zu gebracht worden. Dar- 1 IE: aus geht hervor, daB „,, > E — 4, Sein muß und in Br, NE 6 :5 114 228° Wir sind fast unverantwortlich ausführlich in der Darstellung dieser Rechnungsverfahren und ihrer tabellarischen Hilfsmittel ge- wesen. Möge es uns gelungen sein dem Leser die Denkweise eines ägyptischen Rechners einigermaßen zu vergegenwärtigen. Das wäre freilich unmöglich, wenn unsere Auffassung eine so durchaus irrige wäre, als behauptet worden ist!). Zunächst soll in den Segemrech- nungen von einem gemeinschaftlichen Nenner keine Rede sein. Das ist vollständig wahr, wenn man den Nachdruck auf das Wort selbst legt. Ahmes hat dem Nenner, auf welchen die vorkommenden Brüche zurückgeführt werden, keinen Namen gegeben. Die Operation der Zurückführung als solche ist auch nicht geschildert. Aber als Mittel zur Hauptrechnung, welche Segem heißt, wird sie fortwährend geübt, wie wir an der Hand der Beispiele gezeigt haben. Ferner soll auch der Zweck der Segemrechnungen nicht der von uns angegebene sein. Ahmes beweise vielmehr unter dem Namen Segem den Satz, daß wenn man verschiedene Zahlengrößen dem gleichen Rechnungsverfahren unterwerfe, die Ergebnisse im gleichen Verhältnisse sich ändern, wie die Zahlengrößen, von denen man ausging. Indem wir unsere Leser auch mit dieser Auffassung be- kannt machen, verschweigen wir allerdings nicht, daß unserer Mei- nung nach hier Dinge in Ahmes hineingelesen werden, an die er nie dachte. Ein Wort, welches mit Verhältnis übersetzt werden könnte, kommt überhaupt nicht vor. Richtig ist nur das eine, und das war übersehen worden, bis unser Herr Gegner darauf aufmerk- sam machte, daß in den Segemrechnungen die zu erreichende Zahl meistens das Siebenviertelfache der Ausgangszahl ist, so daß diese ‚ganz, zur Hälfte und zum Viertel genommen und so vereinigt werden muß. Wir sind sogar in der Lage ähnliches aus weit älterer Zeit an- zugeben. H. Brugsch hat 1891 im Museum von Gizeh zwei mit | e. Der gesamte gesuchte Su ist daher ar {> ‘) Les pretendus problemes d’algebre du manuel du calceulateur Egyptien | (Papyrus Rhind) par M. L&6on Rodet im Journal Asiatique für 1882. Die » 122 Seiten starke Abhandlung ist auch im Separatabdruck erschienen. 74 2. Kapitel. Gips überzogene Tafeln entdeckt!), welche zum Rechnen benutzt wurden und noch mit Zahlzeichen bedeckt sind. Schriftcharakter und beigefügte Namen wie Amenemhat, Usertesen weisen auf die XII, wenn nicht auf die XI. Dynastie hin. Die vollzogenen Rechnungen bestehen darin, daß Zahlen angegeben werden, deren erste das 7fache, 10fache, 11fache, 13fache der zweiten sind. Das 7fache ist beispiels- weise durch die Zahlenreihe erläutert 7 1 1 1 4 28 1 1 x 14 1 48 1 320 320 640 usw., wo allerdings die letzte Angabe nur näherungsweise richtig ist, 1-5 6. 912 1 da r= nicht Per ist, sondern er also etwa Pen mindestens fehlt. Sei aber bei dem Umstande, daß Ahmes nur das Wort Segem gebraucht, ohne es irgend zu erklären, ein Zweifel über Sinn und Absicht gestattet, sei darum die eine oder die andere Deutung vor- zuziehen, oder gar eine dritte, deren Enthüllung die Zukunft bringen könnte, die eine Wahrheit wird wohl sicherlich genügend zutage getreten sein, daß Ahmes dieses Handbuch nicht für den ersten besten, sondern nur für die ersten und besten der Rechnungsver- ständigen seiner Zeit schrieb. Sein Werk setzt das gemeine Rech- nen mit ganzen Zahlen durchaus voraus. Es schließt nicht aus, daß die Zwischenrechnungen unter Anwendung von Hilfsmitteln aus- geführt wurden, von welchen Ahmes nicht redet. Wenden wir uns nunmehr zu den eigentlichen Aufgaben des Papyrus, welchen wir gleichfalls den Stempel eines verhältnismäßig höheren Wissens aufgeprägt finden. An der Spitze dieser Aufgaben stehen die Hau- Böchwungen® ], die dem Inhalte nach nichts anderes sind, als was die heutige Algebra Gleiehungen ersten Grades mit einer Unbekannten nennt. Die unbekannte Größe heißt Hau, der Haufen, und mit diesem Worte wird nicht bloß bis zu einem gewissen Grade gerechnet, es kommen sogar mathematische Zeichen vor, welche von den gegen- wärtig gebräuchlichen sich nur insoweit unterscheiden, als sie ohne Anwendung von zugleich mit ihnen auftretenden Wörtern nicht aus- reichen einen nicht mißzuverstehenden Sinn herzustellen. Als solche ) H. Brugsch-Pascha, Aus dem Morgenlande (Reclams Universal- Bibliothek No. 3151 und 3152) 8. 35—40. °) Eisenlohr, Papyrus 8. 60—88. eh Die Ägypter. Arithmetisches. 75 mathematische Hieroglyphen dürfen wir ausschreitende Beine für Addition und Subtraktion nennen. Die Addition wird durch dieselben bezeichnet, wenn die Beine der Zeichnung der Füße gemäß eben nach der Richtung gehen, wohin auch die Köpfe der Vögel, der Menschen usw. in den dergleichen darstellenden Hieroglyphen schauen, die Subtraktion im entgegengesetzten Falle. Wir nennen ferner ein aus drei horizontalen parallelen Pfeilen bestehendes Zeichen für Differenz. Wir nennen endlich das Zeichen < in der Bedeutung „das macht zusammen“ oder „gleich“. Stellen wir einige dieser Aufgaben in ihrem Wortlaute zusammen, welchen wir die Schreibweise als Gleichungen folgen lassen. No. 24. Haufen, sein Siebentel, sein Ganzes, es macht 19. D.h.- +2=19. No. 28. = hinzu, -;- ee bleibt 10 übrig. D. h. (« + = x) -,(e+3 2) — 10. No. 29. hinzu, — hinzu, > hinweg (?) bleibt 10 übrig. D.h. (2 en x) +4 (« + N ad @« Br 2) + (« + - e) | —=:10. TR. BT | No. 31. Haufen, sein » sein ,, Pant 2, D.h22+% + = 7 +2=38. . 1 . sein -—, sein Ganzes, es be- Das Wesen einer Gleichung besteht nun allerdings weit weniger in dem Wortlaute als in der Auflösung, und so müssen wir, um die "Berechtigung unseres Vergleichs zu prüfen, zusehen, wie Ahmes seine Haurechnungen vollzieht. Er geht dabei ganz methodisch zu Werke, indem er die Glieder, welche, wie man heute sagen würde, links vom Gleichheitszeichen stehen, zunächst in eins vereinigt. Freilich tut er das in doppelter Weise, bald so, daß die Vereinigung im Neben- einanderschreiben der betreffenden Stammbrüche bestehend nur eine formelle ist, z. B. No. 31.: hrs: e ke x=33; bald so, daß durch Zurückführung auf einen Generalnenner wirkliche Addition vorge- nommen ist, z. B. No. 24.: - 210; No. 28.: % x = 10; No. 29.: 20 27 zienten der unbekannten Größe in die gegebene Zahl dividiert, wie eben der Ägypter zu dividieren pflegt, d. h. bei No. 31. man verviel- x2—=10. Im erstgenannten Falle wird sofort durch den Koeffi- fältigt ia sr solange bis 33 herauskommen und findet so den 76 2. Kapitel. freilich nichts weniger als übersichtlichem Wert des Haufens PR PER BEL See Eis ar ° Fe 670 776 194 gg, Pei welchem wir nur zu bemerken geben, ES 3 3 .,, daß TEE der aus der Tabelle herrührende Wert von ar ist. Der zweite Fall eröffnet wieder zwei Möglichkeiten. Entweder man löst 47 „<= € indem die Division a vollzogen und deren Quotient mit b vervielfacht wird; so in No. 24, wo zuerst 8 in 19 als 2, — mal 1 g n gefunden wird. Oder aber enthalten und dann 7 mal 245 als 16 man dividiert mit nr in 1 und vervielfacht diesen Quotienten mit C; so wahrscheinlich in den Aufgaben No. 28. und 29. In No. 28. wird nämlich z von 10 gesucht und von 10 abgezogen um den Haufen 9 9 Er 1 zu finden; wir fassen das so auf, es sei .—;,—1--;, gewonnen 9 und dann 1 — n mal 10 ermittelt worden. Bei No. 29. wird 5, oder 27 27 x 4:71 — ım Werte von 1 —- ” En berechnet und dieses 1Omal genommen, so daß 13-2: als der Haufen erscheint. Auch hier sollen wir!) eine durchaus irrige Darstellung gegeben haben. Nicht als Gleichungen seien die Haurechnungen aufzufassen, sondern als Anwendungen der hier erstmalig auftretenden Methode des falschen Ansatzes. Ahmes wähle, wenn eine Aufgabe von der. a b auch falschen Wert d. Durch ihn wird freilich 5% nicht Ü, son- Form — x = ( vorgelegt sei, für x zunächst den bequemen, wenn dern a, und der richtige Wert von & wird sodann gefunden, indem man von b zu ihm dasselbe Verhältnis obwalten läßt, wie von a zu ©. Der Sache nach stimmt diese Methode des falschen Ansatzes und die der Gleichungsauflösung offenbar überein, und bei fehlendem Zwischentexte ist es beinahe Geschmackssache, ob man das eine, ob man das andere erkennen will. Daß die Vorstellung eines Hindurchgehens durch einen falschen Ansatz den Ägyptern nicht fremd war, haben wir immer behauptet, wie sich bei der Besprechung der Aufgabe No. 40. zeigen wird. 1) Rodet, Les pretendus problemes d’algebre du manuel du calculateur Egyptien. Die Ägypter. Arithmetisches. 77 Daß aber die Ägypter auch mit dem Gleichungsbegriffe vertraut waren, und daß ihnen also Fremdartiges nicht untergeschoben wird, wenn man, wie wir es getan haben, die Haurechnungen Gleichungs- auflösungen nennt und als solche behandelt, das zeigen vorzugsweise andere Aufgaben, welche im Papyrus räumlich von den Haurech- nungen getrennt von No. 62. an auftreten). Diese Aufgaben würden in modernen Übungsbüchern, in welchen sich regelmäßig verwandte Dinge behandelt finden, unter dem Namen der Gesellschafts- rechnungen erscheinen. Die deutlichste derselben, No. 63., hat nach zweifellos richtig hergestelltem Text folgenden Wortlaut: „Vor- ; . ! Wish ; schrift zu verteilen 700 Brote unter vier Personen, 5 für einen, ER } : - 1 . ; 5 für den zweiten, —- für den dritten, 7 für den vierten“. Als Gleichung geschrieben wäre hier = + = + = cH+ = x = 100 4 Pr oder 1 x= 100. Nun wird zwar nicht in ägyptischer Weise mit 1-2 in 1 dividiert, aber doch das Ergebnis 5 n sofort hin- geschrieben, ein Ergebnis, welches der Segemaufgabe No. 9. ent- nommen sein kann’), woraus zugleich ein weiterer Nutzen dieser Ergänzungsrechnungen und damit eine weitere Begründung der Not- wendigkeit ihrer besonderen frühzeitigen Einübung hervorgeht. Der Wortlaut ist nämlich anknüpfend an den der Aufgabe: „Addiere du Erz des gibt nun 144. Teile du 1 durch 1 Fr gibt nun Bea Mache du I von 700, das ist 400.“ Wie könnte man bei dieser Rechnung von einem falschen Ansatze reden? Nein, es ıst vollständige Gleichungsauflösung. Von EC = ( ist weiter ge- schlossen auf x = (1 :=) Ü, genau so wie wir oben es auch für die Aufgaben No. 28. und 29. wahrscheinlich zu machen versuchten. Unter den Aufgaben der letzterwähnten Gruppe ist No. 66. nicht ohne sachliches Interesse, wo aus dem Fettertrage eines Jahres der tägliche Durchschnittsertrag mit Hilfe der Teilung durch 365 er- mittelt wird. Die Länge des Jahres zu 365 Tagen führt in Ägypten auf eine sagenhafte Urzeit noch vor König Mena zurück). Der Gott Thot soll der Mondgöttin im Brettspiele 5 Tage abgewonnen haben, ') Eisenlohr, Papyrus S. 151—174; insbesondere 8.159 für die Aufgabe No. 63. und S. 165—166 für die Aufgabe No.66. *) Ebenda 8.55. °) Maspero- Pietschmann S$. 76—77. 78 2. Kapitel. die er den bis dahin in der Zahl von 360 üblichen Tagen des Jahres zulegte. Und wie die Ägypter mindestens als Mitbewerber zu anderen ältesten Kulturvölkern um den Vorrang der Kenntnis der Jahres- länge von 365 Tagen auftreten, so gebührt ihnen ganz gewiß das Erstlingsrecht in der Einführung des Schaltjahres von 366 Tagen, welches je nach drei gewöhnlichen Jahren eintretend eine Ausglei- chung der Jahresdaten mit den wirklichen Jahreszeiten zum Zwecke hat. Das Edikt von Kanopus vom T. März 238 v. Chr. führte diese Einrichtung ein, wenn sie auch bald wieder in Vergessenheit geriet!). Dem Inhalte und der Art des Auftretens nach hochbedeutsam sind die Aufgaben No. 40., 64., 79. des Papyrus. Ihr getrenntes Vor- kommen scheint darauf hinzuweisen, daß der mathematische Zusammen- hang derselben für Ahmes nicht deutlich, oder nicht erheblich genug war um die Anordnung der Aufgaben zu beeinflussen. Ihr Gegen- stand ist der Lehre von den arithmetischen und den geometri- schen Reihen entnommen. No. 40. „Brote 100 an Personen 5; -- von 3 ersten das von Personen 2 letzten. Was ist der Unterschied ?“?) Ahmes will eine arithmetische Reihe von 5 Gliedern gebildet haben, deren größtes Anfangsglied a, deren negative Differenz —d sei, und welche der Be- dingung entspricht, daß "FU ZI FU 9 _ 1. _39)+(a-4d), oder 11(a — 4d) = 2d, beziehungsweise d — 52 > (a — 4d) sei. Mit anderen Worten: der Unterschied der Glieder muß das 5 £ fache des niedersten Gliedes betragen, damit der einen ausgesprochenen Bedingung genügt werde, und Ahmes kleidet dieses ohne jede Be- gründung in die Worte: „Mache wie geschieht, der Unterschied Be 2 worauf er die Reihe hinschreibt, welche die 1 als letztes Glied be- sitzt: 23, 17), 12, 65,1. Allein die Summe 's dieser Reihe ist nur. 60, während sie nach der anderen ausgesprochenen Bedingung 100 sein solle Nun ist 100 das 14 fache von 60, man braucht also nur jedes Reihenglied > mal zu nehmen um beiden Bedingungen zugleich gerecht zu werden. Bei Ahmes heißt dieses wieder ohne weitere Begründung „mache du vervielfältigen die Zahl 1 mal“, wo- ı) Über das im April 1866 aufgefundene Edikt von Kanopus vgl. R. Lep- sius, Das bilingue Dekret von Kanopus. Berlin 1866. Bd.I. ?) Eisenlohr, Papyrus S. 90—92. Die Ägypter. Arithmetisches. 719 durch er zu der richtigen Reihe 38, 29. ‚20, 10: n - ; er gelangt. Hier hat Ahmes in der Tat zuerst einen Flichen Ansatz versucht, um ihn nachträglich zu verbessern, und wir werden uns dieses Ver- fahren für später zu merken haben. No. 64. „Vorschrift des Abteilens Unterschiede. Wenn gesagt dir Getreide Maß 10 an Personen 10. Der Unterschied von Person jeder zu ihrer zweiten beträgt an Getreide Maß ne ist er.“ 25: Hier ist aus der Summe s, der wieder negativ gewählten Differenz —d und der Gliederzahl » das Anfangsglied « der fallenden arithmeti- schen Reihe zu suchen. Nun ist «+ er d)+--+la —- mn — Dd)= de s-na—_""—Dg und daraus a „+ (n—]1)- E und genau nach 2 dieser a läßt Ahmes ER, Der Wortlaut mag diese Be- hauptung begründen. Ahmes schreibt vor: „Ich teile in der Mitte ld. h. ich bilde den mittleren Durchschnitt —| d.i. 1 Maß. Ziehe ab 1 von 10 Rest 9 [d. h. bilde n— 1]. Mache die Hälfte des Unterschiedes Id. h. mache ] d. i. Nimm es mal 9 [d. i. nimm d>(m—1)], das gibt bei dir 4 4 6: Lege es hinzu zur Teilung mittleren [d. h. vollziehe die Addition 4 + x (n +1)]. Ziehe ab du Maß = für Person jede um zu erreichen das Ende.“ ine höchst merkwürdige Parallelstelle findet sich in den Frag- menten von Kahun, nämlich: ) Eisenlohr, Papyrus S.159—162. 80 2. Kapitel. 11 12 he 12 1 Be: 7 7 Die 10 letzten Zahlenangaben bilden eine fallende arithmetische Reihe mit der Differenz = und der Summe 100. Mit der als Überschrift die- nenden Zahl 110 ist nichts anzufangen, es sei denn daß man annähme, zwischen dem Zeichen für 10 und dem für 100 sei beim Schreiben irgend etwas vergessen worden. Man hätte alsdann als Überschrift zu denken: 100 in 10 Glieder zu zerlegen, und nach dieser Über- schrift fände sich die Auflösung der Aufgabe. In den beiden Aufgaben No. 40. und No. 64. bedurfte es von uns der Erläuterungen, um die betreffenden Auflösungsmethoden zu rechtfer- tigen. Ahmes setzt kein Wort von dieser Art hinzu. Das beweist doch mit aller Bestimmtheit, daß die notwendigen Formeln aus einem anderen Lehrbuche hergenommen sein mußten, oder aber, daß der mündliche Unterricht für die nötige Erklärung bei solchen Schülern sorgte, die zur Frage: warum macht man das so? reif waren. Keinen- falls konnte der ägyptische Mathematiker, wenn die Anwendung dieses Wortes gestattet ist, in seinem Wissen von arithmetischen Reihen auf die unbewiesenen, ungerechtfertigten Formeln beschränkt gewesen sein, von denen in No. 40. und 64. Gebrauch gemacht ist. Dafür spricht noch weiter das Vorhandensein eines besonderen Ausdruckes Tunnu, die Erhebung, für den Unterschied zweier aufeinander folgender Glieder der Reihe. Wir haben uns auch noch auf die Aufgabe No. 79. für Kennt- nisse in der Lehre von den geometrischen Reihen bezogen. Wie weit sich diese erstreckten, ist freilich viel zweifelhafter als bei den arithmetischen Reihen. In der genannten Aufgabe!) ist von einer Leiter, Sutek, die Rede, welche aus den Gliedern 7, 49, 343, 2401, 16807 bestehe. Neben diesen Zahlen, offenbar neben den 5 ersten Potenzen von 7, stehen Wörter, die auf deutsch Bild, Katze, Maus, Gerste, Maß heißen. Der Sinn dieser Aufgabe war durch die mehr- erwähnte Eigentümlichkeit des Handbuches, nirgend verbindende oder erklärende Worte zwischen die Zahlenangaben einzuschieben, unver- ständlich und mußte es bleiben, bis es gelang bei einem Schriftsteller, der fast 53000 Jahre nach Ahmes lebte, eine Aufgabe aufzufinden, von welcher im 41. Kapitel ing folgenden Bande die Rede sein wird, ") Eisenlohr, Papyrus S. 202—204. Die Ägypter. Arithmetisches. 81 und welche den Schlüssel lieferte‘). Der fehlende Wortlaut der Aufgabe No. 79. ist demnach folgendermaßen herzustellen: 7 Per- sonen besitzen je 7 Katzen; jede Katze vertilgt 7 Mäuse; jede Maus frißt 7 Ähren Gerste; aus jeder Ähre können 7 Maß Getreidekörner entstehen; wie heißen die Glieder der nach diesen Angaben zu bil- denden Zahlenreihe, und wie groß ist ihre Summe? Ahmes bildet die Glieder wirklich. Er addiert sie zu 19607 und findet in einer Nebenrechnung die gleiche Zahl 19607 als Produkt von 7 mal 2801. Allerdings ist nicht gesagt, wie Ahmes gerade zu dem Faktor 2801 gelangte, aber andererseits ist auch nicht in Abrede zu stellen, daß 2801 = | daß also möglicherweise, vielleicht wahrscheinlicher- weise hier die Kenntnis der Summierungsformel für die geometrische Reihe a+ta+: mt von einer Gewißheit keine Rede sein kann. Das wäre etwa der Inhalt des Übungsbuches des Ahmes, soweit er für die Rechenkunst von Wichtigkeit ist. Bevor wir den geome- trischen Teil der Aufgaben zur Sprache bringen und des Metrolo- gischen im Vorbeigehen gedenken, schalten wir hier Erörterungen ein, die sich auf die schriftliche Bezeichnung der Zahlen bei den Äoyptern und auf das Rechnen derselben beziehen. Daß die Schrift der Ägypter ihren ursprünglichen Charakter als Bilderschrift in den Zeichen, welche zur monumentalen Anwendung kamen, am reinsten bewahrt hat, braucht gewiß kaum gesagt zu werden. Die Hieroglyphen, eingehauen in die Obelisken und Ge- denksteine, aufgemalt auf die Wände der Tempel und der Grabes- kammern, lassen auf den ersten Blick sich als Zeichnungen von Menschen, von Tieren, von Gliedmaßen, von Gegenständen des täg- lichen Gebrauches erkennen, wenn sie auch allmählich mit Silben- oder Buchstabenaussprache versehen wurden, welche mit dem dar- gestellten Bilde oft nur lautlich zusammenhängen. Bei rascherem Schreiben veränderten sich selbstverständlich die Zeichen. Absicht- lich oder zufällig abgerundet verschwammen sie bis zur Unerkenn- barkeit ihres Ursprunges in rasch hinzuwerfende Züge der hiera- tischen Schrift. Endlich ist als letzte Erscheinungsweise dieses Abhandenkommens der ersten Umrisse die demotische Schrift zu erwähnen, heute noch die meisten Schwierigkeiten bereitend, bei denen wir uns glücklicherweise nicht aufzuhalten brauchen), da die- jenigen Schriftstücke, von denen allein die Rede sein muß, teils in y Rodet, "Les siitbehne problömes: d’algebre du. manuel du caleulateur Egyptien pag. 111—113 der Sonderausgabe. CAnNTOoR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 6 82 2. Kapitel. Hieroglyphen an verschiedenen noch zu nennenden Tempelwänden, teils in hieratischer Schrift — so besonders das bisher besprochene Werk des Ahmes — erhalten sind. Die Richtung der Schrift ist bei Hieroglyphen wechselnd. Man pflegte nämlich auf die Richtung, in welcher der Lesende vor- überschreitend gedacht war, Rücksicht zu nehmen, und so mußte bei Inschriften auf zwei Parallelwänden notwendigerweise auf der Wand zur Rechten des Hindurchgehenden die Schrift von rechts nach links fortschreiten, auf der anderen Wand von links nach rechts. Sämt- liche Hieroglyphen kommen daher bald in einer Form vor, bald in der durch Spiegelung aus jener entstehenden zweiten Form. Man hat sich gewöhnt bei der Wiedergabe der Hieroglyphen im Drucke stets die Form anzuwenden, welche dem Lesen von links nach rechts entspricht. Die hieratische Schrift dagegen führt immer von. rechts nach links). Sollten in bieroglyphischen Inschriften Zahlen dargestellt werden, so standen dazu verschiedene Mittel zu Gebote). Bald wiederholte man das zu Zählende, wie z. B. in einer Inschrift von Karnak, wo „9 Götter“ in der Weise geschrieben ist, daß das Zeichen für Gott neunfach nebeneinander abgebildet ist. Bald schrieb man die Zahl- wörter alphabetisch aus, ein höchst wichtiges Vorkommen, da hieraus die Kenntnis des Wortlautes wenigstens in einigen Fällen zu ge- winnen war, wozu alsdann Ergänzungen teils aus der Benutzung von Zahlzeichen in Silbenbedeutung, teils aus der koptischen Sprache usw. kamen, so daß man gegenwärtig über eine ziemliche Menge von ägyptischen Zahlwörtern verfügt?). Bei weitem am häufigsten ge- brauchten aber die Ägypter bestimmte Zahlzeichen, denen der Franzose Jomard schon während der ägyptischen Expedition 1799 auf die Spur kam, und die er 1812 bekannt machte. Sie stammen meistens aus dem sogenannten „Grabe der Zahlen“, das Champollion unweit der Pyramiden von Gizeh auffand, und in welchem dem reichen Besitzer seine Herden mit Angabe der einzelnen Tiergattungen vor- gezählt werden, als 834 Ochsen, 220 Kühe, 3234 Ziegen, 760 Esel, 974 Schafe. Die Zeichen sind ihrer Bedeutung nach 1 (I), 10 (N ) ‚100 (e), 1000 (&): 10000 ( [ ); auch ein Zeichen für 100000 (S ); für Million (K): sogar für 10 Million (O) ist bekannt geworden*). Was ı) Maspero-Pietschmann S. 590. ®) Mathem. Beitr. Kulturl. S. 15. ®) Eisenlohr, Papyrus 8. 13—21. *, Hieroglyphische Grammatik von H. Brugsch. Leipzig 1872, 8.33. Die Ägypter. Arithmetisches. 83 die Zeichen darstellen, ist nicht bis zur vollen Sicherheit klar. Daß 1 durch einen senkrechten Stab, 10000 durch einen deutenden Finger, 100000 durch eine Kaulquappe, Million durch einen sich verwundern- den Mann zu erklären sei, darin mögen wohl alle einig sein. Die vier übrigen Zeichen dagegen für 10, 100, 1000, 10 Million sind bald so, bald so gedeutet worden. So hat man beispielsweise in dem Zeichen für 100 bald einen Palmstengel, bald einen Priesterstab, in dem für 1000 bald eine Lotusblume, bald eine Lampe erkennen wollen. Wir sehen von dieser Einzeldeutung als uns nicht berührend ab und schildern nur die Methode, nach welcher mittels dieser Zeichen die Zahlen geschrieben wurden. Sie ist eine rein additive durch Nebeneinanderstellung oder Juxtaposition, indem das Zeichen der Einheit einer jeden Ordnung so oft wiederholt wird als sie vorkommen sollte. Der leichteren Übersicht wird dadurch Vorschub geleistet, daß Zeichen derselben Art, wenn mehr als vier derselben auftreten sollten, in Gruppen zer- legt zu werden pflegten, so daß nicht mehr als höchstens vier Zeichen derselben Art dicht nebeneinander geschrieben wurden. Eine der- artige Gruppierung scheint übrigens fast allerorten sich frühzeitig eingebürgert zu haben, selbst bei solchen Völkern, die in ihren mit lauter einfachen Strichen versehenen Kerbhölzern zu der niedrigsten Form eines schriftlichen Festhaltens einer Zahl allein sich aufzu- schwingen vermochten!), Die Reihenfolge der Zeichen überhaupt und, bei Zeichen derselben Art, der Gruppen gehorcht dem Gesetze der Größenfolge, welches wir in der Einleitung erläutert haben. Bei den von links nach rechts verlaufenden Hieroglyphentexten steht demnach das Zeichen, beziehungsweise die Gruppe höchster Zahlen- bedeutung immer links von den anderen, und umgekehrt verhält es sich bei den Texten entgegengesetzten Verlaufs. Kamen neben den Ganzen auch Brüche vor, so wurden diese selbstverständlich nach den Ganzen geschrieben. Die Bezeichnung der Stammbrüche findet so statt, daß der Nenner in gewöhnlicher Weise geschrieben wird, darüber aber das Zeichen —> Platz findet, welches ro ausgesprochen wird. Nur statt a schreibt man = und statt des uneigentlichen Stammbruches un ar oder +P- Die hieratischen Zahlzeichen wurden fast ebenso frühzeitig wie die hieroglyphischen bekannt, indem Champollion zwischen 1824 und 1826 aus der überaus reichen ägyptischen Sammlung zu Turin und den Papyrusrollen des Vatikan die Grundlage zu ihrer Entzifferung » Pott 1, 8.89; II, 8.58. 6* 84 2. Kapitel. gewann. Daß auch hier das Gesetz der Größenfolge für ganze Zahlen wie für Brüche maßgebend ist, daß der Richtung der hieratischen Schrift entsprechend das Größere ausnahmslos rechts von dem Klei- neren steht, braucht kaum gesagt zu werden. Zum Schreiben der ganzen Zahlen benutzt die hieratische Schrift beträchtlich mehr Zeichen als die hieroglyphische, weil sie von der Juxtaposition unter sich gleicher Zeichen Abstand nimmt, vielmehr für die neun mög- lichen Einer, für die ebensovielen Zehner, Hunderter, Tausender sich lauter besonderer voneinander leicht unterscheidbarer Zeichen bedient. Sie spart an Raum und stellt dafür höhere Anforderungen an däs Wissen des Schreibenden oder Lesenden. Nicht als ob jene Zeichen insgesamt voneinander unabhängig wären. Ein Blick auf die Tafel am Schlusse dieses Bandes genügt, um zu erkennen, daß die Einer mit geringen Ausnahmen sich aus der Vereinigung der betreffenden Anzahl von Punkten zu Strichen und aus der Verbindung solcher Striche zusammengesetzt haben '), daß die Hunderter und Tausender aus den Zeichen für 100 und 1000 mit den sie vervielfachenden Einern entstanden sind, daß jene Zeichen für 1000, für 100, auch für 10 den Hieroglyphen entstammen, unter Beachtung des Gegensatzes zwischen einer rechtsläufigen und einer linksläufigen Schrift. Die übrigen Zehner fordern jedoch den Scharfsinn des Erklärers so weit heraus, daß wir darauf verzichten auch nur einen Versuch in dieser Beziehung anzustellen. Die Hieroglyphe für 10 hat sich, wie man bemerken wird, bei der hieratischen Schrift oben zugespitzt, und so bestätigt sich der Bericht eines wahrscheinlich in Ägypten geborenen griechischen Schrift- stellers aus dem Anfange des V. Jahrhunderts n. Chr., Horapollon, welcher mitteilt ?), die 10 werde durch eine gerade Linie dargestellt, an. welche eine zweite sich anlehne. Derselbe Schriftsteller sagt auch ?), die 5 werde durch einen Stern dargestellt, wie gleichfalls von der neueren Forschung bestätigt worden ist, wenn auch dieses Zeichen weniger Zahlzeichen als eigentliche Worthieroglyphe gewesen zu sein scheint. Bei der hieratischen Schreibweise der Brüche hat das hierogly- phische ro sich zu dem Punkte verdichtet, der, wie wir schon wissen, über die ganze Zahl des Nenners gesetzt den Stammbruch erkennen ließ. (8. 61.) Den Hieroglyphen von : und R entsprechen gleich- falls aus ihnen abgeleitete Zeichen. Außerdem gibt es noch beson- ı) R.Lepsius, Die altägyptische Elle und ihre Eintheilung (Abhandlungen der Berliner Akademie 1865) S.42. °) Horapollon, Hieroglyphica Lib. II, cap. 30. °) Horapollon, Hieroglyphica Lib.I, cap. 13. Die Ägypter. Arithmetisches. S5 dere hieratische Zeichen für E und 5 2 y ‚ deren Ursprung nicht wohl ersichtlich ist, es müßte denn bei dem Zeichen für r an die Vier- teilung der Ebene durch zwei sich kreuzende Linien gedacht worden sein? Die hieratische Schreibweise der ganzen Zahlen insbesondere war nicht systemlos. Sie konnte das Rechnen, namentlich das Multipli- zieren bedeutend unterstützen, vorausgesetzt, daß man nur eine Kennt- nis dessen besaß, was als Ergebnis der Vervielfachung der Einer untereinander und der Einheiten verschiedener Ordnung erscheint. Aber eine solche Einmaleinstabelle haben die Ägypter mutmaßlich nie besessen. Der Beweis dafür liegt in der Tat- sache, daß sie Multiplikationen so gut wie nie auf einen Schlag voll- zogen und auch bei der Ermittlung der Teilprodukte den Multipli- kator keineswegs nach dekadisch unterschiedenen Teilen zu zerlegen pflegten. Wollte man z. B. das 13fache einer Zahl bilden, so suchte man nicht etwa das 3fache und 10fache, sondern das 1fache, 2fache, 4fache, Sfache durch wiederholte Verdopplung und vereinigte dann das lfache, 4fache, Sfache zum gewünschten Produkte. Der gleiche Kunstgriff reichte aus, wenn Stammbrüche mit Stammbrüchen ver- vielfacht werden sollten, da vermöge der Schreibart der Brüche hier die Gleichartigkeit mit der Vervielfachung ganzer Zahlen untereinander auf der Hand lag, so daß wir in dieser Bezeichnung der Brüche selbst entweder eine geniale Erfindung oder einen glücklichen Griff, wahrscheinlich das letztere, zu rühmen haben. Wir haben an den früher besprochenen Beispielen die Methoden allmählicher Vervielfachung ganzer und gebrochener Zahlen sowohl zum Zwecke eigentlicher Multiplikation, als indirekter Division zur Genüge kennen gelernt. Wir haben (S. 74) hervorgehoben, daß das Handbuch des Ahmes nur für Geübtere geschrieben sein kann, und mögen auch seine Schlußworte !): „Fange Ungeziefer, Mäuse, Unkraut frisches, Spinnen zahlreiche. Bitte Ra um Wärme, Wind, Wasser hohes“ sich an einen Landmann wenden, mögen die Aufgaben selbst vielfach an die Beschäftigungen eines Landmannes erinnern, niemand wird deshalb glauben wollen, daß ein gewöhnlicher Landmann Hau- und Tunnurechnungen zu bewältigen imstande gewesen sei. Neben dem höheren, dem wissenschaftlichen Rechnen kann daher und muß vielleicht an ein Elementarrechnen gedacht werden, dessen Spuren wir anderwärts als in dem Papyrus des Ahmes aufzusuchen haben. Das meiste, was die Wissenschaft erfand, siekert im Laufe der Jahre, ') Eisenlohr, Papyrus $. 223—225. 86 2. Kapitel. wenn nicht der Jahrhunderte durch die verschiedenen Volksklassen hindurch, allgemeine Verbreitung erst dann erlangend, wenn höhere Bildung schon weit darüber hinaus gegangen ist, oder gar es als falsch erkannt hat. So muß es auch mit dem Rechnen gegangen sein in dem Lande, wo es vielleicht zuhause war. Auf die ägyptische Herkunft der Rechenkunst weisen Volkssagen hin, welche von griechischen Schriftstellern uns aufbewahrt wurden. „Die Ägypter“, so sagt uns der eine!), „erzählen, sie hätten das Feldmessen, die Sternkunde und die Arithmetik erfunden.“ Ein anderer hat gehört?), der Gott Thot der Ägypter habe zuerst die Zahl und das Rechnen und Geometrie und Astronomie erfunden. Ein dritter?) führt die ganze Mathematik auf Ägypten zurück, denn dort, meint er, war es dem Priesterstande vergönnt Muße zu haben. Und wenn Josephus, sei es seinem Nationalstolze eine Genugtuung ver- schaffend, sei es zum Teil wenigstens der Wahrheit die Ehre gebend, behauptet, die Ägypter hätten die Arithmetik von Abraham erlernt, der sie gleich der Astronomie aus Chaldäa nach Ägypten mit- brachte, so fügt er doch hinzu, die Ägypter seien die Lehrer der Hellenen in dieser Wissenschaft gewesen *). Die Frage ist nun, wie das älteste elementare Rechnen der Ägypter beschaffen war, dasjenige, welches nach unserer Auffassung auch zur Zeit des Ahmes und später noch das allgemein übliche war? Zur Beantwortung dieser Frage stehen uns teils Vermutungen, teils eine bestimmte Aussage eines zuverlässigen Berichterstatters zu Gebote, und bald auf die einen, bald auf die andere uns stützend glauben wir an ein Fingerrechnen, wissen wir von einem instrumentalen Rechnen der Ägypter. Das Rechnen an den Fingern, nicht nur so wie es unwill- kürlich das Kind schon ausführt, welches zu addierende Zahlen durch ebensoviele ausgestreckte Finger sich versinnlicht, um die Summe vor Augen zu haben, sondern unter einigermaßen künstlicher Ausbildung mit bestimmtem Werte der einzelnen Finger ist (5. 6—7) bei Völkern nachgewiesen worden, für die wir kaum mehr als die ersten Anfänge von Bildung in Anspruch nehmen dürfen. Wir wollen keinerlei Ge- wicht darauf legen, daß die Völker, von denen an jener Stelle die Rede war, dem Inneren und dem Süden Afrikas angehören, daß so- mit bei der nordsüdlichen Richtung, welche auf jenem Erdteile die Bildung eingehalten zu haben scheint, bei der geringen geistigen Be- gabung der Negerrassen hier ein solches Durchsickern altägyptischer !) Diogenes Laertius prooem. s.11. ?) Platon, Phaedros pag. 274 m. ®) Aristoteles, Metaphys. I, 1 in fine. *) Josephos, Antiquit. I, cap.8,$ 2. Die Ägypter. Arithmetisches. 87 Methoden, wie wir es eben als naturgemäß schilderten, so langsam vonstatten gegangen sein könnte, daß sie erst nach Jahrtausenden in sehr viel südlicheren Breiten ankamen. Derartige Vermutungen auszusprechen, ist nicht ohne Reiz, sie können ein vereinzeltes Mal glücken, aber sie haben darum noch keine Berechtigung. Dagegen war in Ägypten selbst in der ersten Hälfte des V. nachchristlichen Jahrhunderts die Überlieferung von einer Zahlenbedeutung des Ringfingers noch vorhanden. Allein umgebogen, während alle anderen Finger gestreckt blieben, habe er den Wert 6 dargestellt, die erste vollkommene Zahl!), sei darum auch selbst der Vollkommen- heit teilhaftig worden und habe das Vorrecht erhalten, Ringe zu tragen ?). Zu dieser Sage kommen noch alterhaltene Denkmäler. In einer Pariser Sammlung ägyptischer Altertümer?) findet sich eine rechte Hand, an welcher die zwei letzten Finger umgelegt sind. Das kann wenigstens eine Zahlenbedeutung gehabt haben. Über die Möglichkeit hinaus bis beinahe zur Gewißheit führen aber Bezeich- nungen altägyptischer Ellen®), welche in mehreren Exemplaren vorhanden sind. Die Zahlen von 1 bis 5 sind durch die fünf Finger der linken Hand, welche allmählich vom kleinen Finger anfangend ausgestreckt werden — wenigstens wird der Daumen zuletzt aus- gestreckt — dargestellt. Zur Bezeichnung der Zahl 6 dient alsdann die rechte Hand mit ausgestrecktem Daumen bei im übrigen ge- schlossenen Fingern, allerdings eine fast überraschende Übereinstim- mung mit der oben berührten Sitte jener von links nach rechts an den Fingern zählenden Negerstämme. Dagegen dürfen wir nicht ver- schweigen, daß nach diesen sechs Bildern, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen, wieder an verschiedenen Exemplaren sich bestätigend zwei weitere Bilder auftreten, jedes 4 ausgestreckte Finger ohne Daumen darstellend, welche unserer Deutung nicht ferner zu Hilfe kommen, wenn sie derselben auch nieht geradezu widersprechen. Dieser letzten Bilder wegen sahen wir uns zu dem behutsameren „beinahe“ veranlaßt, welches die Gewißheit des Fingerrechnens als durch die Fingerzahlen auf den Ellen bezeugt einschränken mußte. Mit aller Gewißheit ist uns von dem instrumentalen Rechnen der Ägypter Nachricht zugegangen. „Die Ägypter“, so erzählt uns ') Über den Begriff der vollkommenen Zahl vgl. im 6. Kapitel ?) Macro- bius, Convivia Saturnalia Lib. VII, cap. 13. °) Claude du Molinet, le cabinet de la bibliotheque de St. Geneviöve. Paris 1692. Tab.9 p.16. Auf diese sehr interessante Andeutung hat Heinr. Stoy, Zur Geschichte des Rechenunter- ' riehtes 1. Teil, S. 40, Note 3 (Jenaer Habilitationsschrift von 1876) zuerst hin- gewiesen. *) Die Abbildungen bei R. Lepsius, Die altägyptische Elle und ihre Eintheilung (Abhandlungen der Berliner Akademie 1865). 88 2. Kapitel. Herodot!), der Land und Leute aus eigener Anschauung genau kannte, und der stets unterscheidet, wenn er nur ihm selbst Berichtetes und nicht Erlebtes mitteilt, „schreiben Scehriftzüge und rechnen mit Steinen, indem sie die Hand von rechts nach links bringen, während die Hel- lenen sie von links nach rechts führen.“ Diese Erzählung ist nicht mißzuverstehen. Als richtig von uns erkennbar, wo sie der hiera- tischen Schriftfolge der Ägypter von rechts nach links gedenkt, ge- währleistet sie ein Rechnen mit Steinen mutmaßlich auf einem Rechen- brette etwa für das Jahr 460 v. Chr. Sie gewährleistet es, was wir in einem späteren Kapitel in Erinnerung bringen werden, für die Griechen mit derselben Sicherheit wie für die Ägypter. ‚Der Begriff des Rechenbrettes, auf welchem mit Steinen ge- rechnet wird, ist, wenn auch unter bedeutsamen Veränderungen, ein räumlich und zeitlich ungemein verbreiteter. Man kann das (remein- same desselben darin finden, daß auf irgend eine Weise unterschiedene Räume hergestellt werden, welche auf irgend eine Weise bezeichnet werden, worauf jedes Zeichen einen Erinnerungswert erhält, abhängig sowohl von dem Zeichen selbst als von dem Orte, wo es sich findet. Es ist, kann man sagen, ein mnemonisches Benutzen zweier Dimen- sionen. In dieser weitesten Bedeutung kann man schon die Quipu oder Knotenschnüre der alten Peruaner?) dem Begriffe unterordnen. Die Schnüre waren oft von verschiedener Farbe. Die rote Schnur be- deutete alsdann Soldaten, die weiße Silber, die grüne Getreide usw., und die Knoten an den Schnüren bedeuteten, je nachdem sie einfach, doppelt, oder noch mehrfach verschlungen waren, 10, 100, 1000 usw. Mehrere Knoten nebeneinander auf derselben Schnur wurden addiert. Ähnlicher Knotenschnüre bedienten sich die Chinesen, und ihre durch Zeichnung auf Papier übertragene Gestalt bildete die oft mißverstan- denen Kua’s°?). Sollen wir alten Einrichtungen, in welchen das ge- nannte Prinzip zur Erscheinung kam, ganz neue an die Seite stellen, so haben wohl manche unserer Leser eigentümlich zurechtgeschnittene Kärtchen oder Holztäfelchen gesehen, deren man besonders in Frank- reich sich bedient, um bei gewissen Spielen, die auf einem Zählen beruhen und folglich voraussetzen, daß die bei jeder einzelnen Tour erlangten Zahlen aufgeschrieben (markiert) werden, dieses Geschäft ı) Herodot III, 36. °) Pott II, 8.54. °) Duhalde, Ausführliche Be- schreibung des chinesischen Reiches und der großen Tartarei; übersetzt von Mosheim. Rostock 1747 Bd. I, 8.338. Ferner vgl. Le Chouking un des livres sacres chinois traduit par le P. Gaubil revu et corrige par M. de Guignes. Paris 1770, an sehr verschiedenen Stellen, die im Register s. v. Koua zu entnehmen sind; die Abbildung S. 352. Die Ägypter. Arithmetisches. 89 durch Umklappen betreffender Abteilungen zu besorgen !). Wirkliche Rechenbretter sind freilich jene Schnüre und Kärtchen noch nicht. Das Rechenbrett im engeren Sinne des Wortes setzt voraus, daß der Wert, welchen eine einheitliche Bezeichnung, sei es ein Strich oder ein Steinchen oder was auch immer, an unterschiedenen leicht erkennbaren Stellen erhält, sich nach den aufeinanderfolgenden Stufen des zugrunde gelegten Zahlensystems verändert, daß also im Dezimal- systeme bei wagrechter oder senkrechter Anordnung der Reihen, in weichen die Steinchen gelegt werden, jedes solches Steinchen einer Verzehnfachung unterworfen wird, sofern es von einer Horizontalreihe, beziehungsweise von einer Vertikalreihe, in die benachbarte Reihe gleicher Art verschoben wird. Nur bei Horizontalreihen kann ein Hinauf- oder Herunterrücken, nur bei Vertikalreihen eine Verrückung nach rechts oder nach links diese Wirkung üben, und diese auf der Hand liegende Notwendigkeit lehrt uns der erwähnten Äußerung Herodots den Beweis entnehmen, daß die Griechen wie die Ägypter sich Rechenbretter mit senkrechten Reihen be- dienten. Wie wir die Wertfolge dieser senkrechten Reihen uns zu denken haben, ob in dem Ausspruche Herodots auch darüber nicht mißzuverstehende Andeutungen enthalten sind oder nicht, das ist eine Frage höchst untergeordneter Bedeutung gegenüber von der gegen den Rechner senkrechten Gestalt der Reihen, die von geschichtlich großer Tragweite sich erweisen wird. Es ist klar, daß bei einem eigentlichen Rechenbrette auf dekadischer Grundlage in jeder Reihe höchstens 9 Steinchen Platz finden können, da deren 10 durch 1 Steinchen in der folgenden Reihe ersetzt werden mußten. Danach ist wohl nicht ganz mit Recht zur festeren Begründung der Tatsache, daß die Ägypter eines Rechenbrettes sich bedienten, auf eine alte Zeichnung Bezug genommen worden. Auf einem bekannten Papyrus hat sich eine Rechnung aus der Zeit des Königs Menephtah 1.?) erhalten, bei welcher die nachfolgende Fig. 6 abgebildet ist?). Der erste Anblick scheint ja dafür zu sprechen, daß ein Rechenbrett mit seinen Steinchen dargestellt werden sollte, wenn nicht der Umstand, daß wiederholt 10 Pünktchen in einer Vertikalreihe (ebenso wie auch ") Auf die Analogie solcher Zählkärtchen zu Rechenbrettern hat wohl zu- erst Vincent in der Revue archeologique II, 204 hingewiesen. ?°) Er gehörte der XIX. Dynastie an und regierte Lepsius zufolge 1341 bis 1321. Nach Stein- dorff umfaßte die ganze XIX. Dynastie die Zeit von 1350 bis 1200. ®) Die Figur stammt von der Rückseite des Papyrus Sallier IV. Aufsätze über den begleitenden Text von Goodwin (Zeitschrift für ägyptische Sprache und Alter- thumskunde, Jahrgang 1867 8.57 flgg.) und von De Roug& (ebenda Jahrgang 1868 S. 129 figg.) enthalten kein Wort über die Figur. 90 3. Kapitel. in einer Horizontalreihe) auftreten, die bedenklichsten Zweifel wach- rufen müßte. Abbildungen von Rechnern finden sich unter den fast unzähligen ägyptischen Wandgemälden unseres Wissens nicht. Man stößt wiederholt auf Leute, die sich mit dem Moraspiele beschäf- 0. RER OU Be Ne 0.0 05 Fig. 6. tigen!) und zu diesem Zwecke Finger beider Hände in die Höhe heben, aber weder das Fingerrechnen, noch das Tafelrechnen scheint veröffentlichende Wiedergabe gefunden zu haben, dürfte also wohl kaum auf bisher entdeckten Gemälden erkannt worden sein. 3. Kapitel. Die Ägypter. Geometrisches. Wir kehren zu dem Papyrus des Ahmes zurück. Er hat sich als unschätzbare Fundgrube nicht bloß für die Kenntnis des alge- braischen Wissens der Ägypter bewährt, auch vieles andere hat aus ihm geschöpft werden können, worüber hier, wenn auch nicht in gleicher Ausführlichkeit aller Berichte, gesprochen werden muß. Nur mit kurzen Worten können wir das Metrologische' berühren. Die vergleichende Untersuchung der Maßsysteme, welche den einzelnen Völkern des Altertums gedient haben, ist gewiß ein Gegenstand von hoher Wichtigkeit und auch dem Mathematiker bis zu einem gewissen Grade sympathisch, allein wie wir Astronomisches von unserer Auf- gabe ausgeschlossen haben, so auch verwahren wir uns gegen die Verpflichtung Metrologisches aufzunehmen. Wir müssen uns daran genügen lassen im Vorübergehen zu bemerken, daß nicht bloß die Rechnungsbeispiele vielfache Angaben enthalten, aus welchen das Ver- 1) Wilkinson, Manners and customs of the ancient Egyptians. London 1837. Vol.I pag. 44 fig.3 und Vol.II pag. 417 fig. 292. FR Die Ägypter. Geometrisches. 91 hältnis der ägyptischen Maße in nicht anzuzweifelnder weil durch allzu zahlreiche Beispiele zu prüfender Gewißheit sich ergeben hat, daß sogar in zwei aufeinanderfolgenden Paragraphen, Nr. 30 und 81, die Umrechnung von einem Maßsysteme in ein anderes geradezu gelehrt wird'). Die späteren Nachahmer (des Ahmes haben, wie wir sehen werden, ähnliche Maßvergleichungen jederzeit in ihre Schriften auf- genommen. Unsere eingehendste Beachtung gebührt dagegen den geome- trischen Aufgaben des Ahmes, deren Erörterung wir eine vielleicht überflüssige, jedenfalls nicht unwichtige Bemerkung vorausschicken. Übungsbücher der höheren Rechenkunst von der ältesten bis auf die neueste Zeit herab enthalten fast ausnahmslos neben anderen mannig- fachen Beispielen auch solche aus der Geometrie und Stereometrie. Diese erheischen zu ihrer Berechnung gewisse Formeln, und diese Formeln sind als gegeben zu betrachten. An eine Ableitung derselben zu denken, oder gar weil die Ableitung nicht mitgeteilt ist zu arg- wöhnen, es habe eine solche überhaupt nicht gegeben, als das Übungs- buch verfaßt wurde, fällt niemand ein. Wir dürfen dem Handbuche des Ahmes mit keiner Anforderung gegenübertreten, die wir sonst unbillig fänden. Wenn Ahmes sich geometrischer Regeln bedient, so müssen wir auch zu ihm das Zutrauen haben, er werde sie irgend- woher genommen haben, wo auch seine Schüler sich Rats erholen konnten, wir werden also an ein anderes geometrisches Buch glauben, das uns unmittelbar nicht bekannt ist, dessen einstmaliges Vorhanden- sein aber gerade durch jene Formeln mittelbar erwiesen ist, gleich wie die Formeln für Summierung arithmetischer und vielleicht geome- trischer Reihen, deren Ahmes sich bedient, uns einen Rückschluß auf in seinem Papyrus übergangene Ableitungsverfahren gestatteten. Die geometrischen Beispiele des Ahmes lassen zunächst den Flächenraum von Feldstücken finden, deren einschließende Seiten gegeben sind. Solcher Aufgaben konnte man am ersten von einem ägyptischen Schriftsteller sich versehen, da, wie wir weiter unten zu zeigen haben, gerade die eigentliche Feldmessung in Ägypten zu- hause gewesen sein soll. Damit ist aber freilich nicht gesagt, daß jede Feldmessung von vornherein eine geometrische gewesen sein muß. Mag die Notwendigkeit die Gleichwertigkeit oder Ungleichwertig- keit von Feldstücken zu schätzen mit den ersten Streitigkeiten über das Mein und Dein des urbar gemachten Bodens, also mit der Ein- führung individuellen Grundbesitzes sich ergeben haben, diese Wert- vergleichung konnte in mannigfacher Weise erfolgen. Man konnte ") Eisenlohr, Papyrus S$. 204—211. 92 3. Kapitel. die Zeit messen, welche zur Bebauung eines Feldstückes nötig war, das Getreide wägen, welches auf demselben wuchs oder zur Einsaat in dasselbe zu verwenden war, und unsere deutschen Benennungen Morgen!) und Scheffel?) als Feldmaße sind Zeugnisse dafür, daß man solche Methoden nicht immer verschmäht hat. Dem Wunsche einer Feldervergleichung mag in anderen Gegenden die Sitte ent- sprungen sein, den einzelnen Äckern stets die gleiche Form, die gleiche Größe zu geben, und ein weiterer Schritt auf diesem Wege der Geistesentwicklung war es, wenn man der Gestalt der Äcker ent- sprechend Flächenmaße einführte, die, soviel uns bekannt ist, nirgend _ eine andere Figur darstellten als die eines Vierecks mit vier rechten Winkeln und in einem einfachen Zahlenverhältnisse zueinander stehen- den, wenn auch nicht notwendig gleichen Seiten, wiewohl an sich ein dreieckiges Maß z. B. ebensogut zu denken war. Auch aus Ägypten wird uns allerdings aus der verhältnismäßig späten Zeit von mindestens drei Jahrhunderten nach Ahmes ähnliches gemeldet. Herodot erzählt?), der König Sesostris habe die Äcker verteilt und jedem ein gleich großes Viereck überwiesen, auch danach die jähr- liche Abgabe bestimmt. Sesostris ist niemand anders als König Ramses II. aus der XIX. Dynastie, der etwa 1324 bis 1258 lebte. Aber eine irgendwie gestaltete Bodenfläche als Raumgebilde zu betrachten, sie unmittelbar aus ihren Grenzlinien messen zu wollen, das setzte schon geradezu mathematische Gedanken voraus, das war selbst eine mathematische Tat. In Ägypten hat man diese Tat voll- zogen, wenn nicht zuerst vollzogen, und im Gefolge dieser Tat muß notwendig eine mehr oder weniger entwickelte Kenntnis der Eigen- schaften der verschiedenartigen Figuren, gewissermaßen eine theore- tische Geometrie, entstanden sein, mag auch für lange Zeit nur die praktische Feldmessung ihr eigentliches Endziel gewesen sein. Die Feldstücke, welche Ahmes ausmessen läßt, sind geradlinig oder kreisförmig begrenzt, und die ihrer Genauigkeit nach nicht ganz aus freier Hand, sondern mit Benutzung eines Lineals aber ohne Zirkel angefertigten Figuren lassen deutlich erkennen, daß an geradlinigen Figuren nur gleichschenklige Dreiecke, Rechtecke und gleichschenklige Paralleltrapeze in Betracht gezogen werden sollen. Das Rechteck bietet in seiner Ausrechnung am wenigsten Aus- beute. Es ist mehr als nur wahrscheinlich, daß, wie die Fläche des Quadrates von 10 Einheiten im Beispiele No. 44. zu 100 Flächen- ) Pott I, 8.124. ?°) R. Lepsius, Ueber eine hieroglyphische Inschrift am Tempel von Edfu (Abhandlungen der Berliner Akademie 1855) 8. 77. ») Herodot II, 109. Die Ägypter. Geometrisches. 93 einheiten erkannt war'), auch bei ungleichen Seiten des Rechtecks eine Vervielfältigung der beiden Ausmessungen stattfinden mußte, aber das Beispiel No. 49., welches auf ein Rechteck von 10 Ruten zu 2 Ruten Bezug hat, läßt solches nicht erkennen, da wie es scheint durch ein Versehen des Ahmes zu dieser Aufgabe die Auflösung einer ganz anderen sich gesellt hat?). Ein gleichschenkliges Dreieck von 10 Ruten an seinem Merit, von 4 Ruten an seinem Tepro bildet den Gegenstand des Beispiels No. 51. Die Hälfte von 4 oder 2 wird mit 10 vervielfältigt. „Dein Flächeninhalt ist es“°). Auffallend ist hier die Lage des bei- gezeichneten gleichschenkligen Dreiecks, auffallend sind die gebrauchten Kunstausdrücke, nicht am wenigsten auffallend ist die Rechnung. Während wir die Gewohnheit haben die Figuren dem sie Anschauen- den so symmetrisch als möglich vorzulegen, also bei einem gleich- schenkligen Dreiecke die eine ungleiche Seite als Grundlinie unten, die beiden gleichen Schenkel nach aufwärts gerichtet zu zeichnen, hat Ahmes die Strecke 4 vertikal gezeichnet und von deren End- punkten aus die beiden ‚gleichen Schenkel in der Länge 10 gegen die Richtung der Schriftzeilen, also mit der Spitze nach rechts, zu- sammentreffen lassen. Die Seite von 4 Ruten heißt ihm, wie schon angeführt, Tepro, die von 10 Ruten Merit. Tepro oder der Mund für die Weite der Entfernung der Endpunkte zweier an der Feder des Schreibenden vereinigten, von da aus sich öffnenden Geraden ist einleuchtend.. Ob aber der Name Merit oder der Hafen auf die Gleichheit der beiden anderen Schenkel, ob er auf die durch die Zeichnung gegebene Lage als obere Linie der Figur, als Scheitel- linie sich beziehen soll, kann als ausgemacht hier wenigstens nicht gelten, da weder die eine noch die andere Beziehung eine Erklärung der Wahl gerade dieses Wortes liefert. Wir werden indessen später sehen, daß vermutlich die Scheitellage mit Merit bezeichnet werden soll. Rücksichtlich der Figur haben wir noch zu bemerken, daß in No. 51. wie in anderen Aufgaben die Zahlen, welche die Längen der auftretenden Strecken messen, an diese, der Inhalt mitunter in die Figur geschrieben erscheint. Das Rechnungsverfahren besteht darin, daß, wenn wir den Dreiecksinhalt A, die Dreiecksseiten a, a, b nennen wollen, hier b ehr gesetzt ist. Das ist nun allerdings nieht richtig; es müßte vielmehr BEE, 4-3 x Va_® ')Eisenlohr, Papyrus 8.110. °) Ebenda 8.122 bis123. °) Ebenda S. 125. 94 3. Kapitel. heißen, aber mehrere Dinge fordern unsere Überlegung heraus. Einmal hat man unter der Annahme, die Figuren seien grundfalsch gezeichnet, und die Dreiecke seien nicht als gleichschenklige, sondern als recht- winklige aufzufassen '), die bei Ahmes geführte Rechnung in Schutz genommen; der Flächeninhalt des rechtwinkligen Dreiecks sei in der Tat das halbe Produkt der beiden Katheten. Kann man sich mit uns nicht entschließen, die mit dem Lineal gezeichneten Figuren für so falsch zu halten, so ist erstlich zu erwägen, daß die Ausziehung einer Quadratwurzel bei Ahmes nirgend vorkommt; zweitens dann auch, daß der Fehler, welcher begangen wird, sofern b gegen a nur einigermaßen klein ist, kaum in Anschlag kommt. Im Beispiele No.51. ist die Dreiecksfläche mit 20 Quadratruten angesetzt. Der richtige Wert ist fast genau 19,6 Quadratruten. Der Fehler beträgt nicht mehr als 2 Prozent. Dieses dürfte, natürlich nicht dem Ahmes und seiner Zeit, aber einer späteren Nachkommenschaft wohl als genügende Entschuldigung erschienen sein an einem Verfahren festzuhalten, welches in der Rechnung so ungemein bequem und leicht, im Er- gebnis kaum als falsch zu bezeichnen war. Wenn der ägyptische Feldmesser, wie wir in diesem Kapitel noch sehen werden, selbst anderthalb Jahrtausende nach Ahmes sich der altfränkische Flächen- formel fortwährend bediente, so konnte er der nicht ganz unbegrün- deten Meinung sein sich ihrer bedienen zu dürfen. Die vorhin ausgesprochene Behauptung, eine Quadratwurzel komme bei Ahmes nicht vor, ist nicht in dem Sinne zu verstehen, als sei der Begriff der Quadratwurzel den Ägyptern überhaupt fremd gewesen. Höchstens kann man Zweifel darein setzen, ob die Ägypter mit irrationalen Quadratwurzeln umzugehen wußten. Die erste ägyptische Quadratwurzel ist in den in London befindlichen Fragmenten von Kahun aufgefunden worden. Ihr Zeichen ist ein rechter Winkel, dessen horizontaler Schenkel beträchtlich länger als der links vertikal nach unten sich erstreckende Schenkel ist. Wie das Zeichen auszusprechen ist, erscheint fraglich. Während einige Ägyptologen die Aussprache im für richtig halten, entscheiden sich andere für /inb, beidemal unter Verzicht auf die Bestimmung der noch einzuschaltenden Selbstlaute. Für knb spricht, daß dieses Wort durch „Winkel“ oder „Ecke“ zu übersetzen ist, was mit der Gestalt des Zeichens im Einklang steht?). Benutzen wir diese Lesung, so ist die von der Zahl 40 ausgehende und ihrem mathematischen Zwecke nach noch unverstandene Rechnung folgende: 3>xX40=120, 120:10=12, ») M. Simon, Über die Mathematik der Ägypter im Anschlusse an E. Re- villout. ?) Briefliche Mitteilung des Grafen H. Schack-Schackenburg. Die Ägypter. Geometrisches. 95 1:7 —12,12%x1,,—16; suche davon den knb, er ist 4. Man sieht deutlich, daß Aknb oder wie das Wort ausgesprochen worden sein mag, nur Quadratwurzel bedeuten kann. Eine willkommene Bestätigung lieferte der Papyrus 6619 des Berliner Museums!), welcher gleichfalls in Kahun gefunden worden ist und der Zeit nach dem mittleren Reiche entstammt, zu welchem auch die Regierung der Amenemhate gehört. In ihm ist der knb von 9 1 1 1 i auge 5 ER ve fr EEE hie m — er als 1--, der knb von 6-- als 27 angegeben, während = ‚> = “ ist. Die Berliner Fragmente haben vor den Londoner Fragmenten den großen Vorzug, daß man in ihnen deutlich erkennt, was der Sinn der angestellten Rechnung war. Eine gegebene Fläche, etwa von der Größe von 100 Flächeneinheiten, soll als Summe zweier Quadrate dargestellt werden, deren Seiten sich wie 1 zu 2 verhalten. In Buchstaben lautet also die Aufgabe: x? + y? = 100 w:y-1:7 oder y-.e. Die Auflösung erfolgt nach der Methode des falschen Ansatzes und bestätigt mithin was wir (8. 79) zu No. 40. des Handbuches des Ahmes über die Bekanntschaft der Agypter mit dieser Methode ge- sagt haben. Versuchsweise wird =1, y= n gesetzt, wodurch + = = entsteht, und er _ z . Aber Y100=10 und 10:7 =38. Die nicht mehr zu entziffernde Fortsetzung wird vermutlich gelautet haben: also ist richtig = 8x 1=8, y=-3x ie = 6. Eine andere Aufgabe auf einem kleineren Fragmente des Ber- liner Papyrus läßt mit Sicherheit die Gleichung Ve: 2 2. erkennen. Aus anderen auf diesem kleinen Fragmente vorkommenden Zahlen hat man geschlossen, hier sei die Aufgabe gestellt gewesen, 400 in zwei Quadrate zu zerlegen, deren Seiten sich wie 2 zu > verhalten. In Buchstaben lautet diese Aufgabe: x? + y? = 400 v:y=2:1.- )H. Schack-Schackenburg, Der Berliner Papyrus 6619. Zeitschrift für ägyptische Sprache Bd XXXVIIH (1900) und XL (1902). i 96 3. Kapitel. Danach wird @:Y7 =4: 27 und mittels des versuchsweisen An- 4? satzes ?—=4, P? = er entsteht + y? = er. Aber Vs: = 8 und Y400 = 20 nebst 20: 2 =8. Mithin st =8>x<2=16, y=3x< Bi = 12 und 16? + 12° = 20°, | Sind alle diese Vermutungen richtig, worauf ihr geistiger Zu- sammenhang schließen läßt, so enthüllen sich als den Ägyptern des mittleren Reiches bekannt die beiden Gleichungspaare ?+(64)-(1,)) ma 8406-10 221 (15) iS (25) und :10%:.122—.20%, Es ist unverkennbar, daß hier Be Rz zugrunde liegt, wenn auch diese Gleichung selbst nicht vorkommt. Es ıst möglich, daß sie auf einem verlorengegangenen Papyrusfrag- mente stand, es ist auch möglich, daß sie so allgemein bekannt war, daß man sich damit begnügte, nur solche Fälle zur Rede zu bringen, die aus der als selbstverständlich vorausgesetzten Grundformel sich herleiteten. Wir möchten bitten diese ganze Untersuchung, welche ihrem algebraischen Inhalte nach schon in das vorige RR ge- hören könnte, nicht als hier an unrichtigem Platze stehend bemängeln zu wollen. Sind doch die behandelten quadratischen Gleichungen aus geometrischen Aufgaben entsprungen. Die Dreiecksformel A = 2 >< a einmal vorausgesetzt ließ mit mathematischer Strenge eine zweite Formel für die Fläche eines gleichschenkligen Paralleltrapezes folgen, welche Figur aller- dings von anderen als rechtwinkliges Paralleltrapez gedeutet wird. Waren dessen beide unter sich gleiche nicht parallele Seiten je a, die parallelen Seiten b, und b,, so mußte die Fläche b, UT a sein, und dies ist die Formel, nach welcher in No. 52. die Rechnung geführt ist!). Sie setzt nur voraus, daß das Trapez als abgeschnittenes Dreieck beziehungsweise als Unterschied zweier Dreiecke entstanden gedacht ist, und mit dieser Entstehungsweise stimmt die Zeichnung wie die Benennung der einzelnen Strecken überein. Wieder liegt ‘) Eisenlohr, Papyrus $. 127—128.. Die Ägypter. Geometrisches. 97 das Trapez so, daß ein a Scheitellinie ist und den Namen Merit führt; wieder heißt die größere links befindliche Parallele Tepro; und die kleinere Parallele, welche rechts vertikal die Figur abschließt, führt den unsere Voraussetzung bestätigenden Namen Hak oder Abschnitt. Wir müssen, um nicht mißverstanden zu werden, hier eine kleine Bemerkung einschalten. Wir sagten, die Formel für die Fläche des gleichschenkligen Paralleltrapezes folge mit mathematischer Strenge aus A= a. Wir meinen das nicht etwa so, daß wir Ahmes das Bewußtsein dieser Folgerung zutrauten. Die alten Ägypter werden wohl eine vollständige Lehre von der Ähnlichkeit der Figuren, welche zur Führung des Beweises für den Zusammenhang der beiden Inhaltsformeln unentbehrlich ist, kaum besessen haben. Ihnen war vielleicht ein enger Zusammenhang der beiden Formeln, welche sie selbständig für richtig hielten, nie in Gedanken gekommen. Nur den späten Nachkommen soll mit jener Ableitbarkeit der Trapez- formel aus der Dreiecksformel wieder eine Entschuldigung dafür ver- schafft werden, daß sie im einen Falle so wenig als im anderen von der Gewohnheit der Väter abwichen. Die im Papyrus sich nun anschließenden Aufgaben!) No. 53., 54., 55. beziehen sich auf die Teilung von Feldern, stimmen aber mit der einzigen beigegebenen Figur so absolut nicht überein, daß wir ein Erraten der eigentlichen Meinung des Verfassers für ein sehr schwie- riges Problem halten, dessen Lösung noch nicht gelungen ist. Von Interesse dürfte, falls die Enträtselung überhaupt möglich ist, die Richtung des in der Figur gezeichneten Dreiecks sein, dessen Spitze nach links hin steht, während sie in den früheren Beispielen rechts war. Außerdem werden sicherlich die zwei vertikal gezogenen Paral- - lelen von Wichtigkeit sein, welche das ursprüngliche Dreieck in ein Dreieck und zwei Paralleltrapeze zerlegen. Die Ausmessung des Kreises wird schon in No. 50. vorge- nommen’). Sie ist eine wirkliche Quadratur zu nennen, indem sie lehrt ein Quadrat zu finden, welches dem Kreise flächengleich sei, und zwar wird als Seite des Quadrates der um e minderte Kreisdurchmesser gewählt. Wie man zu dieser Vorschrift gekommen sein mag ist nicht entfernt zu erraten. Gesichert ist sie durch wiederholtes Auftreten, gesichert ist auch ihre ziemlich gute seiner Länge ver- ‚Anwendbarkeit, denn sie entspricht einem Werte ') Eisenlohr, Papyrus $. 130—133. 2?) Ebenda $. 124, vgl. aber auch die Aufgaben No. 41., 42., vielleicht 43., endlich 48. auf $. 100-109 und S. 117. CANToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 7 98 3. Kapitel. == (5) — 3,1604... für die Verhältniszahl der Kreisperipherie zum Durchmesser, der weitaus nicht der schlechteste ist, dessen Mathematiker sich bedient haben. Neben den geometrischen Aufgaben hat Ahmes seinen Lesern auch stereometrische vorgelegt. Es handelt sich dabei um den Raum- inhalt von Fruchtspeichern und deren Fassungsvermögen für Getreide!). Diese Aufgaben stehen noch vor den eben besprochenen geometrischen und geben dadurch deutlich zu erkennen, was wir ein- leitend in diesem Kapitel berührt haben: daß das Geometrische im Übungsbuche des Ahmes niemals selbst Zweck der ‚Darstellung, sondern nur Einkleidungsform von Rechenaufgaben ist, denn sonst würde unmöglich die Flächenausmessung des Kreises später erscheinen als die Berechnung des Rauminhaltes eines runden Fruchthauses, bei welcher jene bereits Anwendung findet. In diesen körperlichen In- haltsaufgaben ist manches noch unklar. Die eigentliche Gestalt der Fruchthäuser, welche der Berechnung unterworfen werden, ist nichts weniger als genau bekannt, und wenn auch bienenkorbartige Zeich- nungen von Fruchthäusern in ägyptischen Wandgemälden etwas zur Verdeutlichung beitragen, sie genügen keineswegs, so lange eine geo- metrische Interpretation jener Zeichnungen fehlt. Soll der Bienen- korb als Halbkugel auf einen Zylinder aufgesetzt, soll er als eine Art von Umdrehungsparaboloid gedacht sein? Ist seine Grundfläche überhaupt kein Kreis sondern eine Ellipse? Das sind Fragen, deren Beantwortung aus den genannten Abbildungen nicht entnommen werden kann und doch auf die Rechnungsweise einen entscheidenden Einfluß ausüben muß. Hier ist also wieder zukünftiger Forschung noch manches Rätsel aufbewahrt, kaum zu lösen, wenn es nicht ge- linst, weiteres Material aufzufinden. Bis dahin besteht der Vorteil, den wir aus diesen Beispielen zu ziehen vermögen, nur in den von uns schon angerufenen Bestätigungen der gewonnenen Ansichten über Inhaltsbestimmung des Rechteckes und des Kreises und in der Kenntnisnahme von Wörtern, welche den Ägyptologen auch sonst mannigfach begegnet sind. Eine der Abmessungen, welche bei den Fruchthäusern in Rechnung treten, heißt nämlich Qa, eigentlich die Höhe, wofür auch die Hieroglyphe — ein den Arm hochstreckender Mann — zeugt, dann aber in zweiter abgeleiteter Bedeutung die Richtung größter Ausdehnung’); die Breite, beziehungsweise die ', Eisenlohr, Papyrus S. 101—116. ?) Diese abgeleitete Bedeutung hat Brugsch erkannt: Hieroglyphisch-demotisches Wörterbuch S. 1435 und deutlicher v % Feen) * EYE) ah ni Er a re di Eh a Die Ägypter. Geometrisches. 99 kleinere Abmessung, heißt Usey. Nennen wir diese beiden Ab- messungen q und u, so erfolgt in No. 43. die Berechnung des Inhaltes nach der Regel, daß erst ein, = (1 -,,) q gebildet wird und dann 4 ee: : F ; ; : .. i : (7 4) U. Auch hier ist wieder eine interessante Übereinstimmung mit den Fragmenten von Kahun nachzuweisen. Dort ist nämlich ausgehend von bestimmten Zahlen g, (= 12) und u(= 8) die Rechnung (Ga) zu=(5:12) .5-8=256.5, 1365, vollzogen, und letztere Zahl steht im Inneren einer gezeichneten Rundung, über welcher die Zahlen 8 und 12 angebracht sind. Wenn man versucht hat!), in der Rechnung des Kahuner Fragmentes die Inhaltsberech- nung einer Halbkugel vom Durchmesser 8 zu erkennen und dabei eine Anwendung des Wertes m =3,2 fand, so kann schon diese letztere Behauptung als Gegengrund gegen den jeder unmittelbaren Stütze entbehrenden Versuch genügen. Bei der soeben nachgewiesenen wenigstens teilweisen Übereinstimmung mit No. 43. des Ahmes müßte auch von diesem einmal m = 3,2 in Anwendung gebracht worden \ ” BR 16\ 2 sein, während alle anderen Beispiele x = (7) benutzen, und das er- scheint durchaus unglaublich. Endlich bietet der Papyrus noch eine Gruppe von 5 geometrischen Aufgaben?), No. 56. bis 60., welche dem heutigen Leser am über- raschendsten sein dürften, wenn er in ihnen die Vergleichung von Liniengrößen erkennt, soweit sie zu einem und demselben Winkel gehören, also eine Art von Ähnlichkeitslehre, wenn nicht ein Kapitel aus der Trigonometrie. Es handelt sich um Pyramiden, aber keineswegs um deren körperlichen Inhalt, sondern um den Quotienten der Hälfte einer an der Pyramide vorgenommenen Abmessung geteilt dureh eine zweite, und dieser Quotient heißt Segt, nach aller Wahr- scheinlichkeit eine kausative Ableitung von Qet, Ähnlichkeit, also wohl Ähnlichmachung. * Was das aber für Abmessungen an den Pyra- miden waren, die so in Rechnung gezogen wurden, war von vorn- herein aus den bloßen Namen Uchatebt, Suchen der Fußsohle, und Piremus, Herausgehen aus der Säge, keineswegs klar. Der Ucha- tebt mußte zwar offenbar irgendwo am Boden, der Piremus (dessen Name augenscheinlich in dem Munde der Griechen zum Namen des ganzen Körpers wurde)?), irgendwo ansteigend gesucht werden, aber betont in der Zeitschrift für ägypt. Sp. u. Alterth. (Jahrgang 1870) Bd. VII, 8. 160. Vgl. auch Eisenlohr, Papyrus $. 280. ') L. Borchardt in der Zeitschr. für -ägypt. Sprache Bd. XXXV, 8. 150 (1897). ?) Eisenlohr, Papyrus 8. 134—149. °) Eigentlich sollte man daher die Orthographie „Piramide‘‘ der „Pyramide“ vor- ins 100 3. Kapitel. dabei gab es noch immer eine gewisse Auswahl. Die richtige Wahl zu treffen gelang dem Herausgeber des Papyrus, nachdem er den glück- lichen Gedanken gefaßt hatte, den Umstand zu berücksichtigen, daß die noch erhaltenen großen ägyptischen Pyramiden wesentlich gleiche Winkel besitzen (S.57), und daß Ahmes wohl auch ihnen ähnliche Körper bei seinen Rechnungen gemeint haben muß. Der von Ahmes errechnete Segt muß also einem Winkel von etwa 52° zwischen der Seitenwand und der Grundfläche des Körpers entsprechen, und das findet nur dann statt, wenn der Piremus die Kante der Pyramide, der Uchatebt die Diagonale der quadratischen Grundfläche bedeutet, wenn also der Segt das war, was wir gegenwärtig den Kosinus des Winkels nennen, den jene beiden Linien miteinander bilden. War die Größe dieses Verhältnisses Segt bekannt, so kannte man damit auch die Winkel, welche an der Pyramide sich zeigen. Man kannte sie frei- lich nur mittelbar, aber mittelbar ist auch jede andere Ausmessung von Winkeln, ist auch die nach Graden und Minuten, welche zunächst nicht dem Winkel selbst, sondern dem Kreisbogen gilt, der ihn als Mittelpunktswinkel gedacht bespannt. Diese bisherige Auseinander- setzung gilt allerdings nur für die 4 ersten Aufgaben der Gruppe. In der 5. Aufgabe, No. 60., ist nicht von einer Pyramide, sondern von einem Grabmale die Rede, welches viel steiler als die Pyramide, mit der es die quadratische Gestalt der Grundfläche übrigens teilt, sich zuspitzt. Die durcheinander zu teilenden Strecken heißen hier ganz anders. Als Zähler ist Qaienharu, als Nenner die Hälfte des Senti angegeben, und das müssen doch wohl andere Linien sein als die- jenigen, welche die Namen Uchatebt und Piremus führten. Ins- besondere die Verwandtschaft zwischen Qaienharu und dem (S. 98) erwähnten Qa nötigt dazu, diesen Zähler als die senkrechte Höhe der Pyramide zu deuten. Vielleicht ist folgender Erklärungsversuch gestattet. Man weiß, daß die ägyptischen Pyramiden zunächst staffelförmig mit parallelepipedischen, aufeinander ruhenden, sich verjüngenden Stockwerken angelegt wurden, und daß dann erst die Ausfüllung der Winkelräume bis zur Herstellung einer glatten Oberfläche erfolgte. Dem Arbeiter machte die Herstellung dieser Ausfüllsteine zuverlässig am meisten Schwierigkeit, und es wäre keineswegs unmöglich, dab der Baumeister, um seinem Arbeiter die Aufgabe zu erleichtern, Mo- ziehen, und wir bedienen uns in diesem Werke der landläufigen Schreibart nur mit dem Bewußtsein ihrer Mangelhaftigkeit. Beiläufig sei bemerkt, daß Piremus von anderen Ägyptologen, z. B. Brugsch als Heraustreten aus der Breite über- setzt worden ist. Uns steht ein Urteil über die Richtigkeit der einen oder der anderen Übersetzung nicht zu. Da a =. 2 ee Modell allein, um beide E Die Ägypter. Geometrisches. 101 delle hätte anfertigen lassen. Deren brauchte man aber zwei, von der in Fig. Ta und Tb gezeichneten Gestalt. Das einfachere Modell (Fig. Ta) diente zur Ausfüllung der Breitseiten, das andere (Fig. Tb), an der Ebene DOF mit einem symmetrisch gleichen zusammen- treffend, diente die Ecken zu bilden, beide Modelle paßten mit der Ebene DCE aneinander. Das zweite Modell stellt sich als achter Teil einer der großen Pyramide ähnlichen Modellpyramide dar; dabei ist DF die Kante, DC die senkrecht von der Spitze auf die Grundfläche ge- fällte Höhe, OF die halbe Diagonale der Grundfläche, EF und die ihr gleiche CE [X CEF=%°, XKOFE=45), also auch XECF= 45° und EF= CE] die halbe Seite der quadratischen Grundfläche. Bei dem ersten Modell kommt es = wesentlich auf XDEO an, bei dem zweiten auf eben diesen und auf X DFG; folg- lich genügte auch das zweite er . Fig. 7a. Fig. Tb. Arten von Ausfüllsteinen nach WE zi ihm behauen zu können. Nennen wir nun die vier erwähnten Längen, beziehungsweise ihre Verdoppelung, DF=pir em us, DU = gai en haru, 2CF = uya tebt, 2CE = senti, so treten alle vier an einem Raumgebilde auf und müssen naturgemäß selbständige Namen führen. Seqt aber „die Verhältniszahl“ ist in der einen Ebene aa — — cos DFC, in der anderen Ebene — 7" ale = z —tng DEC. Allerdings würde diese Hypothese die zweite in sich schließen, daß das gleichschenklig-rechtwinklige Dreieck OEF als solches erkannt gewesen wäre. Auch hier hat man eine andere Erklärung vorgeschlagen!) und den segt als Kotangente des Böschungs- winkels DECO (Fig. Te), also als 50 aufgefaßt, indem die Höhe DO bald per em us bald gai en haru und die Grundlinie AB=2CE bald ucha tebt bald senti genannt worden sei. Fig. Te. Haben wir nun die Geometrie der Ägypter, soweit sie aus den Rechnungsbeispielen des Ahmes rückwärts erschlossen werden kann, !) Revillout in der Revue &gypt. II, 308flgg. und G. Borchardt, Wie wurden die Böschungen der Pyramiden bestimmt? in der Zeitschr. f. ägypt. Sprache XXXI, 9—17 (1893). 108 en A ie erörtert, so beabsichtigen wir in ähnlicher Weise, wie es für die Rechenkunst geschehen ist, zu sammeln, was die Überlieferung ins- besondere griechischer Schriftsteller, was auch sonstige Denkmäler zur Ergänzung uns bieten. Herodot erzählt!), wie schon oben teil- weise verwertet worden ist, Sesostris (also Ramses Il.) habe das Land unter alle Ägypter so verteilt, daß er jedem ein gleich großes Viereck gegeben und von diesem seine Einkünfte bezogen habe, indem er eine jährlich zu entrichtende Steuer auflegtee Wem aber der Fluß von seinem Teile etwas wegriß, der mußte zu ihm kommen, und das Geschehene anzeigen; er schickte dann die Aufseher, die auszumessen hatten, um wieviel das Landstück kleiner geworden war, damit der Inhaber von dem übrigen nach Verhältnis der aufgelegten Abgabe steuere. Hieraus, meint Herodot, scheint mir (doxes de wor) die (Geometrie entstanden zu sein, die von da nach Hellas kam. Iso- krates gibt an?), die Ägypter hätten die älteren unter ihren Priestern über die wichtigsten Angelegenheiten gesetzt, die jüngeren dagegen überredeten sie mit Hintansetzung des Vergnügens, sich mit Stern- kunde, Rechenkunst und Geometrie zu beschäftigen. Platon hat häufig von der Mathematik der Ägypter gesprochen und einmal) be- sonders hervorgehoben, daß bei jenem Volke schon die Kinder in den Messungen unterrichtet würden zur Bestimmung von Länge, Breite und Tiefe. Eine andere platonische Stelle*), in welcher gleich- zeitig der Rechenkunst gedacht ist, und einen allgemein gehaltenen Ausspruch des Aristoteles®) haben wir im vorigen Kapitel unter den Belegen für das hohe Alter ägyptischer Rechenkunst angeführt. Heron von Alexandria läßt, was Herodot als ihm eigentümliche Vermutung äußert, vielleicht im Hinblick auf eben diesen damals schon seit etwa vier Jahrhunderten verstorbenen Schriftsteller zur alten Überlieferung werden): Die früheste Geometrie beschäftigt sich, wie uns die alte Überlieferung lehrt, mit der Messung und Verteilung der Ländereien, woher sie Feldmessung genannt ward. Der Gedanke einer Messung nämlich ward den Ägyptern an die Hand gegeben durch die Über- schwemmung des Nil. Denn viele Grundstücke, die vor der Fluß- schwelle offen dalagen, verschwanden beim Steigen des Flusses und kamen erst nach dem Sinken desselben wieder zum Vorschein, und es war nicht mehr möglich über das Eigentum eines jeden zu ent- scheiden. Dadurch kamen die Ägypter auf den Gedanken der Mes- sung des vom Nil bloßgelegten Landes. Diodor stimmt gleichfalls ı) Herodot II, 109. ?) Isokrates, Busiris cap. 9. °) Platon, Gesetze pag. 819. *) Platon, Phaedros pag. 274. °) Aristoteles, Metaphys. I, 1 in fine. ° Heron Alexandrinus (ed. Hultsch). Berlin 1864, pag. 138. De ad ZEIT na Zen raantire Seraörz zize RE Die Ägypter. Geometrisches. 103 überein!). Die Ägypter, sagt er, behaupten, von ihnen sei die Erfindung der Buchstabenschrift und die Beobachtung der Gestirne ausgegangen; ebenso seien von ihnen die Theoreme der Geometrie und die meisten Wissenschaften und Künste erfunden worden. An einer etwas späteren ausführlicheren Stelle fährt er fort: Die Priester lehren ihre Söhne zweierlei Schrift, die sogenannte heilige und die, welche man ge- wöhnlich lernt. Mit Geometrie und Arithmetik beschäftigen sie sich eifrig. Denn indem der Fluß jährlich das Land vielfach verändert, veranlaßt er viele und mannigfache Streitigkeiten über die Grenzen zwischen den Nachbarn; diese können nun nicht leicht ausgeglichen werden, wenn nicht ein Geometer den wahren Sachverhalt durch direkte Messung ermittelt. Die Arithmetik dient ihnen in Haus- haltungsangelegenheiten und bei den Lehrsätzen der Geometrie; auch ist sie denen von nicht geringem Vorteile, die sich mit Sternkunde beschäftigen. Denn wenn bei irgend einem Volke die Stellungen und Bewegungen der Gestirne sorgfältig beobachtet worden sind, so ist es bei den Ägyptern geschehen; sie verwahren Aufzeichnungen der einzelnen Beobachtungen seit einer unglaublich langen Reihe von Jahren, da bei ihnen von alten Zeiten her die größte Sorgfalt hierauf verwendet worden ist. Die Bewegungen und Umlaufszeiten und Still- stände der Planeten, auch den Einfluß eines jeden auf die Entstehung lebender Wesen und alle ihre guten und schädlichen Einwirkungen haben sie sehr sorgfältig beachtet. Die gleiche Überlieferung finden wir bei Strabon?). Es bedurfte aber einer sorgfältigen und bis auf das genaueste gehenden Einteilung der Ländereien wegen der beständigen Verwischung der Grenzen, die der Nil bei seinen Überschwemmungen veranlaßt, indem er Land wegnimmt und zusetzt und die Gestalt ver- ändert und die anderen Zeichen unkenntlich macht, wodurch das fremde und eigene Besitztum unterschieden wird. Man muß daher immer und immer wieder messen. Hieraus soll die Geometrie ent- standen sein. 22; Wir haben unsere Gewährsmänner, deren Lebenszeit etwa von 460 v. Chr. bis auf Christi Geburt sich erstreckt, chronologisch ge- ordnet, woraus erschlossen werden kann, wieviel etwa die späteren derselben von ihren Vorgängern entnommen haben mögen ohne aus dem lebenden Quell fortdauernder volkstümlieher Sage zu schöpfen. Anderen späteren Schriftstellern werden wir an anderer Stelle das Wort geben, wo es um die Übertragung der Geometrie nach Griechen- land sich handeln wird. Nur einen der frühesten griechischen Zeugen für das Alter und für die Bedeutsamkeit ägyptischer Geometrie müssen ) Diodor I, 69 und die Hauptstelle I, 81. °) Strabon Lib. XVII, cap. 3. 104 3. Kapitel. wir jetzt noch nachträglich hören, den wir oben zwischen Herodot und Isokrates, wohin er seiner Lebenszeit nach gehörte, absichtlich zurückstellten, weil seine Aussage von so hervorragender geschicht- licher Wichtigkeit ist, daß sie einer besonderen Erörterung bedarf. Demokrit sagt!) nämlich um das Jahr 420: „Im Konstruieren von Linien nach Maßgabe der aus den Voraussetzungen zu ziehen- den Schlüsse hat mich keiner je übertroffen, selbst nicht die soge- nannten Harpedonapten der Ägypter.“ Daß Harpedonapten ein griechisches Wort mit der Bedeutung Seilspanner oder wörtlicher übersetzt Seilknüpfer sei, ist merkwür- digerweise von dem Verfasser des besten griechischen Wörterbuches übersehen worden?). Allein auch die richtige Übersetzung reicht zum Verstehen jenes Satzes nicht aus, wenn man nicht weiß, wer jene Seilspanner waren, denen Demokrit in seinem ruhmredigen Ver- gleiche ein hochehrendes Zeugnis geometrischer Gewandtheit ausstellt, und worin ihre Obliegenheiten bestanden. Beides ist bis zu einem gewissen Grade aus ägyptischen Tempelinschriften zu erkennen, welche von geschätzten Ägyptologen veröffentlicht worden sind?). Die Tempel mußten in gleicher Weise wie die Pyramiden orientiert werden, und die Richtung nach Norden, deutlicher ausgedrückt nach dem Eintrittspunkte des Siebengestirnes um eine gegebene Zeit wurde be- obachtungsweise festgestellt. „Ich habe gefaßt den Holzpflock (nebi) und den Stiel des Schlägels (semes), ich halte den Strick (ya) ge- meinschaftlich mit der Göttin Safech. Mein Blick folgt dem Gange der Gestirne Wenn mein Auge an dem Sternbilde des großen Bären angekommen ist und erfüllt ist der mir bestimmte Zeitabschnitt ) Clemens Alexandrinus, Stromata ed. Potter I, 357: yoauufov ovv- PEoıog user dmodsigıog obdEls nm ue mapnkhabev, obd’ oi Alyvnılav naAssusvor “Aonsdovantaı. ?) Cantor, Gräkoindische Studien (Zeitschr. Math. Phys. Bd. XXI. Jahrgang 1877. Histor.-literar. Abteilung S. 18 und Note 68). °) Brugsch, Ueber Bau und Maasse des Tempels von Edfu (Zeitschr. f. ägypt. Spr. u. Alterth. Bd. VIII) und hieroglyphisch-demotisches Wörterbuch S. 327 und 967. An letz- terer Stelle ist übrigens nur bemerkt, daß das ägyptische hunu —= Feldmesser, Geometer sei. Von einem Seilspannen oder gar von einer Erinnerung an das griechische &ersdovanraı ist dabei keine Rede. Ferner vgl. Dümichen in’der Zeitschr. f. ägypt. Spr. u. Alterth. Bd. VIII und besonders dessen umfangreiche Schrift: Baugeschichte des Denderatempels und Beschreibung der einzelnen Theile des Bauwerkes nach den an seinen Mauern befindlichen Inschriften. Straßburg 1877. Endlich vgl. Brugsch, Steininschrift und Bibelwort (Berlin 1891), wo ausdrücklich darauf hingewiesen ist, daß in allen bildlichen Darstellungen der Grundsteinlegung eines Tempels die neben dem Könige auftretende Göttin stets den Meßstrick halte und durch eingeschlagene Pflöcke die Endpunkte des Heilig- tums festlege.e Die Endpunkte Brugschs sind jedenfalls als die Eckpunkte zu verstehen. Die Ägypter. Geometrisches. 105 der Zahl der Uhr, so stelle ich auf die Eckpunkte Deines Gottes- hauses.“ Das sind die Worte, unter denen der König auf den In- schriften der Tempel die genannte Handlung vollzieht. Er schlägt mit der in seiner rechten Hand befindlichen Keule einen langen Pflock in den Erdboden und ein gleiches tut ihm gegenüber Safech, die Bibliotheksgöttin, die Herrin der Grundsteinlegung. Es ist klar, daß die diese beiden Pflöcke verbindende Gerade die Richtung nach Norden, den Meridian des Tempels, bezeichnet, daß durch sie die ge- wünschte Orientierung des Grundrisses zur Hälfte vollzogen ist. Aller- dings nur zur Hälfte! Die Wandungen des Tempels sollen senkrecht zueinander stehen, und demgemäß ist es nicht weniger notwendig in einer zweiten Handlung diese mehr geometrische als astronomische Bestimmung zu treffen. Man kann nun leicht mit der Antwort bereit sein, die ägypti- schen Zimmerleute hätten gleich ihren heutigen Handwerksgenossen massive rechte Winkel besessen. Ein solcher ist z. B. auf einem Wandgemälde eine Schreinerwerkstätte darstellend!) deutlich abgebildet. Wohl. Aber die Richtigkeit dieses Werkzeuges £ mußte doch selbst verbürgt, mußte irgend einmal irgendwie Fie. 8. geprüft sein, und das scheint immerhin in letzter Linie eine geome- trische Konstruktion vorauszusetzen, die vermutlich bei so feierlichen Gelegenheiten wie die Gründung eines Tempels stets aufs neue voll- zogen wurde Daß es so geschah liegt vielleicht in der Mehrzahl „die Eckpunkte Deines Gotteshauses“ angedeutet, welche der König, wie wir gehört haben, aufstellt. Die Art der Bestimmung freilich verschweigt, soviel wir wissen, die Gründungsformel. Gerade dazu diente nun, wenn uns ein AÄnalogieschluß, dessen Ausführung wir auf einige ziemlich späte Kapitel dieses Bandes verschieben müssen, nicht irre leitet, das Seil, das um die Pflöcke gezogen war, das das eigentliche Geschäft der Seilspanner bezeichnend ihnen den Namen verlieh und an welches wir dachten, als wir im 1. Kapitel (S. 46) auf die Möglichkeit einer Seilspannung bei den Babyloniern hin- wiesen. Denken wir uns, gegenwärtig allerdings noch ohne jede Be- gründung, den Ägyptern sei bekannt gewesen, daß die drei Seiten von der Länge 3, 4, 5, deren grundlegende Eigenschaft 4 + 3°?=5? . ihnen (8. 96) nicht entgangen war, zu einem Dreiecke verbunden ein solches mit einem rechten Winkel zwischen den beiden kleineren Seiten bilden, und denken wir uns die Pflöcke auf dem Meridian um ) Wilkinson, Manners and customs of the ancient Egyptians. Vol. II, pag. 144. 106 8. Kapitel. 4 Längeneinheiten voneinander entfernt. Denken wir uns ferner das Seil von der Länge 12 und durch Knoten in die entsprechenden Ab- teilungen 3, 4, 5 geteilt, so leuchtet ein (Fig. 9), daß das Seil an dem einen Knoten gespannt, während die beiden anderen an den Pflöcken anlagen, not- ® wendigerweise einen genauen rechten Winkel ö zum Meridiane an dem einen Pflocke hervor- bringen mußte. Va v, War dieses die Hauptaufgabe der Harpe- 5 “ donapten, zu deren Amtsgeheimnis es gehören Fig. 9. mochte, die Pflöcke wie die Knoten an den richtigen Stellen anzubringen, wodurch wenigstens eine zweckdien- liche Erklärung für das Stillschweigen der Inschriften über ihre Ver- fahrungsweise gegeben wäre, so konnte in der Tat ihnen der Ruhm „der Konstruktion von Linien“ zugesprochen werden, so waren sie im Besitz der Mysterien der Geometrie, die nicht jedem sich enthüllten, so wird es begreiflich, wie ihre Handlungen in den Wandgemälden dem Könige selbst in Verbindung mit einer Göttin beigelegt wurden. Die Operation des Seilspannens ist eine ungemein alte Man hat deren Erwähnung auf einer auf Leder geschriebenen Urkunde des Berliner Museums gefunden, wonach sie bereits unter Ame- nemhat ]. stattfand‘). Vielleicht ist es gestattet, hier nochmals daran (8.58) zu erinnern, daß Ahmes in den einleitenden Worten seines Papyrus sich darauf beruft, er arbeite nach dem Muster älterer Schriften, und daß es vielleicht König Amenemhat III. war, unter dessen Regierung jene älteren Schriften verfaßt wurden. Ist diese Annahme wirklich richtig, so würden wir wenigstens keinen Anstand nehmen die Möglichkeit solcher Kenntnisse, wie wir sie soeben für die Harpedonapten in Anspruch nahmen, schon in der XII. Dynastie, welcher die Amenemhat angehörten, zuzugestehen. Einer Zeit, welche die Winkellehre so weit ausgebildet hatte, daß sie den Segt be- rechnete, können wir auch die Kenntnis des rechtwinkligen Dreiecks von den Seiten 3, 4, 5 zutrauen, die wesentlich erfahrungsmäßig gewonnen worden sein wird, ohne daß irgendwie an einen strengen geometrischen Beweis in unserem heutigen Sinne des Wortes gedacht werden müßte. | Überhaupt zerfällt, wie wir meinen, gerade dem Segt gegenüber jeder Versuch, die Geometrie der Ägypter auf eine bloße Flächen- abschätzung zurückzuführen, während Winkeleigenschaften oder Ver- hältnisse von Strecken ihr fremd gewesen seien, von selbst, ohne daß '), Dümichen, Denderatempel S. 33. Die Ägypter. Geometrisches. 107 es mehr nötig wäre, gegen diese Zweifel eines überwundenen W issens- standpunktes mit eingehender Widerlegung sich zu wenden. Dagegen ist um so erklärlicher, was ein später griechischer Schriftsteller von den Schülern des Pythagoras sagt!), was aber gewiß richtig auch auf seine Lehrer, die Ägypter gedeutet worden ist, daß sie die Winkel als bestimmten Göttern geweiht ansahen, und daß der dreiartige Gott die erste Ursache zur Reihe der geradlinigen Figuren in sich be- greife. Eine mindestens nicht ganz zu verwerfende Bestätigung uralter geometrischer Kenntnisse bei den Ägyptern können wir noch bei- fügen”). Wenn aus den ältesten Zeiten auf Wandgemälden Figuren von geometrischer Entstehung sich erhalten haben, so spricht deren Vorhandensein gewiß dafür, daß man mit solchen Zeichnungen sich damals beschäftigte. Ja man kann es wohl einleuchtend nennen, daß ein wirklicher Mathematiker, welcher dieselben, vielleicht Jahr- hunderte nach ihrer Anfertigung, häufig, täglich zu Gesicht bekam, fast notwendig darauf hingewiesen werden mußte, über Eigenschaften dieser Figuren, die ihm noch nicht bekannt waren, nachzudenken. Glücklicherweise besitzen wir nun in einem mit Recht wegen seiner Treue und Zuverlässigkeit berühmten Bilderwerke?) eine überreiche Menge von Figuren der genannten Art, von denen nur einige wenige, und zwar der leichteren Herstellung wegen ohne die bunten Farben des Originals und in anderem Maßstabe, hier wiedergegeben werden mögen. Schon zur Zeit der V. Dynastie, der unmittelbaren Nach- folger der Pyramidenkönige, wurde in der Totenstadt von Memphis eine aus ineinander gezeichneten verschobenen Quadraten (Fig. 10) gebildete Verzierung angewandt. Das Quadrat mit seinen zu Blättern ergänzten Diagonalen (Fig. 11) findet sich von der XII. bis zur XXVI. Dynastie vielfach. Das gleichschenklige Paralleltrapez kommt in Varianten, welche auf die Zerlegung in anderweitige Figuren sich ») Proclus Diadochus, Commentar zum I. Buche der euklidischen Ele- mente ed. Friedlein. Leipzig 1873, pag. 130 und 155. Auf diese Stellen hat allerdings in der Absicht sie gegen eine wissenschaftliche Geometrie der Ägypter zu verwerten Friedlein aufmerksam gemacht: Beiträge zur Geschichte der Mathematik I. Hof 1872, 8.6. ?°) Zur Anstellung der hier folgenden Untersuchung regten uns einige Bemerkungen von G. J. Allman an: Greek Geometry from Thales to Eucelid im V. Bd. der Hermathena. Dublin 1877, pag. 169, Note 20 und pag. 186, Note 81. Diese Abhandlung ist mit anderen, die gleichfalls ursprünglich in der Hermathena erschienen, 1889 zu einem Bande vereinigt worden. Dort finden sich die betreffenden Stellen pag. 12, Note 16 und pag. 29, Note 47. ®) Prisse d’Avennes, Histoire de Yart Egyptien d’apres les monuments. 108 3. Kapitel. beziehen (Fig.12 und 13), als Zeichnung von unteren Teilen eines Ständers für Waschgefäße und dergleichen fast zu allen Zeiten vor. Ein höchst er & PL % Fig. 12. NY Ss Sl y% BORN N LH N 74 Fig. 11. Fig. 13. merkwürdiges Gewebemuster (Fig. 14) kann als Ver- einigung zweier sich symmetrisch durchsetzender Quadrate definiert werden. Unterbrechen wir hier die Angabe geometrischer Figuren aus ägyptischen Wandgemälden und schalten wir zunächst den Bericht über eine für uns ungemein wertvolle Fig. 14. Entdeckung ein. Die Agypter pflegten die Wände, auf welchen sie Reliefarbeiten anbringen wollten, in lauter einander gleiche Quadrate zu zerlegen und mit deren Hilfe die Umrisse des Ein- zuhauenden zu zeichnen. Eine unvollendet gebliebene Kammer in dem sogenannten Grabe Belzoni, das ist in dem Grabe Seti I, des Vaters Ramses Il. aus der XIX. Dynastie, zeigt dieses ganz deutlich'). Es wäre töricht hierin bewußte Anfänge eines Koordinatensystems erkennen zu wollen, aber ebenso töricht wäre es zu verkennen, daß in dieser ausgeprägten Gewohnheit eine geometrische Proportionen- lehre so weit enthalten ist, daß wir den verkleinernden, unter Um- ständen, wo es um Götterfiguren sich handelte, auch den vergrößern- den Maßstab angewandt finden. Es kann fast auffallen, daß die Ägypter nicht noch einen Schritt weitergingen und die Perspek- tive erfanden. Bekanntlich ist von dieser bei ägyptischen Gemälden keine Spur vorhanden, und mag man religiöse oder was immer sonst für Gründe dafür in Anspruch nehmen, immer bleibt geometrisch aus- gedrückt die Tatsache: die Ägypter übten nicht die Kunstfertigkeit die zu bemalende Wand als zwischen dem sehenden Auge und dem abzubildenden Gegenstande eingeschaltet zu denken und deren Durch- schnittspunkte mit den Sehstrahlen nach jenem Gegenstande durch Linien zu vereinigen. | ı) Wilkinson, Manners and ceustoms Ill, pag. 313 und ebendesselben Thebes and Egypt pag. 107. d u.) I int... - ER Die Ägypter. Geometrisches. 109 Gehen wir in der Zeit tief herunter bis zur Regierung des Königs Ptolemaeus IX. (um 150 v. Chr. @.), so finden wir auf dem großen Pylon vor dem auf der Insel Phylae von jenem Könige errichteten Isistempel eine erhaltene in den Stein eingeritzte Zeichnung, welche allerdings das Recht hat uns in Staunen zu versetzen, und welche wir am besten an dieser Stelle erwähnen. Es ist!) der Grundriß einer bei Erbauung des Isistempels zur Verwendung gelangten Säule, und weitere Nachforschungen haben ergeben, daß die hier entgegen- tretende Art des Einritzens von Zeichnungen in natürlicher Größe dem ägyptischen Baumeister auf Phylae regelmäßige Gewohnheit war. Er hat, wie die Ausgrabungen zeigen, vor dem Beginne des Baues alle seine Grundrisse in Naturgröße auf dem Pflaster, da wo die Mauer kinkommen sollte, aufgerissen. Wir kehren zu den Figuren geometrischer Art zurück, und zwar zu solchen, bei welchen die Kreislinie vorkommt. Durch Durchmesser in gleiche Kreisaussehnitte geteilte Kreise kommen vielfach vor, und zwar ist bei Zieraten die häufigste Teilung die durch 2 oder 4 Durchmesser in 4 oder 3 Teile, während, wie wir im 1. Kapitel (8.47) erwähnt haben, auf Gefäßen, welche von asiatischen Tribut- pfliehtigen Königen der XVII. Dynastie, etwa den Zeitgenossen des Schreibers Ahmes, überbracht werden, die Teilung des Kreises durch 6 Durchmesser in 12 Teile (Fig. 15) 2 ausnahmslose Regel ist. Wagenräder haben insbeson- YA dere seit Ramses II. aus der XIX. Dynastie fast regel- 7 mäßig 6 Speichen, und Räder mit 4 Speichen kommen ID ganz selten vor. Ergänzend ist zu erwähnen, daß den Ägyptern des alten und des mittleren Reiches Wagen und Pferde noch unbekannt waren. Beide wurden erst unter den Hyksoskönigen von Syrien her eingeführt”). Damit ist aber zugleich wahrscheinlich gemacht, daß den Ägyptern vor der Zeit der Hyksos- könige z. B. unter den Amenemhats, unter welchen das Muster zum Handbuche des Ahmes entstand, die mit den Öspeichigen Rädern und dem regelmäßigen Sechsecke in enger Verbindung stehende Verhältnis- zahl x = 3 nicht bekannt wurde, und daß diese auch späterhin trotz anhaltend enger Beziehungen zu Vorderasien sich nicht einbürgern Fig. 15. konnte, weil die Ägypter damals schon mit x — F) zu rechnen ge- wohnt waren. Eine Teilung des Kreises in 10 gleiche Teile durch d Durchmesser oder in 5 Teile durch 5 vom Mittelpunkte ausgehende Strahlen ist unserem danach suchenden Auge nicht begegnet. Der ) L. Borchardt, Altägyptische Werkzeichnungen. Zeitschr. f. ägypt. Spr. XXXIV, 69—76 (1896). °) Steindorff, Die Blütezeit der Pharaonen S. 44. 110 3. Kapitel. von Horapollon als Zeichen für 5 beschriebene fünfstrahlige Stern (5. 84) kann kaum als Gegenbeispiel aufgefaßt werden, so auffallend er sein mag. Wollen wir über wirklich geometrische Überbleibsel in ägypti- scher Sprache, nicht über Zeichnungen, aus welchen mehr oder minder gewagte Rückschlüsse auf geometrisches Wissen gezogen werden müssen, berichten, so haben wir plötzlich ungemein tief in die Zeit- folge hinabzugreifen bis zu den Inschriften des Tempels des Horus zu Edfu in Oberägypten '), in welchen der Grundbesitz der Priesterschaft dieses Tempels vermessen und angegeben ist. Die Pflocklegung dieses Tempels wurde nach altertümlicher Sitte am 23. August 237 v. Chr. vollzogen?). Die aufgezeichneten Grundstücke und deren Schenkung beziehen sich auf König Ptolemäus XI., Ale- xander I., dessen Regierung durch Gewalttätigkeiten an Bruder und Mutter errungen und bewahrt von 107 bis 88 dauerte, in welch letz- terem Jahre er selbst durch den mit Waffengewalt zurückkehrenden Bruder zur Flucht genötigt wurde Um das Jahr 100 v. Chr. wurden also die betreffenden Messungen angestellt, nicht weniger als 200 Jahre nachdem in Alexandria auf ägyptischem Boden und unter dem Schutze eines Königs von Ägypten Euklid gelebt und gelehrt hatte, dessen Name jedem Gebildeten bis zu einem Grade bekannt ist, der uns verstattet seiner als Maßstab für das mathematische Wissen seiner Zeit auch in diesem Kapitel schon uns zu bedienen. Damals gab es unzweifelhaft eine weit vorgeschrittene theoretische Geometrie, aber die Praxis der Feldmessung ließ sich an den altherkömmlichen Formeln genügen. Wir haben dieses Festhalten an gewohnten, be- quemen, eine Wurzelausziehung vermeidenden Methoden schon früher (5. 94) angekündigt. Wir haben es bis zu einem gewissen Grade gerechtfertigt und die Unbedeutendheit des begangenen Fehlers in Betracht gezogen. Es ist möglich gewesen aus den sich aneinander anschließenden Maßen der Edfu-Inschrift eine sehr wahrscheinliche Zeichnung der dort beschriebenen Ländereien anzufertigen?), und dieser Plan läßt erkennen, wie wenig die durch Hilfslinien hergestellten viereckigen Abteilungen von Rechteeken sich unterscheiden, bis zu welchem Grade der Genauigkeit trotz Anwendung der alten Formeln man gelangte. In der Häufung jener Hilfslinien, in der Zerlegung des zu messenden Feldes in immer zahlreichere, immer kleinere Teile lag die Verbesserung, welche ein Festhalten der Regeln der Urahnen ') R. Lepsius, Ueber eine hieroglyphische Inschrift am Tempel von Edfu (Abhandlungen der Berliner Akademie 1855, S. 69—114). °) Dümichen in der Zeitschr. f. ägypt. Spr. u. Alterth. Bd. VII, S.7. °) R. Lepsius l. c. Tafel VI. a a Die Ägypter. Geometrisches. 111 gestattete, und diese Verbesserung war selbst keine Neuerung, sie hatte ihr Vorbild schon in dem Werke des Ahmes. Wir können die Ehrenrettung der Feldmesser zur Zeit von Ptolemäus X]. gewissermaßen vollenden, indem wir an die Scheu vor Wurzelausziehungen erinnern, welche heute noch untergeordneten Beamten des Katasterwesens an- zuhaften pflegt und sie wenigstens für vorläufige Flächenschätzung die sogenannten verglichen abgenommenen Maße anwenden läßt, d.i. eben das altägyptische Verfahren seinem Hauptgedanken nach. Wenn wir sagten, in den Edfu-Inschriften seien die Formeln an- gewandt, welche uns aus dem Übungsbuche des Ahmes bereits be- kannt sind, so müssen wir diese Aussage dahin ergänzen, daß eine weitere theoretisch noch mißbräuchlichere Ausdehnung jener Formeln hinzugekommen und eine nicht.ganz unbedeutende Gedankenverschie- bung bei ihnen eingetreten ist. 2% Die Formeln des Ahmes waren 34 > a und ”>x- und 24, \ zu22, _ macht 236, usw. Die angekündigte Gedankenverschiebung besteht aber in folgen- dem. Ahmes, das suchten wir aus der mutmaßlichen Entstehung der Formeln, aus dem beim Vierecke gebrauchten Namen Hak, Abschnitt, für die eine Seite zu begründen, ging aus vom Dreiecke und ließ das Trapez durch Abstumpfung jener ursprünglichen Figur entstehen. Jetzt hat die Sache sich umgekehrt. Das Viereck ist die zugrunde liegende Figur geworden, das Dreieck entsteht aus ihm als besonderer Fall, indem eine Vierecksseite verschwindet. Nicht von Dreiecken mit den Seiten 5, 17, 17 oder 2, 3, 3 ist in Edfu die Rede, sondern von Figuren mit den Seiten O zu 5 und 17 zu 17, beziehungsweise 112 3. Kapitel. 0 zu 2 und 3 zu 3, deren Flächen alsdann 42, und 3 sind!). Das Wort Null wird, wie wir wohl zum Überflusse bemerken, nicht etwa durch ein besonderes Zahlzeichen, sondern durch eine aus zwei Bild- chen sich zusammensetzende hieroglyphische. Gruppe mit der Aus- sprache Nen dargestellt, welche gewöhnlich verneinende Beziehungen ausdrückt, hier die als Dingwort ausgesprochene Verneinung, das Nichts. An eine Zahl Null ist in keiner Weise zu denken. Fassen wir in eine ganz kurze Übersicht den Hauptinhalt der beiden von ägyptischer Mathematik handelnden Kapitel zusammen. Die Ägypter besaßen, wie wir quellenmäßig belegen konnten, schon im Jahre 1700 v. Chr., wahrscheinlich sogar bereits ein halbes Jahr- tausend früher eine ausgebildete Rechenkunst mit ganzen Zahlen und Brüchen, wobei letztere stets als Stammbrüche geschrieben wurden, wenn auch der Begriff gewöhnlicher Brüche, wie aus der Zurück- führung auf Generalnenner hervorgeht, nicht fremd war. Die Auf- gaben, welche so der Rechnung unterbreitet wurden, gehören dem Gebiete der Gleichungen vom ersten Grade mit einer Unbekannten an, wobei die Worteinkleidung eine von einer Aufgabengruppe zur anderen wechselnde ist. Als Gipfelpunkte erscheinen nach moderner Auffassung Beispiele aus dem Gebiete der arithmetischen, vielleicht der geometrischen Reihen. Beispiele aus der Geonetrie und Stereo- metrie gewählt lassen erkennen, daß in jener frühen Zeit die Ägypter einen nicht ganz unglücklichen Versuch gemacht hatten den Kreis in ein Quadrat zu verwandeln, daß ihre Berechnung des Flächeninhalts von gleichschenkligen Dreiecken und von als Abschnitte von ersteren erhaltenen gleichschenkligen Paralleltrapezen von Näherungsformeln Gebrauch machte, ohne daß wir freilich irgend eine Auskunft darüber zu geben vermochten, ob man beim Kreise, ob man bei jenen gerad- linig begrenzten Figuren sich bewußt war nur Angenähertes zu er- "halten, oder ob man an die genaue Richtigkeit der Ergebnisse glaubte, und wie man zu denselben gelangt war. Zur weiteren Untersuchung dieser hochwichtigen Frage wird es unentbehrlich sein die Tatsache zu berücksichtigen, daß rationale Quadratwurzeln den Ägyptern in sehr alter Zeit bekannt waren. Des weiteren haben wir gesehen, daß man es liebte, wohl auch für notwendig hielt, gegebene Figuren zum Zwecke der Ausmessung durch Hilfslinien in andere Figuren von ein- facherer Begrenzung zu zerlegen, und diese Übung zu allen Zeiten beibehielt, gleichwie es mit den alten Näherungsformeln für die Flächen von Dreiecken und Vierecken der Fall war. Endlich ist !) Die hier erwähnten Beispiele vgl. bei Lepsius l.c. 8. 75, 79, 82. Auf letzterer Seite findet sich die Rechtfertigung der Null. Die Ägypter. Geometrisches. 13 festgestellt, daß in gleich grauem Altertume, bis zu welchem aufwärts wir die Flächenberechnung verfolgen können, auch eine Vergleichung von Strecken zum Zwecke des Ähnlichmachens, d. h. zur Wieder- ‚holung desselben Winkels an verschiedenen Raumgebilden stattfand. Neben dieser quellenmäßig gesicherten Wissenschaft lernten wir die Überlieferung kennen, welche Geometrie und Rechenkunst heimatlich auf Ägypten zurückführt, welche das bürgerliche Rechnen der Ägypter uns mutmaßlich als Fingerrechnen, mit aller Bestimmtheit als Rechnen mit Steinchen kennen lehrt. Auch aus Figuren des täglichen Ge- brauches durften wir geometrische Schlüsse ziehen, Handlungen die mit der Tempelerbauung verbunden waren, durften wir erörtern und gelangten so zu der wahrscheinlichen Folgerung, daß neben jenen . geometrischen Vorschriften, welche den Rechnungen dienten, auch solche bestanden, die auf Konstruktionen sich bezogen und nament- lich die Zeichnung eines rechtwinkligen Dreiecks durch die gegebenen Längen seiner drei Seiten ermöglichten. Eine deutliche Darlegung dieser von uns vermuteten Vorschriften ist ebensowenig bekannt wie die vorher vermißte Ableitung der Flächenformeln, ebensowenig wie die Begründung der von Ahmes angewandten Formel für Auf- findung des Anfangsgliedes einer arithmetischen Reihe aus ihrer Summe, ihrer Gliederzahl und ihrer Differenz. So kommt man un- abweislich zur Annahme eines noch nicht wieder aufgefundenen theo- retischen Lehrbuches der Ägypter neben dem neuerdings bekannt ge- wordenen Übungsbuche. Nicht als ob wir an eine Theorie im mo- dernen Sinne dächten. Beweise werden meistens induktiv, wohl auch auf Grund sehr ungenügender Induktion geführt worden sein, wenn man nicht gar den Augenschein für hinreichend hielt jeglichen Be- weis zu ersetzen. Dagegen vermuten wir, wie hier vorgreifend be- merkt werde,-eine regelmäßig wiederkehrende Form des Lehrbuches, unterschieden von der des Übungsbuches und nur darin mit letzterer zusammentreffend, daß auch sie sich forterbte, gleichwie die Form des Übungsbuches so gut wie ohne jede Veränderung in griechischer Nachbildung sich erhielt. Wir werden in späteren Kapiteln auf diese Meinung, auf diese Behauptung zurückkommen müssen, um die letz- tere zu beweisen und dadurch der ersteren eine Stütze zu verleihen. CANTOoR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 8 PB 5 2 a 4. Kapitel. Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. Wir verlassen die Länder ältester, aber bis vor kurzem und teilweise bis auf den heutigen Tag weniger bekannter Kulturentwicklung. Wir gehen über zu dem Volke, von dessen Bildung wir selbst, der Schreiber wie der Leser, bewußt oder unbewußt, unmittelbar oder mittelbar die merkbarsten Spuren in uns tragen, dessen Schriftsteller uns schon wiederholt als willkommene Ergänzungen dienten, wenn für andere Länder die einheimischen Quellen allzu spärlich flossen, und wir sind geneigt zu erwarten, hier werde geschichtliche Gewißheit uns ent- gegentreten, jede bloße Vermutung überflüssig machend und darum ersparend. Aber diese Erwartung wird getäuscht. Die Geschichte der griechischen Mathematik, allerdings durch Schriften einzelner her- vorragender griechischer Mathematiker selbst unserem Erkennen näher gerückt, ist doch nichts weniger als durchsichtig, als vollständig. Bald, und nicht bloß bei den ersten Anfängen, stehen wir an Lücken, an unvermittelten Übergängen, welche uns nötigen, um nur einiger- maßen Bescheid zu erhalten, Schriftsteller zu befragen, deren Glaub- würdigkeit uns selbst nicht gegen jeden Zweifel geschützt ist, oder gar zu eigenen Vermutungen unsere Zuflucht zu nehmen, welche die gähnende Spalte uns überbrücken müssen. Wir glauben unter der Bedingung, daß wir unseren Lesern sagen, was gewiß, was nur mög- lich sei, eine solche hypothetische Darstellung nicht vermeiden zu sollen, wo der Mangel an sicherer Überlieferung uns dazu nötigt. Einst flossen die Quellen ergiebiger. Es war eine Eigentümlich- keit der durch Aristoteles gegründeten peripatetischen Schule einen Urheber für jeden Gedanken ausfindig machen zu wollen. Dieser Hang verblieb auch den in Alexandria heimisch gewordenen, dort mit fremdartigen Elementen sich mengenden Peripatetikern. Man suchte allerdings von hier aus mit einer gewissen Vorliebe die Lehren grie- chischer Philosophen auf einen nichtgriechischen Ursprung zurück- zuführen '), und mit dieser Neigung nimmt die Zuverlässigkeit solcher ) Nietzsche, De Laertii Diogenis fontibus im Rheinischen Museum XXIV, 205. Frankfurt a. M. 1869. 118 4. Kapitel. Angaben wesentlich ab, sofern nicht andere Gründe obwalten, den Glauben an jene Aussagen wieder zu verstärken. Wir rechnen dazu vornehmlich zweierlei. Erstens erhöht es für uns die Bedeutung eines Ursprungszeugnisses aus fremdem Lande, wenn wir selbst dort Er- zeugnissen begegnet sind, die dem, was als eingeführt bezeichnet wird, wesentlich gleichen. Zweitens RE wir mit rückhaltloserer Hingebung den Aussprüchen eines Mannes, der als Sachverständiger, als Fachmann redet; ja wir benutzen lieber einen der Zeit nach späteren Mathematiker als Gewährsmann für früher Erdachtes als einen dem Ursprunge gleichaltrigen Laien, der die Jahre, um welche er den Ereignissen näher lebte, dadurch unwirksam macht, daß er dem Inhalte derselben fern stand. | Mit vollstem Vertrauen würden wir daher die Geschichte der Geometrie, der Sternkunde, der Arithmetik als Quelle benutzen, welche Theophrastus von Lesbos, der Schüler des Aristoteles, verfaßt haben soll‘), wenn dieselben uns auch nur in Spuren erhalten wären. Gern würden wir den gleichaltrigen Xenokrates in seinen Büchern über die Geometer?) als Führer wählen — vorausgesetzt, daß dieser Titel und nicht der „über Geometrisches“ die richtige Lesart bildet — wenn nicht auch sie durchaus verschollen wären. Mit Freuden bedienen wir uns der Bruchstücke historischer Schriften über Geometrie und Astronomie, die ein dritter Schriftsteller aus der Zeit der unmittelbarsten aristotelischen Schule verfaßt hat: Eude- mus von Rhodos?). Es sind, wie wir es ausgesprochen haben, nur Bruchstücke dieser Bücher bekannt, welche von anderen Schriftstellern abgeschrieben und gelegentlich, teils mit Nennung des Verfassers, teils mit bloßer Andeutung desselben, ihren Werken einverleibt wurden, aber jedes einzelne Stückchen läßt den Wert des Verlorenen ermessen, seinen Verlust bedauern. Neben diesen eigentlichen Geschichtsschreibern der Mathematik haben auch andere Fachmänner, Kompilatoren und Kommentatoren mathematischer Schriften, uns manche wertvolle Bemerkung hinter- lassen, die wir dankbarst benutzen werden. Geminus von Rhodos, Theon von Smyrna, Porphyrius, Jamblichus, Pappus,Proklus, Eutokius sind die Namen solcher Verfasser, von denen wir mehr als nur einmal zu reden haben werden. Die Überlieferungen nun in dem Sinne und Umfange benutzt, wie wir es vorausschiekend erläutert haben, und unter fernerer Zu- ziehung auch nichtmathematischer Schriftsteller, wenn keine andere ı) Diogenes Laertius V, 48—50. ?) Diogenes Laertius IV, 13. ®) Eudemi Rhodii Peripatetiei fragmenta quae supersunt ed. L. Spengel. Berlin 1870. Die mathematischen Bruchstücke S. 111—143. ER Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 119 Wahl uns bleibt, belehren uns darüber, daß in dem weiten Länder- gebiete, in welchem griechisch gesprochen und griechisch gedacht wurde, und welches deshalb für die Kulturgeschichte Griechenland heißt, wenn es auch keineswegs geographisch mit dem Königreiche Griechenland unseres Jahrhunderts sich deckt, die Mathematik weder gleichzeitig auftrat noch ebenmäßig sich entwickelte. Die kleinasia- tische Küstengegend südlich von Smyrna und die davor liegende Inselwelt waren der Schauplatz der ältesten ionischen Entwicklung. Süditalien und Sizilien mit ihrer dorischen Bevölkerung nahmen so- dann in weit stärkerem Maßstabe an der Fortbildung Anteil. Jetzt erst als dritter Boden, auf welchem eine dritte Stufe erreicht ward, erscheint das eigentlich griechische Festland, erscheint namentlich Athen in der Geschichte der Mathematik. Aber auch von dort ent- fernt sich die Schule der vorzüglichsten Mathematiker. Auf ägypti- schem Boden entsteht eine griechische Stadt, Alexandria, und dort blühen oder lernen doch wenigstens die großen Geometer eines Jahr- hunderts, welchem an Bedeutsamkeit für die Entwicklung der Mathe- matik nur ein einziges an die Seite gestellt werden kann, sofern unsere Gegenwart geschichtlicher Betrachtung sich noch entzieht: das Jahrhundert von der Mitte des XVI. bis zur Mitte des XVIL S,, das Jahrhundert der beginnenden Infinitesimalrechnung. Die großen Geisteshelden des euklidischen Zeitalters hatten ihre Epigonen, die, wenn sie teilweise auch an anderen Orten aufgesucht werden müssen, noch immer in Alexandria wurzeln. Dort zeigt sich in verschiedenen Jahrhunderten wiederholt eine Nachblüte unserer Wissenschaft, die edle Früchte hervorzubringen imstande ist. Männer wie Heron, wie Klaudius Ptolemäus, wie Pappus stehen keinem Mathematiker der euklidischen Zeit an persönlicher Geistesgröße nach, nur die Dichtig- keit ihres Auftretens in einander nahe liegenden Zeiträumen fehlt, und damit das eigentlich kennzeichnende Merkmal der großen alexan- drinischen Epoche. Endlich kehrt die griechische Mathematik matt und absterbend nach Hellas zurück. Athen und die im ehemaligen Thrakien entstandene Welthauptstadt Byzanz sehen den Untergang unserer Wissenschaft, den Untergang derselben für die dortige Gegend. Weiter westlish wohnenden Völkern geht sie zur gleichen Zeit neu und strahlend auf). Wir haben mit wenigen Strichen den Rahmen uns entworfen, in welchen wir das Bild der griechischen Mathematik einzuzeichnen ge- denken. Wir müssen mit dieser Einzelarbeit beginnen. Wir sind c ") Eine sehr umfassende Zusammenstellung gab G. Loria, Le scienze esatte nell’ antica Grecia. Modena 1893—1902. 120 | 4. Kapitel. bei Babyloniern und Ägyptern von den niedrigsten Rechnungsver- fahren und von der Bezeichnung der Zahlen ausgegangen als von Dingen, welche kein Volk auch nur in den Anfängen seiner geistigen Entwicklung entbehren kann, und welche die Vorstufe zu jedem mathematischen Denken bilden. Ähnlich werden wir hier verfahren. Wir werden das Zahlenschreiben, wir werden bis zu einem gewissen Grade das Rechnen der Griechen vorwegnehmen müssen. Ob wir es eine Zahlenbezeichnung') zu nennen haben, wenn in griechischen Inschriften die Zahlwörter ausgeschrieben gefunden werden, dürfte dahingestellt sein. Ebenso kann die Auflösung einer Zahl in lauter einzelne nebeneinander befindliche Striche, wie sie z. B. für die Zahl sieben noch in einer Inschrift von Tralles in Karien aus dem IV. vorchristlichen Jahrhunderte nachgewiesen ist, wie sie aber naturgemäß für eine nur noch etwas größere Zahl gar nicht denkbar ist, kaum als Zahlenbezeichnung gelten. Die älteste wirk- liche Bezeichnung erfolgte durch Anfangsbuchstaben der Zahl- wörter’). Ihre Spuren sollen hinaufrücken bis in die Zeit Solons, also etwa bis zum Jahre 600, während als untere Grenze das peri- kleische und nachperikleische Jahrhundert genannt wird, ja während Spuren bis auf die Zeit Ciceros hinabführen. Die benutzten Buch- staben sind folgende Man schrieb Jota I für die Einheit, sei es nun, daß an eine altertümliche Form des Wortes für eins gedacht werden muß, sei es, daß nur ein gerader Strich gemacht wurde, der zufällig auch als Jota gedeutet werden kann. Für fünf wurde ein Pi II geschrieben wegen zevre, für zehn ein Delta 4 wegen dexe. Hundert, &x«@röv, bezeichnete man durch Eta H, welches ursprünglich kein e-Laut, sondern wie später beisden Römern Aspirationszeichen war. Tausend yiAı« und zehntausend uvo:« endlich schrieb man mit Chi X und My M. Außerdem waren ebendieselben Buchstaben in- und aneinander geschrieben als Zusammensetzungen, durch welche die Produkte von fünf in Einheiten verschiedenen Ranges dargestellt werden sollten, in Gebrauch, und auch ein als „zehn mal tausend“ zusammengesetztes Zehntausend wird überliefert. Daß das Gesetz der Größenfolge stets gewahrt blieb, sei der Vollständigkeit wegen bemerkt. Wir bemerken ferner, daß diese Zeichen von Herodianus’?), einem byzantinischen Grammatiker, der etwa 200 n. Chr. lebte, ge- ') Ausführliches über Zahlenbezeichnung der Griechen in den Math. Beitr. Kulturl. 111 — 126. ”) Außer den in den Math. Beitr. Kulturl. angeführten Quellen vgl. Koehler in den Monatsberichten der Berliner Akademie für 1865, S. 54iflgg. und Friedlein, Die Zahlzeichen und das elementare Rechnen der Griechen und Römer und des christlichen Abendlandes vom 7. bis 13. Jahrhundert. Erlangen 1869, S. 9. °) Math. Beitr. Kulturl. 113. » Die Griechen. 'Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 121 schildert wurden und daß sie deshalb nicht selten herodianische Zeichen heißen. Noch während der Jahrhunderte, durch welche jene Bezeichnung der Hauptsache nach verfolgt worden ist, bildeten sich zwei neue Methoden aus, beide zuverlässig nicht vor der sogenannten ionischen Schrift auftretend, deren sie sich bedienen, somit nicht vor 500. Näheres bringen wir weiter unten. Die eine dieser Methoden benutzt die 24 Buchstaben des ionischen Alphabets um die Zahlen 1 bis 24 dadurch auszudrücken. Nach ihr wurden die zehn Phylai der athenischen Richter mit fortlaufender Nummer versehen. Nach ihr gaben später die Alexandriner den Gesängen des Homer ihre Ördnungszahlen. Diese Methode so wenig wie die zweite Methode, welche wir dahin kurz erklären können, daß den einzelnen Buch- staben untereinander verschiedene aber in der natürlichen Zahlenreihe nicht immer unmittelbar sondern sprungweise aufeinanderfolgende Werte beigelegt werden, gehört den Griechen allein an. Wir müssen ihre Spuren auch anderwärts verfolgen und zu diesem Zwecke ein- schaltend von phönikischer, syrischer, hebräischer Zahlenbezeichnung reden. Das eigentliche Handelsvolk der alten Welt waren die Phönikier, vielleicht die Fenchu ägyptischer Schriften. Sie durchfurchten als kühne Seefahrer und Seeräuber von ihren dicht an der Küste ge- gründeten Städten aus das Mittelmeer, welches ihnen Verkehrsstraße und Jagdgebiet war, überall Beziehungen unterhaltend, für welche Zahlenbekanntschaft unentbehrlich war. Dieselben Phönikier werden als Erfinder der eigentlichen reinen Buchstabenschrift gerühmt. Sie gingen mit dieser Erfindung weit hinaus über die Silben darstellenden Zeichen der Keilschrift wie auch über die Hieroglyphen, unter welchen eine Einheit der Bedeutung nicht herrschte, da unter ihnen wirkliche Buchstaben mit Silbenzeichen, mit Wortzeichen, ja mit solchen Zeichen wechselten, die selbst gar nicht ausgesprochen wurden, son- dern als sogenannte Determinative die Aussprache anderer daneben geschriebener Zeichen regelten. Die phönikischen Buchstaben, 22 an der Zahl, sind aus hieratischen Zeichen der Ägypter, also ursprüng- lich aus Hieroglyphenbildern entstanden In dieser Annahme sind alle Sachkundige einig, höchstens daß einer den Durchgang durch hieratische Zeichen in Abrede stellend die phönikischen Buchstaben unmittelbar aus Hieroglyphen ableiten möchte. War nun diese Be- schränkung auf einfachste Lautelemente in so geringer Anzahl schon ein ganz gewaltiger Schritt, so war es eine zweite wissenschaftliche Tat, wie man wohl sagen darf, den Buchstaben eine bestimmte Reihenfolge zu geben, aus ihnen ein Alphabet zu bilden. Die Ägypter 122 | 4. Kapitel. scheinen allerdings auch hierin ein Vorbild gewesen zu sein‘). Mariette hat versucht aus Inschriftsanfängen eine Reihenfolge ägyptischer Buch- staben herzustellen, aber wenn seinem Versuche mehr als bloße Ver- mutung zugrunde liegt, so war diese ägyptische Anordnung sicherlich eine andere als die der Phönikier und derjenigen Völker, die mit ihnen ein Alphabet besaßen. Phönikische Buchstaben in der späteren Ordnung scheinen bereits auf Tontafeln aus der Bibliothek des Assurbanipal (668—625) in Ninive vorzukommen. Bei den He- bräern ist die Ordnung für die Zeiten, in welchen verschiedene Psal- men?) gediehtet wurden, festgesichert, denn wenn auch nur eine nach unseren Begriffen zwecklose Spielerei mit Schwierigkeiten, Zufall kann es doch nicht sein, daß die Verse dieser Lieder der Reihe nach mit den Buchstaben des Alphabets beginnen, darin eine entfernte Ähnlichkeit mit der ersten Verwendung des griechischen Alphabets zur Numerierung der homerischen Gesänge bietend, auf welche wir oben anspielten. Noch eine andere Sicherung der Reihenfolge des hebräischen Alphäbets gibt das sogenannte Athbasch, welches sicher- lich der babylonischen Gefangenschaft angehört?). Es besteht darin, daß die 22 Buchstaben in zwei Reihen geordnet übereinander stehen, der letzte Buchstabe N über dem ersten N, der vorletzte ® über dem zweiten 2 usw. Diese vier Buchstaben je zwei und zwei zusammen- gelesen lauten eben Athbasch. Der Zweck dieser Anordnung war eine Geheimschrift zu liefern, indem jedesmal statt eines eigentlich anzuschreibenden Buchstabens der im Athbasch über beziehungsweise unter ihm stehende gesetzt wurde. Jedenfalls mußte also damals auch schon die gewöhnliche Ordnung der nämlichen Buchstaben er- funden sein. Wir sagen „erfunden“, denn bei der vollendeten Prinzip- losigkeit der Anordnung ist von einem inneren Gesetze derselben, welches nur entdeckt zu werden brauchte, gewiß keine Rede. Grie- chische Grammatiker haben sich zwar abgequält, Gründe dafür bei- zubringen, warum man die Buchstaben so, wie es geschah, und nicht anders ordnete, aber nur einer, Üheroboskos, dürfte das Richtige ge- troffen haben, wenn er sagt, niemand kenne den Grund der Anord- nung®). War die Buchstabenfolge eine willkürliche, eine vielleicht ı, Für das Folgende vgl. insbesondere F. Lenormant, Essai sur la pro- pagation de l’alphabet phenicien. Paris 1872. I, 101flgg. *) Psalm 111, 112, 119, auch die Klagelieder des Jeremias fangen in aufeinanderfolgenden Versen mit den aufeinanderfolgenden Buchstaben des Alphabets an. ») Herzogs Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche VII, 205 und XIV, 17. #, Grammatiei Graeei III (Scholia in Dionysii Thracis Artem Grammaticam ed, Alfred Hilgard. Leipzig 1901) pag. 485, 2sqq. 492, 10 sqq. 496, 17sqq. Die Stelle des Cheroboskos pag. 317, 15: Altiav 6: rg rd£ewg dıdev ÖvöR eig. PRee® Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 123 erst nachträglich eingeführte, nachdem die Buchstaben als solche bereits bestanden, so ist vermutlich wieder ein besonderer Akt der Erfindung notwendig gewesen, um die geordneten Buchstaben mit Zahlenwerten zu versehen. Zwei Tatsachen stimmen namentlich zu dieser Vermutung. Die eine, daß auf keiner der zahlreichen phöni- kischen oder punischen Inschriften, auf keiner Papyrushandschrift sich eine Spur einer alphabetischen Zifferrechnung gefunden hat!); die andere, das notwendige Seitenstück zur ersten bildend, daß eine nicht- alphabetische Zahlenbezeichnung der Phönikier bekannt ist. Die Phönikier schrieben entweder die Zahlwörter aus, oder sie bedienten sich gewisser Zeichen, die den Grundgedanken der Juxta- position, vielleicht wechselnd mit dem der Multiplikation, zur An- wendung brachten’). Eins bis neun wurde nämlich durch ebenso- viele senkrechte Striche dargestellt. Zehn war meistens ein wagrechter Strich, der aber auch in mehr oder weniger nach oben gekrümmter oder einen Winkel bildender Form vorkommt. Die Zahlen 11 bis 19 wurden durch Juxtaposition eines Horizontalstriches mit Vertikal- strichen geschrieben, von welchen gemäß der von rechts nach links zu lesenden phönikischen Schrift dem Gesetze der Größenfolge ge- horchend der Horizontalstrich am weitesten rechts sich befindet. Das nun folgende 20 ist durch zwei Horizontalstriche darzustellen, die aber nicht bloß parallel übereinander gezeichnet wurden, sondern auch schrägliegend und verbunden %, oder gar zu einer Gestalt N oder A sich veränderten. Jedenfalls trat es jetzt als einfaches neues Zeichen in Gebrauch, ein Vigesimalsystem in der Schrift einleitend. Ein letztes neues Zeichen kam, soweit die Inschriften bis jetzt er- geben haben, durch 100 hinzu |<| oder |{$|, was wohl als liegende Zehn zwischen zwei Einern zu denken ist, die in dieser Vereinigung eine verzehnfachende Wirkung üben, eine auffallende Erscheinung, welche aber auch nicht ganz vereinzelt dasteht, vielmehr in der römischen Zahlenbezeichnung ein Analogon besitzt. Die phönikischen Inschriften, welchen diese Zeichen entnommen sind, reichen bis auf viele Jahrhunderte vor Christi Geburt zurück. Die Zeichen unterscheiden sich aber nicht sehr von anderen, welche vom Jahre 2 an bis zur Mitte des III. S. in Palmyra, dem heutigen Tadmor mitten in der syrischen Wüste, in Gebrauch waren°). Die I) Diese Tatsache ist für Mathematiker zuerst bei Hankel S. 34 hervor- gehoben und damit ein langezeit fortgeschleppter Irrtum beseitigt. °) Adalb. Merx, Grammatica Syriaca. Heft 1. Halle 1867. Tabelle zu pag. 17. °) Uber palmyrenische Zahlzeichen vgl. Math. Beitr. Kulturl. S. 254. Zu den dort ange- gebenen Quellen tritt hinzu ein Aufsatz aus dem Nachlasse von E. F. F. Beer mit Erläuterungen von M. A. Levy in der Zeitschr. d. morgenl. Gesellsch. XVII, 65—117, besonders $. 115. 124 4. Kapitel. Hauptverschiedenheit, abgesehen von Abweichungen in den Formen für 10 und 20, besteht darin, daß ein Zeichen für fünf in der Ge- stalt X hinzugekommen ist und daß bei den Hunderten das multi- plikative Verfahren durchgeführt ist. Das Zeichen für 10 wird nämlich hier zu 100, indem nur einseitig, und zwar rechts ein nach dem Ge- setze der Größenfolge sonst unverständlicher Einheitsstrich ihm bei- gegeben ist, und gleicherweise werden 200, 300 usw. geschrieben, indem die Zeichen 2, 3 usw. sich rechts von dem für 10 befinden. Das eben beschriebene Zeichen von 100 nebst links folgendem 10 heißt dann natürlich 110, wird aber zum Zeichen von 1000, wenn noch ein horizontaler Deckstrich darüber kommt. Wieder als Varianten der palmyrenischen Zeichen sind solche zu betrachten, welche in syrischen Handschriften des VI. und V1l.S. aufgefunden worden sind'). Eine kleine Merkwürdigkeit bieten sie insofern dar, als hier eine Abweichung vom Gesetze der Größen- folge vorkommt. Während nämlich 1 durch einen Vertikalstrich, 2 durch zwei unten im Bogen zusammenhängende Vertikalstriche u dargestellt wird, sollte 3 von rechts nach links so geschrieben werden, daß an die 2 eine 1 sich anfügte. Statt dessen steht rechts die 1 und links davon die 2, während im übrigen das oft genannte Gesetz befolgt wird. Der Regel nach benutzten die Syrer allerdings die (S. 121) kurz erläuterte Buchstabenbezeichnung?). In einer freilich verhältnismäßig späten, jedenfalls so späten Zeit, daß von Anfängen einer Bezeich- nungsweise unter keiner Bedingung die Rede sein kann, bedienten sie sich der 22 Buchstaben ihres Alphabetes, um der Reihe nach die neun Einer (1 bis 9), die neun Zehner (10 bis 90) und die vier ersten Hunderter (100 bis 400) zu bezeichnen. Die folgenden Hunderter wurden durch Juxtaposition gewonnen: 500 = 400 + 100, 600 = 400 + 200, 700 = 400 + 300, 800 = 400 + 400, 900 = 400 + 400 + 100 oder durch die Buchstaben, welche vorher schon 50 bis 90 bezeichnet hatten und über die man zur Verzehnfachung ein Pünktchen setzte. Tausende schrieb man durch Einer mit unten rechts angefügtem Komma. Zehntausendfachen Wert erteilte den Einern und Zehnern ein kleiner darunter verlaufender Horizontalstrich. Vermillionfacht endlich wurde der Wert eines Buchstaben durch doppeltes Komma, d. h. also durch Vertausendfachung des schon Tausendfachen. Zur größeren Deutlichkeit pflegte man von diesen beiden, Komma das eine von links nach rechts, das andere von rechts nach links zu ') Auch diese Zeichen sind besprochen Math. Beitr. Kulturl. 256. ?°) Merx, Grammatica Syriaca pag. 14 flgg. Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 125 neigen. Auch Brüche kommen bei dieser Bezeichnung vor und zwar, wie es scheint, Stammbrüche, welche ähnlich wie bei den Ägyptern nur durch die Zahl des Nenners geschrieben wurden, während ein von links nach rechts geneigtes akzentartiges Strichelehen darüber sie als Brüche kenntlich machte. Der syrischen Buchstabenbezeichnung der Zahlen ist wieder die der Hebräer sehr nahe verwandt. Wann dieselbe entstand, ist eine noch ziemlich offene Frage. Auf hebräisch geprägten Münzen ist nicht früher als 137 v. Chr. alphabetische Bezeichnung der Zahlen nachweisbar!). Eine derartige Zahlendarstellung findet sich ebenso wenig unmittelbar in den Büchern des Alten Testamentes. Nur ihre Anwendung zur Gematria bezeugt ihr Vorhandensein, und wenn diese wirklich bis zum VI. Jahrhundert hinaufreicht (8. 44), so ist das hebräische Volk dasjenige, bei welchem die älteste Spur des Zahlen- alphabetes vorkommt, während im entgegengesetzten Falle Griechen auf die Priorität die gerechtesten Ansprüche haben und man alsdann anzunehmen hätte, es sei von den Griechen wieder nach Osten die Erfindung zurückgekehrt. So sehr diese Annahme der landläufigen vielleicht aus dem Alter der biblischen Schriften entstandenen Mei- nung widerspricht, wird man sich doch zu ihr bequemen müssen ?). An jene durch Gematria zu erklärende Stelle bei Sacharja zu glauben, haben wir schon, als wir sie im 1. Kapitel erwähnten, Bedenken ge- tragen. Gesicherte Spuren von Gematria finden sich nicht vor Philo von Alexandrien im ersten nachchristlichen Jahrhunderte. Das Wort Gematria ist kaum anders zu erklären als durch Buchstaben- verstellung aus yoauuersie, und damit wäre der griechische Ursprung des Namens wenigstens gesichert. Benutzung des griechischen Zahlen- alphabetes auf Münzen von Ptolemaeus II Philadelphus geht zurück bis 266 v. Chr., ist also um 130 Jahre älter als das älteste hebrä- ische Vorkommen. Diese Umstände vereinigt sprechen dafür, die Erfindung des eigentlichen Zahlenalphabetes den Griechen zuzuschreiben. In der Tat wird als Ort dieser Erfindung von manchen Milet angenommen und als deren Zeitpunkt schon das VIH. vorchristliche Jahrhundert, weil damals in Milet gewisse nach- mals außer Übung gekommene Buchstaben, deren später nur die Zahlen- schreibung sich bediente (z. B. das Bau) in regelmäßigem Gebrauch waren. Jedenfalls sind beide Schreibweisen von Zahlen, die alphabe- tische und die herodianische, in einer Inschrift von Halikarnaß vor- !) Nach einer Mitteilung von Dr. Euting an Hankel, die dieser S. 34 seines Geschichtswerkes angeführt hat. ?) Gow, A short history of greek mathematics. Cambridge 1884, pag. 43—48, hat die Beweisgründe zusammen- gestellt. 126 4. Kapitel. handen, welche um 450 entstanden sein soll, wenn man sich mit diesem Zeitpunkt als ältest gesichertem befriedigt erklärt!). Das hebräische Alphabet von 22 Buchstaben reichte gleich dem syrischen bis zur Bezeichnung von 400. Für die höheren Hunderte half man sich wieder durch Zusammensetzungen. Später kam man auf eine andere Aushilfe. Fünf Buchstaben des hebräischen Alphabetes, die- jenigen nämlich, welche den Zahlenwerten 20, 40, 50, 80, 90 ent- sprechen, besitzen zweierlei Gestalt, je nachdem sie am Anfange be- ziehungsweise in der Mitte eines Wortes auftreten, oder an dessen Ende, eine Eigentümlichkeit, welche mehrere orientalische Schriftarten mit der hebräischen teilen und wovon auch die sogenannte gotische Schrift in [ und 5 ein Beispiel aufweist. Die fünf Finalbuchstaben nun benutzte man, um die Hunderte von 500 bis 900 darzustellen und hatte nun die Möglichkeit der Darstellung sämtlicher Zahlen bis zu 999. Bei einer Zahl, bei 15, benutzte man nicht die natur- gemäße Bezeichnung 10-+5, sondern schrieb statt ihrer 9+6. Der Grund davon war, daß die Buchstaben für 10 und 5 7" den Anfang des heiligen Namen Jehova bilden, der nicht entweiht werden darf durch unnötiges Aussprechen oder Schreiben?). Um die Tausende zu bezeichnen kehrte man wieder zum Anfange des Alphabetes zurück, indem jeder Buchstabe durch zwei über ihn gesetzte Punkte den tausendfachen Wert erhielt, und so war es möglich alle Zahlen unter- halb einer Million zu schreiben, womit die Schreibart in Zeichen. über- haupt abschließen mochte, wie es unseren früheren Bemerkungen (5. 23) entsprechend auch mit dem genauen Zahlenbegriff der Fall war. Daß die Hebräer von rechts nach links schrieben, daß ab- gesehen von dem Falle geheimnisvoll erscheinen wollender Gematria, welche als Zahlenschreiben im eigentlichen Sinne des Wortes kaum betrachtet werden kann, das Gesetz der Größenfolge eingehalten wurde, braucht kaum gesagt zu werden. Eben dieses Gesetz ge- stattete die vertausendfachenden Pünktchen oft wegzulassen, wenn die Reihenfolge der Zahlen die Bedeutung derselben schon außer Zweifel stellte. Der Buchstabe für 1 x z.B. konnte dem für 5 7 in regel- mäßiger Zahlenbezeichnung nicht vorhergehen, wohl aber umgekehrt. Deshalb schrieb man 5001 nur durch x, dagegen 1005.durch "18 oder durch s. Da ferner n = 40, 7 = 800 war, so konnte 5845 = naar geschrieben werden. Die letztere Zahl, die Anzahl der Verse im ganzen Gesetze, wurde von den Masoreten, deren Tätigkeit freilich ') Handbuch der klassischen Altertums-Wissenschaft herausgeg. v. Iwan von Müller. Band I: Griech. Epigraphik von Wilhelm Larfeld S. 541—547 (München 1891). ®) Ist in dieser Schreibart von 15 die Veranlassung zur Gematria bei Alexandrinischen Juden, oder nur das einfachste Beispiel derselben zu erkennen? Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 127 erst im VII. $. n. Chr. abschloß ,‚ sogar MAT geschrieben!), indem m, das Zeichen für 8, einen höheren Rang als das nachfolgende n, zugleich einen niedrigeren als das vorhergehende durch die Stellung selbst vertausendfachte 7 besitzen mußte und daher nur 800 bedeuten konnte. Die Verwechslung von Zahlen mit Wörtern war in der hebräischen Schrift, die fast regelmäßig die Vokale wegließ und deren Ergänzung dem Leser übertrug, ungemein leicht. Sollte also eine Zahl als solche sofort erscheinen, so war ein Unterscheidungszeichen notwendig. Dasselbe bestand darin, daß man über den letzten Zahl- buchstaben zwei Häkchen machte, oder auch diese Häkchen zwischen dem letzten und vorletzten Zahlbuchstaben anbrachte. Bei vier- oder gar mehrstelligen Zahlen wurden die Häkchen öfter wiederholt. Wir kehren nach diesen Einschaltungen nach Griechenland zurück, bei dieser Rückkehr beiläufig erwähnend, daß die Gematria, die sym- bolisierende Buchstabenverbindung zu Wörtern mit Zahlenwert, sich auch bei späteren Griechen einheimisch ‚machte. Die Zahl 666 der Apokalypse z. B., welche, wie jetzt wohl kein Fachmann mehr be- zweifelt, aus dem Hebräischen stammt und 07 7%: (Nerun Kesar) bedeutet, wurde von Irenäus, dem berühmten Kirchenlehrer des II. S., als Aarsıvog gelesen und erklärt. Die Zahlenwerte der griechischen Buchstaben hier genauer zu erörtern, möchte so ziemlich allen unseren Lesern gegenüber über- flüssig sein. Wir begnügen uns daran zu erinnern (8.125), daß in dem zur Zahlenschreibung dienenden Alphabet altertümliche Buch- staben, die sogenannten Episemen, noch einen Platz einehmen, welche unter den Buchstaben der Griechen als solchen abhanden gekommen waren?). Die Buchstaben alpha bis sanpi genügten in ihrer Ver- bindung zur Darstellung der Zahlen 1 bis 999, wobei ein darüber befindlicher Horizontalstrich die Zahlen als solehe kennzeichnete und der Verwechslung mit Wörtern vorbeugen sollte. Die Tausende schrieb man mittels der 9 Einheitsbuchstaben, « bis 9, denen man zur Linken einen in Kommagestalt geneigten Strich beifügte. Mitunter wurde, ähnlich wie der vertausendfachende Punkt der Hebräer, das den gleichen Zweck erfüllende Komma der Griechen unter gleichen Voraus- setzungen weggelassen, nämlich wenn die Stellung vor einem Buch- staben, dem an und für sich ein höherer Zahlenwert eigentümlich war, die Notwendigkeit ergab um des Gesetzes der Größenfolge willen das betreffende Zahlzeichen tausendfach zu lesen. Allerdings ist auch bei den Griechen ein Abweichen von dem Gesetze der Größenfolge ') Nesselmann, Die Algebra der Griechen. Berlin 1842, S. 494. ?) Vgl. A. Kirchhoff, Studien zur Geschichte des griechischen Alphabets. 3. Aufl. Berlin 1877. 128 4. Kapitel. nachgewiesen worden‘). Nicht bloß daß in Sizilien der Sprach- gebrauch die kleinere Zahl der größeren vorausgehen ließ |z. B. TE0009« teroandoe EEanıoylhıe nevrexıouvgie rdhavra = 56404 Ta- lente], daß bei asiatischen Griechen die gleiche Übung herrschte, daß auf Münzen von Seleucidenkönigen der Berliner und Londoner Samm- lungen, deren Prägung innerhalb 210 und 144 v. Chr. Geburt fällt, die Jahreszahlen ![P=103, A#FP=16l, BEP=16%, 0#P = 169 vorkommen?), man hat sogar Inschriften gefunden, bei welchen Größenfolge nach beiden Richtungen miteinander wechselt?), z. B. Erovs &vp breoßeoereiov ıe = am 15. des Monats Hyperberetaion im seleucidischen Jahre 557. Zehntausend wurde als Myriade durch Mv. ‘oder durch M. bezeichnet. Bei Vielfachen von 10000 konnte der vervielfachende Koeffizient eine dreifache Stellung einnehmen, links vor, rechts nach oder über dem M. Im ersten Falle wurde M. auch wohl durch einen einfachen Punkt vertreten, welcher aber nicht weg- gelassen werden durfte, weil die bloße Stellung, wie wir erst bemerkt haben, nur vertausendfachte. Es bedeutete demnach Bw4A« stets 2831, B.oA« dagegen 20831. Man hat verschiedentlich die Behauptung aufzustellen versucht, den Griechen sei, und zwar in alter Zeit, ein Zahlzeichen für Nichts, mithin eine wirkliche Null zu eigen gewesen. Man hat zu diesem Zwecke auf astronomische Werke des Ptolemäus und des Theon von Alexandria, man hat auf eine Steininschrift der Akropolis zu Athen, man hat auf einen Palimpsest im Vatikan hingewiesen. Aber alle diese Hinweise sind durchaus nichtig; von einer Null ist an keiner dieser Stellen die Rede‘). Brüche kommen bei griechischen Schriftstellern, insbesondere bei Mathematikern, häufig vor. Die Bezeichnung erfolgt im all- gemeinen so, daß man zuerst die Zähler hinschrieb und dieselben mit einem Akzente rechts oben versah, dann die Nenner, denen ein doppelter Akzent beigefügt wurde und die zweimal geschrieben wurden. 2.B. ı£ ae” we’ — a Hatte man es mit Stammbrüchen zu tun, so blieb der Zähler « als selbstverständlich weg, und die einmalige Schreibung des Nenners genügte. Ohne weitere Bemerkung neben- einander geschriebene Stammbrüche sollten durch Addition vereinigt ı) J. Woisin, De Graecorum notis numeralibus (Leipziger Doktordisser- tation in Kiel 1886) pag. 15—16. ?®) Briefliche Mitteilung des Herrn Adolf Richter in Riga. ' °) Corpus Inscriptionum Graecorum (ed. Boeckh) Vol. II. (Berlin 1853) No. 4516. Vgl. auch No. 4503, 4518, 4519. *) Math. Beitr. Kulturl. S. 121figg. Wichtige Ergänzungen zu unseren Angaben über den Palimpsest bei Hultsch, Seriptores metrologiei Graeci. Leipzig 1864. Vorrede pag. V—VI. Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 129 „ 1 [4 [74 „ [73 1 1 1 1 werden. 7. B. Ö = A und r “N oLPß 6x0 = - = 38 + 112 er 394 N . . ib - . Zwei besondere Bezeichnungen sind bemerkenswert: = oder jursv wurde nicht durch 8” sondern durch das altertümliche sigma c angedeutet und dieses vereinigt sich mit 5’ — ‘; zu einem . r ’ v 1 1 2 neuen dem omega ähnlichen Zeichen w um 2 au 5,77 AUBN- schreiben'). Die Frage, wie man dazu kam an Stelle einer anderen schon vorhandenen Bezeichnungsweise von Zahlen die neue alphabetische Methode einzuführen, verdient wohl gestellt zu werden und ist auch, wenngleich nicht häufig, gestellt worden?),. So mächtig wirkt bei den meisten Geschichtsschreibern die Gewohnheit das geschichtlich nacheinander Auftretende als Fortschritt aufzufassen, daß man auch hier einem Fortschritte gegenüberzustehen wähnte, und die Einführung eines solchen bedarf keiner besonderen Erklärung. Statt eines Fort- schrittes haben wir es aber hier mit einem entschiedenen Rück- schritte zu tun, insbesondere was die Fortbildungsfähigkeit der Ziffernschrift betrifft. Vergleichen wir die älteren herodianischen Zahlzeichen mit den späteren, für welche wir schon wiederholt den Namen alphabetischer Zahlzeichen gebraucht haben, so erkennen wir bei letzteren zwei Übelstände, die den ersteren nicht anhaften. Es mußten jetzt mehr Zeichen und deren Wert dem Gedächtnisse an- vertraut werden, es mußte auch das Rechnen eine viel angespanntere Gedächtnistätigkeit in Anspruch nehmen. Die Addition AAA+ AAAA=,IAA(80+40=70) konnte mit dr HHH + HHHH = #IHH(300 +400 = 1700) in einen Gedächtnisakt zusammenschmelzen, sofern drei und vier Einheiten derselben Art zu fünf und zwei Ein- heiten gleicher Art sich vereinigten. Dagegen war mit A\+u=o noch keineswegs T+ = y sofort mitgegeben! Nur einen einzigen Vorzug bot die neue Schreibweise der alten gegenüber, der sich zeigt, wenn man die schriftliche Darstellung nach ihrer Raumaus- dehnung vergleicht. Man beachte z. B. 849, welches herodianisch FHHHAAAATIINNN, alphabetisch wu® aussieht. Jenes ist durch- sichtiger, gewährt beim Rechnen die wichtigsten Vorteile; dieses ist unverhältnismäßig viel kürzer, und so werden wir auf diesem den Vermutungen allein preisgegebenen dunkeln Gebiete wohl kaum einen Fehlgriff tun, wenn wir die Meinung aussprechen, nicht Rechner, ') Über Brüche vgl. Hultsch, 1. e., pag. 173—175. ?, Heinr. Stoy, Zur Geschichte des Rechenunterrichtes I. Teil. Jenaer Inauguraldissertation 1876, 8. 25. CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 9 130 4. Kapitel. sondern Schreiber haben die alte breite Zahlenbezeichnung um der neuen willen im Stich gelassen, und weil es in der großen Menge der Bevölkerung mehr Schreiber gab als Rechner, die zugleich auch Schreiber waren, hat die neue alphabetische Methode so rasch und allgemein sich Eingang verschafft. Wir sind mit diesen Bemerkungen bereits über die Besprechung des Zahlenschreibens bei den Griechen hinausgegangen und zu deren Zahlenrechnen gelangt. Wieder begegnen uns hier die beiden Rechnungsverfahren, denen wir allgemein menschliche Verbreitung zuerkannt haben: das Fingerrechnen und das Rechnen auf einem Rechenbrette. Spuren des ersteren sind mancherlei vorhanden!,. Es mag ja zu weit gegangen sein für dasselbe auf eine Stelle des Herodot sich zu beziehen, wo einer an den Fingern die Monate abrechnet?). Auch daß in homerischer Sprache Rechnen reuxa£eıv, d. h. wörtlich „ab- fünfen“ heißt, mag von geringerer Tragweite erscheinen. Aber eine Stelle der Wespen des Aristophanes?) bezeugt, daß man Überschlags- rechnungen an den Fingern auszuführen pflegte. Wie die Griechen alter Zeit dabei verfuhren, ist nicht bekannt. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß ähnliche Grundsätze der Fingerbedeutung gegolten haben mögen wie in späterer Zeit, aber eine Sicherheit liegt keines- wegs vor. Wir wünschen daher nicht durch Vorgreifen den An- schein einer solchen Sicherheit hervorzurufen, und versparen uns die Darstellung spätgriechischer Fingerrechnung bis zum Schlusse dieses ganzen griechischen Abschnittes, wo eine erhaltene byzantinische Schrift über den Gegenstand uns nötigende Veranlassung geben wird darauf einzugehen. Das Rechnen auf einem Rechenbrette in Griechenland bezeugt uns Herodot durch dieselbe Stelle*), deren wir uns zum Beweise des gleichen Verfahrens in Ägypten schon bedient haben (8. 88). Wir hoben dort bereits hervor, daß die Kolumnen des Brettes gegen den Rechner senkrecht gezogen sein mußten und werden dafür noch anderweitige Gründe weiter unten angeben. Die auf dem Rechenbrette Verwendung findenden Steinchen hießen Ydrjpor. Sie wurden, wie aus der Stelle in den Wespen des Aristophanes hervorgeht, auch in dessen Zeit zum genauen Rechnen benutzt, und die Verbreitung dieses Ver- fahrens wird ersichtlich aus dem Worte Yngi&sıv, mit Steinchen han- tieren, welches allgemein für das Rechnen eintritt. Auch das Brett, auf welchem gerechnet wurde, bekam einen besonderen Namen &ßef. ) Stoy, l. c., S. 35 Anmerkg. 4, S.44 Anmerkg. 3. °) Herodot VI, 63 und 65. °) Aristophanis Vespae 656. *) Herodot II, 36. Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 131 Allein gleich bei diesem Namen Abax beginnen die Streitfragen, welche sich mehr und mehr häufen, je weiter die Geschichte der Entwicklung des Rechenbrettes fortschreitet. Man hat nämlich das Wort &ß«& bald dem semitischen PAN Staub verglichen und Staub- brett übersetzt, bald hat man den Stamm ßax mit verneinendem « zu einem Worte vereinigt, dem die Bedeutung des Nichtgehenkönnens, des Fußlosseins innewohnt!). Die letztere Ableitung stützt sich vorwiegend auf die nicht in Zweifel zu stellende Anwendung des Wortes “ß«e& und ähnlich klingender Wörter in Bedeutungen, welche an Staub in keiner Weise zu denken gestatten. So hieß eine Art von Würfelbrett, ein rundes Körbchen ohne Untergestell, eine runde Platte &ß«& und dergleichen mehr. Noch eine dritte Ableitung läßt &ße& durch verneinendes & von ßd£o (ich spreche) abstammen; es sei ein Rechnen, bei welchem nicht gesprochen wird?). Die erste Ableitung dagegen weiß nur einen Grund für sich anzugeben, der durch ein Spiel sprachlichen Zufalles sich sehr wohl erklären läßt: der griechische Abax als Rechenbrett war nämlich, wenigstens in einer Form, ein wirkliches Staubbrett?). Wir wissen dieses aus einer Stelle des Jamblichus, in welcher dieser späte Pythagoräer erzählt, daß der Gründer ihrer Schule die Beweise der Arithmetik wie der Geometrie auf dem Abax geführt habe, was nur dann verständlich ist, wenn auf dem Abax Zahlzeichen und Linien leicht gezeichnet, leicht verwischt werden konnten; wir wissen es deutlicher aus einer zweiten Stelle desselben Jamblichus, die uns ausdrücklich sagt, der Abax der Pythagoräer sei ein mit Staub bedecktes Brett gewesen‘). Auch eine Stelle des Eustathius ist damit in Übereinstimmung, welche den Abax als den Philosophen, die Figuren auf denselben zeichneten, nützlich rühmt?). Das letztere Zeugnis gehört freilich erst dem Ende des XII. S. an, aber bei der berühmten Gelehrsamkeit des Bischofs von Thessalonike, der sie niederschrieb und dem sicherlich noch Quellen ') Für die erste Ableitung Nesselmann, Algebra der Griechen S. 107, Anmerkg. 5 und Vincent in Liouville’s Journal des Mathematiques IV, 275 Note mit Berufung auf Etienne Guichart, Harmonie des langues. Für die letztere Th. H. Martin, Les signes numeraux et Varithmetique chez les peuples de Vanti- quite et dw moyen-age. Rome 1864, pag. 34—35 mit zahlreichen Quellenangaben. 2) E. Clive Bayley im Journal of the Royal Asiatic Society, new series, XIV, 369 (London 1882). °) Als Beispiel sprachlicher Zufälligkeiten erinnern wir an das englische degree und das arabische daraga. Beide bedeuten Grad (Winkel- einteilung), sind aber nicht entfernt verwandten Stammes trotz Gleichlautes und Bedeutungsgleichheit. *) Jamblichus, De vita Pythagorica cap. V, $ 22 und desselben Exhortatio ad philosophiam Symbol. XXXIV. °) Eustathius in Odys- seam zu Gesang I, vers. 107. Vgl. die römische Ausgabe dieses Kommentators pag. 1397 lin. 50. 9* 132 4. Kapitel. zugänglich waren, die wir nicht mehr kennen, nehmen wir ebenso- wenig Anstand dasselbe zu verwerten, wie die oft angerufenen Zeug- nisse späterer Lexikographen. Sollte auf dem Abax gerechnet werden, so mußten, wie wir wissen, auf demselben Abteilungen gebildet werden, deren jede zwischen zwei Strichen verlief, oder durch einen einzelnen Strich sich darstellte. Die Abteilungen, Kolumnen nennt man sie gemeiniglich, und auch wir werden uns dieses Ausdruckes von jetzt an ausschließlich be- dienen, waren gegen den Rechner senkrecht gezeichnet. Das geht nächst der Stelle bei Herodot, welche wir so deuteten, aus einem Vasengemälde hervor, das aus griechischer Vorzeit auf uns gekommen ist. Wir meinen diejenige Vase, welche den Altertumsfreunden als die große Dariusvase in Neapel wohl bekannt ist!). Auf dieser Vase ist ein Rechner gut erkennbar, der auf einer Tafel den Tribut zu buchen scheint, welcher dem Darius dargebracht wird. Die Tafel ist in zu dem Rechner senkrechte mit Überschriften versehene Ko- lumnen eingeteilt, und die Überschriften bestehen aus herodianischen Zahlzeichen. Eben dieses Vasengemälde ist es, welches einen zuver- lässigen Beweis persischen, mithin mutmaßlich auch babylonischen Kolumnenrechnens uns liefern würde, wenn wir der Gewißheit uns hingeben dürften, daß der Künstler nicht aus freier Phantasie arbeitend griechische Gewohnheiten ins Ausland übertrug, ohne sich darum zu kümmern, ob er damit der Wahrheit widersprach. Die Kolumnen hatten den Zweck, den zum Rechnen dienenden Marken einen in verschiedenen Kolumnen verschiedenen Stellungswert zu verleihen. Zwei Schriftsteller bezeugen uns dieses. Von Solon wird uns der Vergleich mitgeteilt, wer bei Tyrannen Ansehen besitze, sei wie der Stein bei der Rechnung; bald bedeute dieser mehr, bald weniger, und so achte der Tyrann jenen bald hoch, bald gar nicht?). Desselben Vergleiches bedient sich Polybios, der arkadische Geschichts- schreiber, welcher 203—121 lebte, und gebraucht dabei einen nicht unwichtigen Ausdruck. Er sagt nämlich, die Marken auf dem Abax gelten nach dem Willen des Rechnenden bald einen Chalkus, bald ein Talent). Die Bedeutsamkeit gerade dieser von Polybios genannten gegen- sätzlichen Werte erkennen wir in ihrer Übereinstimmung mit den Eindwerten niedersten und höchsten Ranges, welche auf einem grie- ') Vgl. eine Abhandlung von F. G. Welcker in dessen Alte Denkmäler V, 349 figg. nebst Tafel XXIH. Der erste Abdruck in Gerhards Archäologischer Zeitung 1857, 8. 49—55, Tafel 103. °) Diogenes Laertius I, 59. °) Poly- bios V, 26, 18. Bo: Die Griechen. Zahlzeichen. Fingerrechnen. Rechenbrett. 133 chischen Denkmale, auf der Tafel von Salamis angegeben waren. Damit ist nämlich entweder eine annähernde Datierung jener ihrem Alter nach bis jetzt ganz unbestimmbaren Marmortafel, welche sich gegenwärtig im Nationalmuseum (Ethnikon) zu Athen befindet, er- möglicht oder man hat die für langdauernde Ubung Zeugnis ablegende Erhaltung genau derselben Abteilungszahl vor sich. Die salaminische Tafel!) von Marmor 1,5 m lang, 0,75 m breit wurde zu Anfang des Jahres 1846 auf der Insel, deren Namen sie führt, aufgefunden. Sie war der Größe ihrer Abmessungen, dem Gewichte des Materials, der durch beide vereinigten Umstände erhöhten Unbeweglichkeit zufolge, sicherlich keine gewöhnliche Rechentafel. Wir haben vielmehr ent- weder an den Geschäftstisch eines öffentlichen Wechslers zu denken, deren es in Griechenland bereits gab, oder an eine Art von Spielbrett mit zur Verrechnung von Gewinn und Verlust vorgerichteten Kolumnen. Die Einrichtung war nämlich allem Anscheine nach die, daß jedem der beiden Spieler, beziehungsweise Rechner, fünf Hauptkolumnen, je zwischen zwei Striche eingeschlossen, und vier Nebenkolumnen zur Verfügung standen. Erstere dienten von links nach rechts im Werte abnehmend für Talente (6000 Drachmen), 1000, 100, 10 und 1 Drachmen, letztere für die Bruchteile der Drachmen Obolus (4 Drachme), halber Obolus, viertel Obolus und achtel Obolus oder Chalkus?). Jede der Hauptkolumnen war durch einen durch alle Abteilungen gemeinschaft- lich durchlaufenden Querstrich in zwei Hälften geteilt, deren eine, sei es die obere, sei es die untere, den eingelegten Marken den fünffachen Wert gab wie die anderen. Es ist dies ein tatsächlich vorhandenes Beispiel dessen, was wir (S. 42) bei den Babyloniern vermutungsweise annahmen, um die Entstehung des Wortes Ner uns zu verdeutlichen. "Wir dürfen zugleich hervorheben, daß die 5 Hauptkolumnen ihrer Anzahl nach mit den fünf einfachen Grundzahlwörtern der Griechen von der Monas bis zur Myrias übereinstimmen, dürfen zugleich an das früher über Beschränkung volkstümlicher Zahlenbegriffe Gesagte er- innern. Daß unsere in allen wesentlichen Punkten von Letronne her- stammende Erklärung der salaminischen Tafel richtig sein muß, be- weisen insbesondere die auf der Tafel befindlichen selbst 13 mm hohen Zahlzeichen. Sie sind herodianische Zeichen, und es ist eben so fein ", Math Beitr. Kulturl. S. 132 und 136 filgg. die genaueren Quellenangaben. Vgl. ferner A. Nagl, Die Rechenmethoden auf dem griechischen Abakus in Abhndlgen. z. Gesch. d. Math. IX, 387357. Kubitschek, Die salaminische Rechentafel in Numismatische Zeitschrift (Wien 1900) XXXI, 393—398. A. Nagl, Der griechische Abakus in Numism. Zeitschr. (Wien 1903) XXXV, 131—143. ?) Der attische Obolus hatte 8 Chalkus. Vgl. Hultsch, Metrologie (2. Aufl.) 8. 133. 134 5. Kapitel. als richtig hervorgehoben worden, es sei kein Zufall, wenn diese Be- zeichnung, welche neben den einzelnen Grundzahlen auch deren Fünf- fache kürzer zu schreiben gestatte, auf einem nach demselben Gedanken abgeteilten Rechentische sich finde). Ein Bruchstück einer der sala- minischen vielleicht ähnlichen Tafel ist dann später (1886) auch in Akarnanien aufgefunden worden?). Dürfen wir vielleicht den Rückschluß ziehen, das Rechenbrett ähnlicher Art müsse bei den Griechen mindestens so alt wie jene Zeichen gewesen sein? Dürfen wir das in einer Quelle berichtete Vorkommen herodianischer Zeichen in solonischer Zeit mit dem eben angeführten Ausspruche Solons, der für das Vorhandensein eines Rechenbrettes zwingend wäre, wenn er selbst als beglaubigt betrachtet werden könnte, in Verbindung bringen? Dürfen wir beide als gegen- seitige Stützen betrachten und somit um 600 ein schon ziemlich aus- gebildetes Rechnen auf dem Rechenbrett in Griechenland annehmen? Wir wollen uns nicht soweit in Vermutungen einlassen, daß wir alle diese Möglichkeiten als Wahrheiten behaupteten. Nur eines sei bemerkt, daß auf dem Sandbrette sehr leicht mittels eines Stiftes Kolumnen bildende Linien gezogen werden konnten, daß somit durch- aus kein Grund vorliegt einen Zweifel zu hegen, ob gleichzeitig mit der Herstellung der salaminischen Tafel und ähnlicher Tische auch die pythagoräische Benutzung des Sandbrettes zum Rechnen in Übung gewesen sei. Das Rechnen selbst beschränkte sich anfangs gewiß auf die einfachsten Grundverfahren des Zusammenzählens und Abziehens. Ein mathematisches Rechnen kam erst in Frage, als eine wirkliche Mathematik in Griechenland sich gebildet hatte, und wird erst in jener Zeit von uns behandelt werden dürfen. Das mathematische Denken war in Griechenland vorzugsweise ein geometrisches. Der Geometrie gehören auch die Anfänge der Mathe- matik an, zu welchen wir uns jetzt wenden. 5. Kapitel. Thales und die älteste griechische Geometrie. Ein gelehrter Philosoph des V. S. Proklus Diadochus hat uns ein ungemein wertvolles Bruchstück eines älteren Schriftstellers auf- bewahrt, welches uns ein Bild der ältesten griechischen Mathematik ) Stoy, .e, 8. 26. °%) Woisin, De Graecorum notis numeralibus pag. 4 mit Berufung auf Bulletin de Correspondence Hellenique, annee X (1886) pag. 179. Thales und die älteste griechische Geometrie. 135 in Ionien, in Unteritalien und in Athen den Umrissen nach erkennen läßt. Es stammt nach Proklus’ Aussage von denen her, „die die Ge- schichte geschrieben haben“, und man ist allgemein darin einig hier ein Fragment des Eudemus, oder wenigstens einen Auszug aus dessen historisch - geometrischen Schriften zu erkennen'), Wir werden das- selbe häufig zu nennen haben und ihm zu diesem Zwecke den seinem Inhalte wohl am meisten entsprechenden Namen des alten Mathe- matikerverzeichnisses beilegen. Chronologisch teilt es uns näm- lich nach kurzer Einleitung die Namen derjenigen Männer mit, die nach der Meinung des Verfassers die Entwicklung der Mathematik . vorzugsweise gefördert haben. Chronologisch, wie wir sie brauchen, werden wir die einzelnen Sätze abdrucken. Sie bilden gewissermaßen die Überschrift einzelner Paragraphen, in welche wir unterzubringen haben werden, was in bezug auf die einzelnen Persönlichkeiten aus anderen Quellen bekannt geworden ist. Die einleitenden Worte lauten folgendermaßen: „Da es nun notwendig ist, auch die Anfänge der Künste und en in der gegenwärtigen Periode zu betrachten, so be- richten wir, daß zuerst von den Ägyptern der Angabe der meisten zufolge die Banstte erfunden ward, welche ihren Ursprung aus der Vermessung der Ländereien nahm. Denn letztere war ihnen nötig wegen der Überschwemmung des Nil, der die einem jeden zugehörigen Grenzen verwischtee Es hat aber nichts Wunderbares, daß die Er- findung dieser sowie der anderen Wissenschaften vom Bedürfnis aus- gegangen ist, da doch alles im Entstehen Begriffene vom Unvoll- kommenen zum Vollkommenen vorwärtsschreitet. Es findet von der sinnlichen Wahrnehmung zur denkenden Betrachtung, von dieser zur vernünftigen Erkenntnis ein geziemender Übergang statt. Sowie nun bei den Phönikiern des Handels und des Verkehrs halber eine genaue Kenntnis der Zahlen ihren Anfang nahm, so ward bei den Ägyptern aus dem erwähnten Grunde die Geometrie erfunden.“ Wir begnügen uns unter Abdruck dieser Sätze darauf aufmerk- sam zu machen, daß hier über die Erfindung der Geometrie dasselbe behauptet wird, was wir früher (8. 102—103) nach anderen Quellen als !) Diese Stelle ist abgedruckt in Procli Diadochi in primum Euchdis ele- mentorum librum commentariüi (ed. Friedlein). Leipzig 1873, pag. 64 lin. 16—68 lin. 6. Der Urtext mit gegenüberstehender deutscher Übersetzung bei Bretschneider, Die Geometrie und die Geometer vor Euklides. Leipzig 1870, S. 27—30. Wir zitieren dieses Werk künftig kurz als Bretschneider. Wir be- dienen uns der Hauptsache nach der dort mitgeteilten Übersetzung, von der wir nur in wenigen Punkten, wo wir B’s Auffassung nicht teilen können, uns entfernen. 136 5. Kapitel. die wenigstens in bezug auf den ägyptischen Ursprung wohlbegründete Meinung des griechischen Altertums mitgeteilt haben. Die Geometrie kam aus Ägypten nach Griechenland. Wie und durch wen, darüber belehrt uns das Mathematikerverzeichnis, wenn es fortfährt: „Thales, der nach Ägypten ging, brachte zuerst diese Wissen- schaft nach Hellas hinüber und vieles entdeckte er selbst, von vielem aber überlieferte er die Anfänge seinem Nachfolger; das eine machte er allgemeiner, das andere sinnlich faßbarer.“ Thales von Milet!), Sohn des Examios und der Kleobuline, aus einem ursprünglich phönikischen Geschlechte stammend, wurde um das 1. Jahr der 39. Olympiade?), also um 624, geboren und lebte noch im 1. Jahre der 58. Olympiade, d.h. 548. Er wurde also über 76 Jahre alt, eine Berechnung, welche in vollem Einklang mit anderen Angaben ist, die ohne genaue Jahrgänge festzustellen ihn ein hohes Alter erreichen lassen. Eine ganze Menge von mehr unterhaltenden als wichtigen Geschichten knüpfen sich an seinen Namen. Aus den- selben scheint hervorzugehen, daß Thales Kaufmann war, bald einen Salzhandel trieb, bald in Ölgeschäfte sich einließ, und daß er vermut- lich auf diese Weise nach Ägypten kam. Einen ägyptischen Aufent- halt bezeugt ferner die Bemerkung, niemand sei dem Thales Lehrer gewesen, nur während seines Verweilens in Ägypten habe er mit den Priestern verkehrt?). Ein drittes Zeugnis ist das der Pamphile, einer Geschichtsschreiberin zur Zeit Neros, welche weiß, daß Thales in Ägypten Geometrie erlernte‘). Die Belege könnten noch weiter bis zu fast ‚beliebiger Anzahl vermehrt werden, so daß an der Tatsache, Thales sei in Ägypten gewesen, und dort mit Geometrie bekannt ge- worden, nicht wohl zu zweifeln ist’), wenn auch zugegeben werden ı) Bretschneider S. 35—55. Allman, Greek geometry from Thales to Euclid (1889) pag. 7—17. Eine Monographie von Decker, De Thalete Mülesio, Halle 1865, ist uns nur dem Titel nach bekannt. Hauptquelle ist Diogenes Laertius. Die Familie des Thales I, 1 nach Herodot, Duris und Demokrit; seine Lebenszeit I, 10 nach Apollodor und Sosikrates und I, 3, wo bezeugt ist, daß Thales beim Ausbruche des Vernichtungskampfes zwischen Krösus und Kyrus (548) noch lebte. ?) Vgl. Diels im Rheinischen Museum für Philologie, Neue Folge XXXI, 16 (1876). °) Diogenes Laertius I], 27. *) Diogenes Laertius I, 24. °) Eine vortreffliche Zusammenstellung der Beweisstellen bei Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung I, 169, Anmerkung 1 (3. Auflage, Leipzig 1869). Wenn in diesem Werke — wir werden es künftig nur als Zeller I zitieren — dessen scharfe, mitunter vielleicht allzu skeptische Kritik mit Recht anerkannt ist, aus allen diesen Stellen die Über- zeugung gewonnen wird, der ägyptische Aufenthalt des Thales sei möglich, so- gar wahrscheinlich, aber allerdings nicht vollständig erwiesen, so dürfen wir diesen Ausspruch für unsere Meinung deuten. ee Be Thales und die älteste griechische Geometrie. 137 muß, daß keines der Zeugnisse älter als das Mathematikerverzeichnis zu sein scheint, und dieses eine höher liegende Quelle außer für eine einzige Angabe überhaupt nicht angibt. Nach seiner Heimat Milet kehrte Thales in vorgeschrittenen Jahren zurück. „Er befaßte sich erst später und gegen das Greisenalter hin mit Naturkunde, beobachtete den Himmel, musterte die Sterne und sagte öffentlich allen Miletern voraus, daß am Tage Nacht eintreten, die Sonne sich verbergen und der Mond sich davor legen werde, so daß ihr Glanz und ihre Licht- strahlen aufgefangen werden würden.“ So der wörtliche Bericht eines Schriftstellers, welcher in seiner Einfachheit sehr glaubwürdig er- scheint!). Offenbar ist in ihm von derselben Sonnenfinsternis die Rede, von der neben anderen auch Herodot weiß, daß Thales sie den Ioniern angesagt hatte mit Vorausbestimmung des Jahres, in welchem die Umwandlung von Tag in Nacht erfolgen sollte”). Nur im Vor- beigehen bemerken wir, auf die Aussage eines unverwerfbaren Fach- gelehrten gestützt?), daß in so weiten Grenzen wie die eines Jahres die Verkündigung einer Sonnenfinsternis unter allen Umständen mög- lich war. Trat nun gar diese Finsternis zur Zeit einer Schlacht zwischen Medern und Lydern — wie man jetzt ziemlich allgemein annimmt am 28. Mai 585%) — ein und erhielt dadurch eine gewisse erhöhte historische Bedeutung, so begreift man, wie damit zugleich der Ruhm des Verkündigers unter seinen Landsleuten steigen mußte. Um so glaublicher wird der von der Erzählung der Sonnenfinsternis- voraussagung unabhängige Bericht, Thales habe unter dem Archontat des Damasias (zwischen 585 und 583) den Beinamen des „Weisen“ erhalten’). Mit ihm zugleich erhielten denselben Beinamen bekannt- lich noch 6 andere Männer, die uns aber insgesamt hier gleichgültig sein können, weil nur eine politische Bedeutung der 7 Männer, eine Staatsweisheit, durch jene ehrende Bezeichnung anerkannt wurde, worin wir rückwärts eine Bestätigung dafür finden können, daß die Sonnen- finsternis von 585 und deren Verkündigung erst nachträglich zur Bedeutung wuchs, als die leichtgläubige Bevölkerung in ihr eine Vor- bedeutung erkennen mochte. Wir übergehen Einmengungen in das Staatsleben Milets, welche von Thales berichtet werden. Wir über- gehen die ihm zugeschriebenen Ansichten über das Weltall und über vorzugsweise astronomische Dinge. Es muß uns genügen, Thales als ) Themistios Orat. XXVI, pag. 317. °) HerodotI, 74. °®) Rud. Wolf, Geschichte der Astronomie. München 1877, 8. 10. ®) Vgl. G. Hofmann, Die Sonnenfinsterniss des Thales vom 28. Mai 585 v. Chr. (Triest 1870). Gelzer im Rheinischen Museum für Philologie, Neue Folge XXX, 264 (1875). Ed. Mahler in Sitzungsber. d. Wiener Akad. d. Wissensch. 4. II. 1886. Mathem.-naturw. Klasse, II. Abtlg., Bd. XCIO, S. 455—469. °) Diogenes Laertius ], 1. 138 5. Kapitel. der Zeit nach ersten ionischen Naturphilosophen zu kennzeichnen. Wir gelangen zu den mathematischen Dingen, mit welchen der Name des Thales in Verbindung gebracht wird. Proklus nennt Thales, abgesehen von jener dem Mathematiker- verzeichnisse angehörenden Stelle, viermal!). Dem alten Thales ge- bührt, so lautet die erste Stelle, wie für die Erfindung so vieles anderen, so auch für die dieses Theorems Dank; er soll nämlich zuerst gewußt und gesagt haben, daß die Winkel an der Basis eines gleich- schenkligen Dreiecks gleich seien, die gleichen Winkel nach altertümlicher Ausdrucksweise als ähnliche benennend. Die zweite Stelle besagt: Dieser Satz lehrt, daß, wenn zwei Gerade sich schneiden, die am Scheitel liegender Winkel gleich sind. Erfunden ist dieses Theorem, wie Eudemus angibt, zuerst von Thales. Eines wissenschaftlichen Beweises aber achtete der Verfasser der Elemente (Euklid) es wert. Zum dritten sagt Proklus bei Erörterung des Bestimmtseins eines Dreiecks durch eine Seite und die beiden ihr anliegen- den Winkel: Eudemus führt in seiner Geschichte der Geometrie diesen Lehrsatz auf Thales zurück. Denn bei der Art, auf welche er die Entfernung der Schiffe auf dem Meere gefunden haben soll, sagt er, bedürfe er dieses Theorems ganz notwendig. Die vierte Erwähnung ist die Angabe: daß die Kreisfläche von dem Durchmesser halbiert wird, soll zuerst jener Thales be- wiesen haben. Zu diesen vier Erwähnungen bei einem und demselben mathe- matischen Schriftsteller kommen noch zwei andere. Pamphile erzählt, daß als Thales bei den Ägyptern Geometrie erlernte, er zuerst dem Kreise das rechtwinklige Dreieck eingeschrieben und des- halb einen Stier geopfert habe?). Endlich ist es die sogenannte Schattenmessung, welche auf Thales zurückgeführt zu werden pflegt. Hieronymus von Rhodos, ein Schüler des Aristoteles, erzählt, Thales habe die Pyramiden mittels des Schatteus gemessen, indem er zur Zeit, wenn der unsrige mit uns von gleicher Größe ist, beobachtete?). Entsprechend berichtet auch Plinius: das Höhenmaß der Pyramiden und aller ähnlichen Körper zu gewinnen erfand Thales von Milet, in- dem er den Schatten maß zur Stunde, wo er dem Körper gleich ist?). Etwas darüber hinausgehend ist die Erzählung des Plutarch, der in seinem Gastmahle Thales mit anderen über den König Amasis von ') Proklus (ed. Friedlein) 250, 299, 352, 157. °) Diogenes Laertius |, 24—25. °) Diogenes Laertius I, 27. *) Plinius, Historia naturalis XXXVI, 12, 17. Thales und die älteste griechische Geometrie. 139 Ägypten sich unterhalten läßt. Niloxenus äußert sich bei dieser Gelegenheit: Obschon er auch um anderer Dinge willen Dich be- wundert, so schätzt er doch über alles die Messung der Pyramiden, daß Du nämlich ohne alle Mühe und ohne eines Instrumentes zu bedürfen, sondern indem Du nur den Stock in den Endpunkt des Schatten stellst, den die Pyramide wirft, aus den durch die Berührung des Sonnenstrahls entstehenden zwei Dreiecken zeigest, daß der eine Schatten zum andern dasselbe Verhältnis hat wie die Pyramide zum Stock!). Aus diesen der Zahl und der unmittelbaren Bedeutung nach ge- ringfügigen Angaben ein vollständiges Bild von dem, was Thales aus Ägypten mitbrachte, von dem, was er selbst dazu erfunden hat, zu gewinnen ist schwer, und war doppelt schwer, solange die ägyptische Mathematik in tiefes Dunkel gehüllt war. So kam es, daß dem einen bewiesen schien, die Ägypter hätten von Winkeln nichts gewußt, und Thales sei der Erste gewesen, der eine Winkelgeometrie ersann; daß ein zweiter ein Verdienst des Thales darin fand, daß er eine Linien- geometrie in dem Sinne schuf, daß er das Verhältnis der Linien einer Figur ins Auge faßte, während den Ägyptern nur die praktische (teometrie der Flächenausmessung bekannt gewesen sei; daß ein dritter nicht Anstand nahm Thales und die älteren Griechen überhaupt fast jeden Erfinderrechtes für verlustig zu erklären und ihr ganzes geome- trisches Wissen für Ägypten zurückzufordern; daß ein vierter an die entgegengesetzte Grenze streifend es für gleichgültig hielt, ob Thales überhaupt Ägypten besucht habe oder nicht, weil er Geometrisches in nennenswerter Menge von dort nicht habe mitbringen können. Diese eine weite Kluft zwischen den Streitenden offen lassenden Gegen- sätze, welche wir hier erwähnen, welche aber nicht bei den. Unter- suchungen über Thales allein sich zeigten, sondern überall, wo es um durch bestimmte Persönlichkeiten vermittelte Übertragung orienta- lischer Wissenschaft nach Griechenland sich handelte, müssen gegen- wärtig sich einander: wesentlich nähern, nachdem das Übungsbuch des Ahmes uns zugänglich gemacht ist. Man wird nicht mehr leugnen wollen, daß vieles von dem, was die Anfänge der griechischen Geometrie bildet, ägyptischen Lehren verdankt sein kann; man wird von der anderen Seite des gewaltigen Unterschiedes sich bewußt bleiben, der zwischen ägyptischem und griechischem Denken auch bei Gleichheit des Gegenstandes des Denkens obwaltete. Wird z. B. irgendwer, der an das Segt genannte Verhältnis, an das Ähnlichmachen der Ägypter (8. 99) sich erinnert, der dieses selbe ı, Plutarch Vol. 2, IH, pag. 174 ed. Didot. 140 5. Kapitel. Verhältnis mit Notwendigkeit in gleicher Größe entstehen sieht, ob man von dem einen Endpunkte der Grundfläche, ob von dem ent- gegengesetzten aus die betreffenden Messungen vornimmt, wird ein solcher zweifeln können, daß die Gleichheit der Winkel an der Grund- linie des gleichschenkligen Dreiecks den Schülern des Ahmes bekannt sein konnte, wenn nicht bekannt sein mußte? Thales wußte und sagte es zuerst, d. h. er zuerst sagte es seinen Landsleuten, und mutet uns die altertümliche Ausdrucksweise „ähnliche Winkel“ statt gleicher Winkel, deren er sich dabei bediente, nicht an wie eine Übersetzung von Segt? Wir fragen weiter: Kann nach Betrachtung der vielfach ge- teilten Kreise auf ägyptischen Wandgemälden ein Zweifel daran ob- walten, daß auch die Wahrheit, daß der Durchmesser die Kreisfläche zu Hälften teile, in Ägypten gelernt werden konnte? Ja sogar einen Beweis dieser Wahrheit, der, wie uns gerühmt wird, von Thales zu- erst geführt worden sei, möchten wir den Ägyptern nicht gerade ab- sprechen, wenn auch die Art des Beweises dort eine andere gewesen sein mag als in dem Munde von Thales. Wir stehen hier an dem Punkte, von welchem aus die Ver- schiedenheit ägyptischen und griechischen Denkens, welche wir oben betonten, uns deutlicher bemerkbar wird. Das Mathematikerverzeichnis sagt uns von Thales, das eine habe er allgemeiner, das andere sinn- lich faßbarer gemacht. Es will uns scheinen, als seı damit gerade die griechische und zugleich ägyptisierende Form seiner Leistungen ge- kennzeichnet. Als Grieche hat er verallgemeinert, als Schüler Ägyptens sinnlich erfaßt, was er dann den Griechen wieder faßbar gemacht hat. Es war eine griechische Stammeseigentümlichkeit den Dingen auf den Grund zu gehen, vom praktischen Bedürfnisse zu spekulativen Er- örterungen zu gelangen. Nicht so den Ägyptern. Wir glauben zwar nicht, daß die Ägypter jegliche Theorie entbehrten, wir haben schon früher (S. 113) das Gegenteil dieser Annahme ausgesprochen; aber wir haben dort auch gesagt, wie wir ägyptische Theorie uns denken: als wesentlich induktive, während die Geometrie der Griechen deduktiver Natur ist. Der Ägypter könnte einen Beweis des Satzes, daß der Durchmesser den Kreis halbiere durch die bloße Figur, oder vielleicht durch Bereehnung der Flächen beider Halbkreise nach derselben mög- licherweise unverstandenen Vorschrift als vollständig geführt erachtet haben. Der Grieche würde sich allenfalls mit der Figur begnügt haben, wenn auch der Beweis des Thales uns in keiner Andeutung bekannt ist. So zeigt sich, auch in den Beweisen, eine Abhängigkeit der griechischen Geometrie von der ägyptischen, die sich lange erhielt. Die griechische Deduktion war bei ihrem Beginne selbst induktiv. Sie Thales und die älteste griechische Geometrie. 141 war gewohnt von dem Vielen zum Einen, von der Unterscheidung zahl- reicher Fälle zum allgemein gültigen Satze überzugehen. Sie blieb deduktiv, sofern sie nicht unterließ jeden Einzelfall aus sich heraus zu gestalten, ihn nicht der Erfahrung, der sinnlichen Anschauung zu entnehmen. Fassen wir mit Bezug auf Thales zusammen, was wir hier in allgemeinerer Erörterung, deren nur persönliche Gültigkeit wir be- haupten, die also Andersmeinenden eine eigentliche Beweiskraft kaum besitzen dürften, zu begründen suchten, so gelangen wir dahin, die wissenschaftliche Bedeutung des Thales nicht in der Anzahl der Sätze zu finden, welche er ‚selbst entdeckte, sondern in dem Anstoß zu geometrischen Studien, den er gab, nebst den Anfängen deduktiver Behandlung, welche er lehrte. Daß wir übrigens von so wenigen Sätzen nur wissen, deren Urheberschaft in mehr oder weniger be- stimmter Weise auf Thales zurückgeführt wird, kann auf zwei ver- schiedenen Umständeu beruhen. Einmal ist nur über das erste Buch der euklidischen Elemente ein fortlaufender Kommentar des Proklus auf uns gekommen. Wir können also nur erwarten durch denselben über die Urheberschaft von Sätzen jenes ersten Buches mit Bestimmt- heit aufgeklärt zu werden, während Thales gar wohl Sätze der fol- genden Bücher gekannt haben könnte, ohne daß wir berechtigt wären Proklus das Stillschweigen darüber in dem auf uns gelangten Kom- mentare zu verübeln. Zweitens aber mag in der Tat das, was Thales in Ägypten sich anzueignen imstande war, nicht alles umfaßt haben, was die Ägypter selbst wußten, er, dem, wie die Berichte uns sagten), niemand Lehrer war, bevor er mit den ägyptischen Priestern verkehrte, der sich erst später und gegen das Greisenalter hin mit Naturkunde befaßte. Man hat aus den Sätzen, welche als thaletisch überliefert sind, Schlußfolgerungen auf solche, die Thales bekannt gewesen sein müssen, gezogen. Der letzte Forscher auf diesem Gebiete?) insbesondere hat mit großem Aufwande von Scharfsinn entwickelt, die Summe der Dreieckswinkel müsse dem Thales bekannt gewesen sein. Wenn nämlich Thales den Satz von den Winkeln eines gleichschenkligen Dreiecks und den vom rechtwinkligen Dreiecke im Kreise kannte, wenn ihm, wie dieser selbe Satz und der von der Halbierung des Kreises durch den Durchmesser bezeugen, die Definition des Kreises bekannt war, so mußte ihm, meint Allman, etwa folgende Betrachtung gelingen. Er werde von dem Kreismittelpunkt O aus (Fig. 16) eine ') Diogenes Laertius I, 27 und Themistios, Orat. XXVI, pag. 317. ”) G. J. Allman, Greek geometry from Thales to Euchd (1889) pag. 11. 142 5. Kapitel. Linie OC nach der Spitze des rechten Winkels im Halbkreise ge- zogen haben. Aus den beiden gleichschenkligen Dreiecken ACO und BCO sei die Gleichheit der Winkel 0OAO= ACO und OBO=BCO, mithin auch der Summe OAO+C0BO=ACO + BOCO = ACB her- vorgegangen; er habe aber gewußt, daß AUB ein rechter Winkel sei und demgemäß die Summe der Winkel bei A, bei B und bei C als zwei Rechten gleich gefunden. Wir haben dem Scharfsinne des Wiederherstellers unsere Anerkennung gezollt, wir sind auch geneigt von seinen Schlüssen einige uns anzueignen, allein wir möchten die umgekehrte Reihenfolge für richtiger halten. Wir nehmen an und wollen nachher begründen, auf welche Über- lieferung hin wir zu dieser Annahme uns bekennen, Thales habe gewußt, daß die Dreieckswinkel zusammen zwei Rechte betragen, er habe auch gewußt, daß die Winkel an der Grundlinie des gleich- schenkligen Dreiecks einander gleich sind, dann mag ihn höchst wahr- scheinlich eine Zeichnung wie Figur 16 zur Erkenntnis geführt haben, daß der Winkel bei © so groß sein müsse als die Summe der Winkel bei A und B, mithin so groß als die halbe Winkelsumme des Dreiecks ABC, oder gleich einem rechten Winkel. Unsere Beweggründe sind folgende An und für sich sind beide Sätze, der von der Winkelsumme des Dreiecks, der vom rechten Winkel im Halbkreise, schon ziemlich künstlicher Natur, nicht auf den ersten Anblick einleuchtend. Der eine wie der andere bedurfte einer wirk- lichen Entdeckung und eines Beweises; wenn also eine gegenseitige Abhängigkeit beider Sätze stattzufinden scheint, so ist es von vorn- herein ebensogut möglich dem einen als dem andern das höhere Alter zuzuschreiben. Nun findet sich aber ein Beweis des Satzes vom rechten Winkel im Halbkreise bei Euklid Buch III Satz 31 vor, welcher dem von uns vermuteten sehr ähnlich ist. Eine Zusammen- stellung wie die euklidischen Elemente ist aber, so genial, so ge dankenreich ihr Verfasser sein mag, durch ihren Inhalt selbst darauf hingewiesen wesentlich kompilatorisch zu sein, und so ist es gar nicht unmöglich, daß auch bei diesem Satze Euklid der altertümlichen Be- weisführung treu blieb, ohne daß wir davon unterrichtet sind, weil ein alter Kommentar zum II. Buche nicht vorhanden ist. Dazu kommt als weitere Tatsache, daß wir über die älteste Beweisführung des Satzes von der Winkelsumme im Dreiecke Bescheid wissen, und daß diese auch nicht entfernt den Schlußfolgerungen gleicht, welche nach Allmans Meinung Thales gezogen haben soll. Geminus, ein Mathematiker des letzten Jahrhunderts vor Christus, A o B « Fig. 16. Thales und die älteste griechische Geometrie. 143 erzählt in einem bei einem noch späteren Schriftsteller, Eutokius von Askalon, erhaltenen Bruchstücke, daß „von den Alten für jede be- sondere Form des Dreiecks das Theorem der zwei Rechten besonders bewiesen ward, zuerst für das gleichseitige, sodann für das gleich- schenklige, und endlich für das ungleichseitige, während die Späteren das allgemeine Theorem bewiesen: die drei Innenwinkel jedes Dreiecks sind zweien Rechten gleich“!). Wir werden nun bald sehen, daß die Späteren, von welchen Geminus redet, nicht gar lange nach Thales gelebt haben, daß also die Alten im Gegensatze zu jenen auf die thaletische Zeit, wenn nicht gar auf die ägyptischen Lehrer des Thales gedeutet werden müssen. Die Andeutungen des Geminus über diesen ältesten Beweis haben dem Scharfblicke Hankels die Möglichkeit gegeben, den älteren Beweis wiederherzustellen?). Seine Gedanken darüber sind, nur wenig abge- ändert, folgende. Den Figuren gemäß, welche wir bei den Ägyptern fanden, war dort, vielleicht aus asiatischer Quelle, seit dem XVII. S. v. Chr. die Zerlegung der Kreisfläche in sechs gleiche Ausschnitte be- kannt. An diese Figur dachten wir oben, als wir die Kenntnis des Satzes, daß ein Durchmesser den Kreis halbiere, für die Ägypter in Anspruch nahmen und die Figur selbst als Beweis dienen ließen. Verband man die Endpunkte der Halbmesser miteinander, so entstand das regelmäßige Sechseck, oder vielmehr sechs um den Mittelpunkt geordnete gleichseitige Dreiecke, die den ebenen Raum um jenen _ Mittelpunkt herum vollständig ausfüllten. Drei dieser Winkel bildeten vereinigt einen gestreckten Winkel, wie der Augenschein lehrte, und vertraute man weiter dem Augenscheine für die Tatsache, daß jeder Winkel des gleichseitigen Dreiecks dem anderen gleich war, so hatte man jetzt den ersten Fall des Berichtes von Geminus erledigt: die Winkel des gleichseitigen Dreiecks betrugen zusammen zwei Rechte. Demnächst mochte man (Fig. 17) die Zerlegbarkeit des gleich- schenkligen Dreiecks in zwei Hälften, welche zu einem BEL, Rechtecke sich ergänzen, erkennen und wieder lehrte der Augen- schein, daß bei einem derartigen Vereinigen der zwei Dreieckshälften vier rechte Winkel erschienen, von welchen zwei aus den ursprüng- lichen Winkeln des gleichschenkligen Dreiecks, von denen nur einer in Gestalt zweier Hälften auftrat, sich zusammensetzten. Jetzt fehlte nur noch der dritte und letzte Schritt. Ein beliebiges Dreieck wurde (Fig. 18) als Summe der Hälften zweier Rechtecke gezeichnet, so ») Apollonii Pergaei Conica (ed. Halley), Oxford 1710, pag. 9. ”) Hankel S. 95—96. 144 5. Kapitel. erschienen drei den ursprünglichen Dreieckswinkeln gleiche Winkel an der Spitze des Dreiecks zu einem gestreckten Winkel vereinigt. Eine Spur dieses ältesten Beweisverfahrens, wie es Geminus uns schildert, hat sich auf griechischem Boden bei einem sehr späten Praktiker erhalten. Ein anonymer Feldmesser des X. S., der nachweis- lich sein Buch aus ungefähr 1000 Jahre alten Musterwerken zusam- menschrieb, sagt ausdrücklich: Daß aber jedes durch Einbildung oder Wahrnehmung zugängliche Dreieck die drei Winkel in der Größe von zwei Rechten besitzt, ist daher offenbar, daß jedes Viereck seine Winkel vier Rechten gleich besitzt und durch die Diagonale in zwei Dreiecke mit sechs Winkeln geschieden wird'). Eigentliche Beweisführung wird man solche Zeichnungen gewiß nicht nennen. Sie bewirkten nichts, als daß der Augenschein induktiv wirkend eine Überzeugung herbeiführte. War die Überzeugung gebildet, so begnügte sich damit die ältere Zeit, die spätere suchte nach weiterer Begründung. Noch für andere Sätze, welche in Verbindung mit dem Namen des Thales auftreten, möchten wir den Augenschein als damals einzigen Beweis auffassen. Der Augenschein wird dem Matze von den Winkeln an der Grundlinie des gleichschenkligen Dreiecks, wird dem von den Scheitelwinkeln den Ursprung gegeben haben; und eine Unterstützung dieser Behauptung dürfte in der Angabe des Eudemus liegen, daß Thales den Satz von den Scheitelwinkeln erkannt, Euklid ihn eines Beweises wert geachtet habe‘). Wir gehen in der Durchsprechung der Dinge, welche aus den Überlieferungen der thaletischen Geometrie zu folgern sind, weiter. Man hat?) aus der Kenntnis des Satzes vom rechten Winkel im Halbkreise auf das damals schon vorhandene Bewußtsein dessen, was man später geometrischen Ort nannte, geschlossen. Wir begnügen uns solches zu erwähnen, ohne es uns aneignen zu können. Wir verbinden dagegen zu einem einheitlichen Gedanken die Schatten- messung und die Bestimmung eines Dreiecks durch eine Seite und die beiden anliegenden Winkel. Beides waren praktische Ausführungen, sofern das Dreieck, wie uns gesagt ist, zur Bestimmung von Schiffsentfernungen dient. Beide beruhten auf der Anwendung eines rechtwinkligen Dreiecks. Das eine Mal wurden die Katheten jenes Dreiecks gebildet durch den Stab und seinen Schatten, das Fig. 18. ') Notices et extraits des manuscrits de la bibliotheque Imperiale de Paris, Tom. XIX, Partie 2, pag. 368. ?) Proklus (ed. Friedlein), pag. 299. °) Allman, l. e., pag. 13—14. Thales und die älteste griechische Geometrie. | 145 andere Mal (Fig. 19) durch die Warte, von welcher aus die Beob- achtung angestellt wurde, und die Entfernung des Schiffes!). Trennend ist zwischen beiden Aufgaben der Umstand, daß in dem einen Falle die Schattenlänge selbst gemessen, in dem anderen die Schiffsentfer- nung aus dem beobachteten Winkel erschlossen werden mußte. Beide Aufgaben waren einem Schüler ägyptischer Geometrie zugänglich. Sie sind nahe verwandt dem Finden des Seqt aus gegebenen Seiten, dem Finden der einen Seite aus der anderen mit Hilfe des Segqt. Zu einer Früheres ergänzenden notwendigen Bemerkung gibt übrigens die Schattenmessung des Thales, welche ihm in zu wieder- holter Beglaubigung zugeschrieben wird, als daß wir Zweifel in sie setzen könnten, Anlaß. Mag die Schattenmessung nach der einfacheren oder nach der dem Gedanken nach zusammengesetzteren von den beiden berichteten Methoden erfolgt sein, mag = sie ein bloßes Messen der Fig. 19. der gesuchten Höhe gleichen Schattenlänge oder das Berechnen eines Verhältnisses gegebener Zahlen nötig gemacht haben, eines setzt sie unter allen Umständen voraus: die Übung, den von einem senkrecht aufgestellten Gegenstande geworfenen Schatten wirklich abzumessen. Damit vervollständigen sich unsere früheren Mitteilungen (S. 50) über den Gnomon, seine Erfindung und Übertragung. Wir haben da- mals erwähnt, daß der eigentliche Gnomon nach Herodot in Babylon zu Hause war, daß gleichfalls nach Osten der Name des Berosus hin- weist, daß die Bekanntschaft der Hebräer mit dem Stundenzeiger alt verbürgt ist. Neu tritt jetzt hinzu, daß auch in Ägypten Schatten gemessen wurden, eine Überlieferung, welche mit jener ersteren keines- wegs in Widerspruch steht. Wir haben mehrfach schon mathematische Zeugnisse alter Verbindungen zwischen Nil- und Euphratländern an- führen dürfen; hier ist vielleicht wieder ein solches, und überdies ist es noch immer nicht das Gleiche, wenn an einem Orte der Schatten zu geometrischen Zwecken gemessen wurde, am anderen zu Herstellung einer Schattenuhr diente. Wir haben auch schon den Mann genannt, der die Schattenuhr den Griechen bekannt machte Anaximander von Milet war es, welcher Favorinus zufolge?) zuerst eine solche in Lakedämon auf- stellte; während wohl durch ein Mißverständnis genau dasselbe durch ') Bretschneider 8. 43—46. ?) Diogenes Laertius I], 1. CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 10 146 5. Kapitel. Thales und die älteste griechische Geometrie. Plinius') dem Anaximenes, dem Schüler des Anaximander nachge- rühmt wird. Anaximander war 6ll geboren und wurde Schüler des Thales, als dieser in der Heimat sich niederließ, wofür wir etwa das Jahr 586 anzunehmen durch die vorausgesagte Sonnenfinsternis Ver- anlassung haben. Anaximander starb kurz nachdem er 64 Jahre alt geworden war, also etwa 545. Ein Lexikograph Suidas berichtet von ihm, er habe nächst der Einführung des Gnomon vollständig eine Hypotyposis der Geometrie gezeigt”). Wir begnügen uns mit der Wiedergabe des griechischen Wortes, mit welchem wir bei dem Fehlen jeder deutlicheren Angabe nichts anzufangen wissen. Es ist ja richtig, daß Hypotyposis durch „bildliche Darstellung“ übersetzt werden darf, ohne daß eine sprachliche Einrede erhoben würde; es ist auch möglich, daß die Meinung sei, Anaximander habe eine „Reiß- kunst“ geschrieben, d. h. eine Angabe geometrischer Konstruktionen ohne Begründung derselben°?); aber mehr als eine schwache Möglich- keit liegt nicht vor. Am wahrscheinlichsten klingt die Übersetzung Hypotyposis = Abriß, Grundzüge, in welcher Bedeutung das Wort auch anderwärts vorkommt?). Jedenfalls hat das alte Mathematikerverzeichnis von dieser geo- metrischen Tätigkeit des zweiten ionischen 0. nicht Notiz genommen. Es fährt nämlich fort: „Nach ihm (Thales) wird Mamerkus, der Bruder des Dichters Stesichorus, als ein eifriger Geometer erwähnt; auch berichtet Hippias der Eleer von ihm, daß er sich als Geometer Ruhm erworben habe.“ Diese Persönlichkeit ist ein so untrügliches Zeugnis für die Ver- gänglichkeit irdischen Ruhmes, wie kaum eine zweite, denn wir kennen heute von dem gerühmten Geometer nicht einmal mehr den Namen mit einiger Sicherheit. Wir haben hier Mamerkus nach der Lesart der gegenwärtig allgemein benutzten letzten Ausgabe des Proklus geschrieben’). Andere nennen den Bruder des Stesichorus Mamer- tinus, noch andere Ameristus. Ein wegen seiner Ungenauigkeit berüchtigter mathematischer Historiker des XVII. S., Milliet Dechales, macht sogar zwei berühmte (Geometer aus ihm, einen Mamertinus und einen Amethistus. Wir begnügen uns mit dem Eingeständnisse y Plinius, Historia naturalis II, 76. ?) Suidas s. v. Anaximandros: yvauovd T aka xal OAmg ysousrolag buorönwoıw Edsıfev. °) Bretschneider S. 62 teilweise nach Röth, Geschichte der abendländischen Philosophie II, 132. Friedlein, Beiträge zur Geschichte der Mathematik I, Hof 1872, S. 15, über- setzt: er gab eine bildliche Darstellung der ganzen Geometrie heraus. *)W.Schmidt (Bericht über griechische Mathematiker und Mechaniker 1890—1901) verweist dafür aufProklos (dmorbrwoıs tov Lorgovoux@v brodeoenv — Abriß der astronomischen Voraussetzungen) und auf Sextus Empiricus (IIvegwvsio: dnorvraosıg = Grund- züge des Pyrro). °) Proklus (ed. Friedlein) p. 65, lin. 12. a SPS an ana ea 5m 6. Kapitel. Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. 147 gar nichts von ihm zu wissen. Der Bruder Stesichorus ist eine be- kanntere Persönlichkeit. Er starb um 560 im Alter von 85 Jahren und stammte aus Himera in Sizilien. Jedenfalls weist also die geo- metrische Tätigkeit des Bruders des Dichters uns darauf hin, daß der Geschmack an Wissenschaft, an Geometrie insbesondere, seit Thales die Anfünge aus Ägypten mitgebracht hatte, weitere Verbreitung ge- wann, daß die Zeit jetzt nahte, wo in Sizilien und in Unteritalien eine schulmäßige Beschäftigung mit unserer Wissenschaft ihre gedeih- liche Wirkung äußern konnte unter der Leitung eines Mannes, der eben dort seine Studien machte, wo auch Thales in die Geometrie eingeweiht worden war. Thales hat also nebst seinen nächsten ionischen Nachfolgern für uns die Bedeutung, daß man durch ihn in Erfahrung gebracht hatte, wo (Geometrie zu Hause sei; daß von ihm die ersten der Zahl nach geringen, der Anwendung nach schon wertvollen Sätze der Geometrie bekannt gemacht wurden; daß von ihm eine etwas strengere Beweis- führung ausging; daß er endlich eine Schule gründete, die der Wissen- schaft diente und nicht Staatsleben und Geldverdienst allein als die Dinge ehrte, denen ein Mann seine Kräfte widmen konnte. In allen diesen Richtungen können wir den Mann als seinen Nachfolger be- trachten, dem wir jetzt uns zuwenden: Pythagoras von Samos. 6. Kapitel. Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. „Nach diesen verwandelte Pythagoras die Beschäftigung mit diesem Wissenszweige in eine wirkliche Wissenschaft, indem er die Grundlage derselben von höherem Gesichtspunkte aus betrachtete und die Theoreme derselben immaterieller und intellektueller erforschte. Er ist es auch, der die Theorie des Irrationalen und die Konstruktion der kosmischen Körper erfand.“ Pythagoras von Samos, über welchen wir soeben das alte Mathematikerverzeichnis haben reden lassen, war Sohn des Mnesarchus. Er gründete in den dorisch bevölkerten Städten von Süditalien, in dem sogenannten Großgriechenland, eine Schule, die zahlreiche An- hänger versammelte und so geschlossen auftrat, eine solche auch politische Bedeutung gewann, daß sie die Feindschaft der außerhalb der Schule Stehenden auf sich zog und gewaltsam zersprengt wurde. Diese Tatsachen stehen nach den Aussprüchen sämtlicher alten Berichterstatter allzu fest, als daß sie auch nur von einem einzigen 10* 148 6. Kapitel. neueren Geschichtsschreiber angefochten würden. In jeder anderen Beziehung aber herrschen über das Leben des Pythagoras, über seine Lehre, über das was man ihm, was man seinen Schülern zuzuschreiben habe, die allergrößten Meinungsverschiedenheiten. Greifen wir nur einige gewiß wichtige Punkte heraus: das Geburtsjahr des Pytha- goras, das Jahr seiner Ankunft in Italien, sein Todesjahr, die Zeit, zu welcher die Schule zersprengt wurde, das alles liegt im Wider- streite der Meinungen. Wenn ein Forscher!) Pythagoras 569 ge- boren, 510 in Italien aufgetreten, 470 bei dem gegen die Schule ent- brannten Aufstande umgekommen sein läßt, sagt uns ein anderer Forscher?), die Geburt habe um 580, die Ankunft in Italien um 540 stattgefunden, Pythagoras sei um 500 gestorben, die Schule erst ein halbes Jahrhundert später zersprengt worden. Ähnliche Gegensätze treten in allen Äußerungen derselben Gelehrten über Pythagoras und die Pythagoräer hervor, und wir können diese Gegensätze so ziem- lich auf einen einzigen grundsätzlichen zurückführen. Der erste Ge- lehrte, dessen Datierungen wir angaben, ging von dem Bestreben aus, die überreichen Mitteilungen, welche erst in nachchristlichen ‚Jahr- hunderten von griechischen Schriftstellern in Form spannender aber romanartiger mit Wundergeschichten reichlich durchsetzter Bücher zusammengestellt wurden, nach Ausscheidung dessen, was augenschein- lich sagenhafte Erfindung war, zu benutzen. Der zweite verwirft jene Romane ganz und gar, läßt höchstens die Benutzung einiger weniger Stellen derselben zu, wo die Gewährsmänner ausdrücklich genannt sind und ihre Nennung selbst Vertrauen verdient. Beide gehen wohl in ihren polemisch erprobten und dadurch nur um so _ stärker befestigten Meinungen zu weit, wenn wir auch heute gern erklären, daß wir uns in den meisten Punkten den Ansichten des Vertreters derjenigen Auffassung, die man als skeptische bezeichnen könnte, nähern, wenn nicht anschließen. Für uns gibt es aber noch einen Mittelweg, den wir vielfach an der Hand des letzten Bearbeiters?) unseres Gegenstandes zu gehen lieben, so weit überhaupt die Ge- schichte der Mathematik uns die Pflieht auferlegt über die Streit- punkte ein Urteil auszusprechen. Ein derartiger Streitpunkt ist der Aufenthalt des Pythagoras in Ägypten, der von größter Bedeutung für die ganze Entwick- lungsgeschichte der griechischen Mathematik ist, wenn man an ihn glaubt, jene Geschichte noch rätselhafter macht, als sie vielfach be- ') Röth, Geschichte der abendländischen Philosophie. Bd. I. ®) Zeller. ») A. Ed. Chaignet, Pythagore et la philosophie Pythagoricienne contenant les fragments de Philolaus et d’Archytas. Ouvrage couronne par Vinstitut. Paris 1873. Wir zitieren dieses Werk kurz als Chaignet. ; Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. 149 reits erscheint, wenn man ihn verwirft. Der älteste Bericht über diesen Aufenthalt, um dessen Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit es sich begreiflicherweise in erster Linie handelt, stammt von dem Redner Isokrates, dessen schriftstellerische Tätigkeit auf 393, also höchstens etwa 100 Jahre nach dem Tode des Pythagoras und bevor die Mythenbildung sich seiner Persönlichkeit bemächtigt hatte, fällt. Isokrates sagt von den ägyptischen Priestern‘): Man könnte, wenn man nicht eilen wollte, viel Bewunderungswürdiges von ihrer Heilig- keit anführen, welche ich weder allein noch zuerst erkannt habe, sondern viele der jetzt Lebenden und der Früheren, unter denen auch Pythagoras der Samier ist, der nach Ägypten kam und ihr Schüler wurde und die fremde Philosophie zuerst zu den Griechen verpflanzte. Dieser Stelle ist mit entschiedenem Zweifel begegnet worden?), der auf den Inhalt der Rede des Isokrates sich gründet. Busiris war eine ägyptische Stadt mitten im Nildelta, in der große Isisfeste ge- feiert wurden. In Erinnerung an die frühere Abgeschlossenheit Ägyptens Fremden gegenüber hatte die griechische Sage aber auch einen König gleichen Namens mit der Stadt erdacht, der jeden Fremden schlachten ließ. Zur Zeit der Sophisten liebten die griechi- schen Rhetoren sich mit Redestückchen gegenseitig zu überbieten, Lobreden auf Tadelnswerte, Anklagen gegen Vortreffliche zu verfassen. So hatte Polykrates eine Apologie jenes Busiris geschrieben, und nun wollte Isokrates dem Nebenbuhler zeigen, wie er sein Thema eigent- lich hätte behandeln müssen. Polykrates, meint er, habe darin ge- fehlt, daß er dem Busiris ganz unglaubliche Dinge zugeschrieben habe, einerseits die Ableitung des Nils, andererseits das Auffressen der Fremden; dergleichen werde man bei ihm nicht finden. Wir lügen zwar beide, sagt er aufrichtig genug, aber ich mit Worten, welche einem Lobenden, Du mit solchen, welche einem Scheltenden geziemen. Aus diesem Geständnisse hat man die Folgerung gezogen, daß Angaben, die sich selbst als rednerische Erfindung geben, nicht den geringsten Wert haben. Diese Folgerung ist aber nur da richtig, wo es um rednerische Erfindung sich überhaupt handeln kann. Hätte also Busiris, dem Isokrates lobend nachlügt, er sei der Urheber der ganzen ägyptischen Kultur gewesen, wirklich gelebt, wir würden doch von jenem Lobe nichts halten. Sind wir deshalb berechtigt, auch von der ägyptischen Kultur nichts zu halten, nichts von den ägyp- tischen Priestern als Trägern dieser Kultur? Das wünscht wohl der Zweifelsüchtigste nicht. Und wenn die allgemein anerkannte Tat- !) Isokrates, Busiris cap. 11. °) Die Zweifel sind hier teilweise wört- lich aus Zeller I, 259 Note 1 entnommen. 150 6. Kapitel. sache ägyptischer hoher Bildung nur den unwahren Zwecken des Isokrates mittelbar dienen soll, so hat es für ihn auch nur mittelbare Bedeutung, wenn er jener Tatsache eine Stütze gibt, wenn er sich darauf beruft, Pythagoras sei Schüler dieser hochgebildeten Priester gewesen. Der falsche Satz: Busiris sei der Urheber aller Bildung, wird dadurch in keiner Weise wahr, wenn die Bildung vorhanden war, wenn sie auf fremde Persönlichkeiten sich übertrug. Überdies bedurfte Isokrates zu diesem letzteren Erweise keiner Unwahrheit. Er konnte auf die Reisen, auf die Berichte anderer Männer sich be- ziehen, eines Thales, eines Herodot, eines Demokritos. Wenn er es vorzog, statt ihrer nur Pythagoras zu nennen, so wird man das da- durch erklären müssen, daß das Ansehen, in welchem Pythagoras schon zur Zeit des Isokrates stand, doch ein anderes war, als das der eben genannten wenn auch berühmten Persönlichkeiten. Isokrates, wir können es nur immer stärker betonen, log nicht um zu lügen, er log nur in den Lobsprüchen, die er seinem um jeden Preis zu er- hebenden Helden zollte, und die erfundenen Verdienste des Busiris konnten eine gewisse Scheinbarkeit, auf deren Erlangung es bei dem rednerischen Kunststücken allein ankam, nur dann gewinnen, wenn alles Beiwerk der Wahrheit entsprach, wenn nicht auch nebensäch- liche Dinge den Hörer sofort kopfscheu machten. Wir zweifeln daher keinen Augenblick, daß der Aufenthalt des Pythagoras in Ägypten, daß der Unterricht, welchen er bei den dortigen Priestern genoß, zu den Dingen gehört, die landläufige Wahrheit waren, als Isokrates sie aussprach, die niemand neu, niemand absonderlich oder gar unwahr- scheinlich vorkamen!). Der Aufenthalt des Pythagoras in Koypräii den wir jetzt schon für durchaus gesichert halten, wird weiter durch eine Menge anderer Schriftsteller behauptet. Freilich sind es Schriftsteller, die insgesamt später, teilweise viel später als Isokrates gelebt haben. Strabon meldet uns in nüchternem, einfachem -und dadurch um so glaub- würdigerem Tone: Die Geschichtsschreiber teilen mit, Pythagoras sei aus Liebe zur Wissenschaft nach Ägypten und Babylon gegangen?). Antiphon, allerdings der Lebenszeit nach nicht genauer bestimmt, aber von späteren Schriftstellern unter Namensnennung mit großer Zuver- sicht benutzt, hat in seinen Lebensbeschreibungen von durch Tugend sich auszeichnenden Männern Ausführliches über den ägyptischen ‘) Chaignet pag. 43 hält die ägyptische Reise auch für erwiesen, läßt sich aber auf eine Verteidigung des Ausspruches des Isokrates, wie wir sie ge- liefert haben, nicht ein. Dagegen sind bei ihm die Zitate anderer Schriftsteller, welche über jene Reise berichten, in großer Vollständigkeit gesammelt. ?\, Strabo, XIV, 1, 16. Fr Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. 151 Aufenthalt des Pythagoras erzählt‘). Viel weniger Gewicht legen wir — von anderen Zeugnissen zu schweigen — dem bei, was ägyp- tische Priester ruhmredig dem Diodor erzählten und was er uns mit folgenden Worten wiederholt: Die ägyptischen Priester nennen unter den Fremden, welche nach den Verzeichnissen in den heiligen Büchern vormals zu ihnen gekommen seien, den Orpheus, Musäus, Melampus und Dädalus, nach diesen den Dichter Homer und den Spartaner Lykurg, ingleichen den Athener Solon und den Philosophen Platon. Gekommen sei zu ihnen auch der Samier Pythagoras und der Mathe- matiker Eudoxus, ingleichen Demokritos von Abdera und Oinopides von Chios. Von allen diesen weisen sie noch Spuren auf?). Diese altägyptischen Matrikellisten mitsamt den aufgewiesenen Spuren sind an sich recht sehr verdächtig, doppelt verdächtig durch Namen wie Orpheus und Homer, die dort eingetragen sein sollen. Wir haben die Stelle überhaupt nur aus einem, wie uns scheint, erheblichen Grunde mitgeteilt. Sie beweist nämlich, daß zu Diodors Zeiten um die dort genannten Männer ein ziemlich gleicher Strahlenkranz von Berühmtheit sich gebildet hatte, der von ihnen auf die Lehrer, die sie hatten oder gehabt haben sollten, zurückstrahlt. Die von uns angeführte Stelle des Strabon gibt auch Auskunft über eine Studienreise des Pythagoras nach Babylon. Offen- bar genoß diese zur Zeit von Christi Geburt, das ist zur Zeit Strabons, einer hinreichend guten Beglaubigung, um als geschichtliche Tatsache kurz erwähnt zu werden. Als sichergestellt erscheint uns damit so viel, daß Pythagoras in Babylon hätte gewesen sein können. Drücken wir uns deutlicher aus. Wir meinen, es müssen innerhalb der pytha- goräischen Schule Lehren vorgetragen worden sein, welche über- raschende Ähnlichkeit mit solchen Dingen besaßen, denen das Griechen- tum seit dem Alexanderzuge an dem zweiten Mittelpunkte ältester Kulturverbreitung neben Ägypten, in Babylon wiederbegegnete. Eine gegenteilige Annahme würde das Entstehen des Glaubens an die Sage von dem Aufenthalte bei den Chaldäern jeder Grundlage berauben. Wir nennen den Aufenthalt eine Sage, weil auch uns jetzt ein erstes Zeugnis Strabons ohne Kenntnis des Alters seiner Quellen zur vollen geschichtlichen Wahrheit nicht ausreicht. Immerhin bleibt die Art, wie babylonische Elemente, deren wir auf mathematischem Gebiete einige erkennen werden, in die pythagoräische Lehre eindrangen, und die Rolle, welche sie darin spielten, in hohem Grade rätselhaft, wenn wir ganz verwerfen wollten, Pythagoras selbst oder einer seiner ") Als Bruchstück erhalten bei Porphyrius, De vita Pythagorae cap. T, auch bei Diogenes Laertius VII, 3. ?) Diodor ], 96. 152 6. Kapitel. nächsten Schüler sei unmittelbar an die Quelle geraten, aus welcher dieselben zu schöpfen waren. Mit dem Ausdrucke Pythagoras selbst oder einer seiner nächsten Schüler haben wir eine unleugbare Schwierigkeit bezeichnet, einen Gegenstand wissenschaftlichen Zweifels berührt, welcher hier im Wege liegt und zu dessen Wegräumung uns keine Mittel gegeben sind. Die pythagoräische Schule war, wie schon oben erwähnt wurde, eine eng geschlossene. Mag es Wahrheit oder Übertreibung genannt werden, daß unverbrüchliches Stillschweigen überhaupt den Pythago- räern zur Pflicht gemacht war, daß ihnen unter allen Umständen das verboten war, was wir sprichwörtlich aus der Schule schwatzen nennen, sicher ist, daß über den oder die Urheber der meisten pytha- goräischen Lehren kaum irgendwelche Gewißheit vorliegt. ’Exsivog &p« oder Aörög &pe, ER, der Meister, hat’s gesagt, war die viel- benutzte Redensart, und welcher Zeit dieselbe auch angehört, sie läßt, je später sie aufgekommen sein mag, um so deutlicher die ganz un- gewöhnliche, durch viele Jahrhunderte in der Überlieferung sich er- haltende geistige Überlegenheit des Pythagoras, der alles, was von ‚Wert war, selbst gefunden und gelehrt haben sollte, läßt aber auch die Unmöglichkeit erkennen scharf zu sondern, was wirklich von Pythagoras selbst, was von seinen Schülern herrührte. Vielleicht ist es dabei gestattet aus den erwähnten inneren Gründen anzunehmen, daß, wo ein Pythagoräer als Entdecker bestimmt genannt ist, die Richtigkeit der Angabe nicht leicht zu bestreiten sei, daß dagegen, wo Pythagoras selbst der Urheber gewesen sein soll, sehr wohl eine Namensverschiebung stattgefunden haben könne. Einige von den Dingen, welche ganz besonders der Geschichte der Mathematik angehören, werden wir allerdings nicht verzichten Pythagoras selbst zuzuschreiben. Dazu gehört der pythagoräische Lehrsatz, den wir unter allen Umständen ihm erhalten wissen wollen. Sei es darum, daß man den Zeugnissen des Vitruvius, des Plutarch, des Diogenes Laertius, des Proklus, so bestimmt sie auch lauten !), wegen ihres späten Datums kein Gewicht beilegen dürfe. Schwerer fallen doch die in die Wagschale, welche Proklus als seine Gewährsmänner anführt: „Die welche Altertümliches erkunden wollen“), sei damit, wie man gewöhnlich annimmt, Eudemus gemeint oder nicht. Am überzeugendsten vollends ist uns die mittelbare Bestäti- !) Diese Zeugnisse zusammengestellt bei Allman |. c. pag. 26. k. ”), Proklus ed. Friedlein 426 r®v wiv iorogeiv r& doyaie« Bovkoutvov. Das Wort iorogeiv besitzt bei Proklus nirgend eine spöttische Nebenbedeutung, man darf also nicht, wie es geschehen ist, übersetzen „die alte Geschichten erzählen wollen‘. er EEE BE Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. 153 gung in dem alten Mathematikerverzeichnisse. Pythagoras, heißt es dort ausdrücklich, erfand die Theorie des Irrationalen. Eine solche Theorie war aber ganz unmöglich, eine Beschäftigung mit dem Irra- tionalen undenkbar, wenn nicht der Satz von den Quadraten der drei Seiten des rechtwinkligen Dreiecks vorher bekannt war, und man würde, wollte man Pythagoras nicht als seinen Urheber gelten lassen, in die noch schwierigere Lage versetzt, ihn älter als Pythagoras an- nehmen zu müssen. Auf Grundlage des Mathematikerverzeichnisses sehen wir ferner in Pythagoras selbst wirklich den Erfinder der Konstruktion der kos- mischen Körper, d. h. der regelmäßigen Vielflächner in einem Sinne, der nachher noch auseinandergesetzt werden soll. Glaubwürdig ist uns auch, was der bekannte Musikschriftsteller Aristoxenus, einer der zuverlässigsten Gelehrten der peripatetischen Schule, berichtet, daß Pythagoras vor allen die Zahlenlehret) in Achtung gehabt und dadurch gefördert habe, daß er von dem Be- dürfnisse des Handels weiter schritt alle Dinge den Zablen vergleichend ?). Wir glauben an die Berechtigung der Verbindung des Namens des Pythagoras mit der musikalischen Zahlenlehre, mag das Mono- chord von ihm herrühren oder nicht, wir glauben, daß er hauptsäch- lich um die arithmetische Unterabteilung der Geometrie sich bemüht habe°). Ja wir gehen noch weiter und schreiben dem Pythagoras den Besitz einer mathematischen Erfindungsmethode zu, des mathemati- schen Experimentes, wie wir dieses Verfahren anderwärts genannt haben‘), womit freilich ebensowenig gesagt sein soll, daß das Be- wußtsein ihm innewohnte darin eine wirkliche Methode zu besitzen, als daß er ihr Erfinder war, die er aus den in Ägypten gewonnenen An- schauungen jedenfalls leicht abstrahieren konnte, wenn er sie nicht fertig von dort mitbrachte. Auf die persönliche Zuweisung sonstiger Dinge verzichten wir und werden im folgenden von der Mathematik der Pythagoräer, nicht des Pythagoras reden. Freilich vergrößert sich dadurch der Zeitraum, dessen wissenschaftliches Bild wir zu gewinnen trachten, erheblich. Wenn auch nicht bis zu den letzten eigentlichen Pytha- goräern, deren Tätigkeit auf 366 angesetzt wird’), so doch bis vor Platon, etwa bis zum Jahre 400 erstreckt sich unserer Meinung nach die mathematische Tätigkeit des Pythagoräismus als solchem. Von ı) Diogenes Laertius VIII, 14. 2) Stobaeus, Ecloga phys. I, 1, 6. ») Diogenes Laertius VII, 12: udAıor« Ö& oyoAdocı röv Ilvduyooav megl To Goıduntındv Eldog abrüg (SC. yewusrolag) T6v TE ndvova rov En uiäg yogdnjs Eügeiv. *) Math. Beitr. Kulturl. 92. °) Zeller I, 288, Note 5. 154 6. Kapitel. seinen meistens namenlosen, mitunter an bestimmte Persönlichkeiten geknüpften Leistungen wissen wir aus verschiedenen teilweise späten, uns jedoch in den Dingen, für welche wir sie gebrauchen wollen, als zuverlässig geltenden Quellen. Als solche Quelle betrachten wir vor allen Dingen den „Timäus“ überschriebenen Dialog des Platon. Timäus von Lokri war ein echter Pythagoräer, Platon dessen Schüler. Soll man nun annehmen, Platon habe diesem seinem Lehrer wissenschaftliche Äußerungen in den Mund gelegt, die er nicht ganz ähnlich von ihm gehört hatte, er habe ihm insbesondere Mathematisches untergeschoben? Wir können einem solehen Gedanken uns nicht hingeben, können es um so weniger, als Platons eigene Abhängigkeit von den Pythagoräern in vielen Dingen durch einen so unverdächtigen Zeugen wie Arısto- teles bestätigt wird. Die Philosophie Platons, sagt er‘), kam nach der pythagoräischen, in vielem ihr folgend, anderes eigentümlich be- sitzend. Eine zweite wichtige Quelle liefert uns ein Werk des Theon von Smyrna?). Dieser Schriftsteller lebte zwar erst um 130 .n. Chr., also in einer Zeit, wo die Mythenbildung, die Pythagorassage, wie man einigermaßen schroff sich ausgedrückt hat, in dem Leben des Pythagoras von Apollonius von Tyana, in den unglaublichen Dingen jenseits Thule von Antonius Diogenes, schon romanhafte Gestalt gewonnen hatte. Aber für die Dinge, für welche wir Theon gebrauchen wollen, war in einem Roman blutwenig zu schöpfen. Man lese doch das Leben des Pythagoras von Porphyrius, das ähnliche teilweise daran sich anlehnende Buch von Jamblichus, man lese was Diogenes Laertius von dem Leben des Pythagoras aufgespeichert hat, und man wird zwar unterhaltende Geschichtchen genug finden, Mathematisches aber nur insoweit als Laien mit mathe- matischen Wörtern um sich zu werfen imstande sind, es sei denn, daß ältere Fachleute wie der Musiker Aristoxenus, der Rechen- meister Apollodorus als Gewährsmänner auftreten, zu welchen als Fachmann Jamblichus selbst hinzutritt, der uns in dieser Gestalt im 23. Kapitel begegnen wird. Was also Theon von Smyrna als pytha- goräische mathematische Lehren hervorhebt, das muß aus ganz anderen nicht mythischen Schriften geschöpft sein, von welchen Por- phyrius, Jamblichus in ihren Biographien des Pythagoras wenigstens in diesem Sinne keinen Gebrauch gemacht haben. Wer freilich solche Schriften verfaßte, und wie sie hießen, das dürfte ein unlösbares Rätsel bleiben, wenn man auch versucht hat ı) Aristoteles Metaphys. I, 6. °) Theonis Smyrnaei philosophi Platonici expositio rerum mathematicarum ad legendum Platonem utilium. Edid. Ed. Hiller. Leipzig 1878. Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. 155 die zweite Frage zu beantworten!). Bei Jamblichus findet sich fol- gendes?): „Die Pythagoräer erzählen, die Geometrie sei so in die Öffentlichkeit gelangt. Einer von den Pythagoräern habe sein Ver- mögen verloren, und da habe man ihm gestattet, die Geometrie als Erwerbszweig zu benutzen.“ Daran schließt sich die fast unverständ- liche Stelle: ’ExaAeito d& 7 yenuergl«a moog Ilvdaydoov iorogie, welche unser Gewährsmann übersetzt: „Die Geometrie wurde aber Überlieferung von Pythagoras genannt.“ So ansprechend die Vermutung an sich klingt, wobei an dem fehlenden zu (orogi« ge- hörenden Artikel kein Anstoß genommen zu werden braucht, da Plato eine ganz ähnliche Wendung benutzt hat?), so ist doch vielleicht die Übersetzung iorogi« — Forschung noch richtiger. Der Satz hieße dann auf deutsch: „Es wurde aber die Geometrie Forschung von seiten des Pythagoras genannt“). Die Benutzbarkeit des Theon von Smyrna gründet sich wesent- lich auf dem ausgesprochenen Zwecke seines Werkes. Er will die zum Verständnis Platons und der Platoniker nötigen Vorkenntnisse mitteilen. Er will dabei der Reihe nach die Arithmetik mit Inbegriff der musikalischen Zahlenverhältnisse, die Geometrie, die Stereometrie, die Astronomie, die Musik der Welten behandeln. Hier finden wir also hauptsächlich dasjenige in der Sprache des II. nachchristlichen Jahrhunderts vorgetragen, was von mathematischen Kenntnissen für das Studium Platons notwendig ist. Das können aber vermöge der selbstverständlichen Tatsache, daß wissenschaftliche Anspielungen eines früheren Jahrhunderts nicht mit Hilfe der Errungenschaften eines späteren Jahrhunderts sich erklären, nur solche Kenntnisse sein, die nach Theons bestem Wissen den platonischen Schriften selbst ge- schichtlich vorausgingen, in ihnen zur Verwertung kommen konnten. Da ferner Theon von Platon selbst sagt, er folge oft den Pythago- räern’), so wird seine Brauchbarkeit für uns hier vollends erhöht. Diese beiden Werke sind also unsere Hauptquellen. Wir werden zu ihnen auch noch aus anderen Schriftstellern da und dort einen ge- ringen Zufluß erhalten, die sich, wie wir sehen wollen, zu einem ganz stattlichen Ganzen vereinigen. . ) La geometrie Grecque, comment son histoire nous est parvenue et ce que nous en savons. Essai critique par Paul Tannery (Paris 1887) pag. 81. ?) De pithagorica vita (ed. Kiessling) 89 und Ansse de Villoison, Anecdota Graeca II, 216, lin. 22—25, sowie Jamblichus, De ecommuni mathematica (ed. Festa) 78, 1—5. °) Platon, Phädon 96° rg oopias MV IN) nakodcı megl Pboewg iorogiav ohne Artikel. *) So die Meinung von W. Schmidt, der auch auf die Parallelstelle im Phädon hingewiesen hat. °) Theon Smyrnaeus (ed. Hiller), pag. 12. 156 6. Kapitel. Theon hat, sagten wir, zuerst die Arithmetik behandelt. Damit ist uns Gelegenheit geboten, eine ungemein wichtige Zweispaltung der Lehre von den Zahlen ins Auge zu fassen. Die ganze Mathematik zerfiel, nach Geminus'), in zwei Hauptteile, deren Unterschied er darin erkannte, daß der eine Teil sich mit dem geistig Wahrnehm- baren, der andere sich mit dem sinnlich Wahrnehmbaren beschäftige. Geistigen Ursprungs ist ihm Arithmetik und Geometrie, sinnlichen Ursprungs dagegen Mechanik, Astronomie, Optik, Geodäsie, Musik, Logistik. Von den übrigen Teilen und dem, was Geminus des weiteren über sie bemerkt, sehen wir ab. Arithmetik und Logistik erklärt er dahin, daß die erstere die Gestaltungen der Zahl an und für sich betrachte, die letztere aber mit Bezug auf sinnliche Gegen- stände Arithmetik ist ihm also eine theoretische, Logistik eine praktische Wissenschaft. Arithmetik ist ihm, um die heute gebräuch- lichen Wörter anzuwenden, das was seit Gauß höhere Arithmetik, seit Legendre Zahlentheorie genannt wird. Logistik ist ihm die eigent- liche Rechenkunst. Diese strenge Unterscheidung war allerdings in den Zeiten pytha- goräischer Mathematik noch nicht zum Durchbruch gelangt. Die Pythagoräer stellten die beiden Fragen: Wie viel? und Wie groBß??) In der Beantwortung beider trennten sie aufs neue. Das eine Mal wurde die Vielheit an sich in der Arıthmetik, die Vielheit bezogen auf anderes in der Musik behandelt. Das andere Mal bildete die ruhende Größe den Gegenstand der Geometrie, die bewegte Größe den Gegenstand der Sphärik. Bei manchem Wechsel der sonstigen Systematik blieb die eigent- liche Arıthmetik vom VI. bis zum I. vorchristlichen Jahrhundert, von den Pythagoräern bis zu Geminus fast mit gleichem Inhalte aus- gestattet, und dieser gleichartige Inhalt wahrte sich weiter, solange überhaupt in griechischer Sprache über diesen Teil der Mathematik geschrieben wurde. Einiges kam natürlich im Laufe der zeitlichen Entwicklung hinzu. In die griechische Arithmetik drang ein, was wir jetzt Algebra oder Lehre von den Gleichungen nennen, soviel davon bekannt war. Ihr gehörte ‚die Lehre von den nach bestimmten Gesetzen gebildeten Reihen und deren Summierung, ihr die Propor- tionenlehre an, wie sie nach und nach in weiterem und weiterem Umfang sich bildeten, aber niemals begriff die Arithmetik das eigent- liche Rechnen unter sich. Wir werden uns wohl der Wahrheit nähern, wenn wir annehmen, '), Proklus ed. Friedlein, pag.38. Vgl. auch Nesselmann, Algebra der Griechen, S.40flgg. ?) Proklus ed. Friedlein, pag. 35—36. Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. 157 die Logistik, die Rechenkunst, sei erst allmählich als Gegenstand schriftlicher Unterweisung in Büchern behandelt worden. Sie ver- dankte vorher ihre unentbehrliche Verbreitung vorwiegend dem münd- liehen Unterricht. Sie war allgemeines Bedürfnis, nicht Wissenschaft, und es mag lange gedauert haben, bevor es einem Rechenmeister ein- fiel, über den Inhalt seines Unterrichts sich schriftlich auszusprechen. Zu dieser Annahme gelangen wir von der Erwägung aus, daß eine Logistik bestand und uns quellenmäßig gesichert ist, lange bevor wir von Büchern über dieselbe hören. Ihr Name kommt schon in einem platonischen Dialoge vor, wo die Logistik der Arithmetik gegenüber- gestellt ist!), und in einem anderen Dialoge des gleichen Verfassers ist von den Logistikern?) die Rede. Wenn wir bei der Betrachtung der pythagoräischen Mathematik von den arithmetischen Dingen ausgehen, so folgen wir nur der Aussage, welche in dieses Gebiet die wesentlichsten Leistungen des Pythagoras verlegt, und welche, selbst wenn ihr kein Gewährsmann von der Bedeutung des Aristoxenus Gewicht verliehe, in dem allge- meinen Bewußtsein, daß die der Arithmetik nächststehende Zahlen- symbolik so recht eigentlich altpythagoräisch war, ihre Rechtfertigung finden könnte. Wir haben ein Beispiel pythagoräischer Zahlenmystik an früherer Stelle (S. 42) verwertet. Ein anderes mag hier Platz finden, welches gleichfalls Plutarch uns aufbewahrt hat: Es haben sich aber wohl die Ägypter die Natur des Weltalls zunächst unter dem Bilde des schönsten Dreiecks gedacht; auch Platon in der Schrift vom Staate scheint das Bild gebraucht zu haben, da wo er ein Ge- mälde des Ehestandes entwirft. Das Dreieck enthält eine senkrechte Seite von 3, eine Basis von 4 und eine Hypotenuse von 5 Teilen, deren Quadrat denen der Katheten gleich ist. Man kann nun die Senkrechte mit dem Männlichen, die Basis mit dem Weiblichen, die Hypotenuse mit dem aus beiden Geborenen vergleichen und somit den Osiris als Ursprung, die Isis als Empfängnis und den Horus als Erzeugnis denken?). Mit dem Vorbehalte auf diese nicht unwichtige Stelle zurückzukommen, benutzen wir sie hier nur als freilich spätes Beispiel pythagoräischer Zahlenspielerei, dem eine übergroße Menge ähnlicher Dinge, Vergleichungen von Zahlen mit einzelnen Gottheiten oder Vergleichungen von Zahlen mit gewissen sittlichen Eigenschaften usw. aus älterer und ältester Zeit zur Seite gestellt werden könnte‘), wenn die Geschichte der Mathematik neben dem allgemeinen Ver- gleiche mit babylonischen Gedankenfolgen einen besonderen unmittel- ') Platon, Gorgias 451,B. ?) Platon, Euthydemus 290, B. °) Plu- tarch, De Iside et Osiride 56. *) Eine reiche Sammlung von Stellen bei Zeller I, 334—345, namentlich in den Anmerkungen. 158 6. Kapitel. baren Nutzen daraus zu ziehen imstande wäre. Allenfalls könnte dieses für einen Satz zutreffen, welcher, wie sich zeigen wird, durch Jahrhunderte sich forterbte, den Satz: daß die Einheit Ursprung und Anfang aller Zahlen, aber nicht selbst Zahl sei'). Wir werden bald sehen, daß die Pythagoräer es liebten auf Gegensätze ihr Augenmerk zu richten, und ein solcher Gegensatz war der zwischen Primzahlen und zusammengesetzten Zahlen. Ein alter Pythagoräer, Thymaridas von Paros?) war es vermutlich, der den Primzahlen den Namen der geradlinigen Zahlen, doıduoi ebdvyocuuızoi, beilegte?), jedenfalls im Gegensatze zu Flächen- zahlen, von welchen auch noch in diesem Kapitel die Rede sein wird. Derselbe Thymaridas aber hat sich ein außerordentlich viel “größeres Verdienst dadurch erworben, daß er ein Verfahren zur Auf- lösung gewisser Aufgaben erfand, welches von hoher Tragweite ist, und welches wir nach Jamblichus auseinandersetzen‘.,. Das Ver- fahren muß sehr verbreitet gewesen sein. Dafür bürgt außer Gründen, welche im 29. Kapitel auf indischem Boden sich ergeben werden, der doppelte Umstand, daß Jamblichus es geradezu als eine Methode, Epodog, bezeichnet und es mit einem bestimmten Namen nennt, welcher demselben schon früher eigentümlich gewesen zu sein scheint. Das Epanthem, d.h. die Nebenblüte des Thymaridas, besteht in folgendem’): „Wenn gegebene (woıouEve) und unbekannte Größen (dögıore) sich in eine gegebene teilen und eine von ihnen mit jeder anderen zu einer Summe verbunden wird, so wird die Summe aller dieser Paare nach Subtraktion der ursprünglichen Summe bei drei Zahlen der zu den übrigen addierten ganz zuerkannt, bei vier deren Hälfte, bei fünf deren Drittel, bei sechs deren Viertel und so fort.“ Damit ist gemeint, daß, wenn » Unbekannte &,, 25, %, - . „%, heißen, und wenn außer ihrer Gesamtsumme 4 + +%+:''+2,=5 die Summe der ersten Unbekannten x, mit jeder der folgenden Unbe- kannten einzeln gegeben ist, also , +, =4,. +9 =4, 2, +%, —=4,_,, daß alsdann x, = Art mi ggin muß. Das ist, n—2 t, Vgl. Aristoteles, Metaph. XIII, 8, ferner Nicomachus, Eisagoge arithmet. II, 6, 3 (ed. Hoche pag. 84) und am deutlichsten bei Theon Smyr- naeus (ed. Hiller) pag. 24: oöre Öt n uovag Koıdwög, AAl& Koyn Koıduoü. ”) Paul Tannery, Pour l’histoire de la science Hellene (Paris 1887) pag. 382 bis 386 über die Persönlichkeit des Thymaridas. °) Jamblichus Chaleiden- sis in Nicomachi Geraseni arithmeticam introductionem (ed. Tennulius 1668) pag. 36, (ed. Pistelli 1894) pag. 27, 4. *) Ebenda (ed. Tennulius) pag. 89, (ed. Pistelli) pag. 62, 19. Diese verderbte und darum ungemein schwierige Stelle hat zuerst Nesselmann, Algebra der Griechen $. 232flgg. richtig erklärt. 5) Wir benutzen die Übersetzung Nesselmanns. ‘ Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. 159 wie man sieht, vollständig gesprochene Algebra, welcher nur Symbole fehlen, um mit einer modernen Gleichungsauflösung durchaus über- einzustimmen, und insbesondere ist mit Recht auf die beiden Kunst- ausdrücke der gegebenen und unbekannten Größe aufmerksam gemacht worden. Genug die Pythagoräer, seit Gründung der Schule, beachteten die Zahlen und wußten verschiedene Gattungen derselben, so nament- lich die geraden und ungeraden Zahlen, erstere als &orıo:, letztere als x&016600L, zu. unterscheiden!). Diese Unterscheidung war so land- läufig, daß zu Platons Zeit das Spiel „Grad oder Ungrad“ schon in Übung war?). Wir erinnern uns, daß auch den Ägyptern dieser Unterschied nicht entgangen war, wie wir aus der Einrichtung ihrer Zerlegungstabelle für Brüche schließen durften (8. 64). Ob sie frei: lich bestimmte Namen für das Gerade und für das Ungerade hatten, was zum vollen Bewußtsein dieser Zahlengattungen gehört, das schwebt so lange im Dunkel, als nicht ein ägyptisches theoretisches Werk entdeckt ist, dessen Notwendigkeit zur Ergänzung des Übungsbuches wir eingesehen haben. Letzteres enthält jedenfalls solche Namen nicht. | Die Pythagoräer sahen überdies in den geraden und ungeraden Zahlen Glieder von Reihen, nannten solche Reihenglieder ö00: und besaßen vermutlich in dem Worte &x#soıs auch einen Namen für den Begriff von Reihe selbst?). Auch diese Tatsache kann uns nicht in Erstaunen setzen, nachdem die Kenntnis der arithmetischen wie der geometrischen Reihe bei Ägyptern und Babyloniern, die Kenntnis der Summenformel für arithmetische Reihen mit Gewißheit, für geo- metrische Reihen als Möglichkeit bei den Ägyptern festgestellt werden konnte. Mit den Reihen der geraden und ungeraden Zahlen wurden bei den Griechen — wir behaupten bei den Pythagoräern — nach den Zeugnissen des Theon von Smyrna mannigfache Summierungen vor- genommen. Man addierte die sämtlichen aufeinanderfolgenden Zahlen der natürlichen Zahlenfolge von der 1 bis zu einem beliebig gewählten Endgliede und fand 14243 +. +n "|" die Dreieckszahl®). Man addierte die ungeraden Zahlen für sich und 1) 0 ye ucv Koıduös Eysı Ivo uv lösn Eid meoıcoov nal &orıov heißt es in einem Fragmente des Philolaus. Vgl. Zeller I, 299, Anmerkg. 1 und Chaignet I, 228. °®) Platon, Lysis pag. 206. °) Vgl. Bienaym& in einer Notiz über zwei Stellen des Stobäus in den Comptes rendus der Pariser Aka- ‚demie der Wissenschaften vom 3. Oktober 1870. *) Theon Smyrnaeus (ed. Hiller) 31. 160 6. Kapitel. fand 1+3+5+-::-+(2n—]) — n? die Quadratzahl, zu deren Erklärung man eben diese Entstehungsweise benutzte!). Man addierte die geraden Zahlen für sich und and 2+4+6+---+2n=n(n-+1) die heteromeke Zahl?), d.h. das Produkt zweier Faktoren, deren einer um die Einheit größer ist als der andere, und welches eben dieses Größersein der einen Zahl in seinen Namen aufnahm. Wir haben hier arithmetische Erklärungen und Lehrsätze den Pythagoräern überwiesen, welche trotz ihres Vorkommens bei Theon von Smyrna, trotz der von uns vorausgeschickten allgemeinen Recht- fertigung der Benutzbarkeit seines Werkes für diese weit zurückliegende Zeit, einigermaßen stutzig machen könnten. Da wir in unseren Fol- gerungen noch weiter zu gehen gedenken, so dürfte es nicht unzweck- mäßig sein, andere Beweisgründe für die Richtigkeit unserer Annahme hier einzuschalten, welche ein bedeutend älterer Schriftsteller von all- seitig anerkannter Zuverlässigkeit, mit einem Worte, welche Aristo- teles uns liefert. In dessen Metaphysik?) finden wir die sogenannte pythagoräische Kategorientafel, in welcher zehn Paar Grund- gegensätze aufgezählt werden, die der pythagoräischen Schule angehört haben. Diese heißen 1. Grenze und Unbegrenztes; 2. Ungerades und Gerades; 3. Eines und Vieles; 4. Rechtes und Linkes; 5. Männliches und Weibliches; 6. Ruhendes und Bewegtes; 7. Gerades und Krummes; 8. Lieht und Finsternis; 9. Gutes und Böses; 10. Quadrat und Hetero- mekie. Wir dürfen vielleicht annehmen, daß unter dem 3. Paare die Primzahlen und zusammengesetzte Zahlen inbegriffen sind. Wir er- kennen in den beiden mit 2. und 10. bezeichneten Paaren die Zu- sammengehörigkeit des Ungeraden mit dem Quadrat, des Geraden mit der Heteromekie, und sollte diese Zusammengehörigkeit nicht in der Entstehungsweise der Quadrate und der Heteromeken ihre vollgültige Begründung finden? Allerdings hat man, wie wir sehen werden, eine andere Erklärung gesucht, weshalb das 10. Paar, dessen Vorhanden- sein unter allen Umständen einer Rechtfertigung bedarf, weil seine Gegen- sätze nicht so scharf und natürlich sind, wie die der neun anderen Paare, Aufnahme gefunden habe. Wir sind nicht gewillt, jene andere Erklärung schon jetzt geradezu zu verwerfen, aber noch weniger auf die unsrige zu verzichten. Konnte es doch in der Tafel der Grund- gegensätze, auf welche alle Erscheinungen zurückzuführen sind, nur erwünscht sein, durch ein Paar sofort zwei wesentlich verschiedene Beziehungen dargestellt zu wissen. Ist doch überdies mindestens die Entstehung des Quadrats als Summe der mit der Einheit beginnen- ı) Theon Smyrnaeus (ed. Hiller) 28. ?°) Ebenda 27 und 31. °) Ari- stoteles, Metaphys. I, 5, 6, vgl. Zeller, 5. Aufl. I, 354, Anmerkg. 3. a ee een fa 285 A = so entstehen (Fig. 21) zwei in unserer Figur Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. 161 den ungeraden Zahlen wieder durch Aristoteles als echt pythago- räisch bezeugt'). Aristoteles bedient sich dabei eines Wortes, welches für uns von großer und vielfacher Wichtigkeit ist, des Wortes Gnomon. Was ist ein Gnomon? Wörtlich genommen ein Erkenner, und zwar bedeutete es zunächst einen Erkenner der Zeit, dann der senk- rechten Stellung, welche der Stab, um als Schattenwerfer und Stunden- zeiger Anwendung finden zu können, einnehmen mußte. So wurde das Wort allmählich aus einem Kunstausdrucke der praktischen Astro- nomie zu einem solchen der Geometrie, und man sagte „die nach dem Gnomon gerichtete Linie“?), wenn man von einer Senkrechten reden wollte. Der Sinn des Wortes veränderte sich aber nun noch weiter. Ein mechanisch herzustellender rechter Winkel (Fig. 20) wurde so genannt oder geometrisch aus- gedrückt: Gnomon war das, was von einem Qua- drat übrig blieb, wenn aus dessen einer Ecke ein kleineres Quadrat herausgeschnitten wurde. Diese Bedeutung des Wortes war bei den Pythago- räern gang und gebe. Den untrüglichen Beweis U dafür liefert ein erhaltenes Bruchstück des Phi- ER lolaus?), eines Pythagoräers, dessen Lebenszeit so ziemlich gleich- mäßig von den Grenzen des Jahrhunderts zwischen 500 und 400 abstehen möchte. Ebendemselben Philolaus dürfte auch der Be- griff des zusammengesetzten Verhältnisses schon bekannt gewesen sein, welcher uns im 12. Kapitel begegnen wird. In noch späterer Zeit verschob sich die Bedeutung des Wortes Gnomon noch weiter. Euklid stellte um 300 die Definition auf, in einem Parallelogramme heiße ein jedes der um die Diagonale herumliegenden Parallelogramme mit den beiden Ergänzungen zusammen ein Gnomon®). Der Sinn dieser im Wortlaute nicht allzu deutlichen Erklärung ist folgender. Werden in einem Parallelogramme durch einen und denselben Punkt der Diagonale Parallellinien zu den beiden Seiten gezogen, wagerecht schraffierte Parallelogramme, und zwei in unserer Figur schräg schraffierte Ergänzungsdreieckchen. Diese vier kleinen ‘) Aristoteles, Physic. III, 4 Vgl. Zeller I, 300, Anmerkung und Chaignet II, 61—62. °) Proklus ed. Friedlein 283, 9. °) Philolaus, des Pythagoreers Lehren nebst den Bruchstücken seines Werkes von Aug. Böckh. Berlin 1819, Fragment 18, 8. 141. -— Chaignet I, 240. — Wm. Romaine Newbold, Philolaus. Archiv für Geschichte der Philosophie XIX, 176—217 (Berlin 1905). *) Euklid, Elemente II, Definition 2. CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 11 162 6. Kapitel. Figuren zusammen bilden das euklidische Gnomon, eine Verallgemeine- rung des älteren Begriffes insofern, als ein Stück aus einem Parallelo- gramme statt aus einem Quadrate herausgeschnitten wird, um es her- vorzubringen. Noch etwas allgemeiner wird die Erklärung, welche nachmals Heron von Alexandria gab: Alles was zu einer Zahl oder Figur hinzugefügt das Ganze dem ähnlich macht, zu welchem hinzugefügt worden war, heißt Gnomon'). Doch auch diese letzte Verallgemei- nerung knüpft wieder an alte Begriffe an, indem schon Aristoteles sagt, wenn man ein Gnomon um ein Quadrat herumlege, werde zwar die Größe, aber nicht die Art der Figur verändert ?). Nachdem wir erörtert haben, was ein Gnomon in der Geometrie bedeute, ist der Zusatz wohl leicht verständlich, daß in alten Zeiten die ungerade Zahl auch wohl Gnomonzahl genannt wurde. Denken wir uns nämlich ein Quadrat, dessen Seite n Längeneinheiten mißt, und beabsichtigen wir dieses Quadrat zum nächstgrößeren mit der Seite von an + 1 Längeneinheiten durch Hinzufügung eines Gnomon zu ergänzen, so ist klar, daß dieses Gnomon bestehen wird aus einem Quadratchen von der Seite 1 und aus zwei Rechtecken von den Seiten 1 und n, daß es also 1-+2>1-+2-+4 Euklid hat sich ausführlich mit den vollkommenen Zahlen beschäftigt!). Theon von Smyrna hat den drei verschiedenen Gattungen seine Aufmerksamkeit zugewandt und dieselben als &oı#uot tehsıoı, bregrelsıoı, EAAıreig benannt’). Man könnte demzufolge geneigt sein diese Begriffe als vorplatonische anzuerkennen, wenn nicht ein kaum zu beseitigender Gegengrund vorhanden wäre. Plato ver- steht nämlich in einer berühmten Stelle seines Staates den Ausdruck vollkommene Zahl ganz anders?) und Aristoteles bezeichnet mutmaß- lich aus pythagoräischer Quelle die Zehn als vollkommene Zahl?) wiederum notwendig von einer ganz anderen Erklärung ausgehend. Diese beiden Gegenstände arithmetischer Grübelei werden wir daher am sichersten zwar Pythagoräern aber nicht .solchen der alten Schule zuschreiben, sondern solchen, die in viel späterer Zeit den Namen und zum Teil auch die Forschungsweise derselben er- neuerten. Die Dreieckszahlen, sagten wir (S. 159) gestützt auf Theon von Smyrna, wurden von den Pythagoräern gebildet, indem sie ver- suchsweise die aufeinanderfolgenden Zahlen der mit 1 beginnenden natürlichen Zahlenreihe addierten. In diesem Namen Dreieckszahl zeigt sich aufs neue der Hang zur figürlichen Versinnlichung der nach unserer heutigen Auffassung abstrakten Zahlenbegriffe. Die auf- einanderfolgenden Zahlen nämlich durch gleich weit voneinander ent- fernte Punkte reihenweise untereinander zur Darstellung gebracht bildeten Dreiecke, und daß man diese Versinnlichung wirklich vor- nahm, mag man zu ihr gelangt sein wie man wolle, dafür bürgt eben der Name Dreieckszahl, doıwduög Tolywvos. Es ist vielleicht wün- schenswert noch von anderer Seite her zu bestätigen, daß wir hier wirklich Altertümliches vor uns haben, und dazu sind wir in der Lage. Wenig Gewicht freilich legen wir für diese Rückdatierung auf den an sich interessanten von Plutarch uns erhaltenen Lehrsatz, daß die mit 8 vervielfachten und um 1 vermehrten Dreieckszahlen Quadrat- zahlen gaben?) d. h. daß 8.""F® 1 1 = (2n + 1)%. Erheblicher !) Euklid IX, 36. °%) Theon Smyrnaeus (ed. Hiller) 45. °) Plato Republ. VIII, pag. 546. Vgl. einen Aufsatz von Th. H. Martin in der Revue Archeologique T. XII. *) Aristoteles, Metaphys.I,5. °) Plutarch, Plato- nicae Quaestion. V, 2, 4. ED en rn ana 2° a aldi, an banal url ndn au una an ey 2 Das ne ä.n EN de Da Pythagoras und die Pythagoräer. Arithmetik. 169 ist schon das, was Lucian uns erzählt‘), Pythagoras habe einen zählen lassen. Dieser sagte: „l, 2, 3, 4“, worauf Pythagoras da- zwischen fuhr: Siehst du? Was du für 4 hältst, das ist 10 und ein vollständiges Dreieck und unser Eidschwur! Hierin ist die Kenntnis der Dreieckszahl 10 mit echt pythagoräischen Dingen in Verbindung gesetzt. Weit älter und dadurch noch überzeugender ist das Vor- kommen des Begriffes wenn nicht des Wortes bei Aristoteles: Die einen führen die Zahlen auf Figuren wie das Dreieck und Viereck zurück?). Kommt nun endlich noch hinzu, daß einem Schüler des Sokrates und des Platon, dem Philippus Opuntius, bereits eine Schrift über vieleckige Zahlen zugeschrieben wird, welche er nebst einer anderen über Arithmetik bei Philipp von Mazedonien verfaßt haben soll?), so scheint uns damit der Beweis geliefert, daß wie die Quadratzahl und ihre Entstehung aus den ungeraden, wie die hetero- meke Zahl und ihre Entstehung aus den geraden, so auch die Dreiecks- zahl und ihre Entstehung aus den unmittelbar aufeinander folgenden Zahlen bereits pythagoräisch gewesen sein müsse. Bei diesen drei Summierungen von nach einfachen. Gesetzen fort- schreitenden Zahlen blieb man aber, wie uns berichtet wird, nicht stehen. Man schrieb die Reihe der Quadratzahlen, von der 1 an, man schrieb darunter aber erst von der 3 anfangend die ungeraden Zahlen, und wenn man nun jede solche ungerade Zahl der zugehörigen Quadrat- zahl als Gnomon zufügte, so entstanden wieder Quadratzahlen*). Für uns heute fällt freilich diese Entstehungsweise: ra I 3 Brink 4 9 16....n+1)% mit der ersterläuterten Bildung der Quadratzahlen zusammen, aber den Alten war sie besonderer Hervorhebung wert. Nikomachus, ungefähr Zeitgenosse des Theon von Smyrna, und ihm geistes- verwandt, hat ein Beispiel ähnlichen Verfahrens bei Dreieckszahlen uns bewahrt). Jede Dreieckszahl, sagt er, mit der nächstfolgenden Dreieckszahl vereinigt gibt eine Quadratzahl, und wirklich ist n—U)n , nn +1) Ve ag ee einander ähnlichen Verfahren, eine unmittelbar nicht auf Überlieferung sich stützende Vermutung‘). Wir nehmen an, es sei auch die Addi- n?. Hier wagen wir nun, gestützt auf alle diese t) Lucian Bio» meäcıs, 4. Vgl. Allman, Greek Geometry from Thales to Euclid pag.28r. ?) Aristoteles, Metaphys. XIV, 4. ?°) Bioyeagot, vitarum seriptores Graeci minores edit. Westermann. Braunschweig 1845, pag. 446. * TheonSmyrnaeus (ed. Hiller) 32. °) Nicomachus, Eisagog. arithm. II, 12 (ed. Hoche), pag. 96. °) Math. Beitr. Kulturl. 105—107. 170 7. Kapitel. tion von je zwei aufeinander folgenden Quadratzahlen vorgenommen worden, um wie in den vorher erwähnten Beispielen einmal zuzu- sehen, ob dabei etwas Bemerkenswertes sich enthülle In der Tat fand sich ein höchst auffallendes Ergebnis: Die Quadratzahlen 9 und 16 lieferten als Summe die nächste Quadratzahl 25, und nur bei ihnen zeigte sich diese Erscheinung. Dem heutigen Mathe- matiker ist solches freilich nicht auffallend. Wir erkennen sofort, daß die Gleichung («— 1)’ +2°= (z + 1)? nur die Wurzeln «= 4 und «= besitzt, daß also nur 5? +4?= 5? auftreten kann, wenn man (— 1)? +0?=1? oder anders geschrieben O+1=1 nicht be- achten will. Aber der Grieche jener alten Zeit konnte diese Über- legung nicht anstellen, konnte, wenn sie ihm möglich gewesen wäre, die zweite Gleichung nicht denken. Wir kommen auf den Zahlen- begriff der Griechen noch zurück. Gegenwärtig wissen wir nur, dab die Null, für welche sie kein Zeichen hatten, ihnen auch keine Zahl war. Wir sind darüber aufs deutlichste durch einen der schon ge- nannten Arithmetiker unterrichtet. Nikomachus sagt uns, jede Zahl sei die halbe-Summe der zu beiden Seiten gleich weit von ihr ab- stehenden Zahlen; nur die Einheit bilde eine Ausnahme, weil sie keine zwei Nachbarzahlen besitze; sie sei darum die Hälfte der einen un- mittelbar benachbarten Zahl?). So mußten die Zahlen 9, 16, 25 und mit ihnen die Zahlen 3, 4, 5, deren Quadrate sie waren, welche ihre Ordnungszahlen in der Reihe der Quadratzahlen bildeten, der Aufmerksamkeit empfohlen sein, um so dringender empfohlen sein, wenn dieselben Zahlen schon ander- weitig als mit merkwürdigen Eigenschaften versehen bekannt waren. Daß dem so war, darüber müssen wir uns jetzt zu vergewissern suchen, ohne zu vergessen, daß 3?+4?—=5? den Ägyptern bekannt war. 7. Kapitel. Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie. Wir sind an dem Punkte angelangt, wo wir die nur im Bilde geoinetrische Arithmetik der Pythagoräer mit ihrer eigentlichen Geo- metrie in Verbindung treten sehen. Wir haben demgemäß auch auf diesem Gebiete abzusuchen, was unmittelbare oder mittelbare Über- lieferung dem Pythagoras und seiner Schule zuweist. Zunächst können wir eine ganze Gruppe von geometrischen Kenntnissen zusammenfassen unter dem gemeinsamen Namen der An- ı) Nicomachus, Eisagog. arithm. I, 8 (ed. Hoche), pag. 14. Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie. 171 legung der Flächen. „Altertümlich, so sagen die Schüler des Eudemus, und Erfindungen der pythagoräischen Muse sind diese Sätze, die Anlegung der Flächen, ihr Überschießen, ihr Zurückbleiben,“ 5 re raoaPBoAn ToV xoglov zul 7) ÖnsoßoA za 1 EAkenbıs!). So lautet der erläuternde Bericht des Proklus zu der euklidischen Aufgabe an einer gegebenen (reraden unter gegebenem Winkel ein Parallelogramm zu entwerfen, welches einem gegebenen Dreieck gleich sei. Desselben Wortes &Aislzsıv bei Anlegung von Flächen bedient sich Platon in seinem Menon?), und Plutarch läßt an einer Stelle das Anlegen von Flächen, zagapßdAAsıv Tod ywolov, von Pythagoras selbst herstammen’), während er an einer anderen Stelle sich folgendermaßen ausdrückt: „Eines der geometrischsten Theoreme oder vielmehr Probleme ist das, zu zwei gegebenen Figuren eine dritte anzulegen — zuoaßdAksıv —, die der einen gleich und der anderen ähnlich ist. Pythagoras soll, als er die Lösung gefunden, ein Opfer gebracht haben. Und wirk- lich ist es auch feiner und wissenschaftlicher als das, daß das Quadrat der Hypotenuse denen der beiden Katheten gleich ist“*). Über die genauere Bedeutung der drei Wörter Parabel, Ellipse, Hyperbel bei Flächenanlegungen werden wir bei Besprechung der euklidischen Geometrie im 13. Kapitel zu reden haben. Fürs erste genügt die allgemeine aus den angeführten Stellen leicht zu schöpfende Über- zeugung, daß es um die Zeichnung von Figuren gegebener Art und gegebener Größe sich handelt. Solche Zeichnung ist aber unmöglich, wofern man nicht mit den Haupteigenschaften der Parallellinien und ihrer Transversalen, mit den hauptsächlichen Winkelsätzen der Planimetrie vertraut ist, wofern man nicht die Auffindung von Flächeninhalten, deren Abhängigkeit von den die betreffende Figur bildenden Seiten in richtiger Weise kennt. In der ersteren Beziehung sind wir wieder in der günstigen Lage, unsere Behauptung bestätigen zu können. Die Pythagoräer ver- wandten die Parallellinien zum Beweise des Satzes von der Winkelsumme des Dreiecks. Wir sahen (8. 143), daß die tha- letische Zeit, vielleicht Thales selbst, den Satz von der Winkelsumme in dreifacher Abstufung an dem gleichseitigen, an dem gleichschenk- ' ligen, an dem unregelmäßigen Dreiecke behandelte. Eudemus läßt durch die Pythagoräer den Satz für jedes beliebige Dreieck so be- wiesen werden, daß durch die Spitze des Dreiecks die Parallele zur Grundlinie gezogen und daraus die Gleichheit der Winkel an der ‘) Proklus (ed. Friedlein) 419. °) Platon, Menon pag. 87. °) Plu- tarch, Non posse suaviter vivi secundum Epieur. cap. 11. *) Plutarch, Con- vivvum VUI, cap. 4. 172 7. Kapitel. Grundlinie mit ihren an jener Parallelen hervortretenden Wechsel- winkeln gefolgert wurde. Einer jener Wechselwinkel wurde sodann mit dem ursprünglichen Dreieckswinkel an der Spitze zu einem ein- zigen Winkel vereinigt, welcher selbst wieder den anderen Wechsel- winkel als Nebenwinkel besaß und mit ihm zusammen zwei Rechte ergab). Aus dieser Darstellung zeigt sich so recht deutlich an einem besonders merkwürdigen, in der Stufenfolge der Beweisführungen uns glücklich erhaltenen Beispiele, wie die Wissenschaft der Geometrie sich entwickelte. Von dem Zerlegen des Satzes in drei Fälle stieg man auf zur Behandlung des allgemeinen Falls, aber in diesem Auf- wärtsstreben hielt man wieder ein. Man erhob sich noch nicht zu dem Ausspruche, die drei Winkel an der früheren Dreiecksspitze be- säßen als Winkel, die je einen Schenkel gemeinsam für zweie haben, und die einfach auftretenden äußersten Schenkel zu einer und der- selben Geraden sich verlängern lassen, die Winkelsumme von zwei Rechten. Man mußte vielmehr erst zwei Winkel zu einem neuen, diesen alsdann mit dem dritten verbinden. Freilich ist der letzt- erwähnte Fortschritt, den man noch nicht wagte, nach unserem Ge- fühle, auch wohl nach dem Gefühle des Proklus, welcher wenigstens von dessen Urheber uns nichts sagt, ein weit geringerer, als der, den man wirklich vollzog, und wir erkennen hier bewundernd den „höheren Gesichtspunkt, von welchem aus Pythagoras, dem Mathe- matikerverzeichnisse (S. 147) zufolge, die Grundlage unserer Wissen- schaft betrachtete“. Ä Wir haben auch die Notwendigkeit betont, den Flächeninhalt einer Figur aus den dieselbe bildenden Seiten in richtiger Weise finden zu können. Unseren mathematischen Lesern dürfte diese Be- tonung überflüssig erscheinen, aber sie ist es nicht so ganz. Bei einem Volke von überwiegend geometrischer Begabung, wie es un- streitig das griechische war, konnte noch um das Jahr 400 v. Chr., also zur Zeit Platons, einer der geistreichsten, tiefsten Geschichts- schreiber aller Jahrhunderte, konnte noch ein Thukydides so wenig Bescheid wissen, daß er Inhalt und Umfang als proportional dachte, daß er infolgedessen die Fläche der Insel nach der zum Umfahren nötigen Zeit abschätzte?). Diese Unkenntnis auch hochgebildeter Laien in einem theoretisch so einfachen, praktisch so wichtigen Kapitel der Planimetrie läßt sich dann weiter und weiter verfolgen. Um 130 v. Chr. erzählt Polybius, daß es Leute gebe, die nicht be- ı) Proklus (ed. Friedlein) 379. 2) Thukydides VI, 1 (ed. Rothe), pag. 95. Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie. +13 greifen könnten, daß Lager bei gleicher Umwallungslänge verschie- denes Fassungsvermögen besitzen'). Quintilian, der römische Schrift- steller über Beredsamkeit in der zweiten Hälfte des ersten nach- christlichen Jahrhunderts, gibt als dem Laien leicht aufzudrängenden Trugschluß den an, daß gleicher Umfang auch gleichen Inhalt be- weise?). Vielleicht hatte Quintilian bei diesem Vorwurfe seinen Zeit- genossen Plinius im Auge, welcher die Größenverhältnisse der Erd- teile durch Addieren ihrer Länge zu ihrer Breite verglich?). Proklus erzählt mit offenbarer Beziehung auf Vorkommnisse seiner Zeit, also des V. S., daß manche schon bei der Teilung von Flächen ihre Ge- sellschafter übers Ohr gehauen haben, indem sie eine größere Fläche mit Bezugnahme auf die Gleichheit des Umfanges für sich be- anspruchten*). Steuerbeamte in Palästina ließen sich gleichfalls um das V. S. in solcher Weise täuschen, indem sie einem Gemeinde- vorsteher, welchem als Steuer der Ertrag einer mit Weizen zu be- säenden Fläche von 40 Ellen im Quadrat auferlegt war, verwilligten, er könne in zwei Abteilungen jedesmal eine Fläche von 20 Ellen im Quadrat; besäen, in der Meinung, dann sei er seiner Verpflichtung nachgekommen’), und ganz Ähnliches wird von einem Araber des X. 8. erzählt®. Wir haben diese fehlerhafte Auffassung absichtlich durch einen längeren Zeitraum und durch Völker hindurch verfolgt, welche einer Stetigkeit der Geistesrichtung als Beispiel dienen können, denn das mathematische, insonderheit das geometrische Denken der Römer, der späteren Juden, der Araber war nicht anders als grie- chisch. Wir haben sie verfolgt, um uns über einen allgemeinen ge- schichtlichen Lehrsatz klar zu werden, dem wir eine nicht geringe Tragweite besonders bei geschichtlich vergleichenden Forschungen beilegen. Die Unwissenheit, so lautet unser Satz, und das noch schlimmere falsche Wissen sind erblich, es gibt eine konservative Kraft der Unwissenheit. Was an unrichtigen Ergebnissen einmal gewonnen ist, das wird so leicht nicht zerstört, das wird mit um so größerer Zähigkeit festgehalten, je mehr es unverstanden ist. Nur die Menge der Unwissenden und Halbwissenden wechselt, und in ihrer Beschränkung liegt das, was man Fortschritt der Durchschnitts- bildung nennt. ") PolybiusIX, 21 (ed. Hultsch), pag. 686. °) Quintilianus, Institutio oratoria 1, 10, 39flgg. (ed. Halm) pag. 62. °) Detlefsen, Die Maasse der Erd- theile nach Plinius. Programm des Glückstädter Gymnasiums für 1883, 3. 6—7 mit Berufung auf Plinius, Histor. natur. VI, 208. *) Proklus (ed. Fried- lein), pag. 237. °) Jerusalem. Talmud Sota 20a nach Zuckermann, Das Mathematische im Talmud. Preslau 1878, S. 43, Note 58. ®) Dieteriei, Die Propädeutik der Araber im X. Jahrhundert, $. 35. 174 7. Kapitel. Der Flächenanlegung nahe verwandt und mit ihr den Pytha- goräern eigen ist die Lehre von den regelmäßigen Vielflächnern, angedeutet in den Worten des Mathematikerverzeichnisses: „Pytha- goras ist es auch, der die Konstruktion der kosmischen Körper er- fand.“ Der Name der kosmischen Körper bedarf der Erklärung. Wie Aristoteles uns berichtet, war Empedokles von Agrigent in Sizilien, ein Philosoph, der um 440, jedenfalls später als Pythagoras lebte, der erste, der vier Elemente, Erde, Wasser, Luft und Feuer, annahm, aus denen alles zusammengesetzt sei!). Vitruvius und andere Gewährsmänner wollen, Pythagoras habe schon vorher das Gleiche ausgesprochen?). Wir haben eine Wahl zwischen beiden Meinungen hier nicht zu treffen. Jedenfalls übernahm Timäus von Lokri aus der einen oder anderen Quelle die Lehre, wie der nach ihm benannte platonische Dialog erkennen läßt. Timäus erläutert die Entstehung der Welt, setzt das Vorhandensein der vier Grundstoffe auseinander, gibt denselben besondere Gestalten?). Das Feuer trete als Tetraeder auf, die Luft bestehe aus Oktaedern, das Wasser aus Ikosaedern, die ‚Erde aus Würfeln, und da noch eine fünfte Gestaltung möglich war, so habe Gott diese, das Pentagondodekaeder benutzt, um als Umriß des Weltganzen zu dienen®). Diese fünf Körper heißen dem ent- sprechend kosmische Körper als zum Kosmos in notwendiger Be- ziehung stehend. Ä Die Geschichte der Mathematik entnimmt den atomistischen Ver- suchen jener ältesten Lehren dieser Art die wichtige Wahrheit, daß Timäus die fünf regelmäßigen Körper kannte. Ob er ahnte, daß es wirklich keinen sechsten regelmäßigen Körper gebe, ob er ohne auch nur die Frage nach einem solchen zu erheben sich mit Ver- wertung der nun einmal bekannten Körperformen begnügte, wissen wir nicht. Wahrscheinlicher deucht uns das letztere, und nun gar einen Beweis der Unmöglichkeit eines sechsten regelmäßigen Körpers in so früher Zeit anzunehmen, würden wir aufs entschiedenste ab- lehnen müssen. Dagegen hat es keine Schwierigkeit diejenigen Kennt- nisse, welche wir als Timäus geläufig bezeichneten, d. h. die Gestalt. der fünf regelmäßigen Körper bis in jene Zeit, auch wohl darüber hinaus zu verfolgen?). Körper wie der Würfel, das Tetraeder, welches nichts anderes ) Aristoteles, Metaphys. I, 4. °) Vgl. Chaignet I, 164flgg. °) Vgl. Th. H. Martin, Etudes sur le Timee de Platon I, 145flgg. und I, 234—250. *#, ZellerI, 350, Anmerkung 1 nimmt an, das Dodekaeder sei nicht die Gestalt des Weltganzen, sondern des Ätheratoms, d. h. des kleinsten Teiles der das Weltganze umgebenden äußeren Schichten. °) Das hier Folgende wesentlich nach Bretschneider S. 86 und 88. a Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie. 175 als eine Pyramide mit dreieckiger Grundfläche, das Oktaeder, welches eine Doppelpyramide mit quadratischer Grundfläche ist, müssen noch weit über das Zeitalter des Pythagoras zurück sich als den Ägyptern bekannt vermuten lassen. Wer bei ihnen jahrelang verweilte, ja wer nur kurze Zeit die Baudenkmäler ihres Landes in Augenschein nahm, dem ist die Kenntnis auch jener Körper mit Notwendigkeit zuzu- sprechen, und daß die Pythagoräer kein Bedenken trugen, was ihr Lehrer wußte, als seine Erfindung zu verehren, wurde schon erwähnt. Auch das Ikosaeder und nicht minder das Dodekaeder muß wohl oder übel den Pythagoräern bekannt gewesen sein. Sonst könnte nieht Philolaus schon von den fünf Körpern in der Kugel reden'), sonst würde nicht das alte Mathematikerverzeichnis nebst anderen übereinstimmenden Berichten?) so deutlich sämtliche kosmische oder regelmäßige Körper als pythagoräisch bezeichnen. Möglicherweise haben wir den Verlauf der Entdeckung jener Körper so zu denken, daß man zuerst nur von Würfel, Tetraeder, Oktaeder wußte, daß dann das Ikosaeder, zuletzt erst, wenn auch jedenfalls noch vor Timäus, das Dodekaeder hinzutrat. Mit dieser Annahme würde die Schwierig- keit sich lösen, daß die ursprünglich jedenfalls in Vierzahl angenom- menen Grundstoffe mit den fünf Körpern nur sehr künstlich in Ver- bindung zu bringen sind. Es würden nämlich zunächst vier Körper mit vier Elementen durch einen naturgemäßen Gedanken sich gepaart haben, und zu dem nachträglich gefundenen fünften Körper würde dann eine kosmische Bedeutung erst gesucht worden sein. Mit dieser Annahme würde auch die Erzählung des Jamblichus?) sich decken, daß Hippasus, ein Pythagoräer, der das Pentagon- dodekaeder der Kugel zuerst einschrieb und veröffentlichte, wegen dieser Gottlosigkeit im Meer umgekommen sei. Er habe den Ruhm der Entdeckung davongetragen, „aber es sei das Eigentum JENES, so bezeichnen sie nämlich den Pythagoras und nennen ihn nicht bei Namen“. Man würde vielleicht eine größere Sicherheit in der Beantwortung dieser Fragen erlangen, wenn man Alter und Herkunft eines noch vorhandenen Bronzedodekaeders zu bestimmen imstande wäre*). Dabei sind zahlreiche andere Dodekaeder zu vergleichen, welche auf kel- tischem Boden?), welche auch in Oberitalien®) aufgefunden worden sind. ') Boeckh, Philolaus fragm. 21, S. 160. Chaignet I, 248. ?) Vgl. Wyttenbach, Ausgabe von Platons Phädon. Leiden 1810, pag. 304—307. °») Jamblichus, Vita Pythagorica 88. *) Vgl. verschiedene Notizen von Graf Leopold Hugo in den Comptes rendus der Pariser Akademie der Wissen- schaften. Bd. LXXVIL. ) Conze, Über ein Bronzegerät in Dodekaederform. Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst (1892) XI, 204. ®) F. Linde- 176 7. Kapitel. 24 Man hat diese Funde für sehr alt und um Jahrhunderte über Pythagoras hinausreichend erklärt, und, wenn diese Zeitbestimmung richtig sein sollte, so dürfte auch gegen gewisse Folgerungen aus denselben!) wenig einzuwenden sein. Unter den Eisenerzen kommt der Pyrit (Schwefelkies) auf Elba und in den südlichen nach dem Piemont ausmündenden Alpentälern, sonst aber nirgend, in Kristallen vor, welche von 20 Dreiecken, und in anderen, welche von 12 Fünf- ecken begrenzt sind. Regelmäßige Ikosaeder und Dodekaeder sind das nicht, ähneln denselben aber, und als in der anfangenden Eisen- zeit jenes Metall an Wichtigkeit gewann, können jene Kristallformen Verehrung und Nachbildung gefunden haben. Wenn nun?) berichtet wird, Pythagoras habe auch von den Galliern gelernt, ein Bericht, den wir, weil wir ihm nicht zu sehr trauen, bei unseren Angaben über das Leben des Pythagoras übergingen, so könnte das auf das Kennenlernen jener Körperformen von Norden her sich beziehen. Pythagoras hätte dann in der Tat alle regelmäßigen Körper oder denselben einigermaßen ähnelnde gekannt, und dem Hippasus blieb als lohnende Aufgabe das mathematische Erkennen des vor ihm nur erfahrungsmäßig Vorhandenen. Mit den Angaben über die fünf Körper im engsten Zusammen- hange stehen die über die Kugel, in welche jene beschrieben ge- dacht sind, und welche demzufolge nebst einigen ihrer Eigenschaften gleichfalls den Pythagoräern bekannt gewesen sein muß. In demselben Zusammenhange erscheinen Angaben, welche sich auf die Grenzflächen jener Körper, auf die regelmäßigen Viel- ecke, als Dreiecke, Vierecke, Fünfecke beziehen, und denen wir uns nunmehr zuzuwenden haben. Wir kehren damit zur Flächenanlegung zurück, deren Verwandtschaft zur Lehre von den Vielflächnern wir oben zunächst unerwiesen behauptet haben. Platon läßt seinen Timäus über die Entstehung der regelmäßigen Dreiecke und Vier- ecke sich aussprechen. Er sagt?), diese Figuren setzten ihre Fläche immer aus rechtwinkligen Dreiecken zusammen, und zwar entweder aus solchen, welche zugleich gleichschenklig sind, oder aus solchen, deren spitze Winkel, der eine einem Dritteil, der andere zwei Dritt- teilen des rechten Winkels gleich sind. Das hat nun offenbar seine Richtigkeit, indem das Quadrat in zwei oder vier Dreiecke der ersten Art (Fig. 23), das gleichseitige Dreieck in zwei oder sechs Fig. 23. mann, Zur Geschichte der Polyeder und der Zahlzeichen. Sitzungsberichte der mathem. physik. Klasse der k. bayer. Akad. der Wissensch. (1897) XXVI, 625—758. ) Lindemannl.c. ?) Zeller I, 277. ®) Platon, Timaeus 54 B und 54D. Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie. 177 Dreiecke der zweiten Art (Fig. 24) zerlegt werden kann. Überein- stimmend damit, aber sicherlich einer anderen Quelle als dem plato- nischen Timäus, über dessen Angaben er hinausgeht, folgend sagt Proklus, es sei ein pythagoräischer Lehrsatz, daß die Ebene um einen Punkt herum durch sechs gleichseitige Dreiecke, vier Quadrate oder drei regelmäßige Sechsecke vollständig er- füllt werde, so daß nur diese Figurengattungen zur gänzlichen Zerlegung einer Ebene in lauter identische Stücke Benutzung finden). Wir wollen daran anknüpfend nur erinnern, daß wir schon (8. 143) die Kenntnis solcher um einen Punkt herumliegenden sechs gleich- seitigen Dreiecke wahrscheinlich zu machen suchen mußten, und daß folglich rückwärts die Angabe des Proklus unsere dortigen Behaup- tungen zu stärken imstande ist. Wie verhält es sich aber gegenüber der Zerfällung der Grenz- flächen der vier ersten Körper mit der Grenzfläche des fünften und letzten, mit dem regelmäßigen Fünfecke? Das Fünfeck ist, wie leicht ersichtlich, mittels der beiden rechtwinkligen Dreieckchen, die wir nach der Vorschrift des Timäus für die Herstellung von Dreieck ' und Viereck benutzten, nicht zusammenzusetzen, eine Zerlegung in eben solche kann mithin nie gelungen sein. Wohl aber dürfen wir erwarten, Spuren verfehlter Versuche anzutreffen, und diese fehlen nicht. Plutarch hat an zwei Stellen von der Zerlegung der das Dodekaeder begrenzenden Fläche in 30 Elementardreiecke gesprochen, hat das eine Mal hervorgehoben, daß somit alle 12 Flächen 360 Drei- eckchen liefern, gleich an Zahl mit den Zeichen des Tierkreises ?), hat das andere Mal bemerkt, es solle, wie man sage, das Elementar- dreieckchen des Dodekaeders von dem des Tetraeders, Oktaeders, Iko- saeders verschieden sein?). Ein anderer Schriftsteller des II. S., Alki- nous, hat in seiner Einleitung zum Studium des Platon gleichfalls von den 360 Elementen gesprochen, welche Fig. 24. erzeugt werden, indem jedes Fünfeck in | 5 gleichseitige Dreiecke, jedes von diesen BES in 6 ungleichseitige zerfalle‘). Nimmt 4 man nun diese Zerlegung wirklich vor \/ (Fig. 25), so tritt aus dem Gewirre der Fig. 3. Fig. 26. ) Proklus (ed. Friedlein) 304—305. Vgl. auch Heron (ed. Hultsch) pag. 22 Definitio 74. °) Plutarchus, Quaest. Platon. V. °) Plutarchus, De silentio oracul. cap. 33. *) Aleinous, De doctrina Platonis (ed. Lambinus). Paris 1567, cap. 11. CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 12 178 7. Kapitel. Linien am deutlichsten das Sternfünfeck heraus, welches demnach für sich schon ein Zeugnis der versuchten Zerlegung des Fünfecks in Ele- mentardreiecke ablegt. Das Sternfünfeck (Fig. 26) soll aber den Pytha- goräern Erkennungszeichen gewesen sein. Lucian und der Scholiast zu den Wolken des Aristophanes berichten darüber gleichmäßig'). Briefe pflegten mit irgend einer ständigen Anfangsformel eingeleitet zu werden. Die einen schrieben: Freue Dich, y«dosıv, die anderen mit Platon: Sei glücklich in Deinen Handlungen, sd zodrreıv, die Pythagoräer: Sei gesund, Öyıeiveww. Gesundheit heißt auch bei ihnen das dreifache Dreieck, das durch gegenseitige Verschlingung das Fünfeck erzeugt, das sogenannte Pentagramm, dessen sich die Glieder des Bundes als Erkennungszeichen bedienen. Freilich kommt das Pentagramm auf der sogenannten Aristonophosvase aus Caere, welche dem 7. vorchristlichen Jahrhunderte angehören soll, kommen fünf- eckige Ornamente in mykenischen Funden, kommen fünfspeichige Räder auf oberitalienischen Fundstücken vor?), und wieder unter der Annahme richtiger Zeitbestimmung für die Entstehung hätten wir alsdann das Fünfeck als vorpythagoräisch anzuerkennen, und nur die mathematische Betrachtung desselben gehörte der Schule an. Unter allen Umständen ist die seltsame Bedeutung, welche die freilich auch seltsame Figur des Sternfünfecks bei den Pythagoräern besaß, eine Unterstützung der kaum mehr bestrittenen Vermutung, daß das regelmäßige Fünfeck von den Pythagoräern der Beachtung unterzogen, wenn nicht erfunden worden sei. Daß diejenigen, welche dasselbe als Grenzfläche eines Körpers verwerteten, es gekannt haben müssen, bedarf keines Beweises, aber woher sollten sie es entnommen haben? Wir erinnern daran, daß wenigstens unter den Abbildungen aus chaldäischer, wie aus ägyptischer Vorzeit, welche wir vergleichen konnten, ein regelmäßiges Fünf- oder Zehneck, eine Zerlegung der Kreisfläche in Ausschnitte nach irgend einer durch fünf teilbaren An- zahl nicht vorkommt (8.49 und 109). Wir machen ferner darauf aufmerksam°), daß die Einzeichnung des Fünfecks in den Kreis geo- metrisch genau erst dann erfolgen konnte, als der Satz von den Qua- draten der Seiten des rechtwinkligen Dreiecks, als zugleich auch der goldne Schnitt bekannt geworden war. Der goldne Schnitt spielte in der griechischen Baukunst der perikleischen Zeit eine nicht zu verkennende Rolle. Das ästhetisch wirksamste Verhältnis, und das ist das stetige, ist in den athenischen ') Beide Stellen sind vielfach abgedruckt, z. B. bei Bretschneider 8. 85 bis 86. 2) Lindemann |. c. S. 780—733. °) Bretschneider $. 87 hat diese gewiß richtige Bemerkung mutmaßlich zuerst gemacht. Pythagoras und die Pythagoräer. (Geometrie. 179 Bauten aus den Jahren 450—430 aufs schönste verwertet‘). Wir können bei solcher Regelmäßigkeit des Auftretens nicht an ein in- stinktives Zutreffen glauben, am wenigsten, wenn wir des eben be- rührten geistigen Zusammenhangs zwischen goldnem Schnitte, regel- mäßigem Fünfecke und pythagoräischem Lehrsatze gedenken. Bevor wir zu diesem letzteren uns wenden, müssen wir?) noch einem längere Zeit viel verbreiteten Irrtume begegnen. Diogenes Laertius berichtet: „Unter den körperlichen Gebilden, sagen die Pytha- goräer, sei die Kugel, unter den ebenen der Kreis am schönsten“ ?). Man hat daraus entnehmen wollen, Pythagoras oder doch seine Schule hätten auch die Grundlage zu der Lehre von den isoperimetrischen Raumgebilden gelegt. Man ist dabei gewiß von der richtigen Deutung jenes Satzes abgewichen. Es sollte damit ein eigentlicher geome- trischer Lehrsatz überhaupt nicht ausgesprochen werden. Nur die gleichmäßige Rundung erhielt in den gemeldeten Worten das ge- bührende Lob. Den gemeinsamen, für Arıthmetik und Geometrie gleichmäßig bedeutsamen Schlußstein unserer Untersuchungen über Pythagoras und seine Schule bildet nunmehr der nach dem Lehrer selbst be- nannte Satz vom rechtwinkligen Dreiecke. Nicht als ob wir in ihm auch den Schlußstein des von den Pythagoräern aufgeführten mathe- matischen Gebäudes vermuteten. Keineswegs.. Wir haben vielmehr schon gesehen und werden noch weiter sehen, daß unter den schon besprochenen geometrischen Dingen einige nicht gut anders als in- folge des Satzes vom rechtwinkligen Dreieck aufgetreten sein können. Die Beziehung des regelmäßigen Fünfecks zu diesem Satze ist erst erwähnt. Die Elementardreieckchen des Timäus dienen als Beweis, daß die Pythagoräer denjenigen sonderbaren rechtwinkligen Dreiecken ihre Aufmerksamkeit zuwandten, welche in dieser physikalisch-geome- trischen Eigenschaft Verwertung fanden. Das war einmal dasjenige Dreieck, dessen beide Katheten je eine Längeneinheit als Maß be- sitzen, das war zweitens dasjenige, dessen Hypotenuse doppelt so groß ist, als die kleinere Kathete, so daß also 1 und 2 die Maße dieser beiden Seiten bezeichnen. Wir haben uns (8.152) schon darüber ausgesprochen, daß wir für den Satz vom rechtwinkligen Dreieck Pythagoras selbst als den Entdecker betrachten, und uns wesentlich auf den Bericht bezogen, ) Vgl. Zeisings verschiedene Schriften, über welche mit für den mathe- matischen Leser genügender Ausführlichkeit S. Günther in der Zeitschr. Math. Phys. XXI, histor.-literar. Abtlg. S. 157—165 berichtet hat. °) Auch hier rührt die richtige Ansicht von Bretschneider 8. 89—90 her. °) Diogenes Laer- tius VII, 19. 12” 180 7. Kapitel. diejenigen, welche Altertümliches erkunden wollten, führten den Satz auf Pythagoras zurück'). Der in Euklids Elementen vorgetragene Beweis dagegen, derselbe Beweis, der auch heute noch der bekannteste ist, bei welchem die Quadrate über die drei Dreiecksseiten nach außen hin gezeichnet werden und das Quadrat der Hypotenuse durch eine von der Spitze des rechten Dreieckswinkels auf die Hypotenuse gefällte gehörig verlängerte Senkrechte in zwei Rechtecke zerfällt, von denen jedes dem ihm benachbarten Kathetenquadrate flächen- gleich ist, dieser Beweis rührt nach Proklus’ ausdrücklicher Aussage von Euklid selbst her. Daß Plutarch?) den Satz vom rechtwink- ligen Dreieck als Satz des Pythagoras kennt, wissen wir (8. 171). Der Rechenmeister Apollodotus oder Apollodorus, wie Diogenes Laertius denselben nennt), erzählt in Versen von dem Stieropfer, welches Pythagoras gebracht habe, als er den Satz von den Quadraten der Hypotenuse und der Katheten entdeckt hatte. Nicht wenige Schriftsteller sind in ihren Angaben bezüglich des Satzes in einer wesentlichen Beziehung genauer, indem sie den Namen des Pytha- goras mit demjenigen rechtwinkligen Dreiecke in Verbindung bringen, dessen Seiten die Maßzahlen 3, 4, 5 besitzen. Am deutlichsten ist in dieser Beziehung Vitruvius, in dessen im Jahre 14 n. Chr. ver- faßter Architektur ausdrücklich berichtet wird, daß Pythagoras einen rechten Winkel mit Hilfe der drei Längenmaße 3, 4, 5 zu kon- struieren lehrte, und daß eben derselbe erkannte, daß die Quadrate von 3 und von 4 dem von 5 gleich seien*). Eine Plutarchstelle, in welcher dasselbe Dreieck besprochen wird’), ist uns (S. 157) schon vorgekommen. Dasselbe Dreieck spielt in Platons Staate eine Rolle. Und wenn wir auf ganz späte Zeiten zu dem Zwecke herabgehen . dürfen, um mindestens zu zeigen, daß die Überlieferung der Über- lieferung sich erhalten hat, so möchten wir als letzten Gewährsmann einen Glossator vom Anfange des XII. S. nennen, der vom pythago- räischen Dreiecke redend das mit den Seiten 3, 4, 5 unter diesem Namen versteht®). Wir glauben nun, daß die Wahrheit, welche jener Überlieferung zugrunde liegt, darin besteht, daß Pythagoras an dem Dreiecke 3, 4,5 seinen Satz kennen lernte. „Schwerlich leitete den Pythagoras das nach ihm benannte geometrische Theorem auf seine arithmetischen Sätze, sondern umgekehrt mögen ihn die Beispiele zweier Quadrat- ı) Proklus (ed. Friedlein) 426. ?°) Plutarchus, Convivium VII, 4. ®) Diogenes Laertius VII, 12. *) Vitruvius IX, 2. °) Plutarchus, De Iside et Osiride 56. °) Cantor, Die römischen Agrimensoren und ihre Stellung in’ der Geschichte der Feldmeßkunst. Leipzig 1875, S. 156 und Note 288. Wir verweisen künftig auf dieses Buch unter dem Titel „Agrimensoren“. Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie. 181 zahlen, deren Summe wieder eine Quadratzahl ist, auf die Relation zwischen den Quadraten der Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks auf- merksam gemacht haben“!). So drückte sich ein deutscher Gelehrter bereits 1833 aus, welcher aber keineswegs zuerst diese, wie wir glauben, richtige Anschauung von dem Entwicklungsgange sich an- eignete. Die gleiche Ansicht ist schon in der Euklidausgabe des Clavias (1574) ausgesprochen mit dem Zusatze, es sei dieses die Meinung verschiedener?). Pythagoras bemerkte, meinen wir, daß von aufeinanderfolgenden Quadratzahlen ausschließlich 9 + 16 = 25 (8. 170). Als er diese unter allen Umständen interessante Bemerkung machte, kannte er bereits, gleichviel aus welcher Quelle, die Er- fahrungstatsache, daß ein rechter Winkel durch Annahme der Maß- zahlen 3, 4, 5 für die Längen der beiden Schenkel und für die Ent- fernung der Endpunkte derselben konstruiert werde. Wir haben (8. 105) darauf hingewiesen, daß die Ägypter, (8.49) daß die Baby- lonier vielleicht die gleiche Kenntnis besaßen, daß die Chinesen ihrer sicherlich teilhaftig waren. Ein chinesischer Schriftsteller hat näm- lich gesagt: „Zerlegt man einen rechten Winkel in seine Bestandteile, so ist eine die Endpunkte seiner Schenkel verbindende Linie 5, wenn die Grundlinie 3 und die Höhe 4 ist“®). Die geometrische und die arithmetische Wahrheit vereinigten sich nun in dem Bewußtsein des Pythagoras zu einem gemeinschaftlichen Satze. Der Wunsch lag nahe zu prüfen, ob auch bei anderen rechtwinkligen Dreiecken die Maße der Seiten zu Quadratzahlen erhöht das gleiche Verhalten bieten. Die einfachste Voraussetzung war die des gleichschenklig rechtwinkligen Dreiecks, wo Höhe und Grundlinie gleich der Längen- einheit waren. Die Hypotenuse wurde gemessen. Sie war größer als eine, kleiner als zwei Längeneinheiten. Die mannigfaltigsten Ver- suche mögen darauf angestellt, andere und andere Zahlenwerte für die gleichen Katheten eingesetzt worden sein, um eine Zahl für die Hypotenuse zu erhalten. Vergebens. Man erhielt wahrscheinlich Zahlen, die dem gesuchten Maße der Hypotenuse nahe kamen, Nähe- rungswerte von Y2 würden wir heute sagen, aber es war noch ein Riesenschritt, von der Fruchtlosigkeit der angestellten Versuche auf die aller Versuche überhaupt zu schließen, und diesen Schritt vollzog Pythagoras. Er fand, daß die Hypotenuse des gleichschenkligen rechtwinkligen ) So Jul. Fr. Wurm schon 1833 in Jahns Jahrbüchern IX, 62. Meine denselben Grundgedanken einzeln durchführende Darstellung in den Math. Beitr. Kulturl. ist 1863 entstanden, ohne daß ich Wurms Aufsatz oder die Stelle bei Clavius kannte. ?) ut nonnulli volunt. °) Vgl. Biernatzki, Die Arithmetik der Chinesen in Crelles Journal. Bd. 52. 182 7. Kapitel. Dreiecks mit meßbaren Katheten selbst unmeßbar sei, daß sie durch keine Zahl benennbar, durch keine aussprechbar seit); er ent- deckte das Irrationale, worauf das alte Mathematikerverzeichnis ein so sehr berechtigtes Gewicht legt. Er entdeckte es gerade an der Hypotenuse des gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks, wie aus mehr als nur einem Umstande wahrscheinlich gemacht werden kann. So erzählt uns Platon, der Pythagoräer Theodorus von Kyrene, der ihn selbst in der Mathematik unterrichtet hatte, habe bewiesen, daß die Quadratwurzel aus 3, aus 5 und anderen Zahlen bis zu 17 irrational sei?.. Von der Irrationalität der Quadratwurzel aus 2 ist dabei keine Rede; diese muß also vorher bekannt gewesen sein. Aristoteles weiß dagegen an vielen Stellen von der Irrationalität der Diagonale des Quadrates von der Seite 1 zu reden, und sagt einmal geradezu, der Grund dieser Irrationalität liege darin, weil sonst Ge- rades und Ungerades gleich sein müßte?). Den Sinn dieser Worte er- läutert aber Euklid. Er gibt nämlich folgenden Beweis, den wir nur so weit abgeändert haben, daß wir Euklids Worte in moderne Zeichen- sprache umsetzten‘). Es sei AI’ zu AB (Fig. 27) kommensurabel y g und verhalte sich in kleinsten Zahlen wie « zu ß; folglich muß wegen AI'>AB auch «>Pß und sicherlich >1 sein. Weiter folgt AI”: AB? = a?:ß- und wegen AI?=2AB? auch «a? = 2ß?, folglich «? und mit dieser Zahl zugleich auch « eine gerade d r Zahl. Die zu « teilerfremde 8 muß daher ungerade due "sein. Die gerade « sei = 2y, so folgt «@ =4y?. Es war @ = 2ß?, mithin ist 2? = 4y?, = 2y” gerad und auch ß ge- rad, was mit dem eben bewiesenen Gegenteil einen Widerspruch bildet, der zur Aufhebung der Annahme führt, als könne die Diago- nale mit der Quadratseite in einem rationalen Zahlenverhältnisse stehen. Man sieht, das muß der Beweis gewesen sein, an welchen Aristoteles bei seiner Äußerung dachte. Es ist also ein Beweis, dessen Alter- tum über Aristoteles hinaufreicht, und der, nach der kurzen Weise, in welcher dieser ihn andeutet, zu schließen, den Lesern des Aristoteles zur Genüge bekannt sein mußte. Wir gehen deshalb vielleicht nicht zu weit, wenn wir gerade diesen Beweis als einen hergebrachten an- sehen, als denjenigen, der in der alten pythagoräischen Schule ge- führt wurde, mag ihn Pythagoras selbst oder einer seiner unmittel- baren Schüler und Nachfolger ersonnen haben. I) öntöv und &Aoyov sind die griechischen Namen für Rationalzahl und 'Irrationalzahl; &40oyo» heißt sowohl ohne Verhältnis als ohne Wort d. h. nicht aussprechbar. ?) Platon, Theaetet 147, D. °) Aristoteles, Analytica prot. I, 23, 11. *) Euklid X, 117. Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie. 183 War in der Tat die Diagonale ‚des Quadrates als irrational, die Diagonale des Rechteckes mit den um eine Längeneinheit ver- schiedenen Seiten 3 und 4 als rational, nämlich mit der Länge 5, bekannt, dann war es möglich, daß man auch Quadrat und Hete- romekie als diejenigen Gegensätze in die pythagoräische Kategorien- tafel, welche uns durch Aristoteles bekannt geworden ist, aufnahm, die den sonst dort fehlenden Gegensatz des Rationalen und Irrationalen ersetzen sollten‘). Wir haben eine solche von der unsrigen zunächst abweichende Erklärung angekündigt (8. 160) und nicht ganz von der Hand gewiesen. Allein sie vollkommen uns anzueignen, auch in der Verbindung mit unserer eigenen Vermutung, die wir dort als notwendig betonten, vermögen wir trotz eines unterstützenden Grundes, auf welchen wir im 11. Kapitel zu reden kommen, doch nicht. Es könnte nämlich gerade das Fehlen des Gegensatzes des Rationalen und des Irrationalen in der Kategorientafel als bezeichnend betrachtet werden müssen. Nach einem alten Scholion zum X. Buche der euklidischen Ele- mente, welches man in neuerer Zeit dem Proklus zuzuschreiben pflegt?), dürfte diese Annahme eine nicht ungerechtfertigte sein. „Man sagt, daß derjenige, welcher zuerst die Betrachtung des Irra- tionalen aus dem Verborgenen in die Öffentlichkeit brachte, durch einen Schiffbruch umgekommen sei, und zwar weil das Unaussprech- liche und Bildlose immer verborgen werden sollte, und daß der, welcher von ungefähr dieses Bild des Lebens berührte und aufdeckte, an den Ort der Entstehung?) versetzt und dort von ewigen Fluten umspült wurde. Solche Ehrfurcht hatten diese Männer vor der Theorie des Irrationalen.“ Das Mystische dieser Erklärungen stimmt allerdings durchaus zu den übrigen philosophischen Floskeln des Proklus und sie sind offen- bar pythagoräischer Überlieferung entnommen. Mystisch war, das ist wieder einer der allseitig anerkannten Punkte, der ganze Pytha- goräismus, und wir dürfen vielleicht hier als an dem geeignetsten Orte darauf hinweisen, daß Philolaus schon die Winkel von ") So die Meinung Hankels $. 110, Anmerkung. ?) Knoche, Unter- suchungen über die neu aufgefundenen Scholien des Proklus Diadochus zu Euklids Elementen. Herford 1865, 8. 17—28, besonders S. 23. Nr Dia Hohlfeld machte uns brieflich aufmerksam, die griechische Stelle heiße eis tov vis yevkoeng r6rov — an den Ort der Entstehung, womit die Übersetzung des Commandinus in generationis hoc est profundi locum übereinstimme; wenn Hankel übersetze „in den Ort der Mütter“, so beruhe dieses wahrschein- lich auf unbewußter Erinnerung an eine bekannte Stelle in Goethes Faust, zweiter Teil. 184 7. Kapitel. Figuren bestimmten Göttern weihte'), daß Platon umgekehrt die Gottheit immer geometrisch zu Werke gehen ließ?). War einmal die Irrationalität als solche, und zwar an der Dia- gonale des Quadrates erkannt, war man sich bewußt geworden, daß die Diagonale des Rechtecks von den Seiten 3 und 4 genau in 5 Einheiten sich darstellte, die des BRechtecks von gleichen Seiten aber nicht angebbar war, welche Länge man auch den beiden Seiten beilegte, so mußte man wohl auch andere Rechtecke prüfen, z. B. von der Voraussetzung ausgehen, daß die Diagonale zur einen Seite im einfachsten Zahlenverhältnisse von 2 zu 1 stehe, und nun die andere Rechtecksseite zu messen suchen. Wir sehen hier das zweite Elementardreieckchen vor uns, dessen Benutzung neben dem gleich- schenkligen rechtwinkligen Dreiecke zur Flächenbildung wir aus Platons Timäus kennen, und dessen somit nachgewiesener pytha- goräischer Ursprung den hier ausgesprochenen Vermutungen eine immer breitere Grundlage gewähren dürfte. Wieder weiterschließend war die Untersuchung an einem Punkte angelangt, wo der Weg sich spaltet. Man konnte, wo die Zahl ihren Dienst versagte, geometrische Beweise für den Satz von den Quadraten über den Seiten rechtwinkliger Dreiecke suchen. Man konnte solche Zahlen suchen, die als Seiten rechtwinkliger Dreiecke auftreten konnten. Man schlug beide Wege ein. Hier ist vielleicht der geeignete Ort, auf die Bedeutung des Wortes Hypotenuse (Örorslvovo«) einzugehen?). Man hat xoodi, die Saite, als zu ergänzendes Hauptwort vermutet, also die von unten nach oben gespannte Saite. Die Meinung ist durch ägyptische Ab- bildungen von Harfen dreieckiger Gestalt gestützt. Ob der der Hypo- tenuse gegenüberliegende Winkel ein rechter ist oder nicht, darauf kommt es nicht an. Musikalische Versuche werden Pythagoras ohne- hin nacherzählt, und mit diesen in Verbindung könnte die Beachtung der dreieckigen Harfe an Wahrscheinlichkeit gewinnen. Wir haben oben gesagt, daß der heute gebräuchlichste Beweis des pythagoräischen Lehrsatzes von Euklid herrühre. Der in der pytha- goräischen Schule selbst geführte muß von diesem verschieden ge- !) Böckh, Philolaus S. 155. Chaignet I, 245—247. ?°) Plutarchus, Convivia VII, 2 IIös IDarov ELeye öv Ocbv dei ysousrgsiv. Die Stelle bei Platon selbst ist nicht bekannt. Wenn Vossius in seiner Geschichte der Mathe- matik dafür auf den Dialog ‚„Philebus‘“ verweist, so dürfte dieses Zitat auf einem Irrtum beruhen; sagt doch schon Plutarch an der angegebenen Stelle ausdrück- lich, jener Ausspruch finde sich nicht in Platons Schriften, könne aber ganz wohl platonisch sein. °) Max €. P. Schmidt, Philologische Beiträge, zweites Heft. Terminologische Studien. "Trorsivovo« pag. 9—45 (Leipzig 1905). Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie. 185 wesen sein. Er dürfte seiner Altertümlichkeit entsprechend viele Unterfälle unterschieden haben und gerade vermöge dieser Weitläufig- keit aufs gründlichste beseitigt worden sein, wie wir daraus schließen dürfen, daß Proklus auch mit keiner Silbe des Ganges des voreukli- dischen Beweises gedenkt. Waren Unterfälle unterschieden, so ist die Wahrscheinlichkeit vorhanden, die Beweisführung sei von dem gleichschenkligen rechtwinkligen Drei- ERDE ecke ausgegangen!) und habe die Zerlegung des Quadrates durch seine Diagonalen (Fig. 28) zur Grundlage gehabt?), wenigstens hat sich in Platons Be Menon dieser Beweis des Sonderfalles erhalten. Wie der weitere Fortschritt zum Beweise des all- gemeinen Satzes vollzogen wurde, darüber ist man ch ehe in keiner Art unterrichtet. Die verschiedenen Wiederherstellungs- versuche, so geistreich manche derselben sind, schweben alle so ziemlich in der Luft?). Die arithmetische Aufgabe Zahlen zu finden, welche als Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks gezeichnet werden können, löste Pythagoras gleichfalls, und hier sind wir in der günstigen Lage, daß Proklus uns seine Auflösungsmethode aufbe- wahrt hat*). Er sei von irgend einer ungeraden Zahl 2« +1 aus- gegangen, welche er als kleinere Kathete betrachtete. Die Hälfte des um 1 verminderten Quadrates derselben gab die größere Kathete 20?” + 2«, diese wieder um 1 vermehrt die Hypotenuse 2? +2« +1. Wie kam Pythagoras zu dieser Auflösung? Ein möglicher Weg ist folgender, welchen wir nur wenig gegen die Art, wie er zuerst ver- mutungsweise geschildert worden ist’), verändert der Prüfung unter- breiten. It =’ +c, oo it @=a®—b=l(a+b) (a—b). Die Aufgabe der erstgeschriebenen Gleichung zu genügen läßt sich also erfüllen, wenn nur «+ b und «— b beide gerad oder beide ungerad und zudem solche Zahlen sind, welche miteinander vervielfacht eine Quadratzahl liefern. Solche Zahlen kannte höchstwahrscheinlich be- reits die vorplatonische Zeit, da sie unter dem Namen ähnlicher Zahlen bei Theon von Smyrna erklärt sind®). Die andere von uns ı) Hankel 8.98. 2°) Allman lc. 8.29. °) Vgl. Camerers Euklid- ausgabe I, 444 mit Bretschneider 82, sowie Zeuthen, Geschichte der Mathe- matik in Altertum und Mittelalter (Kopenhagen 1896) 8.50, wo die Meinung ausgesprochen ist, der alte Beweis sei mittels Ähnlichkeit von Dreiecken, also unter Ziehung der Senkrechten von der Spitze des rechten Winkels auf die Hypotenuse geführt worden. *) Proklus (ed. Friedlein) 428. °) Röth, Ge- schichte der abendländischen Philosophie II, 527. ° Theon Smyrnaeus (ed. Hiller) 36. - 186 7. Kapitel. hervorgehobene Bedingung beruht darauf, daß «a und b ganzzahlig zu erhalten nur dann möglich ist, wenn Summe und Differenz von a+b und a—b beide gerad sind. Der einfachste Fall ähnlicher Zahlen ist nun selbstverständlich der der Einheit und einer Quadratzahl c?, und weil 1 ungerad ist, muß hier auch c? und somit c selbst un- gerad sein, etwa c=2«+1. So kam die Formel des Pythagoras darauf hinaus (2« +1)” =(2« + 1)’.1 zu setzen, und danach aus (2« +1)? =a+b und 1-a—b die Werte b- FF! und ße + 19’—1 , >) die gestellte Aufgabe lösen. Die Formen, in welchen b und a auf- treten, entsprechen, wie man sofort erkennt, genau dem Wortlaute der Angabe des Proklus, was immer ein günstiges Vorurteil für die Richtigkeit eines Wiederherstellungsversuches gewährt, und da über- dies in Ägypten, wie wir aus dem Übungsbuche des Ahmes wissen, Aufgaben von algebraischer Natur zu lösen nicht ungebräuchlich war, so scheitert der Versuch auch nicht an der Frage, ob es für Pytha- goras möglich gewesen sei, schon derartige Schlüsse zu ziehen, wie sie hier verlangt wurden. Fassen wir den Inhalt dieses und des zunächst vorhergehenden Kapitels in Kürze zusammen. Pythagoras hat, so suchten wir zu erweisen, sicherlich in Ägypten, vielleicht in den Euphratländern mathematisches Wissen sich angeeignet. Ersteres geht wie aus den ausdrücklichen Überlieferungen, so auch aus dem ägyptischen Gepräge mancher geometrischer Entwicklungen, letzteres aus den babylonisch anmutenden Zahlendifteleien der Pythagoräer hervor. Die Summe des geometrischen Wissens, welches von Pythagoras und seiner Schule den Griechen vor dem Jahre 400 zugänglich gemacht wurde, ist eine nicht ganz geringfügige. Sie umfaßte die Kenntnis von den Parallel- linien und den durch dieselben beweisbaren Winkelsätzen, insbesondere den Satz von der Summe der Dreieckswinkel. Sie umfaßte Kon- gruenzsätze des Dreiecks und Sätze über Flächengleichheit, deren Anwendung die sogenannte Anlegung von Flächen bildete. Sie ließ umgekehrt Figuren als Summe anderer Figuren entstehen, wobei vielleicht das Sternfünfeck entdeckt wurde, wenn wir auch für dieses nicht mit gleicher Sicherheit wie für die anderen Dinge die alten Pythagoräer als Urheber behaupten möchten. Sie umfaßte den pytha- goräischen Lehrsatz und den goldnen Schnitt. Sie enthielt endlich auch Anfänge einer Stereometrie, insbesondere die Kenntnis der fünf regelmäßigen Körper und der Kugel, welche dieselben umfaßt. Die Sätze waren mit Beweisen versehen. Allerdings ließen die Beweise vermutlich nicht gleich die Strenge erkennen, welche man geradezu a + 1 zu ermitteln, welche zusammen mitc=2«-+1 RRRENTORER Pythagoras und die Pythagoräer. Geometrie. 187 geometrische Strenge zu nennen pflegt, und legten erst nach und nach den Charakter eines Erfahrungsbeweises ab, nahmen noch später jene allgemeineren Fassungen an, welche in einheitlicher Betrachtung die Notwendigkeit der Unterscheidung von Sonderfällen verbannt. Noch unvergleichbar mehr leistete die pythagoräische Schule in der Arithmetik, gerade durch die Größe der Leistungen die Wahrschein- lichkeit fremden Ursprunges auch für diesen Zweig griechischer Mathematik bezeugend. Arithmetische, geometrische, harmonische Verhältnisse und Reihen, unter den arithmetischen Reihen auch solche, welche die Sprache heutiger Wissenschaft arithmetische Reihen höherer Ordnung nennt, sind Dinge, die man am Anfange einer Entwicklung nicht zu finden erwarten darf, noch weniger die freilich auch weniger gut beglaubigten befreundeten und vollkommenen Zahlen. Die Überlieferung läßt wirklich einige dieser Gegenstände aus Babylon eingeführt sein. Fremdländisch war vielleicht auch die Methode des mathematischen Experimentes d. h. der Zerlegung von Figuren in andersgestaltete, der Vereinigung von Reihengliedern derselben oder verschiedener Reihen zu Summen, zunächst nur in der unbestimmten Absicht zu versuchen, ob dabei etwas geometrisch, etwas arithmetisch Merkwürdiges sich offenbaren möchte. Für grie- chisch dagegen hielten wir die eigentümliche Verquickung von Geo- metrie und Arithmetik, die geometrische Versinnlichung der Zahlen- lehre, wie sie in der Ebenen- und Körperzahl, in der Dreiecks- und Quadratzahl, in der Vielecks- und Gnomonzahl zutage tritt. Pytha- goräisch war nach unserer durch mannigfache Überlieferung gestützten Darstellung die Erfindung des Satzes von den Quadraten der Seiten des rechtwinkligen Dreiecks als eines arıthmetischen ausgehend von dem bestimmten Zahlenbeispiele 3? + 4? — 52. Pythagoräisch war endlich eine Regel zur Ermittelung anderer Zahlen als 3, 4, 5, welche als Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks dienen können, pythagoräisch die Lehre vom Irrationalen. Vom Irrationalen sagen wir und müssen wir sagen, nicht von der Irrationalzahl, denn das Irrationale war den Griechen keine Zahl. War den Pythagoräern doch sogar die Einheit noch keine Zahl, sondern erst eine Vielheit von Einheiten. Brüche mögen dem Rechner vorgekommen sein, sei es als wirkliche Brüche mit Zähler und Nenner, sei es als Unterabteilungen von Münzen, von Gewichten, von Feldmaßen, jedenfalls immer als konkrete Brüche. Der abstrakte Bruch war für den Arithmetiker nicht vorhanden. Er kannte Brüche nur mittelbar als Verhältnis zweier Zahlen. Um so weniger konnte ihm das Irrationale eine Zahl sein, welchem nicht einmal ein aussprechbares Verhältnis den Eintritt in die Zahlenreihe gestattete. Diese wichtige Beschränkung des Begriffes der Zahl er- 188 8. Kapitel. hielt sich über die Zeit der Pythagoräer weit hinaus. Sie blieb, was den Ausschluß der Irrationalen betrifft, so lange, als überhaupt von griechischer Arithmetik die Rede ist. 8. Kapitel. Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Schule. Die Mathematik nahm, wie wir weitläufig gesehen haben, einen mächtigen Aufschwung durch die pythagoräische Schule. Es war wohl eng damit verbunden, sei es als Ursache, sei es als Folge, daß, wie uns berichtet wird, die Mathematik den Pythagoräern als erstes und wichtigstes Lehrelement diente!). Damit ist aber nicht aus- geschlossen, daß auch andere Schriftsteller sich noch verdient machten. Hören wir, wie das alte Mathematikerverzeichnis fortfährt: „Nach ihm (dem Pythagoras) lieferte der Klazomenier Anaxagoras vieles über Geometrie, ingleichen Oinopides von Chios, der etwas jünger ist als Anaxagoras. Beider gedenkt Platon in den Neben- buhlern als berühmter Geometer.“ -Anaxagoras von Klazomene?) wurde vermutlich 500 geboren und starb 72 Jahre alt 428. Er gehörte einem vornehmen und reichen Hause an, achtete aber aus Liebe zur Wissenschaft weder auf die Verwaltung seines Vermögens, noch auf eine ihm leicht erring- bare politische Stellung. Seinen verwahrlosten Besitz soll er schließ- lich seinen Angehörigen überlassen, die Nichteinmengung in staat- liche Verhältnisse aber damit erklärt haben, daß ihm der Himmel Vaterland und die Beobachtung der Gestirne seine Bestimmung sei. Um 464 etwa dürfte er nach Athen gekommen sein, wenn anders der Bericht der Wahrheit entspricht, daß sein dortiger Aufenthalt 30 Jahre gedauert habe. Er verließ nämlich diese Stadt um 434, wenige Jahre vor dem Beginne des peloponnesischen Krieges. Anaxa- goras lehrte in Athen als einer der ersten Philosophie, und unter seinen Schülern waren zwei Männer von verschieden begründetem, aber gleich hohem Ruhme: Euripides und Perikles. Perikles insbe- sondere blieb zu seinem Lehrer in fortwährend freundschaftlichem Verhältnisse, und als in der angegebenen Epoche, wenige Jahre vor 431, die Gegner des großen athenischen Staatsmannes ihrer Feind- schaft gegen ihn in Gestalt von Verfolgung seiner Freunde Luft zu machen begannen, war gerade Anaxagoras eine zur Eröffnung des ') Porphyrius, De vita Pythagor. 47. Jamblichus, De phrlosophia Pythagor. lib. II, abgedruckt bei Ansse de Villoison, Anecdota Graeca. Venedig 1781, pag. 216. ?) Schaubach, Fragmenta Anawagorae. Leipzig 1827. Zeller ], 783—791. Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Schule. 189 Angriffes geeignete Persönlichkeit. Lehren eines Philosophen zu ver- dächtigen, eines Denkers, welchen nicht jeder aus dem großen Haufen versteht, ist bei einigem guten Willen niemals unmöglich, und das mußte Anaxagoras erfahren. Er wurde ins Gefängnis gebracht und entkam diesem, sowie der Stadt Athen, man weiß nicht genau wie. Die einen beriehten von Flucht aus dem Gefängnisse, die anderen von Verbannung, die dritten von Freisprechung und darauf folgendem nichterzwungenem Verlassen der ihm zuwider gewordenen Stadt. Sicher ist, daß Anaxagoras die letzte Zeit seines Lebens in Lampsa- kus zubrachte. Wir haben über den eigenen Bildungsgang des Anaxagoras nichts gesagt. Die Nachrichten aus dem Altertume schweigen entweder über einen Lehrer, dem er gefolgt wäre, oder sie nennen ihn Schüler des Anaximenes. Wieder andere wissen von einer Studienreise nach Ägypten zu erzählen. Die erstere Angabe läßt sich mit dem gemeiniglich auf 499 angesetzten Todesjahr des Anaximenes nicht vereinigen. Die zweite ist an sich nicht unwahr- scheinlich, da, wie wir bei Thales und Pythagoras gezeigt haben, ein Handelsverkehr zwischen den ionischen Städten und Ägypten statt- fand und selbst Studienreisen wohl beglaubigt sind. Von dem, was Anaxagoras als Mathematiker leistete, sind wir so ziemlich, davon, wie er es leistete, gar nicht unterrichtet. Daß es etwas Hervorragendes gewesen sein muß, läßt sich zum voraus er- warten. Da in den Nebenbuhlern, einem Gespräche in Platons Art, wenn auch nach heutiger Annahme nicht von Platon verfaßt, ein Streit über astronomische und mathematische Dinge kurzweg als Streit über Anaxagoras oder über Oinopides bezeichnet wird!), so geht schon aus dieser Redeweise hervor, daß zur Zeit, als jenes Gespräch ent- stand, beide hochberühmt in ihrem Fache waren. Plutarch erzählt, Anaxagoras habe im Gefängnisse, das wäre also um 434, die Quadratur des Kreises gezeichnet’). So fraglich dieser Bericht früher erscheinen mochte, jetzt ist er sehr glaubwürdig geworden, nachdem wir wissen, daß die Ägypter mehr als ein Jahrtausend vor Anaxagoras die Quadratur des Kreises zeich- neten, d. h. eine Figur konstruierten, welche als Quadrat die Fläche des Kreises mehr oder weniger genau darstellte. Daß Anaxagoras der mangelnden Genauigkeit sich voll bewußt gewesen sein sollte, ist nicht anzunehmen. Er wird wohl, wie viele nach ihm, die volle Quadratur zu erreichen gesucht haben. Aber auch darin liegt ein Verdienst, eine Aufgabe an die Tagesordnung gebracht zu haben, welche später als fruchtbringend sich erwies. ı) Platon, Rivales 132 A. °) Plutarchus, De exilio cap. 17 dA’ "Ava- Eayögos usv Ev to Ösoumrnolw roV Tod AbnAov rergaymrıoudv Eyganbe. 190 | 8. Kapitel. Ein anderes Verdienst schreibt Vitruvius dem Anaxagoras zu. Als Aeschylus in Athen Dramen aufführen ließ, also um etwa 470, habe ein gewisser Agatharchus die Schaubühne hergerichtet und eine Abhandlung darüber geschrieben. Daraus haben sodann Anaxa- goras und Demokrit Veranlassung genommen den gleichen Gegen- stand zu erörtern, wie man die gezogenen Linien den aus den Augen kommenden Sehstrahlen bei Annahme eines bestimmten Mittelpunktes entsprechend ziehe, so daß z. B. Gebäude auf Dekorationen dar- gestellt werden konnten, und was in einer Ebene gezeichnet war bald zurückzutreten, bald vorzurücken schien!). Das ist wenn auch in ungenügender so doch in nicht mißzuverstehender Weise beschrieben eine Perspektive. Deren Erfindung oder Ausbildung ist sicherlich nicht ohne Bedeutung, namentlich wenn die Reise des Anaxagoras nach Ägypten als wahr gelten darf, da er dort sein Auge nur an unperspektivisch entworfene Gemälde zu gewöhnen imstande war, und die gewohnte Darstellung ihn ebensowenig gehindert haben wird als Tausende, die vor ihm, die nach ihm bewundernd die bemalten Tempelwände anstaunten. Der andere durch die erwähnte Stelle in den Nebenbuhlern als allbekannt erwiesene Geometer war Oinopides von Chios. Er sei etwas jünger als Anaxagoras, meldet das uns in jeder Beziehung glaubwürdige Mathematikerverzeichnis. Eine annähernde Gleichaltrig- keit beider bestätigt Diogenes Laertius?). Oinopides soll gleichfalls in Ägypten gewesen sein. Gekommen sei zu ihnen ingleichen Demo- kritos von Abdera und Oinopides von Chios®), meldet Diodor an einer früher (8. 151) von uns angeführten Stelle. Geometrisches wissen wir von Öinopides nur, was Proklus in seinem Kommentare zum ersten Buche der euklidischen Elemente ihm zuschreibt*), daß er nämlich die beiden Aufgaben gelöst habe’), von einem Punkte außerhalb einer unbegrenzten Geraden ein Lot auf letztere zu fällen und an einem in einer Geraden gegebenen Punkte einen Winkel anzulegen, der einem gegebenen Winkel gleich sei. Bei ersterer Aufgabe bedient sich Oinopides des „altertümlichen“ Wortes (5. 161) einer nach dem Gnomon gerichteten Linie Aus dem un- gemein elementaren Gegenstande der ihm zugeschriebenen Aufgaben einen Schluß auf die Verdienste des Oinopides ziehen zu wollen, hieße seinen griechischen Verehrern jede Urteilsfähigkeit absprechen. Er muß noch Anderes und Bedeutenderes geleistet haben, was wir !) Vitruvius VI, praefat. 11. ?) Diogenes Laertius IX, 37 und 41. ») Diodor I, 96. *) Proklus (ed. Friedlein) 283 und 333. °) Euklid I, 12 und 23. Mathematiker außerhalb der pytbagoräischen Schule. 191 aber nicht kennen. Seine Beziehung zu den beiden Aufgaben des Lotes und der Winkelanlegung ist gewiß dahin richtig gedeutet worden‘), Proklus wolle nur sagen, die bei Euklid gelehrten Auf- lösungen rührten von Oinopides her, während andere Auflösungen derselben dem Praktiker auf Weg und Steg vorkommenden Aufgaben längst vorher in Ägypten wie in Griechenland bekannt gewesen sein müssen. Im Zusammenhang mit beiden Geometern, mit Anaxagoras wie mit Oinopides, haben wir einen dritten genannt: Demokritus. Ab- dera, jenes thrakische Krähwinkel des Altertums, von dessen Be- wohnern die schnurrigsten Geschichten erzählt werden, war die Heimat des Demokritus, dessen Ruhm, so bedeutend er war, nicht hinreichte, das Abderitentum in Schutz zu nehmen. Nach eigener Aussage 40 Jahre jünger als Anaxagoras?) muß er um 460 geboren sein. Nach;,Diodor sei er dagegen im 1. Jahre der 94. Olympiade, das ist 404 auf 403, im Alter von 90 Jahren gestorben”), was einen unlös- baren Widerspruch herstellt. Beglaubigt ist, daß Demokritus ein hohes Alter von mindestens 90 Jahren erreichte; manche Berichte lassen ihn sein Leben sogar auf 100, auf mehr als 100, auf 109 Jahre ‚ bringent). Vereinigen wir seine Geburtsangabe als mutmaßlich glaub- würdigste mit dieser Lebensdauer, so wird der Irrtum keinesfalls sehr groß sein, wenn man sein Leben etwa von 460370 ansetzt, den Mittelpunkt seiner Tätigkeit in die Jahre 420—400 verlegt. Demo- kritus gehörte, wie aus der Diodorstelle hervorgeht, zu den Fremden, deren Namen in den Matrikellisten der ägyptischen Priester aufge- führt wurden. Nach einem weiteren Berichte des Diodor verweilte er fünf Jahre in Ägypten®), und wenn in einem bei Clemens von Alexandria erhaltenen Bruchstücke des Demokrit selbst von 80jäh- rıgem Aufenthalte die Rede ist‘), so dürfte die Erklärung stichhaltig sein, hier habe einfach eine Verwechslung der älteren Zahlbezeich- nung JII/=5 mit der jüngeren x’ = 50 stattgefunden. Auch Vorder- asien und Persien bereiste Demokrit, wie allgemein berichtet und geglaubt wird”). Wir glauben diesen Umstand betonen zu sollen, da er je nach den persönlichen Ansichten des einen oder des andern entweder dazu führen kann ähnlichen Reisen, welche Pythagoras etwa 100 Jahre früher unternommen haben soll, einen gewissen Wahr- scheinlichkeitshalt zu gewähren, oder eine Erklärung uns darbietet, auf welche Weise ungefähr durch andere Reisende schon im V. 8. ') Bretschneider 8.65. 2?) Diogenes Laertius IX, 41. °) Diodor XIV, 11. #) Vgl. Zeller I, 686, 5) Diodor I, 98. °) Clemens Alexandr. Stromata I, 304A. ?) Zeller I, 688. 192 8. Kapitel. vorchristlicher Zeitrechnung babylonische Lehren in das fast vollendete Gebäude pythagoräischer Schulweisheit Eingang finden konnten. In Erinnerung an seinen ägyptischen Aufenthalt gebrauchte Demokrit das stolze Wort: „Im Konstruieren von Linien nach Maß- gabe der aus den Voraussetzungen zu ziehenden Schlüsse hat mich keiner je übertroffen, selbst nicht die sogenannten Harpedonapten der Ägypter“, dessen wir (8.104) gedachten, als von jenen Seilspannern die Rede war. Auch Cicero rühmt Demokrit als gelehrten, in der Geometrie vollkommenen Mann'). Mathematische Schriften des Demo- krit nennt uns Diogenes Laertius?), doch ist es leider nicht möglich, aus diesen Büchertiteln mehr als nur allgemeinste Kenntnis ihres Inhalts, und das nicht immer, zu gewinnen. Über Geometrie; Zahlen, das sind Titel allgemeinster Art, und ob wir unter der Geometrie etwa Feldmessung in unmittelbarer Beziehung zur Tätigkeit jener Harpedonapten zu verstehen haben, wagen wir kaum in Gestalt einer Frage zu äußern. Was mag aber der Titel zzgl dıapoong Yvouovog 7 megl bavoıog AUrlov xal opalong (wörtlich: über den Unterschied des Gnomon oder über die Berührung des Kreises und der Kugel) bedeuten? Als mögliche Erklärung ist vorgeschlagen worden ®), Demo- krit habe einen rechten Winkel so mit dem Kreise beziehungsweise der Kugel in Verbindung gesetzt, daß der eine Schenkel durch den Mittelpunkt ging, die Spitze des Winkels auf die Kreislinie (Kugel- oberfläche) fiel, weil alsdann der andere Schenkel zur Berührungs- linie wurde. Besser sagt uns die Erklärung zu*), welche auf ältere Handschriften des Diogenes Laertius zurückgreifend den Titel xeoi dıepoois yvaung x. t. 4. liest, d. h. über einen Meinungsunterschied oder über die Berührung des Kreises und der Kugel. Der Meinungs- unterschied beziehe sich auf den Winkel, welchen die Berührungs- linie mit dem Kreise bilde, einen Winkel, von welchem, wie wir im 12. Kapitel sehen werden, Euklid im IlI. Buche seiner Elemente handelte, und bestehe in der Größenvergleichung dieses Winkels mit geradlinigen Winkeln. Ein weiterer durch Diogenes Laertius über- lieferter Titel ist: zeol dAdyov yocuußv zul veoröv P' (zwei Bücher von irrationalen Linien und den dichten Dingen)?°’). Auch dafür ist eine Erklärung versucht worden®). Der Titel sei nämlich verderbt aus zegi AAOyov yocuußv xAcorov d. h. über irrationale gebrochene ') Cicero, De finibus bonorum et malorum I, 6, 20. ®) Diogenes Laer- tius IX, 47. ®) Allman, Greek geometry from Thales to Euclid, pag. 80. *, Briefliche Mitteilung von T.L. Heath. °) Daß yoruuel &Aoyaı nicht Asymp- toten bedeuten kann, wie in einer sonst brauchbaren Programmabhandlung ge- sagt ist, versteht sich von selbst. °) Hultsch in den Neuen Jahrbüchern für Philol. u. Pädagog. (1881) Bd. 123, 8. 578—579. .. AB Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Schule. 193 Linien, und unter dieser Überschrift habe die Untersuchung sich teils mit solchen Irrationalitäten beschäftigen können, welche Summen von rationalen und irrationalen Teilen waren, teils mit Zerbrechung, d. h. Teilung von irrationalen Linien nach gegebenen Verhältnissen. Jedenfalls können wir, mag das letzte Wort des Titels geheißen haben, wie es will, seinen ersten Worten die nicht unwichtige Tat- sache entnehmen, daß Name und vermutlich auch Begriff des Irra- tionalen trotz der mystischen Scheu der Pythagoräer verhältnismäßig frühzeitig außerhalb der Schule in Anwendung kam. Wichtig wäre uns vielleicht noch ganz besonders eine Stelle bei Plutarch, Demokrit habe den Kegel parallel zur Grundfläche geschnitten'), wenn über Art und Zweck der Schnittführung nur irgend Genaues gesagt wäre. Wir würden Einzelangaben etwa im Mathematikerverzeichnisse oder bei Proklus mit Freuden begrüßen. Da wie dort kommt der Name des Demokrit nicht einmal vor! Das Schweigen des Proklus läßt allerdings als absichtliches sich auffassen. Proklus gehörte zu den begeistertsten Spätplatonikern. Platon war Gegner des Demokritus, dessen Werke er vernichtet wissen wollte, dessen Namen er in seinen zahlreichen Schriften niemals nennt). Proklus mochte nach Platons Beispiel handeln. Aber das Mathe- matikerverzeichnis? Aristoteles, Theophrastus, Eudemus schätzten Demokritus und beschäftigten sich eingehend mit ihm. Daß das Mathematikerverzeichnis ihn, den vielgerühmten @eometer, nicht nennt, kann nur in doppelter Weise erklärt werden. Entweder ließ Proklus aus dem Verzeichnisse den ihm mißliebigen Namen weg, oder der Verfasser des Verzeichnisses hat ihn mit Unrecht vergessen, eine Vergeßlichkeit, welche uns einen der zahlreichen Belege für den Satz liefert, daß aus dem zufälligen Schweigen eines Schriftstellers Schlüsse nicht gezogen werden dürfen?). Der Vollständigkeit entbehrt das Mathematikerverzeichnis auch in einer anderen Beziehung, indem es über die Sophisten, welche der Mathematik sich befleißigten, insbesondere über Hippias von Elis in halbes Schweigen sich hüllt. Wir nennen es ein halbes Schweigen, weil der Name dieses Mannes, wie wir uns erinnern (8. 146), einmal bereits vorkam. Es handelte sich um den geometri- schen Ruhm des Mamerkus, für welchen Hippias von Elis als Ge- währsmann angerufen wurde, und diese Anrufung selbst genügt zum Nachweise, daß Hippias nach der Meinung des Verfassers des Ver- zeichnisses wohl fühig war über geometrische Tüchtigkeit ein Urteil ') Plutarchus, De communibus notitiis adversus Stoicos cap. 39, $ 3. ?) Diogenes Laertius IX, 40. ®) Vgl. Zeller I, 690. CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 15 194 8. Kapitel. zu fällen. Allein der eigentliche Ort, des Hippias von Elis und seiner Verdienste um die Mathematik zu gedenken, würde doch erst neben oder nach Anaxagoras und Oinopides gewesen sein, und hier ver- missen wir seine Erwähnung. Proklus spricht dafür von ihm an zwei anderen Stellen',,. Man hat freilich mehrfach Zweifel dagegen erhoben, daß der bei Proklus genannte Hippias wirklich Hippias von Elis sei?), aber sicherlich mit Unrecht. Proklus besitzt nämlich in seinem Kommentare eine Ge- wohnheit, von der er nie abgeht. Er schildert einen Schriftsteller, welchen er anführt, sofern Mißverständnisse möglich wären, mit deutlicher Benennung, läßt aber später die Beinamen weg, wenn er es unbeschadet der Deutlichkeit tun darf. So nennt er einen Zenon von Sidon später nur Zenon den früher erwähnten oder kurzweg Zenon; Leodamas heißt beim ersten Vorkommen von Thasos, später nur Leodamas; Oinopides von Chios wird später zum einfachen Oino- pides, Theätet von Athen zum Theätet usw. Hippokrates der Arzt wird an einer Stelle, Hippokrates von Chios an einer späteren ge- nannt, und wo noch später der letztere wieder auftritt, heißt er wieder Hippokrates von ÜChios, weil eben vorher zwei des Namens genannt waren, und damit zum Mißverständnisse Gelegenheit geboten war. Wenn also Proklus uns einen Hippias schlechtweg nennt, so muß das Hippias von Elis sein, der schon vorher einmal in dem- selben Kommentare ‘deutlich bezeichnet war. Aber sehen wir sogar von dieser Gewohnheit des Proklus ab. Bei jedem Schriftsteller, ins- besondere bei jedem, der den Werken Platons ein eingehendes Studium gewidmet hatte, konnte Hippias ohne jedwede andere Bezeichnung nur Hippias von Elis sein, eine viele Jahrhunderte lang teils um seiner Persönlichkeit willen, teils um seines mit zwei Dialogen ver- knüpften Namens wegen weit und breit bekannte Figur. Hippias von Elis war ein wegen seiner Eitelkeit, die selbst für einen Sophisten etwas hochgradig gewesen zu sein scheint, berüchtigter älterer Zeit- genosse des Sokrates. Seine Geburt dürfte auf 460 etwa anzusetzen sein?). Die Geistesrichtung und die Tätigkeit der Sophisten ist bekannt. Den eignen Vorteil über alles stellend lehrten sie auch andere gegen mitunter recht hohe Bezahlung ihres Vorteils wahr- nehmen und durch Künste der Beredsamkeit, durch Schlüsse, welche Trugschlüsse sein durften, wenn sie nur wirksam sich erwiesen, im ', Proklus (ed. Friedlein) 272 und 356. °) F. Blaß in den Neuen Jahr- büchern für Philologie und Pädagogik Bd. 105 in einem Referate über Bret- schneiders Geometrie und (Geometer vor Euklid. Hankel S. 151; aber auch schon im Bulletino Boncompagni 1872, pag. 297. Friedlein, Beiträge III, 5.8 (Programm für 1873). °) Zeller I, 875. Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Schule. 195 Staatswesen und vor Gericht Einfluß und Geltung sich erwerben. Sittlichkeit kann die berufsmäßigen Rechthaber nicht ausgezeichnet haben, aber Scharfsinn, Schlagfertigkeit, umfassendes Wissen den Sophisten im allgemeinen und dem Hippias als einem ihrer Haupt- vertreter insbesondere abzusprechen ist man in keiner Weise befugt. So darf es gewiß nicht als Ironie aufgefaßt werden, wenn der Ver- fasser eines gleichviel ob mit Recht oder Unrecht Platon zugeschrie- benen Gespräches sich zu den Worten veranlaßt sieht: Was du am besten verstehst, was die Sterne betrifft und was am Himmel sich zuträgt?... Aber etwas über Geometrie hören sie gern'). Ironisch klingt es auch nicht, wenn gesagt wird: Hippias sei des Rechnens und der Rechenkunst kundig vor allen anderen und kundig auch der Meßkunst?). Am allerwenigsten vollends kann ein solcher Bei- schmack in der Rede gefunden werden, welche Platon dem Protagoras in den Mund legt: Die anderen Sophisten beeinträchtigen die Jüng- linge. Sie führen dieselben, die von den Künsten sich abwendeten, den Künsten wider deren Willen zu, indem sie Rechenkunst und Sternkunde und Meßkunst und Musik sie lehren — und dabei warf er einen Blick auf Hippias — kommt er aber zu mir, wird er über nichts anderes Etwas lernen, als weshalb er zu mir kam’). Nach allen diesen Äußerungen glauben wir uns berechtigt anzunehmen, daß Hippias von Elis als Lehrer der Mathematik mindestens in gleichem Range wie als eigentlicher Sophist gestanden haben muß, daß er in naturwissenschaftlichem, mathematischem und astrono- mischem Wissen auf der Höhe der Bildung seiner Zeit sich befand ®). Damit stimmt nun vollkommen überein, was von Hippias als Mathematiker uns mitgeteilt wird. Proklus spricht, wie erwähnt, zweimal von ihm. Die erste Stelle heißt: Nikomedes hat jeden gerad- linigen Winkel gedritteilt mittels der konchoidischen Linien, deren eigentümlicher Natur Entdecker er ist, und von denen er Entstehung, Konstruktion und Eigenschaften auseinandergesetzt hat. Andere haben dieselbe Aufgabe mittels der Quadratricen des Hippias und Nikomedes gelöst, indem sie sich der gemischten Kurven bedienten, die eben den Namen Quadratrix (rergaymvigovo«) führten; wieder andere teilten einen Winkel nach gegebenem Verhältnisse, indem sie von den Archi- medischen Spirallinien ausgingen°). Die zweite Stelle lautet: Ganz auf die nämliche Weise pflegen auch die übrigen Mathematiker die Kurven zu behandeln, indem sie das jeder Eigentümliche ausein- ') Platon, Hippias major 285. ?) Hippias minor 367—368. °) Platon, Protagoras 318. *) So Karl Steinhart in seiner Einleitung zum größeren Hippias. °) Proklus (ed. Friedlein) 272. 13” 196 8. Kapitel. andersetzen. So zeigt Apollonius das Eigentümliche jedes Kegel- schnittes, Nikomedes dasselbe für die Konchoiden, Hippias für die Quadratrix, Perseus für die Spiren'). Eine dritte Stelle eines anderen mathematischen Gewährsmannes allerersten Ranges, des Pappus von Alexandria, sagt uns dagegen: Zur Quadratur des Kreises wurde von Dinostratus, Nikomedes und einigen anderen Neueren eine Linie be- nutzt, welche eben von dieser Eigenschaft den Namen erhielt. Sie wird nämlich von ihnen Quadratrix genannt?). Aus der Zusammenfassung dieser drei Stellen?) dürfte kaum ein anderer Sinn zu entnehmen sein, als der folgende Hippias, und zwar Hippias von Elis, hat um 420 etwa eine Kurve er- funden, welche zu doppeltem Zwecke dienen konnte, zur Dreiteilung eines Winkels und zur Quadratur des Kreises. Von letzterer Anwendung erhielt sie ihren Namen, Quadratrix, wie er in lateinischer Übersetzung zu lauten pflegt, aber dieser Name scheint nicht über Dinostratus hinaufzureichen, dessen Zeitalter als Bruder des Menächmus, eines Schülers des Eudoxus von Knidos, etwa in die zweite Hälfte des IV. S. gesetzt werden muß. Ob die Kurve früher einen anderen Namen führte, ob sie überhaupt mit Namen genannt wurde, wissen wir nicht. Der erste ganz gesicherte Name einer von der Kreislinie verschiedenen krummen Linie wird uns am Anfang des zweiten Drittels des IV. S., annähernd 20 bis 30 Jahre vor Dinostratus begegnen, wo Eudoxus seine Hippopede erfand. Ist aber der Name Quadratrix erst nachträglich der Kurve des Hippias beigelegt worden, so schwindet die Notwendigkeit anzunehmen, sie sei zum Zwecke der Kreisquadratur erfunden worden, und man darf ihren ursprünglichen Zweck in dem suchen, was nach Proklus durch sie zu verwirklichen war, in der Dreiteilung des Winkels. Daß diese Aufgabe selbst auftauchte, kann uns nicht in Ver- wunderung setzen. Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, daß die Konstruktion regelmäßiger Vielecke eines der geometrischen Lieb- lingsgebiete der Pythagoräer bildete. Die Teilung des ganzen Kreis- umfanges in sechs, in vier, in fünf gleiche Teile wurde gelehrt, und namentlich letztere als bedeutend schwieriger erkannt als die anderen längst bekannten Teilungen. Eine überwundene Schwierigkeit reizt zur Besiegung anderer, und so mag das Verlangen wach geworden sein nicht mehr den ganzen Kreis, sondern einen beliebigen Kreis- bogen in eine beliebige Anzahl gleicher Teile zu teilen. Schon bei ') Proklus (ed. Friedlein) 356. °) Pappus, Colleetio Lib. IV, cap. XXX (ed. Hultsch). Berlin 1876 —1878, pag. 250. ®) Vgl. Bretschneider 96 und 155 — 154. a ie Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Schule. 197 der Dreiteilung traten unbesiegbare Schwierigkeiten auf. Versuche diese Aufgaben mit Hilfe des Zirkels und des Lineals zu lösen mögen angestellt worden sein. Es ist uns nichts von ihnen bekannt geworden. Sie mußten erfolglos bleiben. Aber das zweite große Problem der Geometrie des Altertums neben der Quadratur des Kreises, deren wir bei Anaxagoras gedenken mußten, war gestellt, und wie in der Geschichte der Mathematik fast regelmäßig zu- nächst unlösbaren Aufgaben zuliebe neue Methoden sich entwickelten und kräftigten, so führte die Dreiteilung des Winkels, roıyorduı« yoviag, die Trisektion, wie man gewöhnlich sagt, zur Erfindung der ersten von der Kreislinie verschiedenen, durch bestimmte Eigen- schaften gekennzeichneten und in ihrer Entstehung verfolgbaren krummen Linie. Die Linie des Hippias entsteht durch Verbindung zweier Be- wegungen, einer drehenden und einer fort- y schreitenden. „In ein Quadrat «ßy6 € (Fig. 29) ist um «& als Mittelpunkt und mit der Seite des Quadrats «ß als Halbmesser ein Kreisquadrant ßeö beschrieben. Die Ge- \ rade «ß bewegt sich dabei so, daß ihr einer Endpunkt « fest bleibt, der andere ß längs des Bogens ß&0 fortschreitet. Andererseits «& PRINTER soll die #y immer der «d parallel bleibend Fig. 29. mit dem Endpunkte ß auf der ß« fortrücken, und zwar sollen die beiden selbst gleichmäßigen Bewegungen der Zeit nach so erfolgen, daß sie zugleich beginnen und zugleich endigen, daß also «ß in seiner Drehung, ßy in seinem Fortgleiten im selben Moment in der Lage «Ö eintreffen. Die beiden bewegten Geraden werden in jedem Augenblicke einen Durchschnittspunkt gemein haben, der selbst im Fortrücken begriffen eine gegen ß&eö hin gewölbte krumme Linie ß&n erzeugt, welche geeignet erscheint ein der gegebenen Kreisfläche gleiches Quadrat finden zu lassen. Ihre beherrschende Eigenschaft besteht jedoch darin, daß eine beliebige Gerade «&& bis zum Kreis- quadranten gezogen das Verhältnis dieses Quadranten zum Bogen 0 gleich dem Verhältnisse der beiden Geraden ß« und £8® zuein- ander macht. Das ist nämlich klar aus der Entstehung der krummen Linie“ So Pappus, der hier getreuer Berichterstatter über die alte Erfindung zu sein scheint. Die Kreisquadratur mit Hilfe der Quadratrix schließt sich bei Pappus unmittelbar an. Wir werden diese Anwendung erst in Verbindung mit dem Namen Dinostratus zur Rede bringen '). ') Diese ganze Stelle schließt sich eng an Bretschneider |. c. an. 198 8. Kapitel. Noch von einer anderen Persönlichkeit müssen wir hier ein- schaltend einiges sagen, von Zenon von Elea. Dieser Erfinder!) der eigentlichen Dialektik dürfte noch um 20 Jahre älter als Demo- kritus, um 30 bis 40 Jahre älter als Hippias gewesen sein und seine geistige Blüte in der Zeit gefeiert haben, als letzterer kaum geboren war. Nach der als Stoa bezeichneten Halle, in welcher Zenon in Athen seine Vorträge hielt, nannte man seine Schüler die Stoiker. Zu diesen unmittelbaren Schülern gehörte Posidonius von Alexan- dria Würde Zenon als Mathematiker eine Bedeutung haben, so könnte man uns mit Recht den Vorwurf machen, seiner hier an unrichtiger Stelle zu gedenken, der weiter oben behandelt werden mußte. Aber Zenon war nicht Mathematiker. Man wäre fast ver- sucht, ihn das Gegenteil eines solchen zu nennen. Wenigstens ver- suchte er mit philosophischem Scharfsinne die mathematischen Mei- nungen zu stürzen statt sie zu stützen. Die Zeit brachte das so mit sich. Die Atomistiker hatten die Teilbarkeit der Körperwelt in Frage gestellt, indem sie unteilbar kleine Urteilchen annahmen. Noch ungeheuerlicher war der Bruch mit dem Gewohnten als die Pytha- goräer den Begriff des Irrationalen unter die Denker warfen. Beab- sichtigt oder nicht, dieser Begriff drang, wie wir bei Demokritus (5. 195) gesehen haben, in weitere und weitere Kreise. Das Unaus- sprechliche war ausgesprochen, das Undenkbare in Worte gekleidet, das Unenthüllbare den Augen preisgegeben. Und wer nüchternerer Auffassung diese pythagoräische Scheu nicht teilte, dem war wenig- stens eine ganz neue Schwierigkeit unterbreitet, welche strengen Schlüssen nicht standhiel. Zahl und Raumgröße, bisher als zur gegenseitigen Messung oder Versinnlichung als unbedingt tauglich erachtet, zeigten plötzlich einen Widerspruch. Jeder Zahl entsprach noch immer eine Länge, aber nicht jeder Länge entsprach eine Zahl. Stetigkeit und Unstetigkeit waren damit entdeckt und den Philo- sophen als neues Denkobjekt vorgelegt. Kann man sich wundern, wenn letztere, um des Widerspruches, der in jenem Gegensatze ent- halten ist, sich zu erwehren, zu weit gingen, wenn sie dabei zur Leugnung der Vielheit, zur Leugnung der Bewegung gelangten? Man kennt ja die eigentümlichen Schlüsse Zenons”?). Jede Viel- ') Diogenes Laertius XI, 25 gpnol Ö° ’Agıororäing Ev ro Zogyıorj Ebgernv abrov yevkodaı Ötwkentınnjg. Ebenso derselbe VIII, 57. ?) Vgl. Zeller I, 497 bis 507, woher wir unsere Auszüge meistens wörtlich entnehmen. Ferner Ger- ling, Ueber Zeno des Eleaten Paradoxen über die Bewegung (Marburg 1846). E. Raab, Die Zenonischen Beweise (Schweinfurt 1880) und P. Tannery, Le concept scientifique du continu: Zenon d’Elee et G. Cantor, im Oktoberheft 1885 der Revue philosophique pag. 385—410. Ihe, Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Schule. 199 heit ist eine Anzahl von Einheiten, eine wirkliche Einheit aber nur das Unteilbare. Jedes von den vielen muß also selbst eine unteil- bare Einheit sein, oder aus solchen Einheiten bestehen. Was aber unteilbar ist, das kann keine Größe haben, denn alles, was eine Größe hat, ist ins Unendliche teilbar. Die einzelnen Teile, aus denen das Viele besteht, haben mithin keine Größe. Es wird also auch nichts dadurch größer werden, daß sie zu ihm hinzutreten, und nichts dadurch kleiner, daß sie von ihm hinweggenommen werden. Was aber zu anderem hinzukommend dieses nicht vergrößert, und von ihm weggenommen es nicht verkleinert, das ist nichts. Das Viele ist mithin unendlich klein, denn jeder seiner Bestandteile ist so klein, daß er nichts ist. Andererseits aber müssen diese Teile auch unendlich groß sein. Denn da dasjenige, was keine Größe hat, nicht ist, so müssen die Vielen, um zu sein, eine Größe haben, ihre Teile müssen mithin voneinander entfernt sein, d. h. es müssen andere Teile zwischen ihnen liegen. Von diesen gilt aber das Gleiche: auch sie müssen eine Größe haben und durch weitere von den anderen ge- trennt sein, und so fort ins Unendliche, so daß wir demnach unend- lich viele Größen, oder eine unendliche Größe erhalten. Man kennt den Ausspruch des Zenon gegen Protagoras, ein Scheffel Frucht könne beim Ausschütten ein Geräusch nicht hervorbringen, wenn nicht jedes einzelne Korn und jeder kleinste Teil eines Kornes ein Geräusch her- vorbrächte. Man kennt seine Beweise für die Unmöglichkeit einer Bewegung. Ehe der bewegte Körper am Ziele ankommen kann, mub er erst in der Mitte des Weges angekommen sein, ehe er an dieser ankommt in der Mitte seiner ersten Hälfte, ehe er dahin kommt in der Mitte des ersten Viertels, und so fort ins Unendliche. Jeder Körper müßte daher, um von einem Punkte zum anderen zu gelangen, unendlich viele Räume durchlaufen. Es ist mithin unmöglich von einem Punkte zu einem anderen zu gelangen, die Bewegung ist unmöglich. Ebenso folgt die Unmöglichkeit, daß die Schildkröte, wenn sie nur einen Vorsprung hat, durch den schnellen Achilleus eingeholt werden könne, weil während Achilleus den ersten Vorsprung durchläuft, die Schildkröte bereits einen zweiten Vorsprung gewonnen hat, und so fort ins Unendliche. Der mathematisch sein sollenden Form wegen ist ein letzter Ein- wurf Zenons gegen die Bewegungslehre erwähnenswert. Eine Reihe von Gegenständen «&, &, @, «&, ist räumlich mit zwei anderen Reihen von Gegenständen ß,, ßs, Ps, P, und 7, Ya, Y Yı In Be- ziehung gesetzt, so daß sie nachfolgende gegenseitige Lage besitzen: de Pı Ps Ba Pı Yı Ya Ya Ya’ 200 8. Kapitel. Die « sind in Ruhe, die 8 und die p sind in entgegengesetzter Be- wegung, jene von links nach rechts, diese von rechts nach links. Wenn ß, bei «, angelangt ist, ist y, bei «, angelangt, und zu der- selben Zeit ß, bei «,, 9, bei @«,. Demgemäß ist ß, sowohl an «, und «, als an p,, Ps Ya, Yı vorbeigekommen, hat in einer und der- selben Zeit an zwei und an vier Gegenständen von genau gleicher Entfernung sich vorbeibewegen können und folglich zugleich eine einfache und eine doppelte Geschwindigkeit besessen, was unmög- lich ist. Wir haben dem Zenon weiter oben die Eigenschaft als Mathe- matiker abgesprochen. Gerade dieser letzte Trugschluß rechtfertigt uns, denn hier sind irrigerweise absolute und relative Bewegungs- größen einander gleichgesetzt, was einem Mathematiker kaum be- gegnet wäre. Anders dagegen verhält es sich mit den vorher her- vorgehobenen Schlüssen und ihren sich widersprechenden Ergebnissen. Zenon suchte darzutun, daß ein Körper nicht eine Summe von Punkten, ein Zeitraum nicht eine Summe von Augenblieken, eine Bewegung nicht eine Summe einfacher Übergänge von einem Punkte des Raumes zum anderen sei. Dieser ganze in geistreich erfundenen Widersprüchen geführte Streit richtete sich gegen die Pythagoräer '), welchen der Punkt eine uovdg £&yovo« #eEoww, eine Einheit an be- stimmtem Platze hieß. War diese Erklärung richtig, dann war der Körper als Vielheit eine Summe von Einheiten, d. h. von Punkten, und dagegen erhob Zenon seine Stimme. Er sah hier, was vor ihm vielleicht noch nicht gesehen, jedenfalls nicht in gleich scharfer Be- tonung bemerklich gemacht worden war: Schwierigkeiten, denen in der Tat weder der Philosoph noch der Mathematiker in aller Strenge gerecht werden kann, wenn auch der Mathematiker dazu gelangte durch Einführung bestimmter Zeichen die Stetigkeit zu einer definier- baren Eigenschaft zu machen, und mit den Grenzen zugleich den Übergang zu den Grenzen der Untersuchung zu unterwerfen. Zwei Jahrtausende und mehr haben an dieser zähen Speise gekaut, und es wäre unbillig von den Griechen des fünften vorchristlichen Jahr- hunderts zu verlangen, daß sie in Klarheit gewesen seien über Dinge, welche, freilich anders ausgesprochen, noch Streitfragen unserer Gegen- wart bilden. ') Die Gegnerschaft Zenons gegen die Pythagoräer ist von Tannery l. ce. hervorgehoben worden. Mathem. außerhalb d. pythagor. Schule. Hippokrates von Chios. 201 9. Kapitel. Mathematiker außerhalb der pythagoräischen Schule. Hippokrates von Chios. Den Mathematikern scheint nächst dem Irrationalen bei Gelegen- heit der Kreisquadratur der erste Anlaß geboten worden zu sein, Fragen des stetigen Überganges zu behandeln, und dieses führt uns zurück zu dem Mathematikerverzeichnisse, welches mit den Worten fortfährt: „Nach diesen wurde Hippokrates von Chios, der die Quadratur des Mondes fand, und Theodorus von Kyrene in der Geometrie be- rühmt. Unter den hier Genannten hat zuerst Hippokrates Elemente — 6oroıyeie — geschrieben.“ Von dem Leben des Hippokrates von Chios sind uns nur wenige Züge bekannt!). Ursprünglich Kaufmann kam er durch einen unglücklichen Zufall um sein Vermögen. Die einen erzählen, die Zolleinnehmer von Byzanz, gegen welche er sich leichtgläubig er- wies, hätten ihn darum geprellt, die anderen lassen ihn durch See- räuber geplündert worden sein. Man hat beide Angaben so zu ver- einigen gesucht, daß man mutmaßte, athenische Seeräuber hätten aus Veranlassung eines Krieges gegen Byzanz das Schiff des Hippokrates weggenommen. Jener Krieg sei der sogenannte Samische Krieg um das Jahr 440 gewesen, an welchem tatsächlich die Byzantiner gegen die Athener teilnahmen, und um diese Zeit sei also Hippokrates nach Athen gekommen. Öhne die Möglichkeit in Abrede zu stellen, daß es sich so verhalten haben könne, bedürfen wir jedoch dieser Ver- mutung nicht, um die wichtigste Folgerung zu ziehen, welche sie für uns enthält, nämlich den Aufenthalt des Hippokrates in Athen zu begründen und zeitlich zu bestimmen. Die ungefähre Lebenszeit des Hippokrates geht schon aus seiner Stellung innerhalb des Mathema- tikerverzeichnisses hervor, sein Aufenthalt in Athen, der Stadt, welche gerade damals mit Recht begann als’ erste Stadt Griechenlands zu gelten, hat eine besondere Veranlassung nicht notwendig gehabt. ‚Jedenfalls war Hippokrates von Chios in der zweiten Hälfte des V. 8. in Athen und kam dort mit Pythagoräern, d. h. offenbar mit versprengten Mitgliedern der italischen Schule zusammen, in deren !) Die betreffenden Stellen des Aristoteles (Zthiec. ad Eudem. VU, 14) und des Johannes Philoponus (Comment. in Aristotel. phys. auscult. f. 18) sind abge- druckt bei Bretschneider 97, wo die im Texte dargestellte Vereinigung der beiden Angaben versucht ist. 202 9. Kapitel. Gesellschaft er geometrisches Wissen sich aneignete. Es wird sogar erzählt, er habe es sehr bald dahin gebracht, selbst Unterricht in der Mathematik erteilen zu können und habe dafür Bezahlung ange- nommen. Von da an hätten die Pythagoräer ihn gemieden !). Diese Geschichte erscheint, insbesondere was den durch Hippo- krates gewohnheitsmäßig erteilten mathematischen Unterricht betrifft, sehr glaubwürdig. Damit stimmt nämlich vortrefflich überein, was das Mathematikerverzeichnis uns meldet, daß Hippokrates das erste Elementarlehrbuch der Mathematik verfaßt habe. Weit hervorragender aber sind die eigentlichen geometrischen Erfin- dungen des Hippokrates, welche auf zwei Probleme sich beziehen: auf die Quadratur des Kreises und auf die Verdoppelung des Würfels. Die Quadratur des Kreises, von Anaxagoras zuerst versucht, hat auch unter den Sophisten wenige Jahrzehnte vor Hippokrates wenn nicht bis zu seiner Zeit herab Bearbeiter gefunden. Es ist kaum wahrscheinlich, daß die Wortklauberei so alt sei, mit welcher man nach einer Quadratzahl suchte, die zugleich zyklisch sei?), d. h. mit derselben Endziffer schließe wie ihre Wurzel z. B. 25 = 5°, 36 = 6°. Diese Spitzfindigkeit ist erst bei Alexander von Aphrodisias (um 200 nach Christus) nachweisbar?). Aber die Versuche von Antiphon und Bryson sind sehr bemerkenswert. Antiphon, ein Zeitgenosse des Sokrates, mit welchem er über verschiedene Dinge in Hader lag*), schlug den Weg ein, daß er in den Kreis ein regelmäßiges Vieleck, etwa ein Quadrat oder ein regel- mäßiges Dreieck, einzeichnete’). _Von diesem ging er zu dem Viel- ecke doppelter Seitenzahl über. So soll man fortschreiten bis dem Kreise ein Vieleck werde eingeschrieben werden, dessen Seiten ihrer Kleinheit halber mit dem Kreise zusammenfallen würden. Nun könne ı) Jamblichus, De philosoph. Pythagor. lib. III, bei Ansse de Villoi- son, Anecdota Graeca, pag. 216. ?°) So berichtet Simplicius in einer unter anderen bei Bretschneider 106—107 abgedruckten Stelle. ?°) Vgl. über das Alter der Stelle P. Tannery in der Bibliotheca Mathematica 1900 (3. Folge 1,266). *)DiogenesLaertius II, 46. °) Der Bericht des Simplicius abgedruckt bei Bretschneider, der das große Verdienst sich erworben hat, diese sämt- lichen Untersuchungen zuerst für die Geschichte der Mathematik nutzbringend gemacht zu haben. Bedeutend vertieft haben sich die Forschungen über das, was Simplicius berichtet, seit der Ausgabe von Simplieii in Aristotelis physico- rum libros quatuor priores durch Herm. Diels (Berlin 1882), in deren Vorrede auch Arbeiten von Usener und P. Tannery verwertet sind. Noch neuer ist Tannery, Le fragment d’Eudeme sur la quadrature des lunules (M&moires de la Societe de sciences physiques et naturelles de Bordeaux. 2° Serie T. V und Heiberg im Philologus XLII, 336—344. Abschließend ist Ferd. Rudio, Der Bericht des Simplieius über die Quadraturen des Antiphon und des Hippokrates in der Bibliotheca Mathematica 1902 (3. Folge III, 7—62). Mathem. außerhalb d. pythagor. Schule. Hippokrates von Chios. 203 man, wie man in den Elementen gelernt habe, zu jedem Vielecke ein gleichflächiges Quadrat zeichnen, folglich auch zu dem Kreise mittels des Vielecks, welches an seine Stelle getreten sei. So der Bericht des Simplicius, eines Erklärers des Aristoteles aus dem VI. S., in seinem Kommentare zur Physik des Stagiriten als Einleitung in den selbst aus Eudemus geschöpften Bericht über den Quadrierungsver- such des Hippokrates, der uns nachher zu beschäftigen hat. Ein anderer Kommentator des Aristoteles, Themistius (ungefähr 317— 387), weiß die Sache ganz ähnlich‘). Die Übereinstimmung beider Berichte spricht für eine gleiche Quelle, wahrscheinlich den Eudemus. Ein anderer Geometer der gleichen Zeit etwa wie Antiphon war der Sophist Bryson aus Herakläa, der Sohn des Herodorus. Er wird auch wohl als Pythagoräer bezeichnet. Er ging in seinem Ver- suche die Quadratur des Kreises zu finden, von welchem wir wieder durch einen anderen Erklärer des Aristoteles, durch Johannes Philo- ponus unterrichtet sind), um einen sehr bedeutsamen Schritt über Antiphon hinaus. Er begnügte sich nicht damit ein Kleineres als den Kreis zu finden, welches sich nur wenig von ihm unterschied, er verschaffte sich auch ein der gleichen Forderung genügendes Größeres. Er zeichnete neben den eingeschriebenen Vielecken auch umschriebene Vielecke von immer größerer Seitenzahl und beging bei Ausführung dieses vollständig richtigen Gedankens nur einen da- mals freilich verzeihlichen Fehler, indem er meinte, die Kreisfläche seı das arithmetische Mittel zwischen einem eingeschriebenen und einem umschriebenen Vielecke. Es ist nicht wahr, sagte später Pro- klus diesen Versuch vornehm zurückweisend, daß die Stücke, um welche jene Vielecke größer und kleiner als der Kreis sind, sich gleichen. Aber auch welche Entwicklung der Geometrie zwischen Bryson und Proklus! Wir glauben über das Irrige an Brysons Folgerung hinweggehen zu dürfen, den Tadel irgend einen Mittelwert mit dem arithmetischen Mittel verwechselt zu haben, ersticken zu müssen unter dem Lobe in der Erkenntnis des Grenzbegriffes weiter gekommen zu sein als alle Vorgänger. So weit freilich wie Aristoteles, wenn wir dieses vorgreifend hier erwähnen dürfen, ist auch Bryson nicht gegangen. Aristoteles wußte und sagte?) in Worten, deren wir heute uns noch vielfach ') Themistii in Aristotelis physica paraphrasis (ed. H. Schenkl, Berlin 1900). °) Bretschneider 126. °) Aristoteles, Physic. III, 4. Die Zusammen- stellung der auf den Grenzbegriff und auf das Unendliche bezüglichen Stellen des Aristoteles usw. bildet eines der schönsten Kapitel bei Hankel 115—127. Vgl. auch Görland, Aristoteles und die Mathematik (Marburg 1899) S. 162 bis 183. 204 9. Kapitel. bedienen, ohne das Bewußtsein zu haben seine Schüler zu sein: „Dtetig — ovvsyeg — sei ein Ding, wenn die Grenze eines jeden zweier nächstfolgender Teile, mit der dieselben sich berühren, eine und die nämliche wird und, wie es auch das Wort bezeichnet, zu- sammengehalten wird.“ Aristoteles wußte, daß es ein anderes ist unendlich vieles zu zählen, oder durch unendlich viele nicht vonein- ander zu scheidende Punkte sich bewegen. Er löste das Paradoxon der Durchlaufung dieser unendlich vielen Raumpunkte in endlicher Zeit durch das neue Paradoxon, daß innerhalb der endlichen Zeit unendlich viele Zeitteile von unendlich kleiner Dauer anzunehmen seien. Es gibt für ihn kein reales Unendliches in zusammenhangloser Unbeschränktheit des Begriffes, so daß Größeres oder Kleineres nicht möglich ist, sondern nur Endliches von beliebiger Größe, von be- liebiger Kleinheit. Das Unendliche bleibt nicht, es wird.!) Aber man vergesse nicht, daß Aristoteles schon um ein weiteres Jahr- hundert nach der Zeit lebte, welche uns in diesem Augenblicke be- schäftigt, und daß er Aristoteles war, einer jener Geister, die für alle Zeiten lebend der eigenen Zeit meist unverstanden bleiben. Bis zu einem gewissen Grade darf man letzteres vielleicht auch für Antiphon und Bryson behaupten. Die Mitte des V. S. konnte sich mit Schlußfolgerungen, wie diese beiden Männer sie zogen, nicht befreunden. Sie konnte nicht über den Widerspruch hinaus, noch um den Widerspruch herum kommen, der darin liegt, die krumme Kreisfläche durch eine geradlinig begrenzte Vielecksfläche erschöpfen zu lassen. Eine mathematische Begründung irgendwelcher Art, am naturgemäßesten ein selbst auf einen Widerspruch gebauter Beweis der Unmöglichkeit der entgegengesetzten Annahme, mußte vorausgehen und das bilden, was man die geometrische Exhaustion nemnt. Aller Wahrscheinlichkeit nach versuchte Hippokrates von Chios zuerst oder als einer der Ersten eine solche Schlußfolgerung um zu dem Satze zu gelangen, daß Kreisflächen den Quadraten ihrer Durchmesser proportional seien, ein Satz, den er, wie Eudemus ausdrücklich sagt?), bewiesen hat. Die Wiederherstellung dessen, was in der Tat Hippokrates ange- hört, ist allerdings schwierig. Der Bericht im ganzen stammt, wie wir (8.202) sagten, von Simplieius her. Manches hat dieser von Alexander von Aphrodisias entnommen, anderes und zwar wörtlich (zar& Ag&ıv) von Eudemus. Er selbst hat es an erläuternden Be- merkungen auch nicht fehlen lassen, deren Erkennungszeichen zum !, Aristoteles, Physic. III, 7 6vÖ& ueveı 7) &msıoie AAA& yiyveraı. °) Eudemi fragmenta (ed. Spengel) pag.128, lin. 29. Mathem. außerhalb d. pythagor. Schule. Hippokrates von Chios. 205 Teil ein plötzlicher Übergang der Redeweise aus der dritten in die erste Person bildet. Wie ist aus diesem Gemenge das herauszuschälen, was Eudemus sagte, wie daraus wieder was in der Abhandlung des Hippokrates stand? Wir folgen in unserer Darstellung dem letzten Bearbeiter der Frage!) und verweisen für die nähere Begründung auf dessen umfangreiche Studie. Zunächst ist von der Form zu reden. Es ist wohl nicht daran zu zweifeln, daß Eudemus, daß vor ihm Hippokrates Figuren zeich- nete und an die einzelnen Punkte derselben Buchstaben schrieb. Wir haben früher gesehen, daß die Ägypter ihren Figuren teilweise die Längenmaße beischrieben, welche den Linien derselben zukamen. Wir haben darin vielleicht die Anregung gefunden, infolge deren Zahlen- größen durch Linien zur Versinnlichung gebracht wurden (S. 163). Die Ägypter gingen über diese messende Bezeichnung hinaus. Eine gewisse Allgemeinheit gab sich kund, wenn die Scheitellinie mit merit, die Grundlinie der Pyramide mit uchatebt usw. bezeichnet wurde, indem hierdurch die von Figur zu Figur unveränderliche Lage gegen die jedesmal wechselnde Länge als das wichtigere in den Vordergrund trat. Aber Punkte nun gar durch Buchstaben zu benennen, welche nicht Zahlenwerte, nicht Abkürzungen von Wörtern, welche etwa so anfıngen, sein sollten, sondern nur Buchstaben als solche, damit die Möglichkeit zu geben eine Figur auch ziemlich verwickelter Art nur zu denken und doch mit dem Texte in verständlichen Einklang zu bringen: das ist eine Art von allgemeiner Symbolik, ist die bei Geo- metern erkennbare Vorläuferin der algebraischen Bezeichnung der Unbekannten durch einen Buchstaben, oder wenigstens durch ein Wort. Und innerhalb dieser Symbolik selbst ist ein Fortschritt nach- weisbar: die älteren G@eometer, wie Eudemus, wie vor ihm vermutlich Hippokrates, sprechen von einer Linie, „an welcher AB (steht)“, von einem Punkte, „an welchem K (steht)“, während es bei den Späteren, bei Euklid usw. kurzweg heißt „die Linie 4B“ oder „der Punkt K“. . Ob Hippokrates der erste war, welcher die geometrischen Figuren mit zur Bezeichnung dienenden Buchstaben versah, das wissen wir nicht. Wahrscheinlich ist es uns nicht, weil Eudemus sonst vermutlich in seinem Berichte auf diese Neuerung hingewiesen haben würde Wir neigen weit eher der Meinung zu, Hippokrates werde die geometrische Anwendung der Buchstaben von den Pytha- goräern gelernt haben, denen er ja auch sein mathematisches Wissen ") F. Rudio in der Bibliotheca mathematica 1902, 3. Folge III, 7—62 und in der Vierteljahrschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, Jahr- gang L (1905). 206 9. Kapitel. überhaupt verdankt haben soll. Dafür spricht, daß das Sternfünfeck, welches den Pythagoräern als Erkennungszeichen, auch wohl als Briet- überschrift diente (S. 178), an seinen Eeken die Buchstaben geführt haben soll, welehe das Wort Gesundheit bildeten. So wird wenig- stens allgemein die Stelle aufgefaßt, daß jene Figur Gesundheit ge- nannt worden sei. Bei Hippokrates bestand dagegen eine Sitte noch nicht, welche bei Euklid mit der Regelmäßigkeit eines Gesetzes herrschend geworden ist: die Sitte nämlich unter die zur Bezeichnung von Figuren be- nutzten Buchstaben niemals das / zu begreifen, sondern nach © sofort zu K überzugehen. Offenbar wollte man dadurch der leicht mög- liehen Verwechslung des Buchstaben I mit einem einfachen Vertikal- striche vorbeugen!). Der Bericht des Eudemus über Hippokrates, also wahrscheinlich auch Hippokrates selbst, übersprang das I noch nicht?), und auch bei der eben erwähnten pythagoräischen Bezeich- nung der Ecken des Pentalpha spielt I eine Rolle. Wir kommen nach diesen die Form betreffenden Vorbemerkungen zu dem eigentlichen Inhalte der Abhandlung des Hippokrates, dessen Verständnis wesentlich davon beeinflußt ist, wie man das in dem Be- richte vorkommende Wort zuju« übersetzt, welches jedenfalls ein durch Schneiden aus dem Kreise hervorgegangenes Flächenstück be- deutet. Wie der erzeugende Schnitt beziehungsweise die erzeugenden Schnitte geführt werden, ist nicht gesagt. An und für sich kann also ebensogut das gemeint sein, was man nachmals einen Kreis- abschnitt, Segment, als das, was man nachmals einen Kreisausschnitt, Sektor, nannte. Der neueste Herausgeber?) ist der Ansicht, man habe in früher Zeit bald das eine, bald das andere ruju« genannt, und man müsse meistens Segment als Übersetzung gelten lassen, was aber nicht ausschließe, daß in vereinzelten Fällen die Übersetzung Sektor richtig sei. Ein anderes offenbar von Hippokrates eingeführtes Wort unvioxog Mondchen (lateinisch lunula) bedarf kaum einer besonderen Erklärung; es ist eine Mondsichel gebildet durch zwei Kreisbögen, welche verschiedenen Kreisen angehörend nach der gleichen Richtung gekrümmt sind und mit ihren Endpunkten zusammentreffen. Grundlage der ganzen Untersuchung ist der Satz, daß ähnliche Segmente dasselbe Verhältnis zueinander haben wie die Grundlinien in der Potenz. Ähnliche Sektoren sind nämlich solche, welche gleiche Untervielfache der betreffenden Kreise sind, und wie die Kreise selbst ') Nach Professor Studemund. Vgl. Zeitschr. Math. Phys. XXI, Histo- risch-literarische Abteilung 8.183. ?°) Rudio l.c. 8.24. °) Rudio, Anmer- kung 67 auf S. 41—46. TEE SEE se hl 7. rd ir Mathem. außerhalb d. pythagor. Schule. Hippokrates von Chios. 207 den Potenzen ihrer Durchmesser oder auch ihrer Halbmesser pro- portional sind, so verhält es sich auch mit ähnlichen Sektoren der- selben. Der Sektor besteht aber aus einem Dreiecke und einem Seg- mente. : Ähnlichen Sektoren entsprechen ähnliche Dreiecke, welche ebensogut den Potenzen der Halbmesser als der Grundlinien propor- tional sein müssen, und die ähnlichen Segmente werden wieder in dem gleichen Verhältnisse stehen müssen. Ähnliche Segmente nehmen gleiche Winkel auf, und zwar sind die aller Halbkreise Rechte und die der größeren kleiner als Rechte und die der klei- neren größer als Rechte. Wir halten einen Augenblick ein, um festzustellen, daß demnach Hippokrates mit der Gleichheit von auf demselben Bogen aufstehen- den Peripheriewinkeln bekannt war. Allein auch das von ihm benutzte Wort Övvauıs, Vermögen, lateinisch potentia gibt zu Bemerkungen Anlaß. Daß aus der latei- nischen Übersetzung nachmals unsere Potenzgrößen entstanden sind, liegt auf der Hand. Ursprünglich war unter ÖVrauıg nur die zweite Potenz verstanden und das Vorkommen des Wortes als Kunst- ausdruck bei Hippokrates, den Eudemus hier wörtlich ausgenutzt haben dürfte, ist das erste nachweisbare. Später kommt das Wort sowohl in mathematischem als in nichtmathematischem Sinne ungemein häufig vor. Platon hat es benutzt!), Aristoteles nicht minder an un- zähligen Stellen, wo auch von dem dynamischen Auftreten dieser oder jener Eigenschaft — wir sagen gewöhnlich in einer lateinischen Wortform deren virtuelles Auftreten — die Rede ist, der Kunstaus- druck der einen Wissenschaft zum Kunstausdrucke einer anderen wurde Es scheint fast, als läge in den Wörtern dvvauız und reroc- yovog ein ähnlicher Gegensatz wie in unseren Ausdrücken „zweite Potenz“ und „Quadrat“. Das eine Wort bezieht sich auf die arithme- tische Entstehung als Zahl, das andere auf die geometrische Deutung als Fläche, und somit wäre bei Hippokrates von einer rechnenden Vergleichung der Kreisflächen, wie sie aus ihren Durchmessern sich ermitteln lassen, die Rede. Damit soll freilich, wie wir im 11. Ka- pitel sehen werden, keineswegs gesagt sein, Hippokrates habe die Proportionalität von Kreisfläche und zweiter Potenz des Durchmessers rechnend erkannt. Das Verfahren des Hippokrates wird nun in der Weise geschil- dert, daß dessen erster Versuch dahin ging, die Quadratur eines Mondchen zustande zu bringen, dessen äußerer Bogen ein Halbkreis wäre (Fig.30). Zu diesem Zweck beschrieb er um ein sowohl recht- ') Platon, Theaetet pag. 147. 208 9. Kapitel. winkliges als gleichschenkliges Dreieck einen Halbkreis und über der Basis ein Kreissegment ähnlich denen, die von den Seiten abge- schnitten werden. Das Segment über der Basis ist gleich den beiden über den ande- ren Dreiecksseiten und so wird, wenn der Teil des Dreiecks, der außerhalb des über der Basis beschriebenen Segmentes liegt, beiderseits hinzugefügt ist, das Mondehen gleich dem Dreiecke sein. Der zweite Versuch gilt einem Mondchen, dessen äußerer Bogen größer als ein Halbkreis ist (Fig. 31). Hippokrates beschreibt in das durch den erwähnten größeren Bogen und dessen Sehne gebildete Segment ein Paralleltrapez mit drei gleichen Seiten; er bestimmt dabei, daß das Quadrat der Grundlinie so groß sein solle wie die Summe der Quadrate der drei anderen Seiten). Wird alsdann über der Grundlinie ein Segment ähnlich den drei an- deren gezeichnet, so ist das hierdurch entstehende Mondchen quadrier- bar?). Daß der äußere Bogen des Mondchen größer als ein Halbkreis sei, wird von Eudemus, vielleicht schon von Hippokrates, bewiesen und zwar mit Hilfe des Satzes, daß der Winkel, welchen eine Seite des Trapezes mit einer Diagonale desselben bildet, ein spitzer Winkel sei. Diese Tatsache folgt ihm aber selbst wieder daraus, daß das Quadrat der Grundlinie des Trapezes, dessen Beziehung zu den anderen Seiten des Trapezes bekannt ist, kleiner als die Summe des Quadrates einer kleinen Trapezseite und des Quadrates einer Trapezdiagonale ist, welches selbst, weil die Diagonale einem von zwei kleinen Trapez- seiten gebildeten stumpfen Winkel gegenüberliegt, größer als das doppelte Quadrat einer kleinen Trapezseite ist. Eine sprachliche und eine sachliche Bemerkung sei hier einge- schaltet. Was hier als Diagonale übersetzt wurde, heißt bei Eudemus und auch sonst häufig Diameter. In den beiden ersten Quadrierungs- versuchen ist der wichtige Satz benutzt, daß das Quadrat einer Fig. 30. Fig. 31. ı) Das tritt ein, wenn die kleine Seite a=rV3-—-y3. Vgl. über die Mondchen des Hippokrates einen Aufsatz von Clausen (Ürelles Journal XXI, 375) und Hankel 127. ?) Das Mondchen ist, wie Simplicius beweist, gleich dem Trapeze, welches entsteht, wenn von dem großen Segmente die drei kleinen Segmente abgezogen werden, während das Mondchen durch Abziehen jenes den drei kleinen Segmenten ähnlichen Segmentes über der Grundlinie übrig bleibt. Mathem. außerhalb d. pythagor. Schule. Hippokrates von Chios. 209 Dreiecksseite gleich der Summe der Quadrate der beiden anderen Dreiecksseiten, größer als diese Summe, kleiner als diese Summe ist, jenachdem ihr ein rechter, ein stumpfer, ein spitzer Winkel gegenüberliegt. Der dritte Versuch beschäftigt sich mit einem Mondchen, dessen äußerer Bogen kleiner als ein Halbkreis ist (Fig. 32). Hippokrates verschafft sich dasselbe folgendermaßen. Um K als Mittelpunkt und mit AB als Durchmesser wird ein Halbkreis ge- zeichnet, ferner die Ge- rade IA, welche die KB senkrecht halbiert. 4 Von B aus wird die BZE derartig gezeichnet, daß das Quadrat des zwischen der I’A und der Kreisperipherie liegenden Stückes ZE anderthalbmal so groß sei als das Quadrat von KA. Von E aus wird EH parallel zu AB bis zum Durchschnitt mit der verlängerten KZ gezogen. Mittels der an Länge einander gleichen KE und BH entsteht das Trapez EKBH, um welches ein Kreis beschrieben wird!), der seinen Mittel- punkt in A besitzt. Auch um das Dreieck EZH wird ein Kreis be- schrieben und nun ist das Mondcehen gebildet, dessen innerer Bogen EZH, dessen äußerer Bogen EKBH ist. Sein Flächeninhalt ist gleich dem der Summe der drei Dreiecke BZH, BZK, EKZ, sein äußerer Bogen ist kleiner als der Halbkreis. Letzteres folgt aus der Stumpfheit des Winkels EKH, der Flächeninhalt aus der Ähnlich- keit der Kreisabschnitte über EZ, ZH, EK, KB, BH in Verbindung mit der Proportion EZ?: ER? = 3: 2°). Wir möchten auf die Einzeichnung des Stückes ZE zwischen die Gerade I'A und die Kreisperipherie AEB in vorgeschriebener Länge besonders hinweisen. Sie konnte nur empirisch erfolgen, in- dem man um B eine Gerade BZE in Drehung versetzte und mit dieser Drehung innehielt, sobald ZE die gewünschte Länge besab. Das ist das erste Beispiel einer Bewegungsgeometrie, die in späteren Zeiten geradezu den Charakter einer Methode annahm’). Wir gelangen zu einem vierten Versuche, bei welchem es auf die Quadrierung eines Kreises zusammen mit einem Mondchen ankam H Fig. 32. ) Simplicius hat die Gleichheit von KE mit BH bewiesen und ebenso auch die Möglichkeit eines Umkreises um das Trapez EKBH. °) Auch hier hat Simplicius die notwendigen Beweise geliefert. °) Wöpcke, L’algebre d’Omar Alkhayämi (Paris 1851) pag. 120. CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 14 210 9. Kapitel. (Fig. 33). Um K als Mittelpunkt sind zwei Kreise mit je einem eingeschriebenen regelmäßigen Sechsecke gezeichnet, die als kleiner und großer Kreis, als kleines und großes Sechseck unterschieden werden mögen. Dabei sind die Halbmesser so gewählt, daß HK’= 6AK?. Augenscheinlich folgt daraus HP=3HK’=2HK?+6AK?, indem HI Kathete eines rechtwinkligen Dreiecks ist, dessen andere Kathete eine große Sechsecksseite und dessen Hypotenuse der. große Durchmesser ist. Wird über HI mittels eines neugezeichneten Kreis- bogens ein kleineres Kreissegment hergestellt ähnlich sowohl dem über H® als dem über AB, so muß es dreimal so groß wie das über H® sein, oder so groß wie das über H®, das über ®@I und die sechs | Segmentchen im kleinen Kreise über den kleinen chen IOH ist aber gleich dem Dreiecke HOI und den Segmenten über H® und © I weniger dem klei- neren Kreissegment über HI. Es ist leicht einzu- sehen, daß alsdann das Mondchen nebst dem kleinen Kreise dem Drei- ecke H®I nebst dem kleinen Sechsecke flächen- gleich sind, wodurch die Quadratur gegeben ist. Dieses sind die vier von Hippokrates gemachten Versuche krumm- linig begrenzte Figuren in ihnen flächengleiche Quadrate zu ver- wandeln, so wie sie von Eudemus berichtet werden, aus welchem dann später Simplicius’ seinen durch sachgemäße Erläuterungen er- gänzten Auszug. veranstaltete. Man muß sicherlich zugestehen, daß Hippokrates bei der Auswahl der von ihm untersuchten Mondchen eine weit mehr als gewöhnliche Erfindungsgabe an den Tag legte, und daß er bereits über einen achtungswerten Vorrat an geometrischem Wissen verfügte. Hat er, wie vermutet worden ist!), beim Nieder- schreiben seiner ihrem Hauptinhalte nach sicherlich ganz neuen Ab- handlung die Überzeugung gewonnen, es sei an der Zeit ein Elemen- tarlehrbuch zusammenzustellen, auf welches man für notwendige Hilfssätze sich berufen könne, oder aber hatte er, als er die Abhand- Fig. 33. ') Bretschneider 131. Sechsecksseiten. DasMond- EN Mathem. außerhalb d. pythagor. Schule. Hippokrates von Chios. 211 lung schrieb, sein Elementarwerk (8. 201) schon veröffentlicht und deswegen sich über manches weniger ausfürlich verbreitet als es späteren Lesern und Erklärern wünschenswert erschien, das ist eine Frage, auf die wir keine endgültige Antwort zu geben vermögen. Hippokrates beschäftigte sich, wie wir (8. 202) ankündigend be- merkten, auch noch mit einem anderen mathematischen Probleme, mit der Würfelverdoppelung. Das ist die letzte uns hier be- gegnende von den drei großen Aufgaben der griechischen Mathe- matiker, welche ihnen Gelegenheit gaben ihre Kräfte zu üben und das zu erfinden, was man die höhere Mathematik jenes Zeitraumes zu nennen berechtigt ist. Über die Geschichte der Würfelverdoppe- lung sind wir durch namhafte Überbleibsel aus alter Zeit ziemlich gut berichtet, und selbst der sagenhafte Anstrich des Ursprungs der Aufgabe wird im 30. Kapitel sich als erheblich ausweisen. Ein griechischer Mathematiker Eratosthenes im III. S. schrieb an Pto- lemäus Euergetes den ägyptischen König einen Brief über diesen Gegenstand, der sich bei Eutokius von Askalon, einem späten Kom- mentator des Archimed, erhalten hat und dessen Anfang wir hier beifügen‘). Trotzdem er ziemlich weit jenseits der gegenwärtig allein zu behandelnden Zeit hinabführt, glaubten wir doch eine Trennung des zusammengehörigen Textes nicht vornehmen zu sollen und werden lieber später, wo es nötig ist, auf dieses Kapitel hier zurückverweisen. „Dem Könige Ptolemäus wünscht Eratosthenes Glück und Wohl- sein. Von den alten Tragödiendichtern, sagt man, habe einer. den Minos, wie er dem Glaukos ein Grabmal errichten ließ, und hörte, daß es auf allen Seiten 100 Fuß haben werde, sagen lassen: Zu klein entwarfst Du mir die königliche Gruft, Verdopple sie; des Würfels doch verfehle nicht. Man untersuchte aber auch von seiten der Geometer, auf welche Weise man einen gegebenen Körper, ohne daß er seine Gestalt veränderte, verdoppeln könnte, und nannte die Aufgabe der Art des Würfels Ver- doppelung; denn einen Würfel zugrunde legend suchte man diesen zu verdoppeln. Während nun langezeit hindurch alle ratlos waren, entdeckte zuerst der Chier Hippokrates, daß, wenn man herausbrächte ') Zur Geschichte der Würfelverdoppelung vgl. N. T. Reimer, Historia problematis de cuwbi duplicatione. Göttingen 1798. J. H. Dresler, Eratosthenes von der Verdoppelung des Würfels. Osterprogramm 1828 für die herzogl. Nassauischen Pädagogien zu Dillenburg, Hadamar und Wiesbaden. Ch. H. Biering, Historia problematis eubi duplicandi. Kopenhagen 1844. Teilweise Neues auch an Stellenmaterial in der Dissertation von C. Blass, De Platone mathematico. Bonn 1861, pag. 22—30. Unsere Übersetzung des Briefes des Eratosthenes nach Dresler ]. c. 8. 8—10. 14* 212 9. Kapitel. zu zwei gegebenen geraden Linien, wo die größere der kleineren Doppelte wäre, zwei mittlere Proportionalen von stetigem Verhältnisse zu ziehen, der Würfel verdoppelt werden könnte; wonach er dann seine Ratlosigkeit in eine andere nicht geringere Ratlosigkeit ver- wandelte. Nach der Zeit, erzählt man, wären die Delier, weil sie von einer Krankheit befallen waren, einem Orakel zufolge geheißen worden einen ihrer Altäre zu verdoppeln und in dieselbe Verlegenheit ge- raten. Sie hätten aber die bei Platon in der Akademie gebildeten Geometer beschickt und gewünscht, sie möchten ihnen das Verlangte auffinden. Da sich nun diese mit Eifer der Sache unterzogen und zu zwei Gegebenen zwei Mittlere suchten, soll sie der Tarentiner Archytas vermittelst der Halbzylinder aufgefunden haben, Eudoxus aber ver- mittelst der sogenannten Bogenlinien. Es widerfuhr ihnen aber insgesamt, daß sie zwar ihre Zeichnungen mit geometrischer Evidenz nachgewiesen hatten, sie aber nicht leicht mit der Hand ausführen und zur Anwendung bringen konnten, außer etwa einigermaßen die des Menächmus, doch auch nur mühsam.“ Der alte Tragiker, auf dessen Verse Eratosthenes sich beruft, ist kein anderer als Euripides, in dessen verloren gegangenem Poleidos sie vorkommen, wie sehr wahrscheinlich gemacht worden ist!). Da nun Euripides 485—406 lebte, seine dichterische Wirksamkeit also etwa in die gleiche Zeit fällt, in die wir die wissenschaftliche Tätig- keit des Hippokrates verlegen, so geht hieraus hervor, daß eben da- mals die Sage von dem Grabmale des Glaukos bekannt war. Ob damals die Sage schon alt gewesen; ob Euripides ihrer gedachte, weil die Gelehrten des Tages sich bereits mit Würfelverdoppelung beschäftigten, die Anspielung also einen gewissen Eindruck auf die feiner gebildeten Zuhörer machen mußte; ob man den entgegen- gesetzten Tatbestand annehmen soll, daß die Volkstümlichkeit der Verse des Euripides die Mathematiker auf die eigentümlich gestellte Aufgabe aufmerksam machte; ob wir daran erinnern dürfen, daß Euripides der Dichter selbst ein Gelehrter, daß er ein Schüler des Anaxagoras war, das alles gehört in das Bereich gewagtester Ver- mutung, oder wenigstens noch unerledigter Forschung. Als gesichert ist gemäß dem Berichte des Eratosthenes nur so viel zu betrachten, daß nach fruchtlosen Versuchen anderer über die Aufgabe der Würfel- verdoppelung Herr zu werden, Hippokrates von Chios auf die Be- merkung fiel, daß die Aufgabe auch in anderer Gestalt sich aus- sprechen lasse. Findet die fortlaufende Proportion a:2=z2:y=y:b ı) Valkenarius, Diatribe de fragm. Eurip. pag. 203. Vgl. Reimer, De cubi duplicatione pag. 20. Platon. 213 statt, so ist = ay, "= bz, mithin «* = a?y? = a?bx und x? = a?b oder, wenn b=2a, wie es bei der Würfelverdoppelung notwendig erscheint, #? = 2a°. Die Seite des doppelten Würfels ist in der Tat die erste von zwei mittleren Proportionalen, welche zwischen der ein- fachen und der doppelten Seite des ursprünglichen Würfels einge- schaltet werden. Diese Erkenntnis, welche auch Proklus!) dem Hippo- krates nachrühmt, war ein Schritt weiter auf dem richtigen Wege, aber allerdings ein verhältnismäßig kleiner Schritt. Hippokrates ver- wandelte nur, wie Eratosthenes in fast scherzhaftem Tone sagt, seine Ratlosigkeit in eine andere nicht geringere Ratlosigkeit. wis sollten jene beiden mittleren Proportionalen gefunden werden? Die Männer, welche der Lösung dieser Aufgabe sich gewachsen fühlten, sind es, die uns im folgenden entgegentreten werden. Auf ihre Gemeinschaft führt auch das Mathematikerverzeichnis uns hin, wenn es neben Hippokrates von Chios noch Theodorus von Kyrene in der Geometrie berühmt nennt. Von diesem wissen wir an geometrischen Tatsachen nur, daß er die Irrationalität der Quadratwurzefn von Zahlen zwischen 3 und 17 bewies?) ($. 182). Wir wissen von ihm außerdem, daß er der Schule der Pythagoräer angehörte?), und daß er Lehrer des Platon in mathematischen Dingen wart). Platon und die Akademie nehmen jetzt, wie in der Geschichte der griechischen Philosophie, so in der Geschichte der griechischen Mathematik, die leitende Stellung ein. Mit ihnen müssen wir uns beschäftigen. 10. Kapitel. Platon. Zwei Kriege von schwerwiegender Bedeutung für die Gestaltung staatlicher Verhältnisse, wie für die Entwicklung der Wissenschaften wurden auf griechischem Boden innerhalb eines Menschenlebens ge- kämpft. Der peloponnesische Krieg, welcher die Macht Athens ver- uichtete, welcher den Staat des Perikles von seiner geistigen, wissen- schaftlichen wie künstlerischen Höhe herabstürzte, begann 431. Der sogenannte heilige Krieg, in welchem die Thebaner durch ein kurzes Übergewicht erschöpft, König Philipp von Mazedonien zu Hilfe riefen und ihm so den ersten willkommenen Anlaß gaben in grie- chische Dinge sich einzumengen, endete 346. Dieselben Jahreszahlen ') Proklus (ed. Friedlein) 213. °) Platon, Theaetet 147, D. °) Jam- blichus, Vita Pythagor. 267. *) Diogenes Laertius II, 103. 214 10, Kapitel. begrenzen fast genau das Leben Platons. Seine Geburt fällt in das Jahr 429, in das Schreckensjahr, in welchem die durch die Schilderung des Thukydides in gräßlicher Wahrheit bekannte Pest Athen in Trauer hüllte, in welchem Perikles starb. Sein Tod er- folgte 348 an demselben Tage, an welchem er 81 Jahre früher ge- boren war. In Platons Lebenszeit fallen auch zwei Künstler, deren die Ge- schiehte der Mathematik Erwähnung tun darf: Pheidias und Poly- klet, die Verfertiger des Olympischen Zeus, der Argivischen Here. Von Pheidias erzählt Lucian in dem Dialoge über die philosophischen Sekten'), er sei imstande gewesen aus der Klaue eines Löwen anzu- geben, wie groß der ganze Löwe war, woher die griechische Redens- art && ö6vVywv Acovr«?), lateinisch ex ungue leonem stammt, welche sich bis zu unseren Tagen erhalten hat. Von Polyklet meldet Galen?), er habe in einer Schrift, die Kanon überschrieben war, die Lehre von allen Verhältnissen des Körpers aufgestellt. Wer denkt dabei nicht an die vorgezeichneten Quadrate im Grabmale Seti I (8. 108), wer nicht an die Notwendigkeit einer in weite Kreise eingedrungenen Lehre von der Ähnlichkeit der Figuren? Platon gehörte einer der angesehensten athenischen Familien an. Bis auf König Kodrus führte der Stammbaum des Vaters, bis auf Solon der der Mutter zurück*). Platons erste Jugend fiel, wie wir wissen, in eine für Athen trübe und bewegte Zeit, aber bald lächelte das Glück der Stadt, welche es liebgewonnen, aufs neue. Die Knaben- jahre Platons fallen mit der Glanzzeit des Alkibiades zusammen, und der Freund des Alkibiades, Sokrates, war Platons Lehrer. Im Ver- kehre mit den geistig bedeutendsten Männern seiner Vaterstadt ent- wickelte der Knabe sich zum Manne. Bei Sokrates insbesondere wird Platon jene Methode erlernt haben, welche als eigentlich sokratische gerühmt wird, und welche darin bestand, durch fortgesetztes Fragen immer schärfer umgrenzte Definitionen, aber auch das Eingeständnis von Widersprüchen infolge ungenügender Begriffsbestimmungen her- vorzulocken. Um das Jahr 400 etwa, nachdem Sokrates den Gift- becher hatte leeren müssen, verließ Platon die Heimat, in welcher es für den nächsten Schüler des gleichviel ob gerechtem oder unge- rechtem Volkshasse zum Opfer Gefallenen nicht mehr sicher war, und verwandte eine längere Reihe von Jahren zu Reisen, welche seine wissenschaftliche Ausbildung vollendeten. Nach Kyrene, wo an der Nordküste Afrikas griechische Bildung schon eine Pflanzstätte ') Lucian, “Eguöriuos 7 eol aipkoewv cap. 55 pag. 147 ed. Sommerbrodt. ”) Diogenes Laertius V, 15. °) Galen, Ilsoi rov na “Innongdenv nal Ildrove. *) Diogenes Laertius II, 1. SR ER PARSE Platon. 215 geschaffen hatte, lockte es ihn. War doch dort die Heimat jenes Theodorus, welcher, wie wir im Theätet erfahren, bei l.ebzeiten des Sokrates in Athen verweilte, und welchen wir am Schlusse des vorigen Kapitels Platons Lehrer in der Mathematik genannt haben. Ägypten sah ihn jedenfalls zu längerem Aufenthalte, wenn auch Strabons Be- richterstatter sehr übertrieben haben dürften. Bei der Beschreibung der alten Priesterstadt Heliopolis in Ägypten sagt nämlich dieser geographische Schriftsteller: Hier nun zeigt man die Häuser der Priester und auch die Wohnungen des Platon und Eudoxus. Denn letzterer kam mit Platon hierher, und sie lebten daselbst mit den Priestern dreizehn Jahre zusammen, wie einige angeben.) Dann wird ein großes Gewicht auf einen Aufenthalt Platons in Großgriechen- land zu legen sein, wo er mit Archytas von Tarent und mit Timäus von Lokri im engsten Verkehre stand?). Weiter führte ihn sein Weg nach Sizilien, wo er im 40. Lebensjahre, also im Jahre 389 eintraf?). Diese durch ihn selbst bezeugte Zeitangabe nötigt uns auf alle Reisen bis nach Sizilien etwa 11 Jahre zu ver- teilen und widerlegt somit die 13jährige Dauer des Aufenthalts in Ägypten. Platons Freimütigkeit scheint bei dem Gewaltherrn von Syrakus, bei Dionysius, Anstoß erregt zu haben, so daß dieser ihn gefangen nehmen ließ und ihn als Athener dem lakedämonischen Ab- gesandten auslieferte, welcher ihn als Sklaven nach Ägina verkaufte. Ein Kyrenaiker zahlte das erforderliche Lösegeld, um Platon wieder frei zu machen, und nun kehrte dieser nach Athen zurück, wo er in den schattigen Spaziergängen der durch Kimon einst verschönerten Akademie nordwestlich vor der Stadt seine die Philosophie umge- staltenden Vorträge hielt, deren Bedeutung auch für die Geschichte der Mathematik nicht hoch genug angeschlagen werden kann). Eigentlich mathematische Schriften hat Platon zwar nicht ver- faßt, aber einiges wird doch auf ihn als Entdecker zurückgeführt, und vielleicht noch wichtiger ist seine Vorliebe für die Mathematik dadurch geworden, daß er auf fähige Schüler sie forterbte. Platon war ja ein Schüler der Pythagoräer in vielen Dingen, in so vielen, daß Aristoteles es ausdrücklich bezeugt hat°), daß Asklepius zu dieser Stelle der aristotelischen Metaphysik jedenfalls übertreibend hinzu- fügte: nicht vieles, alles habe Platon von den Pythagoräern ent- ) Strabo XVII, ed. Meinicke pag. 1124. ?) Cicero, De finibus V, 19, 50. Tuseulan. I, 17, 39. De republica I, 10,15. °) Platons Briefe: Epistola VII, 324, a. *) Über Platon in seinen Beziehungen zur Mathematik vergl. C. Blass, De Platone mathematico. Bonn 1861, und B. Rothlauf, Die Mathematik zu Platons Zeiten und seine Beziehungen zu ihr. München 1878. °) Aristoteles, Metaphys. I, 6. 216 10. Kapitel. nommen. Wie nun die Pythagoräer Mathematik als den ersten Gegenstand eines wirklich wissenschaftlichen Unterrichts betrachteten, wie die Ägypter ihre Kinder zugleich mit den Buchstaben in den Anfangsgründen der Lehre von den Zahlen, von den auszumessenden Räumen und von dem Umlaufe der Gestirne unterrichteten, so wollte auch Platon verfahren haben!). Kein Unkundiger der Geometrie trete unter mein Dach, undeis dyswueronrog eloitw uod Tv OTEynv, war die Ankündigung, mit welcher der angehende Akademiker empfangen wurde ?), und Xenokrates, der nächst Speusippus als zweiter Nach- folger Platons die Akademie leitete?), blieb ganz in den Fußstapfen seines Lehrers, wenn er einen Jüngling, der die verlangten geometri- schen Vorkenntnisse noch nicht besaß, mit den Worten zurückwies: Gehe, Du hast die Handhaben noch nicht zur Philosophie, x00EVov Aoßas yao 00x Eysısg PLAooopiag*). Platon war in dieser Beziehung so sehr Pythagoräer geworden, daß er den Gegensatz nicht scheute, in welchen er seinen ältesten und verehrtesten Lehrer Sokrates scheinbar zu sich selbst setzte. Sokrates, wie Xenophon in seinen Erinnerungen ihn schildert?), wollte die Geometrie nur so weit getrieben wissen, bis man Land mit dem Maßstabe in Besitz nehmen oder übergeben könne. Der So- krates in Platons Dialogen, dem dieser stets die Gesinnungen in den Mund zu legen liebt, die ihn selbst erfüllen, erklärt dagegen ®), daß die ganze Wissenschaft doch nur der Erkenntnis wegen betrieben werde. Es ist bekanntlich, sagt er auch, in bezug auf jedes Lernen, um besser aufzufassen, ein himmelhoher Unterschied zwischen einem, der sich mit Geometrie befaßt hat, und dem, der es nicht getan hat. Wir verzichten darauf alle Stellen zu sammeln, an welchen Plato ähnliche Gesinnungen über die Mathematik äußert, und zu welchen auch der Ausspruch (S. 184) gehört, daß Gott allezeit geometrisch verfahre, nur eine Bemerkung über das Wort Mathematik wollen wir hier einschalten. Von einer Wissenschaft der Mathematik wußte Platon so wenig wie seine Zeitgenossen’). Wohl besaßen sie das Wort uednuare (Lehrgegenstände), aber es umfaßte alles, was im wissenschaftlichen Unterrichte vorkam. Erst bei den Peripatetikern bekam das allgemeine Wort die besondere Bedeutung, welche wir ihm gegenwärtig noch beilegen und umfaßte fortan Rechenkunst und Arithmetik, Geometrie der Ebene und Stereometrie, Musik und Astro- ') Die bezüglichen Stellen aus Platons Staat vergl. bei Rothlauf.. e. 8. 12. ?) Tzetzes, Chil. VII, 972. °) Diogenes Laertius I, 14. *) Diogenes Laertius IV, 10. °) Xenophon, Memorabil. IV, 7 und ihm folgend Dio- genes Laertius I, 32. °) Die Stellen aus Platons Staat bei Rothlauf 8. 2 und 7. ?°) Rothlauf S. 18—19. Be, 8 din h ” Platon. 217 nomie, während zugleich auch der Name der Philosophie, welcher für Platon erst: die wörtliche Bedeutung der Weisheitsliebe besaß, einer besonderen Wissenschaft zuerteilt wurde. Die Vorliebe Platons für mathematische Dinge äußert sich neben den schon berührten Vorschriften über Jugenderziehung in seinem idealen Staatswesen, wo ein Schulzwang innerhalb der einfachsten Lehrgegenstände obwalten, wo Lesen, Schreiben und Rechnen allen Mädchen wie Knaben beigebracht werden soll!), auch darin, daß er in vielen seiner in Gesprächsform geschriebenen Abhandlungen mathe- matische Beispiele zur Verdeutlichung philosophischer Gedanken be- nutzt. Meistens sind diese Beispiele für Laien berechnet und darum laienhaft einfach, so daß dieselben kaum ein Recht haben in einer Geschichte der Mathematik aufzutreten. Wir machen eine Ausnahme zugunsten der früher geradezu berüchtigten Kapitel des Menon?). Nicht als ob es sich mit deren Inhalt anders verhielte, aber weil wir früher (8. 185) auf diese Kapitel uns berufen haben. Sie blieben den Erklärern platonischer Gespräche solange unverstanden, als man in ihnen wunder welche tiefsinnige Dinge suchte. Sie wurden kinderleicht und klar, sobald der Wortlaut mit den Figuren in Zusammenhang gebracht wurde, welche zwar in den Handschriften wie in den Druck- ausgaben fehlen, von welchen man aber dem Texte gemäß annehmen muß, daß sie im Laufe des Gespräches in den Sand gezeichnet worden waren. Diese Figuren dürften zwei an der Zahl gewesen sein, ein einfacher Kreis und eine einigermaßen zusammengesetzte Vereinigung mehrerer geradliniger Figuren in eine einzige (Fig. 34), die wir uns als nach und nach entstehend zu denken haben. Den Kreis zeichnet Sokrates, um als Beispiel des Runden zu dienen, welches eine Figur, | aber nicht die Figur überhaupt sei?) Im on weiteren Verlaufe des Gespräches®) zeichnet Sokrates, die leitende Persönlichkeit der Ab- handlung, ein Quadrat von der Seitenlänge 2 mit seinen Mittellinien, welche die Mittelpunkte je gegenüberstehender Seiten verbinden. Er Ic Bar: erweitert die Figur zur vierfachen Größe, d.h. zum Quadrat mit ') Platon, Gesetze pag. 805. ?) Vergl. Benecke, Ueber die geometrische Hypothesis in Platons Menon. Elbing 1867 und unsere Besprechung Zeitschr. Math. Phys. XII, Literaturzeitung 9—13. Friedleins Programm von 1873: Beiträge zur Geschichte der Mathematik III pflichtet im ganzen denselben An- sichten bei. Rothlauf $. 64 huldigt, trotzdem er Beneckes Programm kennt, einer künstlichen, wie wir überzeugt sind, falschen Meinung. ») Platon, Menon 73 E. *) Platon, Menon 82B bis 85 B. 218 10. Kapitel. der Seitenlänge 4, und innerhalb dieses großen Quadrates zum Quadrat mit der Seitenläinge 3, das aus neun Feldern besteht; endlich zeichnet er das Quadrat von der Fläche 8, dessen Seiten die Diagonalen, oder, wie die Sophisten und mit ihnen Platon immer sagten, die Diameter der vier kleineren Quadrate sind, in welche das größte Quadrat von der Seitenlänge 4 zerfällt. Dieses schrägliegende Quadrat von der Fläche 8 ist doppelt so groß, als das ursprünglich gegebene Quadrat von der Fläche 4, und es kam Platon gerade darauf an zu zeigen, daß ein solches Quadrat von doppelter Größe als ein gegebenes genau und leicht gezeichnet werden könne. Es war, wie ganz richtig bemerkt worden ist!), der Beweis des pythagoräischen Lehrsatzes für den Fall des gleichschenklig recht- winkligen Dreiecks, der hier geliefert. wurde, möglicherweise, wie wir (S. 185) andeuteten, der älteste von Pythagoras selbst herrührende Beweis dieses ersten und einfachsten Falles, vorausgesetzt daß wirk- lich beim Beweise des pythagoräischen Lehrsatzes ursprünglich ver- schiedene Fälle unterschieden wurden. Nachdem mit dieser ersten und zweiten geometrischen Exemplifikation vollständig abgeschlossen ist, kehrt Sokrates an einer späteren Stelle?) wieder zur Geometrie zurück, um ihr ein passendes in die Sinne fallendes Beispiel für die eben zwischen ihm und Menon erörterte Frage, ob Tugend lehrbar sei oder nicht, zu entnehmen. Er will erörtern, daß das Tunliche im allgemeinen sich selten behaupten lasse, daß es Fälle der Mög- lichkeit wie der Unmöglichkeit gebe. Er will ein recht zutreffendes Beispiel dafür wählen, und da bleibt sein ringsum suchendes Auge an den im Sande noch erkennbaren Figuren haften. Ist es, fragt er, möglich dieses Quadrat als gleichschenklig rechtwinkliges Dreieck in diesen Kreis auf dem Durchmesser als Grundlinie genau einzuzeichnen ? Unter diesem Quadrate versteht er das von der Seitenlänge 2, dessen Verwandlung in ein gleichschenklig rechtwinkliges Dreieck aus der Figur gleichfalls zu erkennen war, wo das gewünschte Dreieck als Hälfte des schräggezeichneten Quadrates erscheint. Sokrates hat die Frage gestellt, er gibt auch die Antwort. Sie lautet ja und nein! Es wird möglich sein, das Verlangte zu tun, wenn die Seite des Quadrates dem Kreishalbmesser gleich ist, oder, was dasselbe heißt, wenn sie auf dem Durchmesser aufgetragen ein ihr gleiches Stück übrig läßt, sonst nicht. Der Wortlaut ist freilich ein einigermaßen ") Rothlauf 8. 61. Es ist nicht ohne Interesse, daß auch Leibniz den gleichen Beweis verwertet hat, um den algebraischen Zusammenhang zwischen der Seite und der Diagonale eines Quadrates zu erörtern. Vgl. dessen Nova algebrae promotio in der durch C. J. Gerhardt besorgten Ausgabe der mathe- matischen Schriften von Leibniz VII, 155 (Halle 1863). °) Platon, Menon 886. Platon. 219 dunkler, aber auch seine philologische Übereinstimmung mit diesem hier frei erläuterten Sinne hat nachgewiesen werden können. Die Stelle des Menon ihrer einstigen Schwierigkeit entkleidet enthält freilich nicht mehr den Beweis, daß Platon mit dieser oder jener feinen geometrischen Theorie bekannt war, aber sie enthüllt uns noch immer einen ungemein wichtigen methodischen Fortschritt !), der um diese Zeit sich vollzog. Sokrates leitet die letzte Auseinander- setzung durch die Worte ein: „Unter der Untersuchung von einer Voraussetzung aus verstehe ich das Verfahren, welches die @eometer oft im Auge haben; wenn sie jemand fragt, z. B. über eine Fläche, ob in diesen Kreis die Fläche als Dreieck eingezeichnet werden könne usw.“ Es war mithin damals schon oft von Geometern ge- schehen, was, wie wir im vorigen Kapitel (S. 208) sahen, Hippokrates von Chios noch unterließ. Es war die Frage aufgeworfen worden, ob eine Konstruktion möglich sei oder nicht. In der Akademie unter Platons Leitung wurden sicherlich diese und ähnliche Fragen erörtert?). Die Philosophie der Mathe- matik ist in der Akademie entstanden, wenn ihre Wurzeln auch schon aus den Lehren des Sokrates Nahrung sogen. So führte nach Berichten bei Aristoteles, aber auch nach bestimmt nachweisbaren platonischen Stellen Platon geometrische Definitionen ein, welche in dem von ihm gebrauchten Wortlaut ein Alter von mehr als zwei Jahrtausenden erreicht haben. Die Figur ist die Grenze des Körpers, heißt es im Menon?). Gerade ist doch, wessen Mitte dem beider- seitigen Äußersten im Wege ist, heißt es im Parmenides*), und ebenda wird der Kreis definiert: rund ist doch wohl das, dessen äußerste Teile nach allen Seiten hin gleichweit von der Mitte abstehen. Der Punkt sei die Grenze der Linie, die Linie die Grenze der Fläche, die Fläche die Grenze des Körpers genannt worden, sagt uns Aristoteles; der Körper sei das, was drei Ausdehnungen besitze; die Linie sei Länge ohne Breite. Daß auch Grundsätze, wie der häufig bei Aristo- teles erwähnte, daß Gleiches von Gleichem abgezogen Gleiches übrig lasse, schon der Akademie angehört haben werden, ist nicht in Zweifel zu ziehen. Wohl aber dürfte es in ähnlicher Weise wie bei ı) Blass in seiner Dissertation De Platone mathematico pag. 20 scheint zuerst die große methodische Bedeutung der Stelle Menon 86 erkannt zu haben. ?) Zusammenstellungen bei Friedlein, Beiträge zur Geschichte der Mathema- tik II, 8. 9 figg., bei Hankel S. 135—136, bei Rothlauf 8. 51, von denen jede irgend etwas eigentümlich hat, was in den anderen fehlt. °) Platon, Menon 76. “ Platon, Parmenides 137 E. Wie diese Stelle zu verstehen sei, kann man bei Proklus (ed. Friedlein) pag. 109 lin. 21 bis pag. 110 lin. 4 nachlesen. Vgl. Majers Programm des Kön. Gymnasiums in Stuttgart für 1880—81, 8. 14. 220 10. Kapitel. den Pythagoräern schwer sein, innerhalb der Akademie eine Sonde- rung des geistigen Besitzes von Platon und seinen Schülern vorzu- nehmen, zu ermitteln, was von den Definitionen, von den Grundsätzen dem einen, was den anderen angehört. Auf dem Gebiete mathematischer Methodik ist es noch eine einen gewaltigen Fortschritt eröffnende Erfindung, welche Platon zu- geschrieben wird: die Erfindung der analytischen Methode. Wir haben darüber eine ganz kurze Notiz des Diogenes Laertius: Platon führte zuerst die analytische Methode der Untersuchung für Leodamas von Tasos ein!), und eine ausführlichere des Proklus: Es werden auch Methoden angeführt, von denen die beste die analytische ist, die das Gesuchte auf ein bereits zugestandenes Prinzip zurückführt. Diese soll Platon dem Leodamas mitgeteilt haben, der dadurch zu vielen geometrischen Entdeckungen soll hingeleitet worden sein. Die zweite Methode ist die trennende, die, indem sie den vorgelegten Gegenstand in seine einzelnen Teile zerlegt, dem Beweise durch Ent- fernung alles der Konstruktion der Aufgabe Fremdartigen einen festen Ausgangspunkt gewährt; auch diese rühmte Platon sehr als eine für alle Wissenschaften förderliche. Die dritte Methode ist die der Zu- rückführung auf das Unmögliche, welche nicht das zu Findende selbst beweist, sondern das Gegenteil desselben bestreitet und so die Wahr- heit auf Seite des mit der Behauptung Übereinstimmenden findet?). Endlich gehören hierher die beiden bei Euklid erhaltenen Defini- tionen: Analysis ist die Annahme des Gesuchten als zugestanden durch Folgerungen bis zu einem als wahr Zugestandenen. Synthesis ist die Annahme des Zugestandenen durch Folgerungen bis zu dem Erschließen und Wahrnehmen des Gesuchten?) und die dem Sinne nach damit übereinstimmenden im Wortlaute viel ausführlicheren Er- örterungen des Pappus®). Die Sache verhält sich folgendermaßen°). Soll die Wahrheit eines Satzes D bewiesen oder widerlegt werden — beides kann man verlangen — so sagt der Analytiker: Wenn D stattfindet ist © wahr; wenn (© stattfindet ist D wahr; wenn BD stattfindet ist A wahr; aus D folgt also endlich A; nun ist A wahr oder nicht wahr, also ist '), Diogenes Laertius III, 24. 2?) Proklus (ed. Friedlein) pag. 211, lin. 18— pag. 212, lin. 4. A. Sturm in der Bibliotheca Mathematica 1903, 3. Folge II, 283. °) Euklid XII, 1. Anmerkung. *) Pappus, VII Praefatio (ed. Hultsch) pag. 634 flgg. °) Hübsche Entwicklungen über die analytische Methode der Alten bei Öfterdinger, Beiträge zur Geschichte der griechischen Mathematik. Ulm 1860. Duhamel, Des methodes dans les sciences de raisonne- ment. Paris 1865—1866. Besonders T. I, chap. 10. De Vanalyse et de la syn- these chez les anciens. Hankel 137—150. 7 Ba, er Platon. 221 auch D wahr oder ist es nicht. Der Synthetiker dagegen beginnt mit der Behauptung der Wahrheit von A, welche ihm auf irgend eine Weise bekannt ist. Daran knüpft er die Folgerung, es werde B stattfinden, folglich sei auch Ü wahr, und folglich sei D wahr — oder möglicherweise ein Satz, der das Gegenteil von D bezeichnet, und den man deshalb Nicht-D zu nennen pflegt. Es ist einleuchtend, daß der synthetische Beweis unter allen Umständen richtig ist, der analytische aber nicht. Zur Richtigkeit desselben ge- hört nämlich, daß die in dem analytischen Beweise aufgestellten gleichzeitigen Wahrheiten auch in umgekehrter Reihenfolge sich gegenseitig bedingen, mathematisch ausgedrückt, daß man lauter um- kehrbare Sätze aussprach. Von der Notwendigkeit diese Umkehrbar- keit selbst zu erweisen ist man nur in einem Falle befreit, wenn nämlich das aus D geschlossene A nicht wahr ist. Dann freilich kann D nun und nimmermehr stattfinden. Das heißt: die Beweisform der Zurückführung auf das Unmögliche ist eine immer gestattete Unterart des analytischen Beweises; der direkte analytische Beweis dagegen erfordert stets eine Ergänzung, welche rückwärts gehend die Sätze synthetisch auseinander ableitet, deren Behauptungen die vor- ausgehende analytische Methode kennen lehrte. Aus diesen Betrach- tungen gehen nun mehrere Folgerungen hervor. Erstlich die, daß die analytische Methode, vermöge der Not- wendigkeit ihr, falls sie direkt zu Werke ging, eine Synthese folgen zu lassen, weniger für die Beweisführung von Sätzen, dagegen vor- trefflich für die Auflösung von Aufgaben sich eignet, bei welchen die analytisch gefundene Auflösung meistens die notwendige Vor- aussetzung zur Entdeckung ihres synthetischen Beweises bildet, und in der Tat spielt die Analysis ihre Hauptrolle in dem sogenannten aufgelösten Orte, d. h. bei Aufgaben, die einen geometrischen Ort oder eine Aufeinanderfolge von Punkten betreffen, deren jeder sich einer gewissen Eigenschaft erfreut, welche ihrerseits keinem anderen Punkte außerhalb des Ortes zukommt. Zweitens scheint die indirekte Methode der Zurückführung auf das Unmögliche, die sogenannte apagogische Beweisführung') wegen ihrer unbedingten Gültigkeit vorzuziehen. In der Tat haben die Alten sich derselben wenn auch nicht gerade überwiegend doch viel häufiger als die modernen Geometer bedient. Namentlich bei den Sätzen, in welchen eine sogenannte Exhaustion vorgenommen wird, wo also der Grenzbegriff das unmittelbare Erreichen des Zieles ausschließt und nur die synthetische Hypothese des Unendlichkleinen ı Anayo N sis &övvearov, lateinisch reductio ad absurdum oder demonstratio yay 9 e contrario. 222 10. Kapitel. als Ersatz zu dienen vermag, wird man bei griechischen Schrift- stellern stets Beweisen aus dem Gegenteil begegnen. Wir haben zu- gleich angedeutet, daß in neuerer Zeit die indirekten Beweise nicht beliebt sind. Der Grund liegt darin, daß bei aller zwingenden Strenge für den Verstand der indirekte Beweis der Einbildungskraft keine vollständige Befriedigung zu gewähren pflegt. Ungezügelt umher- schweifend sucht sie noch immer dritte Fälle ausfindig zu machen, welche neben der Existenz von Nicht-D eine Koexistenz von D zu- lassen, und nur schwer gibt sie sich gefangen, daß wirklich die Ein- teilungsteile des Einteilungsganzen vollständig erschöpft wurden, daß wirklich zwei sich ausschließende Tatsachen vorliegen, die nicht gleich- zeitig gesetzt werden können. Drittens liegt, wie wir gesehen haben, jedem Beweise, werde er analytisch oder synthetisch, direkt oder indirekt geführt, die Wahr- heit eines gewissen Satzes A zugrunde, deren man sich versichert halten muß. In vielen Fällen wird dieses A Ergebnis früherer Lehr- sätze und gehörigen Ortes streng erwiesen sein. Allein immer ist dieses nicht der Fall und kann es nicht der Fall sein, da eine un- endliche Kette von Rückschlüssen nicht denkbar ist. Irgend einmal muß man stehen bleiben und eine Grundwahrheit als von selbst ein- leuchtend oder erfahrungsmäßig gegeben zum Ausgangspunkte der Beweisführung annehmen. Wer also wie Platon auf das Wesen der Beweisführung selbst einging, mußte auf dem Wege dieser Unter- suchung das tun, was wir oben von Platon berichtet haben. Er mußte Definitionen geben, welche der unendlichen Spaltung der Begriffe zugunsten einfacher Begriffe ein Ziel setzten; er mußte auch Axiome, Grundsätze und Annahmen, anerkennen, welche man nicht weiter beweist, sei es daß sie als von unmittelbarer Gewißheit nicht mehr bewiesen zu werden brauchen, oder daß sie nicht bewiesen werden können. Wir kehren von dieser das Wesen antiker geometrischer Beweis- führung berührender Auseinandersetzung, zu welcher die mathema- tischen Kapitel im Menon uns fast mehr Gelegenheit als Veran- lassung boten zu einer anderen Schrift Platons und einer nicht minder übelberüchtigten Stelle derselben zurück. Wir meinen den Anfang des VIII. Buches vom Staate!). Auch diese Stelle hat eine ganze Literatur hervorgerufen ?), welche jedoch unserem Gefühle ') Platon, Staat 546B,C. ?®) Vgl. Th. Henri Martin, Le nombre nuptial et le nombre parfait de Platon im XIII. Bande der Revue archeologique und Roth- lauf S. 29 flgge. Bei Martin insbesondere finden sich zahlreiche Verweisungen auf ältere Abhandlungen. Seitdem sind noch zahlreiche Arbeiten von Adam, Demme, Dupuis, Gow, Hultsch, Tannery veröffentlicht worden. Platon. 293 nach noch nicht vermochte, die Schwierigkeiten der sehr dunkeln Anspielungen, in welchen Platon sich hier gefällt, endgültig zu lösen. Gehen doch die Ansichten so weit auseinander, daß nicht bloß über - den Sinn der sogen. platonischen Zahl, sondern über ihre Größe selbst ein Einverständnis nicht herrscht. Nur ein wie beiläufig eingeschal- teter kleiner Satz dieser Stelle gibt uns Anlaß zu einer, wie wir glauben, geschiehtlich wichtigen Bemerkung. Es ist unserer Meinung nach von der Länge der Diagonale des Quadrates über der Seite 5 die Rede, welche rational ausfalle, wenn 1 fehle, irrational wenn 2 fehlen!), und wir können das nicht anders verstehen, als daß jene Diagonale oder Y50 in den rationalen Wert 7 übergehe, wenn die Zahl 50 um 1 verringert werde, dagegen irrational Y48 bleibe, wenn man 2 von den 50: abziehe. Wir haben, wo von der Entdeckung des Irrationalen durch Pythagoras (S. 181) die Rede war, hervor- gehoben, man werde wohl Versuche angestellt haben, die Diagonale eines Quadrates dadurch aussprechbar, also rational, zu machen, daß man andere und andere Seitenlängen wählte, man werde so zwar das wirklich angestrebte Ziel natürlich nicht erreicht, aber doch Nähe- rungswerte von Y2 gefunden haben. Die eben angeführte platonische Stelle bringt uns diesen Gegenstand ins Gedächtnis zurück. — Wir möchten einschalten, daß von Architekten bei Nachmessungen an den Bauwerken der Akropolis das häufige Vorkommen der Verhältnisse 1:3 sowie 7:12 und 7? :12? bemerkt worden ist?). Uns scheint das letztere dem ersten als gleichwertig gedacht worden zu sein, so daß = einen Näherungswert von Y3 darstellte, und Platon, meinen wir, hat auch gewußt, daß Y50 oder 5/2 nur wenig von 7 sich unterscheidet. Ist er so weit gegangen in der Praxis des Rechnens V2 annähernd gleich = zu setzen? Darüber fehlt uns die Sicher- heit, aber das steht fest, daß jenes Bewußtsein bei Platonikern und deren Schülern sich fortwährend erhalten hat. Proklus sagt uns aus- drücklich, es gebe keine Quadratzahl, welche das Doppelte einer Qua- dratzahl anders als nahezu sei; so sei das Quadrat von 7 das Doppelte des Quadrates von 5, an welchem nur 1 fehle?). Es wird uns später h - 1 gelingen, den Näherungswert Y2 — a noch bestimmter nachzuweisen und damit die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, daß die Nutzbar- machung jener bei Platon nachgewiesenen Kenntnis in der Tat statt- ') amd dınuirewv InT@v weunddog, dsoutvav Evög Erndorwv, KEENTWv Ö& Övsiv. °) Hultsch in Fleckeisen u. Masius, Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik Bd. 123, 8. 586-587. 3) Proklus (ed. Friedlein) pag. 427, lin. 21—24. DIA 10. Kapitel. gefunden habe. Daß nämlich Platon sich mit rationalen und mit irrationalen Quadratwurzeln überhaupt beschäftigt hat, geht aus einer anderen Nachricht hervor, von der jetzt die Rede sein soll. Heron von Alexandria!) und ebenso auch Proklus?) teilen uns eine Methode zur Auffindung rationaler rechtwinkliger Drei- ecke mit, welche sie ausdrücklich als Erfindung des Platon be- zeichnen, und wenn auch eine unter dem gefälschten Namen des Boethius umlaufende Geometrie von dieser Angabe abweichend einen Architas als Erfinder nennt?), so tragen wir doch kein Bedenken, dem älteren griechischen Berichterstatter den Vorzug der Glaubwür- digkeit vor dem jüngeren Schriftsteller zu gewähren. Schon Pytha- goras fand, wie wir uns erinnern (S. 185), rationale rechtwinklige Dreiecke, indem er wohl davon ausging, den Unterschied zwischen der Hypotenuse «a und der größeren Kathete b der Einheit gleich zu setzen, wodurch er genötigt war die Summe der Hypotenuse und der- selben Kathete in Form einer sonst beliebigen ungeraden Quadratzahl zu wählen. War solches in der Tat der Weg, auf welchem Pytha- goras zu seinen Werten gelangte, so mußte ein nächster Versuch jene Differenz a —b=2 setzen, und die ihr ähnliche Flächenzahl « + b mußte dann das Doppelte einer Quadratzahl oder 2«? sein, beziehungs- Ze)? ae selbt c=2«,b=«’— 1, a=.«?”+ 1, und genau so verfuhr Platon. Proklus sagt uns mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig läßt: Platons Methode geht von der geraden Zahl aus; man nimmt nämlich eine gerade Zahl an und setzt sie gleich einer der beiden Katheten; wird diese halbiert, die Hälfte quadriert und zu diesem Quadrate die Einheit addiert, so ergibt sich die Hypotenuse; wird aber die Einheit vom Quadrate subtrahiert, so erhält man die andere Kathete. So dienen beide Methoden, die des Pythagoras und die des Platon, einander zur Ergänzung und rechtfertigen gegenseitig die Vermutungen, welche wir darüber aussprachen, wie man dieselben gefunden haben mag. Platon erscheint uns dabei nicht sowohl er- findungsreich, als daß er vorher betretene Wege umsichtig zu gehen wußte. Er muß jedenfalls auf der Höhe des mathematischen Wissens seiner Zeit gestanden haben, mag ihn im mathematischen Können dieser oder jener übertroffen haben. Seine für die damalige Zeit große mathematische Gelehrsamkeit wird durch alles, was wir von ihm wissen, bestätigt. Wir erinnern uns des reichen für die Ge- weise die Hälfte einer geraden Quadratzahl Dann wurde von ', Heron (ed. Hultsch) Geometria pag. 57. ?) Proklus (ed. Friedlein) pag. 428. °) Boethius (ed. Friedlein) G@eometria pag. 408. Te Er A in? * Platon. RE 225 schichte der Mathematik bei den Pythagoräern von uns ausgenutzten Inhaltes des platonischen Timäus. Die Zusammensetzung regelmäßiger ebener Figuren aus rechtwinkligen Dreiecken, die Bildung der fünf regelmäßigen Körper waren ihm bekannt. Wenn auch Pappus diese letzteren geradezu als solche bezeichnet, von denen bei Platon die Rede sei!), so wissen wir doch, daß Platon keineswegs der Erfinder war. Die eigentliche Stereometrie scheint übrigens, trotz der Kennt- nis der regelmäßigen Körper, damals noch recht im argen gelegen zu haben. „Hinsichtlich der Messungen von allem, was Länge, Breite und Tiefe hat, legen die Griechen eine in allen Menschen von Natur vorhandene ebenso lächerliche als schmähliche Unwissenheit an den Tag“, sagt Platon?) und fährt in wenig gewählter Ausdrucksweise fort, es sei in dieser Beziehung bestellt „nicht wie es Menschen, sondern wie es Schweinen geziemt, und ich schämte mich daher nicht bloß über mich selbst, sondern für alle Griechen“ Am wei- testen entwickelt war die Arithmetik. Daß Platon über die Propor- tionenlehre, über die Begriffe von Flächenzahlen und Körperzahlen Herr war, wissen wir aus dem Timäus. Wir erinnern uns auch, daß (S. 165) ein besonderer Fall der pythagoräischen Sätze über geome- trische Mittel zwischen Flächenzahlen und zwischen Körperzahlen als platonisch genannt wird?). Wir können noch zwei andere Stellen platonischer Schriften anführen, welche für seine Kenntnisse in der Arithmetik von Wichtigkeit sind. Im Phädon sagt Platon, die ganze eine Hälfte der Zahlen sei gerad, die andere sei ungerad*). In den Gesetzen weiß er, daß die Zahl.5040 durch 59 verschiedene Zahlen teilbar ist, unter welchen sämtliche Zahlen von 1 bis 10 sich be- finden®). Das sind in der Tat ganz anständige Kenntnisse, wenn wir auch natürlich annehmen, daß die Teiler von 5040 empirisch gefunden und gezählt wurden. Vielleicht kann das Aufsuchen der Teiler doch in Zusammenhang mit einer Bekanntschaft mit befreundeten und mit vollkommenen Zahlen gedeutet werden müssen, wenn wir auch (9. 168) uns sträubten, diese in so frühe Zeit zu verlegen. Aber wie kam man dazu, die Zahl 5040, das Produkt der aufeinander folgenden Zahlen von 1 bis 7, zur Untersuchung zu wählen? Auf diese Frage wissen wir keine Antwort. Per Eine Erfindung Platons wird uns berichtet, welche ihm als Geometer alle Ehre macht, und welche somit: den ersten Teil dessen, was das Mathematikerverzeichnis von Platon zu sagen weiß, ebenso ı) Pappus V, 19 (ed. Hultsch) pag. 352. ?) Platon, Gesetze pag. 805. ®) Nicomachus, Eisagoge arithm. II, 24, 6 (ed. Hoche) pag. 129. ‘) Pla- ton, Phaedon pag. 104. °) Platon, Gesetze pag. 737. CAnNToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 15 226 “10. Kapitel. voll bestätigt, wie der zweite Teil jener Charakteristik in unserer seitherigen Darstellung zur Geltung kam. Wir müssen nachholend diese Schilderung bier einschalten. „Platon, der auf diese (Hippokrates und Theodorus) folgte, ver- schaffte sowohl den anderen Wissenschaften als auch der Geometrie einen sehr bedeutenden Zuwachs durch den großen Fleiß, den er bekanntlich auf sie verwandte. Seine Schriften füllte er stark mit mathematischen Betrachtungen und hob überall hervor, was von der Geometrie sich in bemerkenswerter Weise an die Philosophie anschließt.“ Vielleicht ist unter dem bedeutenden Zuwachse, der durch Pla- tons Fleiß der Geometrie verschafft wurde, seine Auflösung der Auf- gabe von der Würfelverdoppelung verstanden, welcher wir uns hiermit zuwenden. Freilich steht es schlimm mit derselben, wenn die Meinung derer sich als richtig erweisen sollte, welche den ganzen darüber uns zugekommenen Bericht anzweifeln.. Wir wollen die schwerwiegenden Bedenken derselben nachträglich erörtern und fürs erste dem Berichte selbst hier einen Platz einräumen. Eutokius von Askalon hat im VI. S. einen Kommentar zu des Archimed Schrift über Kugel und Zylinder verfaßt und in diesen Kommentar sehr wichtige Mitteilungen über die Aufgabe der Würfel- verdoppelung eingeflochten. Dorther kennen wir den Brief des Era- tosthenes über jenes Problem (S. 211), dorther eine ganze Anzahl von untereinander verschiedenen Auflösungen, darunter solche von Platon, von Menächmus, von Archytas. Die Auflösung des Archytas hat Eutokius dem Eudemus entnommen, und bei der un- bedingten Zuverlässigkeit dieses @ewährsmannes ist an der Genauig- keit des Berichtes nie der leiseste Zweifel erhoben worden. Woher stammen die übrigen Auflösungen? Eutokius sagt es uns nicht, aber er leitet den ganzen Bericht damit ein, er wolle die Gedanken der Männer, welche auf uns gekommen sind, ersichtlich machen. Sollte in Zusammenhang mit dieser Erklärung sein Schweigen nicht beredt genug sein? Sollte es nicht zu verstehen geben, daß, wo eine zweite Quelle nicht genannt wurde, die Originalschriften selbst von Eutokius benutzt wurden, oder doch solche, welche er für die Originalschriften hielt? Sollte der Umstand, daß die Auflösungen als solche richtig sind und somit die Unverletztheit des Gehaltes der Schriften, von welchen Eutokius Gebrauch machte, verbürgen, nicht auch bei Prü- fung der Richtigkeit der Namen, unter welchen die Auflösungen mitgeteilt sind, von Gewicht sein? Unter den von Eutokius mit- geteilten Auflösungen steht die Platons an der Spitze, mutmaßlich wegen der großen Berühmtheit des Verfassers. Jedenfalls ist eine Platon. 227 Zeitfolge der Auflösungen aus der Anordnung, in welcher sie bei Eutokius erscheinen, in keiner Weise zu entnehmen. Sie sind viel- mehr bunt durcheinander gewürfelt, und um nur solche Männer zu nennen, deren Zeitalter durch Jahrhunderte getrennt liegen, bei denen also ein Zweifel unmöglich ist, kommt Heron vor Apollonius, Pappus vor Menächmus zu stehen. Das Verfahren des Platon‘) beruht auf einer Vorrichtung, welche sich (Figur 35) als Rechteck 41EZ mit zwei festen und zwei in paralleler Lage verschiebbaren ® Seiten EA und AL bezeichnen läßt. Mittels gehöriger Verschiebung der be- weglichen Seiten nebst entsprechender Drehung der ganzen Vorrichtung soll 7 = en nnter vorheriger Annahme der Länge 72 von zwei zueinander senkrechten Linien AB=b, BT = a folgendes bewirkt werden: A soll in den Durchschnitt der 4 festen ZA mit der beweglichen 44, T’ auf die zweite feste Seite ZE, zugleich der Eekpunkt E des Rechtecks auf die Verlängerung von AB und endlich der zweite Durchschnittspunkt der beweglichen 41 mit der beweglichen E/ auf die Verlängerung von IB fallen. Nennen wir nun BE=x B4=y, so ist im recht- winkligen Dreiecke IAE die BE senkrecht aus der Spitze des rechten Winkels auf die Hypotenuse gefällt, und die gleiche Rolle spielt die BA im rechtwinkligen Dreiecke AJE. Folglich it a: =x:y und £:y=y:b. Mithin sind x und y die beiden mittleren Pro- portionalen, welche zwischen a und b eingeschaltet werden mußten, - ZT’ Fig. 35. 3, e=a- ur und unter der Voraussetzung b= 2a endlich © = « v2. Wir bemerken?), daß dieses Verfahren, sofern es von Platon her- rührt, uns ein Zeugnis dafür ist, daß damals griechische Geometer den Satz kannten, daß die Senkrechte aus der Spitze des rechten Winkels auf die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks das geo- metrische Mittel zwischen den Stücken ist, in welche sie die Hypo- tenuse zerlegt. Wir bemerken ferner, daß hier ein Beispiel einer Bewegungsgeometrie vorliegt (S. 209). Wir stellen neben dieses Verfahren sofort dasjenige, welches ‘ Eutokius uns nach Eudemus von Archytas berichtet®). Es stimmt, ) Archimedis Opera ed. Heiberg. Leipzig 1880—81. II, 66 sqq. ®) Vgl. Bretschneider 142. °) Archimedes (ed. Heiberg) III, 98 sqq. 15* 228 10. Kapitel. wie wir sehen werden, vollkommen zu den Worten im Briefe des Eratosthenes: „Der Tarentiner Archytas soll sie vermittelst der Halb- zylinder aufgefunden haben.“ Es seien (Fig. 36) A4f=b und AB=a die vr beiden Geraden, zwischen welche zwei mittlere Proportionalen einzuschalten z Sind. Die größere 44 wird als Durchmesser eines Halbkreises be- 2 nutzt, in welchen die kleinere AB 0 1 v; als Sehne eingezeichnet wird. Aber E auch senkrecht zu diesem ersten Halb- 4 kreise wird über 41 ein zweiter Halb- kreis errichtet, der in A befestigt Fig. 36. über die Ebene 4B41 weggeschoben werden kann. Er bildet dabei auf dem über dem Halbkreis 4B_/ errichteten Halbzylinder eine krumme Linie. Andererseits ist das Dreieck A/II gegeben durch die 44, die AB und die Berührungslinie III an den Halbkreis in 2. Dieses Dreieck liefert um 44 als Achse in Drehung versetzt eine Kegelober- fläche, welche gleichfalls den Halbzylinder und die vorher auf ihm erzeugte Kurve schneidet, letztere in einem Punkte K, der als dem Halbzylinder angehörend senkrecht über einem Punkte I des Halb- kreisbogens ABZ liegen muß. Während AII die Kegeloberfläche beschreibt, beschreibt endlich auch das Stück AB dieser Geraden eine Fläche gleicher Art, beziehungsweise der Punkt B einen Halb- kreis BMZ, der senkrecht zur Horizontalebene 4BZZ steht. Da zu dieser Ebene auch AK’ senkrecht steht, so ist zu ihr auch M® . senkrecht, die Durchschnittsgerade der beiden genannten Ebenen, be- ziehungsweise M® _\ BZ als Durchschnittsgeraden der BMZ mit der AB4AZ. Daraus folgt mit Rücksicht auf die Eigenschaft von BMZ als Halbkreis und von BZ als dessen Durchmesser, daß M®@=B®Xx 02. Aber BOX 9Z=A0X OL, weil BZ und AI zwei in © sich schneidende Sehnen desselben Kreises sind. Also M®@ = AO< OI, also der Winkel 4MI ein Rechter, d. h. ebenso groß wie AK’, welcher Winkel im Halbkreise ist, und folglich MI parallel zu KA. Damit ist die Ähnlichkeit des Dreiecks AK mit JAM, aber auch mit KAI bewiesen, und damit die Proportion AM:AI= AI: AK=4K: 4A. Setzt man endlich A4M=AB=a, dAA=AA=b, Al=z, AK=y, so ist wieder a: 2 = x:y=y:b, wie es verlangt wurde. Aus diesem Verfahren geht, was wir zu bemerken nicht versäumen wollen, die Kenntnis mehrerer wichtiger Sätze von seiten des Erfinders hervor. Nicht bloß die beiden plani- F E 2 9 2 E =“ RS Platon. | | 229 metrischen Lehrsätze, daß die Berührungslinie an den Kreis senk- recht zum Durchmesser steht und daß Kreissehnen einander in um- gekehrt proportionalen Stücken schneiden, mußten ihm geläufig sein, auch von der durch Platon beklagten allgemeinen Unwissenheit auf stereometrischem Gebiete bildete er eine rühmliche Ausnahme. Ar- chytas wußte, daß die Durchschnittsgerade zweier zu einer dritten Ebene senkrechten Ebenen gleichfalls senkrecht auf dieser und ins- besondere senkrecht auf deren Durchschnittsgeraden mit einer der senkrechten Ebenen steht. Er besaß, was wir noch weit höher an- schlagen, über die Entstehung von Zylindern und Kegeln, über gegen- seitige Durchdringung von Körpern und dabei auf ihrer Oberfläche entstehenden Kurven vollständig klare Anschauungen. Sollte Archytas ein Modell sich angefertigt haben, an welchem er sein Verfahren sich ausbildete? Wir stellen die Frage, ohne eine Antwort darauf zu wissen und finden eine solche auch nicht in den Worten des Diogenes Laertius, der uns erzählt: „Archytas zuerst behandelte die Mechanik methodisch, indem er sich dabei geometrischer Grundsätze bediente; auch führte er zuerst die organische Bewegung in die Konstruktion geometrischer Figuren ein, indem er durch den Schnitt des Halb- zylinders zwei mittlere Proportionalen zur Verdoppelung des Würfels zu erhalten suchte“'). In dem durch Eutokius überlieferten Text kommt auch das Wort roxog vor’). Dieses Wort hat in späterer Zeit den Sinn „geometrischer Ort“ angenommen. Hier bedeutet es aber nur die Stelle®). Man kann also keinerlei Schlüsse aus dem Auftreten des Wortes ziehen, mag es selbst in dem Urtexte des Archytas schon vorgekommen sein, soviel derselbe sonst von Eude- mus im übrigen verändert worden zu sein scheint. Selbstverständlich nehmen wir aber nur an, Eudemus habe den Wortlaut des Archytas einigermaßen frei behandelt. Den Sinn muß er getreu wiedergegeben haben, und so bleiben die Folgerungen, welche wir auf stereometrische Kenntnisse des Archytas gezogen haben, unberührt. Wir lassen auch die Würfelverdoppelungen des Menächmus gleich folgen. Eutokius teilt uns zwei voneinander verschiedene Ver- fahren dieses Schriftstellers mit‘). Das eine Mal wird die Auf- gabe durch eine Parabel in Verbindung mit einer Hyperbel gelöst, das andere Mal werden zwei Parabeln benutzt. Hier kann, wie wir betonen müssen, ein wörtlicher Auszug aus Menächmus unter keiner Bedingung vorliegen, da diese Namen Hyperbel und Parabel, wie wir ') Diogenes Laertius VII, 83. °) Archimedes (ed. Heiberg) II, 100 lin. 10. % Gow, A short history of Greek mathematics, pag. 187, Note 1. %) Archimedes (ed. Heiberg) III, 92 sqq. 230 10. Kapitel. noch sehen werden, viel späteren Ursprunges sind. Der Bericht des Eutokius über die Würfelverdoppelungen des Menächmus unter- scheidet sich in wesentlicher Art von dem über die Methode des Archytas. Während bei Archytas nur die Synthese mitgeteilt, die Analyse aber ver- B: bs schwiegen ist!), ist bei Menächmus über Ana- X lyse und Synthese gleichmäßig berichtet und uns dadurch ein vortreffliches Beispiel zur Kenntnis jener beiden Schlußarten der Alten in die Hand gegeben. Mögen a, x, y, b wieder die vorige Bedeutung haben, mithin a:2=rt:y=y:b zu konstruieren sein. Weilla:z=x:y wird 4 zZ 4 (Fig. 37) ein Punkt ©, von dem aus die Mr Senkrechtte O&Z=x auf eine Gerade AH gefällt ist, auf der von einem gegebenen Anfangspunkte A aus die Länge 4Z = y genannt wird, notwendig auf einer durch A hindurch- gehenden Parabel liegen. Zieht man ferner AK+ Z und OK-+ AZ, so ist das Rechteck AK®Z gemessen durch £>T®. Man be- I z Be £ 4 schreibe mit T’ als Mittelpunkt und T’K ug als Halbmesser einen zweiten Quadranten ZHK, welcher die Quadratrix in H schneidet. Da die Proportionalität der Quadranten und ihrer Halbmesser BE1:ZHK=TA4:TK zur Folge hat, so verbindet sich dieses Verhältnis mit dem vorhergehen- den zu ZHK=T4=BT. Wegen der Grundeigenschaft der Qua- dratrix ist auch Bogen BE4:Bogen E4= BI: HA und, weil die konzentrischen Quadranten BE4/, ZHK durch Di den Halbmesser I'’HE geschnitten sind, ist ferner 0 Bogen BE4:Bogen EJ = Bogen ZHK: Bogen DS HK= BT':Bogen HK. Daraus folgt wieder TS er durch Verbindung zweier Verhältnisse Bogen N \ HK = HA, was unmöglich ist. Die Annahme, \ daß der Punkt K zwischen I’ und © fiele, mit- P- er gr hin IK AH sein, was unmöglich ist. Ein spitzer Winkel EAH In den beiden darauf folgenden Aufgaben hat man die Auflösungen der beiden Gleichungen x(a—xz)=b? und z(a+zx)=b? erkamnt. Der 27. Satz erscheint bei der unmittelbaren Aufeinanderfolge von 27. und 28. unzweifelhaft als der Diorismus des letzteren. Es darf eben 5b? nicht größer sein als (2), wenn die Aufgabe lösbar sein sollt). Geometrisch ausgesprochen haben die beiden Aufgaben in Satz 28. und 29. gleichfalls einen, wie spätere Erörterungen uns lehren sollen, hochwichtigen Inhalt. Es handelt sich um die An- legung eines einem gegebenen Parallelogramme gleichwinkligen Paral- lelogramms an eine gerade Linie, welches um so viel größer (kleiner) an Fläche als eine gleichfalls gegebene Figur sei, daß wenn so viel abgeschnitten (zugesetzt) wird, als nötig ist um Flächengleichheit zu !) Newbold in dem Archiv für Geschichte der Philosophie Bd. XIX Heft 2 (1905). ?) Aöyog ovyasiusvog &x (TaV) rov nhevgov (höyav). Euclidis Elementa (ed. Heiberg, Leipzig 1883—88) II, 146 lin. 14. °) ö Adyog rüg A zeös rıv B ovvijmraı &% re tod, Öv Eysı n IT’ moög nv A vol n) E moög mv Z. Archimedes (ed. Heiberg) I, 212 lin. 19—21 und häufiger. *) Diese Auffassung zuerst ver- treten bei Matthiessen, Grundzüge der antiken und modernen Algebra der litteralen Gleichungen. Leipzig 1878, S. 926—931. Alexandria. Die Elemente des Euklid. 267 erzielen, dieses Stück selbst dem erstgegebenen Parallelogramme ähn- lich werde. Euklid drückt diese Forderung durch die Worte aus, der Flächeninhalt I’ solle an der Linie 4B etwas übrig lassen, &AAsizeı, oder darüber hinausfallen, ürsoßaAksı. Das VI, VIII und IX. Buch beschäftigen sich mit der Lehre von den Zahlen. Der nächste Zweck ist das arithmetische Messen der Ungleichheit, also diejenigen Folgerungen aus der Proportionen- lehre zu ziehen, welche an Zahlengrößen hervortreten. Allein damit verbindet Euklid, vielleicht weil nirgend eine passendere Gelegenheit sich finden wird, eine Zusammenstellung aller ihm bekannten Eigen- schaften der ganzen Zahlen. Rechnungsoperationen mit denselben hat er, wie wir uns erinnern, schon im II. Buche ausführen lassen. Das VII. Buch beginnt mit Definitionen, unter welchen wir die der Primzahl, zoörog aoıduös, und der zusammengesetzten Zahl, oVv®erog doıduög, hervorheben wollen. Daran knüpft sich die Unter- scheidung von teilerfremden Zahlen, zo@roı zoös aAAndkovg, und von solchen, welche ein gemeinsames Maß besitzen, oVvFerou noög AAknkovg, sowie die Auffindung dieses letzteren. Euklid findet dasselbe vollständig in der heute noch üblichen Weise durch fort- gesetzte Teilung des letztmaligen Divisors durch den erhaltenen Rest, mithin, wenn wir es nicht scheuen auch moderne Namen zu ge- brauchen, wo moderne Verfahren angewandt sind, durch einen Ketten- bruchalgorithmus. Dann ist von Zahlen die Rede, welche dieselben Teile anderer Zahlen sind, wie wieder andere von vierten, und damit ist also die Zahlenproportion eingeführt. Abgesehen von den vielen neuen Proportionen, welche in der mannigfaltigsten Weise aus den erstgegebenen abgeleitet werden, führt der Satz von der Gleich- heit der Produkte der inneren und der äußeren Glieder einer Pro- portion auf die Teilbarkeit eines solchen Produktes durch einen der Faktoren des anderen Produktes und zur Teilbarkeit überhaupt. Der Rückweg zur Untersuchung teilerfremder Zahlen ist damit gewonnen, und den Schluß des Buches bildet die Auffindung des kleinsten ge- meinsamen Dividuums gegebener Zahlen. Das VIII. Buch setzt die Lehre von den Proportionen fort, indem es zu Gliedern der Proportion nur solche Zahlen wählt, welche selbst Produkte sind, und zwar zum Teil Produkte aus gleichen Faktoren. An die früheren geometrischen Lehren erinnern eben noch die Be- nennungen, welche in diesem Buche zur Anwendung gelangen: Flächenzahlen, ähnliche Flächenzahlen, Quadratzahlen, Körperzahlen, Kubikzahlen, lauter Wörter, deren Erklärung wir in früheren Kapiteln zu geben Gelegenheit hatten. Vieleckszahlen anderer Art als die Quadratzahlen kommen bei Euklid nicht vor. 268 12. Kapitel. Das IX. Buch setzt gleichfalls denselben Gegenstand fort. Im 12. Satze findet sich, vermutlich zum ersten Male in der mathemati- schen Literatur, eine besondere Abart der apagogischen Beweisführung (S. 221). Aus der Annahme der Unwahrheit einer Tatsache wird ihre Wahrheit gefolgert. Der Satz selbst spricht aus, daß wenn 1, A, B, T, 4 eine geometrische Reihe bilden und eine Prim- zahl E in £ enthalten ist, die gleiche Primzahl auch in 4 enthalten sein muß. Ist E nicht in 4 enthalten, so muß, weil E Primzahl ist, E gegen A teilerfremd sein. Nun ist / durch E teilbar, etwa A=E-Z, andererseits 7=4-T, mithin E-Z=A4A-T und E:A — T':Z. Danach muß Z ein Vielfaches von 4 und TI’ ein Vielfaches von E sein, etwa I’=E-.H. Daneben ist I’=4A-B, also E:-H=A4-B und E:4A=B:H. Daraus folgt H als Vielfaches von A, B als Vielfaches von E, etwa B=E:.®©. Daneben ist B=A-A, also EO=A-A und E:A= 4:0. Daraus ergibt sich © als Vielfaches von A und A als Vielfaches von E. Etwas später geht das IX. Buch dadurch zu anderweitigen Betrachtungen über, daß es besondere Rück- sicht auf etwa in einer Proportion vorkommende Primzahlen nimmt. Bei dieser Gelegenheit wird nämlich ziemlich außer allem Zusammen- hange als 20. Satz bewiesen, daß die Menge der Primzahlen größer sei als jede gegebene Menge derselben, wofür wir kürzer sagen, daß es unendlich viele Primzahlen gibt. | Noch weniger Zusammenhang ist von dem 20. Satze zu den ihm nachfolgenden Sätzen wahrnehmbar. Mancherlei Eigenschaften gerader und un- gerader Zahlen, von deren Summen und deren Produkten werden er- örtert, bis der 35. Satz die Summierung der geometrischen Reihe lehrt und auf diejenige geometrische Reihe angewendet, welche von der Einheit beginnend durch Verdoppelung der Glieder weiter- schreitet, endlich im 36. Satze wieder zu den Primzahlen zurückführt und so das Bewußtsein erweckt, wie Euklid bei scheinbarem Ab- springen von seinem 'Thema es immer unverrückt im Auge behält. Jener 36. Satz gibt nämlich an, die Summe der Reihe 1+2+4-+3--- sei mitunter eine Primzahl. Dieses tritt z. B. ein, wenn die Reihe aus 2, aus 3, aus 5 Gliedern besteht. Werde diese die Summe dar- stellende Primzahl mit dem letzten in Betracht gezogenen Gliede der Reihe vervielfacht, so entstehe eine vollkommene Zahl (eine Zahl, welche der Summe aller ihrer Teiler gleich ist). Im X. Buche ist der dritte Hauptteil des euklidischen Werkes behandelt, die Lehre von den Inkommensurablen, und auf die große Bedeutung, die dem Umstande beizumessen ist, daß diesem Gegenstande ein ganzes Buch gewidmet ist, kommen wir im folgen- den Kapitel zurück. An der Spitze des Buches steht der Satz, Alexandria. Die Elemente des Euklid. 269 welcher bei Euklid die Grundlage der Exhaustionsmethode bildet, der Satz: „Sind zwei ungleiche Größen gegeben, und nimmt man von der größeren mehr als die Hälfte weg, von dem Reste wieder mehr als die Hälfte und so immer fort, so kommt man irgend einmal zu einem Reste, welcher kleiner ist als die gegebene kleinere Größe.“ Dieser Satz, wesentlich verschieden von dem, dessen sich (S. 242) Eudoxus und vielleicht schon Hippokrates zu ähnlichen Zwecken be- diente, ist in dieser Form vielleicht Euklids Eigentum, vielleicht auch dessen, von welchem das X. Buch der Hauptsache nach herrührt. Fürs erste freilich zieht Euklid keine Folgerung aus ihm, nicht ein- mal die, welche man vor allen Dingen erwarten sollte, daß wenn zwei Größen inkommensurabel sind, man immer ein der ersten Größe Kommensurables bilden könne, welches von der zweiten Größe sich um beliebig Weniges unterscheide. Statt dessen sind zwar geistvolle aber doch nach unseren Begriffen maßlos weitläufige Untersuchungen!) darüber angestellt, unter welchen Voraussetzungen Größen sich wie gegebene Zahlen verhalten, also kommensurabel sind, und unter welchen Voraussetzungen keine solche Zahlen sich finden lassen, die Größen also inkommensurabel sind. Ein besonderes Gewicht legt Euklid auf die Irrationalzahlen, deren er vielfältig unterschiedene Formen aufzählt. Dabei ist zu beachten, daß das Inkommensurable, dovuusroov, des Euklid sich mit unserem Begriffe der Irrationalzahl deckt, während sein Rationales, ön7r0v, und Irrationales, &Aoyov, von dem, was wir unter diesen Wörtern verstehen, abweicht. Rational ist ihm das an sich und das in der Potenz Meßbare, d. h. diejenigen Linien sind rational, welche selbst durch die Längeneinheit oder deren Quadratfläche durch die Flächeneinheit genau ausmeßbar sind, also a sowohl als Ya, während das Wort irrational für jeglichen mit Wurzelgrößen behafteten Ausdruck außer der einfachen Quadrat- wurzel Ya Anwendung findet. Demgemäß ist das Produkt a mal YVb oder Ya mal Yb bei Euklid irrational, weil jedes dieser beiden Produkte als Produkt schon eine Fläche bedeutet, also nicht mehr „in der Potenz meßbar“ sein kann. Irrational ist um so mehr die Linie, 1) Vgl. Nesselmann, Die Algebra der Griechen S. 165—182. Diesem Werke entnehmen wir auch die Übersetzungen der Namen der verschiedenen Formen von Irrationalzahlen. Wie schwer auch geistreiche Mathematiker sich oft in diesem X. Buche zurecht zu finden vermochten, dafür dient als Beispiel ein durch A. Favaro (Galileo Galilei e lo studio di Padova Il, 267) veröffent- lichter Brief von Benedetto Castelli. Unter dem 1. April 1607 schrieb dieser an Galilei, er sei bei dem 40. Satze des X. Buches stecken geblieben suffocato dalla moltitudine de vocaboli, profonditäa delle cose e difficolta di demon- ‚strationti. 270 12. Kapitel. welche a: Yb oder Ya-Yb als Quadrat besitzt, .d.h. Va Yb und Vab und diese Gattung von Irrationalitäten heißt u£on, die Medial- linie. Addition und Subtraktion zweier Längen, von denen minde-. stens eine inkommensurabel ist, gibt die Irrationalität von zwei Be- nennungen, n &x Övo Övoudrov, und die durch Abschnitt Entstandene, drrorow), d.h. die Binomialen a+ Yb oder Ya + Yb und die Apo- tomen «a— Yb oder Ya— b oder Ya — Yb. Wir würden allzu weit- schweifig werden müssen, wenn wir alle Verbindungen zwischen diesen Medialen, Binomialen und Apotomen erörtern wollten, welche in dem X. Buche vorkommen. Statt dessen nur die Bemerkung, daß wir hier wieder ein Beispiel praktischer Kombinatorik vor uns haben, indem alle Verschiedenheiten berücksichtigt sind, die überhaupt ein- treten können. Eines freilich ist vorausgesetzt, daß nämlich nur Wiederholungen von Quadratwurzelausziehungen vorkommen, daß also sämtliche im X. Buche behandelten Irrationalitäten der Konstruktion mit Hilfe von Zirkel und Lineal unterworfen sind, und solche Irra- tionalitäten sollen uns von nun an euklidische Irrationalitäten heißen, wie sie tatsächlich in späterer Zeit genannt worden sind. Wir heben zwei Sätze des X. Buches besonders hervor, das erste Lemma, welches auf Satz 29. folgt, und welches zwei Quadratzahlen bilden lehrt, deren Summe wieder Quadratzahl ist, und den letzten Satz des Buches von der gegenseitigen Inkommensurabilität der Seite und der Diagonale eines Quadrates. Letzteren Satz haben wir nebst seinem mutmaßlich altpythagoräischen Beweise daraus, daß sonst Gerades und Ungerades einander gleich wären, schon (S. 182) be- sprochen. Die Herstellung rationaler rechtwinkliger Dreiecke ist uns auch kein neuer Gegenstand. Methoden des Pythagoras (S. 186) und des Platon (S. 224) sind uns bekannt geworden, jene von ungeraden, diese von geraden Zahlen ausgehend. War nämlich aus a=b?+ die Folgerung = (a+b)(a — b) gezogen, und daraus. die weitere Folgerung, daß «+5 und «— b ähnliche Flächenzahlen sein müssen, so nahmen wir an, daß jene Männer die besonders einfachen Ver- suche angestellt hätten, einmal «—b=1 und einmal a—b=2 zu setzen. Das Verfahren des Euklid kann als Bestätigung unserer Ver- mutungen gelten. Nach der besonderen Annahme konnte und mußte man dazu übergehen für «+b und a—b irgend welche ähnliche Flächenzahlen zu wählen, und dieses tat Euklid. Er läßt ähnliche Flächenzahlen, d. h. solche, welche proportionierte Seiten haben (De- finition 21. des VII. Buches), und deren Produkt eine Quadratzahl geben muß (Satz 1. des IX. Buches), bilden, etwa «- ß? und «: y?, und verlangt dabei, daß beide gerade oder beide ungerade seien, damit ihr Unterschied halbierbar ausfalle.. Unter dieser Voraussetzung Alexandria. Die Elemente des Euklid. 271 Bi 2 2 9 wird sodann «ß?-ay’ + (Fer) = (Fr = ), mithin sind die Seiten des rechtwinkligen Dreiecks @ßy, en EM, dr er, gefunden. Wir haben noch den Inhalt des letzten Hauptteiles der eukli- dischen Elemente anzugeben, der in dem XI, XII. und XIII. Buche enthaltenen Stereometrie. Im XI. Buche beginnt diese Lehre genau in der Weise, wie sie auch heute noch behandelt zu werden pflegt, mit den Sätzen, welche auf parallele und senkrechte gerade Linien und Ebenen sich beziehen, woran Untersuchungen über Ecken sich schließen. Alsdann wendet sich der Verfasser zu einem besonderen Körper, dem Parallelepipedon und geht nur in dem letzten Satze des Buches zu dem allgemeineren Begriffe des Prisma über. Das XII. Buch enthält die Lehre von dem Maße des körper- lichen Inhaltes der Pyramide, des Prima, des Kegels, des Zylin- ders und endlich der Kugel. Eine wirkliche Berechnung findet sich allerdings bei Euklid nie, weder wo von Flächeninhalten noch wo von Körpermaßen die Rede ist, und namentlich bei solchen Raum- gebilden, zu deren Erzeugung Kreise oder Kreisstücke beitragen, ıst nirgend angegeben, wie man eigentlich zu rechnen habe. Sollte die Ausrechnung des Kreisinhaltes von den Ägyptern bis zu Euklid ver- loren gegangen sein? Die Unwahrscheinlichkeit dieser Annahme der mehrfachen Beschäftigung mit der Quadratur des Kreises bei Anaxa- goras, bei Antiphon, bei Bryson, bei Hippokrates gegenüber wird vollends für einen in Alexandria lebenden Mathematiker zur Unmög- lichkeit. Ägypten, welches das Althergebrachte mit Zähigkeit fest- hielt, welches ein Exemplar des Rechenbuches des Ahmes noch mehr als 2000 Jahre später als Euklid uns unversehrt überliefert hat, war nicht das Land, in welchem so unbedingt Notwendiges wie die Kreis- rechnung vergessen wurde, und ebensowenig läßt sich annehmen, daß die ägyptische Geometrie den griechischen Gelehrten, welche unter dem Schutze des ägyptischen Königs sich dort aufhielten, unbekannt hätte bleiben können. Wir stehen vielmehr hier vor einer absicht- lichen Weglassung, vor einem grundsätzlichen Widerstreite zwischen Geometrie und Geodäsie. Letztere, deren Vorhandensein zur Zeit des Aristoteles wir (S. 252) hervorgehoben haben, war ihrem Wesen nach eine rechnende Geometrie. In der eigentlichen oder theore- tischen Geometrie war Rechnung als solche ausgeschlossen. Aristo- teles hat ausdrücklich gesagt: „Man kann nicht etwas beweisen, indem man von einem anderen Genus ausgeht, z. B. nichts Geonetrisches durch Arithmetik... Wo die Gegenstände so verschieden sind, wie Arithmetik und Geometrie, da kann man nicht die arithmetische Be- weisart auf das, was den Größen überhaupt zukommt, anwenden, 212 12. Kapitel. wenn nicht die Größen Zahlen sind, was nur in gewissen Fällen vor- kommen kann“!). Der Ausdruck, die Größen seien nur in gewissen Fällen Zahlen, bezieht sich vermutlich auf irrationale Strecken, welche als Nichtzahlen galten, und dieser Ausnahme zuliebe dürfte das V. Buch der Elemente entstanden sein. Was aber von den Beweisen gesagt ist, scheint auch auf Rechnungsoperationen ausgedehnt worden zu sein. So zeigt also Euklid in diesem XI. Buche nur, daß Kreise wie die Quadrate ihrer Durchmesser sich verhalten, was Hippokrates von Chios schon wußte; er zeigt, daß, wie die Pyramide der dritte Teil des Prisma von gleicher Höhe und Grundfläche ist, ein ganz gleichlautender Satz für Kegel und Zylinder stattfindet, was Eudoxus von Knidos schon erkannt hatte; er schließt mit dem Satze, daß Kugeln im dreifachen Verhältnisse ihrer Durchmesser stehen. Euklid benutzt zum Beweise dieser Sätze den an der Spitze des X. Buches stehenden Satz von der Möglichkeit durch fortgesetzte Halbierung einen beliebigen Grad der Kleinheit zu erreichen. Geben wir als Beispiel seines Verfahrens den Satz vom Kreise, wobei wir,. wie schon öfter, zur bequemeren Übersicht uns moderner Zeichen be- dienen, im übrigen aber uns genau an Satz 2. des XII. Buches an- schließen. Vorausgeschickt ist der Satz, daß die Flächen ähnlicher in zwei Kreise eingeschriebener Vielecke sich wie die Quadrate der Durchmesser der betreffenden Kreise verhalten. Heißen nun K, und K, die beiden Kreisflächen, deren Durchmesser d, und d, sind, so sei angenommen, daß K,:K, in kleinerem Verhältnisse stehen wie d,?: 03”. Sicherlich gibt es eine Oberfläche &, welche dem Verhältnisse K,:28& = 0,?:0,? genügt, und weil RK, :R2& sein müssen. Dann ist es aber unmöglich, daß dasselbe Verhältnis Ö,”:0,° auch obwalte zwischen einer Fläche, die kleiner ist als K, und einer anderen, die größer ist als &, und gleichwohl läßt sich das Vorhandensein eines solchen unmöglichen Verhältnisses unter der gemachten Voraussetzung nachweisen und damit die Unzulässig- keit der Voraussetzung selbst. Denn beschreibt man in K, und K, einander ähnliche Vielecke ®, und ®,, so ist jedenfalls ©, : ®&, — 6,?:0,° und zugleich ®, <_K,. Es genügt also noch zu zeigen, daß es ein ®, gibt, welches größer als 2 und kleiner als X, ist, und dazu wird die Exhaustion angewandt. Ein dem Kreis umschriebenes Quadrat ist offenbar größer als der Kreis und zugleich genau doppelt so groß als das dem Kreise eingeschriebene Quadrat. Mithin ist letzteres größer als die halbe Kreisfläche, oder unterscheidet sich von der Kreisfläche um weniger als deren Hälfte Wird in jedem der vier I) Aristoteles, Analyt. post. I, 7. 75, a. Alexandria. Die Elemente des Euklid. 273 diesen Unterschied bildenden Kreisabschnitte der Bogen halbiert und mit dem Halbierungspunkte und den Endpunkten als Spitzen ein Drei- eck gebildet, so ist dieses die Hälfte eines Rechtecks, innerhalb welches der Kreisabschnitt eingeschlossen liegt, also größer als die Hälfte des Abschnittes. Das entstandene Achteck unterscheidet sich somit von dem Kreise um weniger als den vierten Teil desselben. Ebenso wird zu zeigen sein, daß der Unterschied zwischen dem regel- mäßigen Vielecke von 16 Seiten und seinem Umkreise geringer als > der Kreisfläche ist. Bei jedesmaliger Verdoppelung der Seitenzahl des Vielecks wird der Flächenunterschied desselben gegen den Kreis mehr als nur halbiert, und schon immerwährende Halbierung genügt nach dem Satze der Exhaustion, um jede beliebige Grenze der Klein- heit zu erreichen. Es ist also damit sichergestellt, daß endlich ein Vieleck ®, erscheinen muß, dessen Fläche sich von der des Kreises um weniger als / unterscheidet, wenn 1= K, — 2 ist, und das ihm ähnliche dem Kreise K, eingeschriebene Vieleck ist jenes zugehörige ®,, welches den ersten Widerspruch liefert. Der Beweis, daß auch nicht K,:K,>0,?:06,? sein kann, wird auf den früheren Fall zu- rückgeführt. Jene Annahme setzt nämlich zugleich voraus, daß K,:K, <0,?:0,”, und die Unmöglichkeit dieser Voraussetzung zu beweisen hat man bereits gelernt, Keine dieser beiden Annahmen findet also statt, sondern nur die zwischen ihnen liegende K,:K, = 0,?:0,.. Das ist der von Euklid eingeschlagene Weg, der in jedem einzelnen Falle mit aller Strenge in ermüdender Einförmigkeit ein- gehalten wird, ohne daß jemals eine Abkürzung des Verfahrens für statthaft angesehen würde. Das XIII. Buch endlich kehrt zu einem Gegenstande zurück, dem das IV. Buch teilweise gewidmet war. Es handelt von den regel- mäßigen einem Kreise eingeschriebenen Vielecken, ins- besondere von den Fünfecken und Dreiecken. Dann aber benutzt es diese Figuren als Seitenflächen von Körpern, welche in eine Kugel eingeschrieben werden und schließt mit der wichtigen Bemerkung, daß es keine weiteren regelmäßigen Körper geben könne als die fünf zuletzt erwähnten, nämlich das Tetraeder, das Oktaeder, das Ikosaeder, die von Dreiecken begrenzt sind, der Würfel, dessen Seiten- flächen Quadrate sind, das Dodekaeder, welches von Fünfecken ein- geschlossen ist: | Wir haben von diesem merkwürdigen Werke einen weit aus- führlicheren Auszug hier mitgeteilt als von den meisten der bisher besprochenen. Die Wichtigkeit des Werkes rechtfertigt unser Ver- fahren. Sie rechtfertigt zugleich die Frage nach dem Zwecke, welchen CAnToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 18 274 12. Kapitel. Euklid be) der Niederschrift im Auge hatte. Proklus sagt uns, wie wir oben (8. 260) erwähnten, Euklid habe als Endziel seines ganzen Elementenwerkes die Konstruktion der sogenannten platonischen Körper hingestellt!). Daß dieses unrichtig ist bedarf für den, der auch nur unseren Auszug mit einiger Aufmerksamkeit gelesen hat, keiner Aus- einandersetzung. Die künstlerisch vollendete Gliederung des Werkes machte es möglich, daß es in dem einen Gipfelpunkte abschloß, aber der Zweck des Werkes war nur durch dessen ganzen Verlauf gegeben und erfüllt. Die 13 Bücher der Elemente sind sich selbst Zweck. „Elemente werden die Dinge genannt, deren Theorie hin- durchdringt zum Verstehen der anderen, und von welchen aus die Lösung ihrer Schwierigkeiten uns gelingt“?). So sagt derselbe Proklus an einer anderen Stelle mit viel treuerer Wiedergabe dessen, was be- absichtigt war. Euklid wollte, wie die übrigen Elementenschreiber vor ihm es schon versucht hatten, eine vollständige Übersicht aller Teile der Mathematik geben, welche in den folgenden Teilen der Wissenschaft zur Anwendung kommen, wollte zugleich die enzyklo- pädisch zusammengestellten und geordneten Dinge auf strenge Be- weise stützen, welche einen Zweifel nicht aufkommen lassen, sondern vielmehr gestatten wie in eine Rüstkammer blindlings dorthin zu greifen mit der Gewißheit stets eine tadellose Waffe zu erfassen. Wieweit wir Euklid als selbständigen Verfasser seines Werkes zu bezeichnen haben, ist kaum zu sagen. ‚Jeder Verfasser eines Handbuches irgend eines Teiles der Mathematik ist von seinen Vor- gängern abhängig, und man muß die Schriften der letzteren kennen, um abzuschätzen, wieweit er von den vorgetretenen Bahnen sich ent- fernte.e Euklid war ohne allen Zweifel ein großer Mathematiker. Dieses Urteil werden die übrigen Schriften, die er verfaßt hat, recht- fertigen. Damit stimmt auch die Bewunderung, welche alle Zeiten seinem vorzugsweise bekannt gewordenen Elementenwerke entgegen- brachten, überein, und der von uns schon hervorgehobene Umstand, daß im Schatten dieses Riesenwerkes die früher vorhandenen ähn- lichen Erzeugnisse verkümmerten und zugrunde gingen, spätere nicht entstehen konnten. Auch die wenigen Beweise, deren Ursprung mit Bestimmtheit auf Euklid sich zurückführt — wir erinnern an den Schulbeweis des pythagoräischen Lehrsatzes — lassen in Euklid den feinen geometrischen Kopf erkennen. Ein großer Mathematiker wird auch da, wo er anderen folgt, seine Eigentümlichkeit nicht ganz ') Proklus (ed. Friedlein) 68 rg ovandeng oroıysınoswng TEA0g 700806- rioaro nv rav xalovusvov Il.erovır®v oynudrov oboracıv. ?°) Proklus (ed. Friedlein) 72, 3—6. Alexandria. Die Elemente des Euklid. 275 verleugnen, und so war es sicherlich auch bei Euklid. Aber wo haben wir diese Eigentümlichkeit zu suchen? Das ist und bleibt wohl eine unbeantwortbare Frage, um so unbeantwortbarer als Pappus, wie wir gleichfalls schon (S. 261) hervorgehaben haben, den Euklid ge- radezu wegen seiner pietätvollen Anlehnung an ältere Schriftsteller lobt, und wenn Pappus dabei allerdings ein anderes Werk des Euklid im Auge hat, so dürfte sich diese Charaktereigenschaft auch in den Elementen nicht verleugnet haben. Wir sind sogar tatsächlich imstande einige und nicht unwesent- liche Stellen des großen Werkes anzugeben, in welchen, wie wir schon früher sahen, Euklid nicht selbständig gearbeitet hat. Das V. Buch gehört, wie wir (5. 241) einem alten Scholiasten nacherzählt haben, dem Eudoxus an. Von ebendemselben stammen nach aller Wahrscheinlichkeit die fünf ersten Sätze des XIII. Buches. Spuren von Vorarbeiten des Theaetet sind (5.237) im X. Buche nicht zu verkennen. Das stimmt gleichfalls mit der Aussage des Proklus überein, daß Euklid „vieles von Eudoxus Herrührende zu einem Ganzen ordnete und vieles von Theaetet Begonnene zu Ende führte“ (8.260). Eben diese alten Spuren geben uns aber Veranlassung zur ‚Untersuchung einer anderen Frage. Die Form des V., des X., des XIII. Buches ist von der der anderen Bücher nicht im mindesten verschieden. Höchstens könnte man betonen, daß, während sonst überall nur synthetisch verfahren ist, die fünf ersten Sätze des XIII. Buches Analyse und Synthese verbinden. Aber auch bei ihnen ist die Form, welche man eukli- dische Form zu nennen pflegt, gewahrt. Der Lehrsatz ist aus- gesprochen, die Vorschrift was an der Figur vorgenommen werden soll ist erteilt, der Beweis schließt sich an. Und in anderen Fällen ist eine Aufgabe gestellt. Ihr folgt die Auflösung, dieser die zum Beweise der Richtigkeit der Auflösung nötigen Vorbereitungen durch Ziehen von Hilfslinien usw. und endlich der Beweis selbst. „Was zu beweisen war“, örsg Eds deigcı (quod erat demonstrandum) ist die Schlußformel des Lehrsatzes oder Theorems, bei welchem es sich um den Nachweis, anödsı$ıv, des Behaupteten handelt. Die Aufgabe, das Problem, bei welchem es auf die Ausführung, xar«6xevnv, des Geforderten ankommt, hat eine ganz ähnliche Schlußformel: „Was zu machen war,“ örso &dsı moıjocaı (quod erat faciendum). Euklid habe diese Schlußformeln benutzt, sagt uns Proklus!), und der Augenschein bestätigt es. Aber rühren diese Schlußworte, rührt die ganze Form von Euklid her? 1) Proklus (ed. Friedlein) 81. 18* 276 12. Kapitel. Wir bezweifeln es aufs allerhöchste. Wir haben in dem Übungs- buche des Ahmes eine Sammlung von Beispielen kennen gelernt, deren griechische Nachbildung in Inhalt und Form, insbesondere in letzterer, uns auf alexandrinischem Boden begegnen wird. „Mache es so“ heißen die regelmäßig wiederkehrenden Worte jener Übungsbücher. Wir haben (S. 80 und 113) davon gesprochen, daß ägyptische Lehr- bücher neben den Übungsbüchern vorhanden gewesen sein müssen. Werden sie weniger eine herkömmliche unabänderliche Form besessen haben als alles andere in dem Lande der sich stets gleichbleibenden Überlieferungen? Und sind jene euklidischen Schlußworte für Lehr- sätze und Aufgaben nicht von anheimelnder Ähnlichkeit zu dem ägyptischen „Mache es so“? Ist es ferner nicht in hohem Grade wahr- scheinlich, daß Eudoxus, von dem, wie wir sagten, das V. Buch, dab Theaetet, von dem Teile des X. und des XIU. Buches teilweise wört- lieh übernommen wurden, der gleichen Form sich schon bedienten’? Ist endlich wohl anzunehmen, Euklid habe eine für den Unterricht, soweit er (redächtnissache ist, ungemein zweckmäßige Form neu er- funden, und diese Form sei nur der Geometrie, keiner anderen Wissen- schaft zugute gekommen? Diese Gründe werden zwar noch nicht Ge- wißheit hervorbringen; noch immer wird von manchen behauptet werden, der Name euklidische Form sei durchaus gerechtfertigt, denn Euklid sei der selbständige Erfinder derselben; aber andere werden ebenso sicher mit uns der Überzeugung gewonnen sein, die ägyptische Form eines Lehrbuches der Geometrie, in Griechenland eingedrungen, seit überhaupt Geometrie dort gelehrt wurde, in Alexandria durch die neuerdings ermöglichte Kenntnisnahme ägyptischer Originalwerke aufgefrischt, habe bei Euklid nur ihre vollendete Abrundung erlangt. Eines haben wir bei Besprechung dieser Ursprungsfrage still- schweigend vorausgesetzt: daß nämlich dasjenige, was uns hand- schriftlich als die Elemente des Euklid überliefert wurde, in der Tat jenes Werk ist, wie es unter dem Griffel des Verfassers entstand. Zweifel daran wären, trotz der ungemeinen Verbreitung, deren die euklidischen Elemente im Altertum sich erfreuten, oder vielleicht eben wegen dieser Verbreitung nicht unmöglich, denn gerade häufig abgeschriebene Schriftstücke verderben leicht durch sieh forterbende und durch bei jeder Abschrift neu hinzutretende Fehler, wenn nicht gar durch allmähliche Einschaltung von Randglossen, welche nach und nach in den Text eindrangen, dem sie als Fremdlinge nur ange- hören. Euklids Elemente sind in antiken Schriften nicht gar oft er- wähnt'), aber die Übereinstimmung der genannten Büchernummer mit !) Untersuchungen darüber von Savilius abgedruckt in Gregorys Vor- Alexandria. Die Elemente des Euklid. 977 der Ziffer, welche sie in den Handschriften führt, ist meistenteils vor- handen. Uns wenigstens ist nur ein Beispiel des Gegenteils bekannt welches auf römischem Boden ım 27. Kapitel zu besprechen sein wird. Fremde spätere Zusätze sind in dem, was man die Elemente des Euklid nennt, allerdings vorhanden. Eines solchen machte Theon von Alexandria in seiner Ausgabe, &xdooıg, der euklidischen Ele- mente am Einde des VI. Buches sich schuldig, wie er selbst in seinem Kommentare zum I. Buche des ptolemäischen Almagestes erzählt). Aus dieser ungemein wichtigen Stelle im Zusammenhange mit dem Umstande, daß jener Zusatz des Theon seinem Inhalte nach sich voll- ständig mit dem Zusatze zu Satz 33. des VI. Buches deckt, geht so- mit hervor, daß es eine theonische Textausgabe der euklidi- schen Elemente ist, deren wir uns bedienen, und daß wenn auch nicht gerade zahlreiche, doch einige Änderungen durch jenen Schrift- steller vom Ende des IV. S. stattgefunden haben mögen. Theon kann es vielleicht gewesen sein, welcher den berüchtigten 11. Grundsatz des I. Buches: „Zwei Gerade, die von einer dritten ge- schnitten werden, so daß die beiden inneren an einerlei Seite liegen- den Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte sind, treffen genugsam verlängert an eben der Seite zusammen“ an diese unpassende Stelle brachte, während es gar kein Grundsatz, sondern die Umkehrung des Satzes 17. des I. Buches ist”), und dort als Folgerung ohne Beweis ausgesprochen immer noch frühzeitig genug stehen würde, um bei Satz 29. des I. Buches benutzt zu werden, wie es der Fall ist. Theon mag auch die Schuld einiger Definitionen des V. und VI. Buches treffen, welche häufig angegriffen worden sind’). Eine Definition des V. Buches, nämlich die 5., hat freilich un- schuldigerweise solche Angriffe erlitten, veranlaßt, wie im folgenden Bande besprochen werden muß, durch Übersetzungsirrtümer zweier Sprachen. Diese Definition geht offenbar ursprünglich auf Zeiten zurück, die vor Euklid liegen. Sie will erklären, was es heiße, wenn man von vier Größen sage, daß sie in Proportion stehen. Da von Größen die Rede ist und nicht von Zahlen, so mußte die Defi- nition so weit gefaßt werden, daß auch Inkommensurables hinein- paßte, und dieses erreichte der Verfasser, sei es Eudoxus oder wer sonst gewesen, indem er außer den Größen A, B, T, 2 noch irgend zwei ganze Zahlen u und v» sich dachte und behauptete, es rede zu seiner Euklidausgabe. Die gleichen Untersuchungen mit einigen neuen Zutaten bei Hankel 386—388. 1) Commentaire de Theon sur la composition mathematique de Ptolemee Edit. Halma I, 201. Paris 1821. ?) Das erkannte schon Savilius. °) Ausführliches hierüber bei Hankel 389—401. 278 13. Kapitel. 2 < ‚T2 v4A. Der Wortlaut ist folgender: „In einerlei Verhältnis sind Größen 4, B, T, 4, die erste zur zweiten und die dritte zur vierten, wenn von beliebigen Gleichvielfachen der ersten und dritten 4, T' und beliebigen Gleichvielfachen der zweiten und vierten B, 4 die Vielfachen der ersten und dritten zugleich entweder kleiner oder eben so groß oder größer sind als die Vielfachen der zweiten und vierten nach der Ordnung miteinander verglichen.“ si A:B=T':4, wofern immer wenn u4=vB zugleich auch 13. Kapitel. Die übrigen Schriften des Euklid. Euklid hat neben und außer den Elementen noch mehrfache andere Schriften verfaßt, die uns leider nicht sämtlich vollständig erhalten sind. So ist uns von einem Werke, welches gewiß höchst interessant war, nur die fast mehr als notdürftige Schilderung übrig geblieben, die Proklus davon mit folgenden Worten gibt: Auch über- lieferte er Methoden des durchdringenden Verstandes mit deren Hilfe wir den Anfänger in dieser Lehre in der Aufsuchung der Fehlschlüsse üben und selbst unbetrogen bleiben können. Die Schrift, durch welche er uns diese Ausrüstung verschafft, betitelt er Trugschlüsse, bevöcgıe. Er zählt die verschiedenen Arten derselben der Reihe nach auf und übt bezüglich jeder unseren Verstand in allerlei Lehr- sätzen, indem er dem Falschen das Wahre gegenüberstellt und den Beweis des Truges mit der Erfahrung zusammenhält'). Verloren sind auch die drei Bücher der Porismen, welche Euklid verfaßte, deren Inhalt jedoch aus Spuren in genügender Weise erkannt werden konnte, um eine vermutlich in der Hauptsache richtige Wiederherstellung zu gestatten?). Mit den genannten Spuren hat es folgendes Bewandtnis. Pappus hat in seiner Mathematischen Sammlung, von welcher schon wiederholt die Rede war, neben eigenen Untersuchungen auch vielfach Auszüge aus fremden Schriften gegeben, welche gleichzeitig bis zu einem gewissen Grade erläutert werden. ) Proklus (ed. Friedlein) 70. ?) Les trois livres de Porismes d’Euclide retablis pour la premiere fois d’apres la notice et les lemmes de Pappus et con- formement au sentiment de R. Simson sur la forme des enonces de ces propositions par M. Chasles. Paris 1860. Heiberg, Euklidstudien S. 56—79 sucht aller- dings die Behauptung zu begründen, die Chaslessche Wiederherstellung der Porismen sei noch keineswegs als endgültig anzusehen. Die übrigen Schriften des Euklid. 279 Unter diesen fremden Schriften befinden sich denn auch die eukli- dischen Porismen, von welchen im VII. Buche der Sammlung die Rede ist, und zu deren Verständnis Pappus eine Anzahl von Lemmen mitteilt!). Freilich wäre der Gebrauch, welchen man von diesen Hilfs- sätzen allein machen könnte, um aus ihnen den Inhalt des Werkes, zu welchem sie erfunden sind, zu erschließen, kein unbedingter. Wir besitzen nämlich auch noch Lemmen des Pappus zu Werken, deren Urschrift nicht verloren gegangen ist, und an diesen zeigt sich, daß der geometrische Scharfsinn des Verfassers ihn nicht selten weit ab- seits führte, und daß er sich wohl gerade dadurch verleiten ließ etwas verschwenderisch mit der Benennung Lemma umzugehen. Es kommen Sätze bei Pappus vor, welche so gut wie in gar keiner Beziehung zu den Schriften stehen, als deren Hilfssätze sie bezeichnet werden, und wir haben zum voraus keinerlei Gewähr dafür, daß es sich mit den Hilfssätzen zu den euklidischen Porismen nicht ebenso verhalte. Nachträglich scheint freilich die gelungene Wiederherstellung, von der wir sprachen, und welche für das tiefe Eindringen ihres Ver- fassers in den geometrischen Geist der Alten ein glänzendes Zeugnis ablegt, jene Gewähr zu liefern. Es ist schwer an einen Zufall zu denken, wo die Ergebnisse vollste Übereinstimmung mit den 38 Lemmen des Pappus, mit der Inhaltsangabe der drei Bücher Porismen, wie sie bei ebendemselben sich findet, mit der Erklärung des Wortes Porisma bei Pappus und mit einer solchen bei Proklus’) zutage fördert. Der sprachliche Zusammenhang des Wortes Porisma, zdoıoue, mit zeiow, mit Pore, mit parare, mit forschen, mit dem Sanskrit- worte pri T läßt einen Grundbegriff des Vorwärtsbringens wohl er- kennen, doch ist damit nur die eine Bedeutung von Porisma als Zusatz, corollarium, gegeben, welche gleichfalls durch das Vor- kommen in geometrischen Schriften bestätigt wird. Porisma als Kunstname einer besonderen für sich bestehenden Gattung von Sätzen wird dadurch um nichts klarer. Von diesen sind dagegen ausdrück- liche Definitionen vorhanden. Pappus in der Einleitung zu seinem VII. Buche sagt, Porisma sei ein Ausspruch, bei welchem es sich um die Porismierung des Ausgesprochenen handle, und fügt dieser Erklärung durch ein fast gleiches Wort die Erläuterung bei: „Diese Definition des Porisma wurde von den Neueren verändert, welche nicht alles finden können, sondern auf die Elemente gestützt nur zeigen, daß das, was gesucht wird, vorhanden ist, nicht aber dieses selbst finden. So schrieben sie, obschon durch die Definition selbst und das Erlernte widerlegt, mit bezug auf einen Nebenumstand, ein ı) Pappus (ed. Hultsch) 648sqq. °) Proklus (ed. Friedlein) 301 sqg. 280 13. Kapitel. Porisma sei das, was zur Hypothese eines Ortstheorems fehle.“ Eine weitere Definition, sagten wir oben, gebe Proklus. Sie enthält gleich- falls zweierlei, wenn auch nicht dieselben beiden Unterscheidungen wie Pappus sie trennt. „Einmal nennt man es ein Porisma, wenn ein Satz aus dem Beweise eines anderen Satzes mit erhalten wird, als Fund oder gerade vorhandener Gewinn bei dem Gesuchten, zweitens aber auch, wenn etwas zwar gesucht wird, aber um von der Er- findung Gebrauch zu machen und nicht von der Entstehung oder der einfachen Anschauung.... Man hat es nicht mit der Entstehung des Gesuchten zu tun, sondern mit dessen Erfindung, und auch eine bloße Anschauung genügt nicht. Man muß das Gesuchte in das Ge- sichtsfeld bringen und vor den Augen ausführen. Von dieser Art sind auch die Porismen, welche Euklid schrieb, als er seine Bücher der Porismen verfaßte.“ Diese Erklärungen haben gewiß keinen An- spruch auf den Ruhm unbedingter Deutlichkeit, aber eines lassen sie erkennen: daß das Wort Porisma allmählich einen anderen Sinn an- nahm, als es ursprünglich besaß. Man versteht diese Begriffsver- schiebung jetzt gewöhnlich so, daß die verhältnismäßig jüngeren Schriftsteller — jünger im Sinne des Pappus gesagt für diejenigen, welche auftraten, seit es Elemente gab — dabei an einen Neben- umstand sich hielten, der von den Alten nicht berücksichtigt wurde, daß aber jedenfalls zu allen Zeiten das Merkmal untrüglich hervor- trat, daß ein Porisma gewissermaßen eine Verbindung von Theorem und Problem war, ein Theorem, welches ein Problem anregte und einschloß. Ein sehr allgemeines Beispiel davon bildet auf einem der Mathematik durchaus fremden Gebiete die ärztliche Dia- gnose. Nie ist ein wahres Porisma. Sie erhärtet als Theorem den gegenwärtigen Zustand des Kranken, wobei sie ebensowohl die bei allen Individuen gemeinsamen Erscheinungen der bestimmten Krank- heitsform, als die von einem Menschen zum anderen veränderlichen Naturkundgebungen berücksichtigt. Sie schließt aber auch ein Problem in sich: die weitere Entwicklung des Krankheitsprozesses voraus- zusehen und womöglich zu leiten. Sie zeigt sich als unvollständig, so lange nicht eben dieses Problem seiner Lösung entgegengeführt wird. Übersetzen wir nun eben diese Gedankenfolge in die Sprache der Mathematik, so können wir sagen: Ein Porisma ist jeder un- vollständige Satz, welcher Zusammenhänge zwischen nach bestimmten Gesetzen veränderlichen Dingen so ausspricht, daß eine nähere Erörterung und Auffindung sich noch daran knüpfen. Ein schon von Proklus angegebenes Beispiel liefert etwa der Satz, daß, wenn ein Kreis gegeben ist, der Mittelpunkt des- selben immer gefunden werden könne, denn an ihn knüpft sich die Die übrigen Schriften des Euklid. 281 Aufgabe, die Konstruktion zu ermitteln, durch welche man den Mittelpunkt wirklich erhält, mit Notwendigkeit an. Oder um ein zweites den Griechen noch durchaus unverständliches Beispiel zu wählen, so ist es ein Porisma, wenn man sagt: Jede rationale ganze algebraische Funktion einer Veränderlichen könne immer in einfachste reelle Faktoren zerlegt werden, denn an diesen Satz knüpft sich un- mittelbar die weitere Frage, von welchem Grade jene einfachsten Faktoren sein werden, sowie die mit den Mitteln gegenwärtiger Al- gebra nicht lösbare Aufgabe in jedem einzelnen Falle die betreffen- den einfachsten Faktoren selbst aufzufinden. Wenn durch diese Aus- einandersetzung der Begriff des Porisma im älteren Sinne des Wortes zu einiger Klarheit gelangt sein dürfte, so können wir jetzt auch die spätere Bedeutung des Wortes ins Auge fassen. Nachdem man nämlich bemerkt hatte, daß die Veränderlichkeit mitunter in der Ortsveränderung von Punkten bestehe, so klammerte man sich an diesen Nebenumstand fest und setzte als Regel, daß das Veränderliche ausschließlich von der Art sein sollte, daß man es mit einem mangelhaften Ortstheoreme zu tun habe. Eines der berühmtesten Porismen in diesem Sinne, welches bei Pappus sich erhalten hat!), lautet in der Sprache heutiger Geometrie etwa so: Schneiden die Linien eines vollständigen Vierseits sich in sechs Punkten, von denen drei in einer Geraden liegende gegeben sind, und sind von den drei übrigen Punkten zwei der Bedingung unter- worfen je auf einer gegebenen Geraden zu bleiben, so wird auch der letzte Punkt eine Gerade zum geometrischen Orte haben, welche aus den vorhandenen Angaben bestimmt werden kann. Man sieht augen- blicklich, erstens daß es sich hier um einen geometrischen Ort handelt, zweitens daß in der Hypothese die Lage der von zwei Punkten beschriebenen Geraden nicht näher bezeichnet ist, daß also an der Hypothese etwas fehlt, drittens daß demgemäß auch die Fol- gerung an Bestimmtheit zu wünschen übrig läßt, daß aber viertens die Folgerung zu vollständiger Bestimmtheit ergänzt werden kann, indem man die Lage der dritten Geraden zu den gegebenen Raum- gebilden in Beziehung setzt, sie als eine darzustellende Funktion der- selben betrachtet. Mit anderen Worten: die Ortsveränderung eines Punktes ist in Abhängigkeit gebracht zu den ÖOrtsveränderungen zweier Punkte, so daß sie der Art nach bestimmt ist, der Lage nach aber erst bestimmt wird, wenn jene Ortsveränderungen der beiden anderen Punkte, sowie drei feste Punkte wirklich gegeben sind. Dieses vollständiger als die übrigen erhaltene Porisma wurde, Pappus VII, praefatio (ed. Hultsch) 652 sqq. 282 13. Kapitel. wie wir gleichfalls durch Pappus wissen, in zehn einzelnen Fällen behandelt, je nach der Verschiedenheit der Lage der einzelnen Punkte und Geraden. Man erkennt an diesem einen Beispiele, welche ge- waltige Ausdehnung eine Sammlung von Porismen gewinnen konnte, wenn die teils als Bedingungen, teils als Ergebnisse in jedem Porisma vorkommenden geometrischen Örter jeder beliebigen Gattung von Raumgebilden angehören durften. Euklid legte sich die freiwillige Beschränkung auf, nur solche Örter zu benutzen, deren Lehre aus seinen Elementen zur Genüge bekannt war. In den beiden ersten Büchern seiner Porismen treten nur Gerade auf, in dem dritten Buche außer solchen auch Kreise. Trotz dieser engen Beschränkung waren 171 Sätze in dem Werke enthalten, welche Pappus je nach den Er- gebnissen, also abseits der Bedingungen, in 29 Gattungen abgeteilt hat. Eine Gattung war es z.B., wenn sich herausstellte, daß ein Punkt auf einer der Lage nach bekannten Geraden liegen müsse; eine zweite, wenn man erfuhr, daß eine gewisse Gerade in allen ihren Lagen durch einen bestimmten Punkt gehen müsse; eine dritte, wenn wieder eine bewegliche Gerade auf zwei gegebenen Geraden Abschnitte von bestimmten Produkten bildete, während man bei der Aufstellung jener Gattungen als solcher zunächst davon absah, welcherlei Be- dingungen in jener ersten Gattung die Bewegung des Punktes, in den beiden anderen die Bewegung der Geraden regeln. Von dieser Auf- fassung ist wenigstens die von uns schon gerühmte Wiederherstellung der euklidischen Porismen ausgegangen, auf welche für die genauere Kenntnis des Gegenstandes verwiesen werden muß. Er ist trotz des Scharfsinnes, welchen der neue Bearbeiter als Geometer wie als Histo- riker an den Tag legte, nicht so weit über allen und jeden Zweifel erhaben, daß wir es verantworten könnten über die Ergebnisse der Wiederherstellung unter dem Verfassernamen des Euklid zu berichten. Nur Eines entnehmen wir ihr noch: die Verwandtschaft, welche Euklids Porismen nach zwei Seiten hin besaßen. Im Hinblicke auf ihren In- halt, auf die Lehre von der veränderlichen Lage grenzten sie an die sogenannten geometrischen Örter; in ihrer Form näherten sie sich einem anderen euklidischen Werke, den Daten. Die Daten!), dedöusve, des Euklid sind vollständig auf uns ge- kommen, versehen mit einer Vorrede des Marinus von Neapolis in Palästina, eines Schülers des Proklus, in ihrer Echtheit bestätigt 1) Eine deutsche Übersetzung hat J. F.Wurm (Berlin 1825) herausgegeben, den griechischen Text der ersten 24 Sätze nach einem münchner Kodex Fr. Buchbinder in dem Programm der Landesschule Pforta für 1866: Euklids Porismen und Data. Die letzte Ausgabe ist die von H. Menge als 6. Band der Euklidausgabe (1896). Die übrigen Schriften des Euklid. 283 durch eine Beschreibung des Pappus, welche wenn auch nicht in allen Punkten, doch der Hauptsache nach mit unserem Texte über- einstimmt!). Was man unter einem Gegebenen, ödsdöusvov, zu ver- stehen habe, sagt Euklid in einer Reihe von Definitionen, welche an der Spitze dieser Schrift stehen. Der Größe nach gegeben heißen Räume, Linien und Winkel, wenn man solche, die ihnen gleich sind, finden kann. Ein Verhältnis heißt gegeben, wenn man ein Verhältnis, welches mit jenem einerlei ist, finden kann. Der Lage nach gegeben heißen Punkte, Linien und Winkel, wenn sie immer an demselben Orte sind usw. Nach diesen Definitionen folgen 95 (Pappus zufolge nur 90) Sätze, in welchen nachgewiesen wird, daß, wenn gewisse Dinge gegeben sind, andere Dinge gleichzeitig mitgegeben sind. Zur besseren Einsicht in den Gegenstand heben wir einige Sätze aus den verschiedensten Teilen der Schrift hervor. Satz 1. Gegebene Größen haben zueinander ein gegebenes Ver- hältnis. Satz 3. Wenn gegebene Größen, wie viele ihrer sein mögen, zusammengesetzt werden, so ist ihre Summe gegeben. Satz 25. Wenn zwei der Lage nach gegebene Linien einander schneiden, so ist ihr Durchschnittspunkt gegeben. Satz 40. Wenn in einem Dreiecke jeder Winkel der Größe nach gegeben ist, so ist das Dreieck der Art nach gegeben. Satz 41. Wenn in einem Dreiecke ein Winkel gegeben ist und die um diesen Winkel liegenden Seiten ein gegebenes Verhältnis zu- einander haben, so ist das Dreieck der Art nach gegeben. Satz 54. Wenn zwei der Art nach gegebene Figuren ein ge- gebenes Verhältnis zueinander haben, so haben auch ihre Seiten zu- einander ein gegebenes Verhältnis. Satz 58 und 59. Wenn ein gegebener Raum einer gegebenen geraden Linie angefügt, aber um eine der Art nach gegebene Figur zu klein, &AAsırov (zu groß, üreoßeAkov) ist, so sind die Seiten der Ergänzung (des Überschusses) gegeben. Satz 84 und 85. Wenn zwei Gerade einen gegebenen Raum unter einem gegebenen Winkel einschließen und ihr Unterschied (ihre Summe) gegeben ist, so ist jede derselben gegeben. Satz 89. Wenn in einem der Größe nach gegebenen Kreise eine der Größe nach gegebene Gerade gegeben ist, so begrenzt sie einen Abschnitt, welcher einen gegebenen Winkel faßt. Die Vergleichung dieser Proben mit dem, was über Porismen gesagt wurde, läßt augenblicklich die angekündigte Formverwandt- ı) Pappus VI (ed. Hultsch) pag. 638—640. 284 13. Kapitel. schaft erkennen. Auch hier schließt das Theorem, in dessen Gewande die Sätze aufzutreten pflegen, ein künftiges Problem ein, und die Beweisführung erfolgt fast regelmäßig so, daß jenes Problem gelöst. wird. So ist in dem oben angeführten Satz 3. die Aufgabe mit ein- - geschlossen, die Summe der gegebenen Größen auch wirklich zu finden, und in der Tat wird der Satz dadurch als richtig erwiesen, daß man zwar nicht die Summe selbst, denn dieses würde nicht in dem Charakter des Buches der Gegebenen liegen, aber eine der Stumme gleiche Größe darstellt. Aber auch dafür ist umgekehrt gesorgt, daß man nieht Daten und Porismen ganz verwechseln könne. Da- gegen schützt der gewaltige Unterschied des Inhaltes, der sich kurz dahin bezeichnen läßt, daß bei den Daten die Bedingung der ver- änderlichen Größe wegfällt, welche zum eigentlichen Wesen des Porisma gehört und dessen wissenschaftliche Stellung nach unseren heutigen Begriffen zu einer weit höheren macht als die der Daten, deren eigentliche Berechtigung uns fast zweifelhaft erscheint, weil in ihnen im Grunde nichts steht, was nicht schon in anderer Form und anderer Reihenfolge in den Elementen steht oder wenigstens stehen könnte. Die Data, kann man sagen, sind Übungssätze zur Wiederauf- frischung der Elemente; die Porismen sind Anwendungen derselben von selbständigem Werte. Der Stoff, welcher dem, der die Daten auswendig weiß, zu Gebote steht, führt ihn doch nicht über die Elemente hinaus; der Stoff, welcher in den Porismen dem Gedächt- nisse sich einprägt, kommt in der Lehre von den Örtern, in der höheren Mathematik der Griechen, zur Geltung. Daten kann es in frühester Zeit gegeben haben, Porismen im euklidischen Sinne erst seitdem der Ortsbegriff entstand. Die nahen Beziehungen der Daten zu den Elementen lassen sich auch auf jenem Gebiete verfolgen, welches ein gemischtes ist, insofern dort Arithmetisches und Algebraisches geometrisch eingekleidet er- scheinen. Vergleichen wir z. B. Satz 58. und 59. mit den Aufgaben in Satz 28. und 29. des VI. Buches (S. 266), so liegt die Wechsel- verbindung auf der Hand!). Satz 84. und 85. lehren aus xy = b? und 2+y=a die Wurzeln der beiden Gleichungen, oder, was auf dasselbe hinausläuft, die Wurzel der quadratischen Gleichung x? # b? = ax zu finden?). Wir erinnern dabei an den 11. Satz des II. Buches ') Matthiessen, Grundzüge der antiken und modernen Algebra der litteralen Gleichungen S. 928—929 hat darauf hingewiesen. ?). Darauf dürfte Chasles, Apergu historique sur Vorigine et le developpement des methodes en geometrie, 2. edition. Paris 1875, pag. 11, Note 2 oder deutsche Übersetzung von Sohncke. Halle 1839, S. 9, Anmerkung 11 zuerst aufmerksam gemacht haben. Dieses Werk heißt bei uns künftig Chasles, Apergu hist. Die übrigen Schriften des Euklid. 285 der Elemente (S. 263), in welchem die Gleichung 2? + ax= a? er- kannt wurde, ein besonderer Fall der Gleichung x? + ax =D? des 29. Satzes des VI. Buches. Wir erinnern an die Gleichung x? + b? — ax des 28. Satzes des VI. Buches, und haben jetzt hier in den Daten den einzigen noch übrigen Fall «= ax + b? der quadratischen Gleichung mit lauter positiven Gliedern vor uns. Die Daten sind hier die notwendige Ergänzung der Elemente. Der Schriftsteller, der beide verfaßte, war im Besitz der Mittel eine Wurzel jeder quadrati- schen Gleichung, welche überhaupt eine reelle Lösung zuläßt, zu finden. Darf aber das Bewußtsein hier eine große Gruppe von Pro- blemen vor sich zu haben, deren Bedeutung nicht nur eine geometrische ist, bei Euklid vorausgesetzt werden? Die geometrische Form, in welcher jene Aufgaben bei Euklid erscheinen und welche man nicht unpassend eine geometrische Algebra') genannt hat, würde nicht genügen, jedes algebraische Bewußtsein zu leugnen, denn jene Form werden wir, als Überbleibsel alter Übung, bei Schriftstellern und in Zeiten noch vorwalten sehen, denen man wohl eher umgekehrt das geometrische Bewußtsein absprechen darf. Ist aber diese kleine Schwierigkeit aus dem Wege geräumt, so nehmen wir keinen Anstand die gestellte Frage voll zu bejahen. Euklid muß mit numerischen quadratischen Gleichungen zu tun gehabt haben, denn nur daraus läßt sich das Entstehen des X. Buches seiner Elemente erklären ?), und das ist die große Bedeutung, welche wir (S. 268) eben diesem Buche zum voraus beigelegt haben. Wie verhält es sich aber mit der Fähigkeit des Euklid auch solche Gleichungen zu lösen, welche in durchaus anderem Gewande erscheinen? In einer Sammlung griechischer Epigramme, von welcher im 23. Kapitel die Rede sein wird, kommt als euklidisches Problem eines vor, welches in deutscher Übersetzung folgendermaßen lautet): Esel und Maultier schritten einher beladen mit Säcken. Unter dem Drucke der Last schwer stöhnt’ und seufzte der Esel. Jenes bemerkt es und sprach zu dem kummerbeladnen Gefährten: „Alterchen, sprich, was weinst Du und jammerst schier wie ein Mägdlein? Doppelt so viel als Du grad’ trüg’ ich, gäbst Du ein Maß mir; ‘Nähmst Du mir eines, so trügen wir dann erst beide dasselbe.“ Geometer, Du Kundiger, sprich, wieviel sie getragen. ") Den Namen der geometrischen Algebra hat H. Zeuthen eingeführt. ?) Dieser feine und wichtige Gedanke ist zuerst ausgesprochen bei Zeuthen, Die Lehre von den Kegelschnitten im Alterthume (deutsche Ausgabe von R. von Fischer-Benzon. Kopenhagen 1886), S. 24—25. S. A. Christensen, Ueber Gleichungen vierten Grades im X. Buch der Elemente Euklids. Zeitschr. Math. Phys. XXXIV, Hist.-liter. Abtlg. S. 201—207 geht uns allerdings etwas zu weit. ®) Vgl. Nesselmann, Algebra der Griechen $. 480. 286 13. Kapitel. Wie verhält es sich mit der Berechtigung dieser Aufgabe, den ihr beigelegten Namen zu führen? Die meisten Schriftsteller leugnen diese Berechtigung vollständig. Jedenfalls muß man zwei Dinge hier unterscheiden, ob Euklid eine derartige Aufgabe lösen konnte und ob er sie so, wie sie überliefert ist, löste oder gar stellte. An der Mög- lichkeit der Lösung wird man nicht zweifeln. Schon Thymaridas hatte (S. 158) Gleichungen ersten Grades mit mehreren Unbekannten von einer gewissen Form lösen gelehrt, und Euklid dürfte, seiner Gewohnheit nach alles an Linien versinnlichend, gesagt haben, wenn man die Last des Maulesels durch eine Linie A darstellt, so wird, wenn die Längeneinheit abgeschnitten ist, A — 1 als übrige Last der bereits um die Einheit vergrößerten Last des Esels gleich sein; die ursprüngliche Last des Esels war also A— 2, oder um 2 geringer als die des Maultierss. Nimmt man zu A noch eine Längeneinheit hinzu, so ist A + 1 doppelt so groß wie das um die Einheit ver- minderte A— 2, oder wie A— 3, d.h. A+1 und 24-6 sind gleiche Längen; daraus fllgt A+7T=4A+A und A=|T nebst A—2=5. Solche Schlüsse, sagen wir, waren Euklid vollständig angemessen, und die Durchführung von Satz 11. des II. Buches der Elemente, die wir (8. 264) als Probe vorgenommen haben, dürfte jedem Zweifel in dieser Beziehung begegnen. Ein ganz andres ist es, ob die epigrammatische Form der Rätselfrage von Euklid herstamme. Ähnliche Fragen werden uns wiederholt begegnen, teilweise auch auf alte Quellen zurückgeführt. Jedenfalls dient die eine Aufgabe der anderen zur Bestätigung, oder zur vernichtenden Kritik. Ist die eine echt, dann kann auch die andere echt sein; ist die eine verhältnis- mäßig späte Unterschiebung unter den Namen eines Verfassers, der weniger als Verfasser, denn als Vertreter mathematischer Wissenschaft gemeint ist, so daß euklidisches Problem nur heißen soll: Problem, wie es Euklid zu lösen imstande war, dann dürfte das gleiche auch für die andere Aufgabe gelten. Wir müssen uns enthalten eine Ent- scheidung zu treffen, zu welcher dem Mathematiker so gut wie keine bestimmenden Gründe vorliegen. Nur die vollständige Verschiedenheit des Epigrammes von allen sonstigen euklidischen Schriften lassen wir als Gegengrund gegen die Echtheit nicht gelten. Ein Gedichtchen ist nun einmal keine Abhandlung. Beide müssen voneinander ab- weichen, und daß es dem Ernste des Mathematikers nicht widerspricht, auch einmal an die Scherzform der Poesie sich zu wagen, haben Bei- spiele aller Zeiten bewiesen. Zudem würde dieser Gegengrund vollends schwinden, wenn man zu der eben durch ein Wort angedeuteten Auf- fassung sich bekennen wollte, Euklid habe die Aufgabe nicht gestellt, sondern gelöst, und sie sei deshalb unter seinem Namen bekannt geblieben. Die übrigen Schriften des Euklid. 287 Proklus berichtet!) noch von einer weiteren geometrischen Auf- gabensammlung, welche Euklid verfaßte und welche den Namen des Buches von der Teilung der Figuren, coli dınıpeoeov BußAlov, führte?). Bis in die zweite Hälfte des XVI. S. war diese Schrift, abgesehen von den Auszügen aus derselben, von denen man nicht wußte, daß sie daher stammten, für das Abendland verschollen. Da fand John Dee um 1563 eine arabische Schrift gleichen Titels, welche er, wiewohl Mohammed Bagdadinus (so lautet der Name in der uns allein bekannten latinisierten Form) als Verfasser genannt war, für euklidisch hielt, und deren lateinische Übersetzung er anfertigte, die zuerst 1570 durch Dee in Gemeinschaft mit Commandino heraus- gegeben wurde, und die alsdann in die Gregorysche Euklidausgabe von 1702 Aufnahme fand. Dees Vermutung hat an Wahrscheinlich- keit gewonnen, seit Woepcke in Paris ein zweites arabisches Bruch- stück auffand, welches mit dem Deeschen Manuskripte wenn auch nicht wörtlich doch dem Wesen nach übereinstimmend, namentlich eine Lücke jenes ersten Textes ergänzte. Proklus erwähnt nämlich ausdrücklich Sätze über die Teilung des Kreises, und diese fehlten ın dem Deeschen, fanden sich in dem Woepckeschen Bruchstücke. Nimmt man hinzu, daß in letzterem Euklid als Verfasser geradezu genannt ist, so wird es fast zur Gewißheit, daß hier eine Bearbeitung des euklidischen Textes vorliegt. Eine wörtliche Übersetzung anzunehmen hindern einige vorkommende mathematische Unrichtigkeiten, die einem Euklid nicht wohl entstammen können°?). Einige Beispiele der uns erhaltenen Aufgaben sind folgende. Das Dreieck wie das Viereck werden durch eine einer gegebenen Geraden parallele Linie nach ge- gebenem Verhältnisse geteilt. Für das Fünfeck ist die Aufgabe nicht ganz so allgemein, gestellt, aber immerhin wird die Teilung desselben nach gegebenem Verhältnisse verlangt, sei es von einem Punkte einer Fünfecksseite aus, sei es durch eine zu einer Fünfecksseite unter gewissen Voraussetzungen parallele Gerade Endlich schließt die pariser Handschrift, wie bemerkt, die Aufgaben ein, eine von einem Kreisbogen und zwei einen Winkel bildenden Geraden gebildete Figur durch eine Gerade in zwei gleiche Teile zu teilen, und von einem gegebenen Kreise einen bestimmten Teil abzuschneiden, Aufgaben, zu deren Lösung ein ziemlicher Grad geometrischer Gewandtheit ı) Proklus (ed. Friedlein) pag. 69 und 144. 2?) Vgl. Gregory in der Vorrede zu seiner Euklidausgabe. Woepcke im Journal Asiatique für Sep- tember und Oktober 1851 und ganz besonders Ofterdinger, Beiträge zur Wie- derherstellung der Schrift des Euklid über die Theilung der Figuren. Ulm 1853. 3) Das bemerkte bereits Savilius, Praelectiones tresdecim in principium Ele- mentorum Euclidis. Oxford 1621, pag. 17. 288 18. Kapitel. erforderlich ist, wenn auch die Grundlage derselben durchaus ele- mentarer Natur bleibt. Die Figur 4BT4 z.B. (Fig. 45) wird, wenn E die Mitte der Sehne B4 be- * > zeichnet, offenbar durch die ge- brochene Linie AET' halbiert. Wird alsdann EZ parallel zu AT gezogen, so haben die Dreiecke AZIT und AET gleichen Inhalt, \ und mithin halbiert auch die Ge- wi z 3 rade I'Z unsere Figur. Sr DS Einige andere Schriften des rn Euklid können als die geistige Fort- Fig. 43. setzung seiner Porismen betrachtet werden, indem sie sich zur höheren Mathematik ihrer Zeit ordnen lassen: Vier Bücher über die Kegel- schnitte und zwei Bücher über die Örter auf der Oberfläche. Das letztgenannte Werk, die roxoı roög Enıipavsıev, hat als Spur außer seinem Titel nur vier Lemmen bei Pappus hinterlassen'), Wenn man daher gemeint hat, Euklid habe in diesen Örtern auf der Ober- fläche Umdrehungsflächen zweiten Grades behandelt?), so ist diese Vermutung nur mit äußerster Vorsicht zu wiederholen. .Größere Wahrscheinlichkeit hat für uns die Auffassung), jene Örter beträfen Kurven auf Zylinderflächen, vielleicht auch auf Kegelflächen. Das Werk über die Kegelschnitte ist gleichfalls bei Pappus er- wähnt, welcher sogar behauptet, die vier ersten Bücher des Apollonius stützten sich wesentlich auf diese Vorarbeit des Euklid*). Man wird dadurch leicht verleitet den Inhalt der Kegelschnitte des Euklid einigermaßen zu überschätzen und insbesondere einen Zusammenhang mit dem 44. Satze des I. Buches, dem 28. und 29. Satze des VI. Buches der Elemente zu vermuten, der doch wohl nicht stattfindet. Wir haben diese Sätze (S. 262 und 266) schon erwähnt, wir haben vorher (S. 171) angekündigt, wir würden bei Gelegenheit der euklidischen Geometrie auf die Wörter Parabel, Ellipse, Hyperbel und deren Bedeutung eingehen, wir müssen jetzt diese Zusage einlösen. Wir nehmen dabei zur größeren Einfachheit der Betrachtung an, daß die Parallelogramme, von welchen in jenen drei Sätzen der Elemente die Rede ist, immer Rechtecke seien; bei schiefwinkligen Parallelogrammen wird die Behandlung jener Aufgaben langwieriger, aber keineswegs wesentlich schwieriger. ı) Pappus VII propos. 235 sqq. (ed. Hultsch) pag. 1004 sqq. 2) Chasles, Apergu hist. 273. (Deutsch: 272.) ®) Heiberg, Euklidstudien S. 81—83. *, Pappus VII Prooemium (ed. Hultsch) pag. 672. Die übrigen Schriften des Euklid. 289 Es sei (Fig. 44) AB=p eine gegebene Länge senkrecht zu 4% aufgetragen; ist nun ferner AI’ gegeben, so gibt es immer einen ein- zigen Punkt 1, welcher zur Bildung des Rechtecks 4BZ4 führt, das einen bekannten Flächenraum, näm- TE lich den des Quadrates über AT’, oder 5 über der der AI’ gleichen IE, besitzt. Wählt man umgekehrt bei bekanntem 4 \ 7 AB=p auf der Geraden 45 einen be- liebigen Punkt I, so gibt es senkrecht N , über und unter 4 die Punkte E, E’, || welche das Quadrat von IE (4E) #£ dem Rechtecke aus p und 44 gleich werden lassen. Werden verschiedene Punkte 7 gewählt, so nimmt auch E verschiedene Lagen an, aber immer ist das an AB angelegte, zagaßeAköusvov, Rechteck dem Quadrate über /E genau gleich. Nennen wir nach heutigem Brauche 44 =x, JE=y, so spricht sich die letzte Bemerkung symbolisch „= px aus, d. h. der geome- trische Ort von E, wenn wir einen solchen durch das Fortrücken von JS auf A# erzeugt denken, ist eine Parabel. Da bei einer solchen Anlegung (z«o«ßoArj) das Produkt zweier Faktoren dem zweier anderer gleichgesetzt ist, so kann man dieselbe auch zur Division (weoıouög) einer Zahl durch eine andere verwenden, und in der Tat definiert sie ein alter Scholiast zum VI. Buche der Euklidischen Elemente geradezu in dieser Weise!). Außer dem AB=p sei Fig. 44. a I' E (Fig. 45) auf der dazu senk- 1 Bo rechten 4 & ein Stück AA=a | | bekannt, so ist ABKA ein | 5 r A a — eck ähnlich ist, dessen Bgegen- durchaus gegebenes Rechteck, | welchem jedes andere Recht- Ne | überliegende Winkelspitze 7 ur we 5 auf der Diagonale BA des | 2 Z - erstgenannten Rechtecks sich wie ab. befindet. Ist nun wieder ein Flächenraum — das Quadrat über AT’ oder IE — gegeben, so wird es einen einzigen Punkt H der BA geben, mit dessen Hilfe das Recht- eck 44H® gleich jenem Flächenraum wird, oder mit anderen ') Heibergs Euklidausgabe Bd. V, 347 lin. 20 zagaßoAı nup& rois ue®n- uarırnoig Akysraı © wecıouög‘ magapareiv yag EgıFuov zup& doıducv Lorı To uegioaı Tov usifova Lıg Tov E&Adrrova jjroı deikaı, moodnıs 6 Ehdrrwv wegiiyerar Ürd tod wsl£ovog. CAnToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 19 290 13. Kapitel. Worten, welcher es möglich macht, daß das an AB angelegte Recht- eck außer dem Teile 4® von AB, welchen es mit dem dem Qua- drate von AI’ gleichen Flächenraume in Anspruch nimmt, noch ein Stückchen @B übrig läßt, &AAsizeı, über welchem das dem Rechtecke ABKA ähnliche kleine Rechteck ®BZH steht. Denken wir uns auch hier die Aufgabe umgekehrt, so wird zu jedem Punkte 4 ein Punkt E senkrecht über ihm, ein Punkt E’ senkrecht unter ihm ge- funden werden können, so daß das Quadrat von JE dem jetzt be- kannten Rechtecke 44H®, dessen Eckpunkt H auf der Diagonale BA des vollständig gegebenen Rechtecks 4BKA sich befindet, gleich sei. Auch hier ist der symbolische Ausdruck übersichtlicher. Ist nämlich O®B=«:p, wo « eine Zahl bedeutet, so muB OH =au-a er 8 sein, und die Fläche OBZH ist —= «?.ap. Mit Hilfevon 44 =, AE=y werden wir also schrei- ben y” = px — «°. ap, d.h. der 4 # geometrische Ort von E, wenn wir einen solchen durch das Wechseln der Lage von JS er- zeugt denken, ist eine Ellipse. Entsprechen (Fig. 46) die , griechischen sowohl als die latei- nischen Buchstaben denen des vorigen Falles mit dem Unter- schiede, daß 4A4=a jetzt auf der jenseitigen Verlängerung von AZ aufgetragen, im übrigen aber der Punkt H wieder so gewählt wird, daß er auf der verlängerten Diagonale AB des Rechtecks ABKA aus den Seiten «a und p liegt, daß also die Rechtecke ABKA und ®BZH einander ähnlich sind, und das Rechteck 441H® denselben Flächenraum besitzt, wie das Quadrat über AI’oder IE, so ist dabei die Forderung erfüllt, daß das an AB angelegte Rechteck, um den ihm zugewiesenen Flächenraum zu erlangen, über 4B hinausreicht, breoßekisı, und zwar mit einem dem gegebenen Rechtecke ABKA ähnlichen Rechtecke. Es ist fast überflüssig aufs neue hervorzuheben, daß man auch diese Aufgabe so umzukehren imstande ist, daß nicht mehr H sondern E, beziehungsweise E’, gesucht werden und die Gleichung y„” =px+ a’. ap sich erfüllen soll. Der geometrische Ort von E, wenn wir einen solchen durch Wechsel der Lage von 4 er- zeugt denken, ist eine Hyperbel. Die Dinge, welche wir hier auseinandergesetzt haben, lassen sich in größter Kürze in die jetzt verständliche Ausdrucksweise zusammen- Fig. 46. Die übrigen Schriften des Euklid. 291 fassen, daß es drei geometrische Aufgaben der Flächenanlegung gebe, sämtlich pythagoräischen Ursprunges, sämtlich in Euklids Elementen aufbewahrt, bei deren Ausspruch die drei Zeitwörter vorkommen, welche den Namen der Parabel, Ellipse, Hyperbel zugrunde liegen. Bei Umkehrung dieser Aufgaben, eine Umkehrung aber, welche in den euklidischen Elementen nicht vorkommt, würden als geometrische Örter eben jene Kurven entstehen müssen. Jetzt sind wir imstande die Fragen genauer zu stellen, um deren Beantwortung willen wir gerade hier auf die Aufgaben pythagoräischer Flächenanlegung näher einzugehen veranlaßt waren. Hat Euklid, von dem wir wissen, daß er über Kegelschnitte schrieb, die Umkehrung jener Aufgaben, für die der Natur der in ihnen vorkommenden Kurven nach in den Elementen kein Platz war, überhaupt gekannt? Haben schon vor Euklid die Pythagoräer das Auftreten dieser Kurven und ihre Eigenschaften bemerkt, die freilich nicht in Form der drei Gleichungen, deren wir uns bedienten, um kürzer sein zu dürfen, aber in einem geometrischen Wortlaute sehr wohl von einem Griechen ver- standen werden konnten? Hat Euklid erkannt, daß diese in der Ebene erzeugten Kurven dieselben seien, welche auf dem Mantel geschnittener Kegel entstehen? Man hat diese Fragen verschiedentlich beantwortet. Uns scheinen sie insgesamt verneint werden zu müssen. Um mit der letzten anzufangen, so hat Euklid die Identifikation der Kurven von den genannten Eigenschaften, die sich auf Flächenanlegung bezogen, mit Kegelschnitten keinesfalls gekannt, weil nach des Pappus aus- drücklichem Zeugnisse Apollonius erst diese doppelte Entstehungs- weise entdeckte?). Die Bekanntschaft der Pythagoräer mit jenen Kurven werden wir gleichfalls leugnen dürfen, wenn wir nur zu be- gründen vermögen, daß auch die erste Frage nicht zu bejahen ist, daß vielmehr Euklid, als er die Elemente schrieb, von jener Umkehr, von den dabei entstehenden krummen Linien, ganz abgesehen von ihrer Übereinstimmung mit Kegelschnitten, nichts wußte. Das scheint uns daraus zu schließen gestattet, weil er sonst in den Elementen die drei Aufgaben, welche schon um ihres gemeinsamen Ursprungs bei den Pythagoräern willen bis zu einem gewissen Grade zusammen- gehörten, wenn sie eine weitere Zusammengehörigkeit dadurch an den Tag gelegt hätten, daß sie alle drei zu eigentümlichen Kurven führten, mutmaßlich nicht getrennt hätte. ı) Für die Bejahung Arneth, Geschichte der reinen Mathematik (Stutt- gart 1852) S. 92—93, an dessen Darstellung wir uns hier vielfach anlehnten ohne seine Folgerungen zu teilen und ganz besonders Zeuthen, Die Lehre von den Kegelschnitten im Alterthum. °) Pappus, VII Prooemium (ed. Hultsch) 674. 19° 292 13. Kapitel. Es ist wohl richtig, daß die Sätze 28. und 29. des VI. Buches erst behandelt werden konnten, wo der Begriff der Ähnlichkeit be- kannt war; es ist eben so richtig, daß Satz 44. des I. Buches schon vor dem VI. Buche Verwertung fand; aber Euklid war nicht der Mann, dem eine kleine Umformung dieses 44. Satzes des I. Buches sonderliche Mühe verursacht hätte, so daß er den Sinn desselben in anderem Wortlaute im VI. Buche neuerdings neben den verwandten Aufgaben wiederholen konnte, wie er es mit dem goldenen Schnitte gemacht hat, von dem bei der Übersicht der Elemente die Rede war. Euklid lehrte ihn als 11. Satz des ll. Buches; er wandte ihn im 10. Satze des IV. Buches an; er brachte ihn um des Zusammen- hanges willen im 1. Satze des XIII. Buches in anderer Form noch einmal. Das Gleiche wäre für Satz 44. des I. Buches zu erwarten, wenn der Verfasser der Elemente die Parabel, die Ellipse, die Hyperbel als Kurven in der Ebene gekannt hätte. Daß sie als solche auch in den euklidischen Büchern von den Kegelschnitten nicht vorkommen konnten, ist durch den Titel jener Bücher festgestellt, und so scheint unser nach allen Seiten verneinendes Urteil auf ziemlich sicheren Füßen zu ruhen. Wenn wir so ausgeschlossen haben, was in den vier Büchern der Kegelschnitte nach unserem Dafürhalten nicht gestanden haben kann, so wissen wir doch von mancherlei Dingen, die dort ihren Platz finden mußten. Vor allem werden dort diejenigen Dinge gestanden haben, welche Menächmus schon kannte, insbesondere werden die Asymptoten vorgekommen sein, mit deren Eigenschaften Menächmus vertraut war. Vorgekommen wird auch sein, was in einer Stelle der Phaenomena wiederholt ist, daß der Schnitt, welcher einen Kegel oder einen Zylinder nicht parallel zur Basis (u) z«o«& mv Pdowwv) treffe, der Schnitt eines spitzwinkligen Kegels (vergl. S. 244) sei, welcher einem länglichen Schilde, Thyreos gleiche. Offenbar ist dieser Satz richtig für den Zylinderschnitt, nur bedingt richtig für den des Kegels, wenn nämlich der Schnitt beide Kegelseiten trifft. Die Vermutung, Thyreos sei der älteste Name der Ellipse gewesen, wiederholen wir mit allem Vorbehalte'). Dafür spricht allerdings die wiederholte Anwendung des Namens bei Proklos?). Ob Anwendungen der Kegelschnitte auf die Verdoppelung des Würfels bei Euklid ge- lehrt wurden, ist fraglich. Es wäre auffallend, wenn er an so wich- !) Sie rührt von Heiberg her, welcher auch auf die wichtige Stelle der Phaenomena zuerst aufmerksam machte. Vgl. Heiberg, Euklidstudien S. 88. 2) Proklus (ed. Friedlein) pag. 103 lin. 6, pag. 111 lin. 6 und besonders pag. 126 lin. 19 sqq. Vgl. L. Majer, Proklos über die Definitionen bei Euklid. Stuttgart 1881. S. 12, Note 1. SEE SS RRER IE PAR Die übrigen Schriften des Euklid. 293 tigen älteren Dingen vorübergegangen wäre; es wäre auffallender, wenn er sich dabei aufhielt und weder Eratosthenes noch Eutokius in ihrem historischen Berichte über das delische Problem den Namen des Euklid genannt hätten; von der auffallendsten Erscheinung zu schweigen, die darin wieder bestände, wenn HKuklid sich keiner einzigen der antiken höheren Aufgaben zugewandt hätte, er der mitten in seiner Zeit lebend wie kaum je ein anderer ihre Gesamtergebnisse in sich vereinigte. Wir haben eine einzelne Stelle der Phaenomena'), einer astro- nomischen Schrift Euklids, angeführt. Wichtiger ist diese Schrift noch dadurch, daß in ihr Sätze über die Kugellehre, die sogenannte Sphärik, gesammelt sind, welche zeigen, welchen Grad der Ent- wicklung dieser Teil der Stereometrie damals schon erreicht hatte. Euklid weiß, daß jede Ebene die Kugel in einem Kreise schneidet. Er weiß, was allerdings auch ein kurz vor ihm lebender Astronom, Autolykus von Pitane?), schon ähnlich aussprach, daß Kugelkreise, die sich halbieren, größte Kreise sind. Er kennt Eigenschaften von Kreisen, welche durch die Pole von anderen hindurchgehen. Er weiß, daß, wenn ein größter Kugelkreis zwei gleiche Parallelkreise schief schneidet, die Abschnitte der letzteren in umgekehrter Ordnung einander gleich sind usw. Die Frage ist von großem Belang, woher diese Kenntnisse des Autolykus, des Euklid stammen mögen? Man hat die Vermutung gewagt”), bedeutende Anfänge einer Sphärik gingen bis auf Eudoxus zurück. Wir wollen keinen Widerspruch erheben, bemerken aber, daß eigentliche Beweisgründe für diese Ver- mutung nicht vorhanden sind. Von dem Gegensatze, welcher für die Griechen zwischen Geo- metrie und Geodäsie obwaltet, war (S. 252 und 271) die Rede. In Dikaearch haben wir (8. 257), mag er von der Dioptra Gebrauch gemacht haben oder nicht, einen wirklichen Geodäten kennen gelernt. Auch von HEuklid ist uns Feldmesserisches in einer sogenannten Optik*) erhalten, und über die vier Kapitel 19, 20, 21, 22, welche ') Die Phaenomena sind griechisch herausgegeben von Gregory in seiner Euklidausgabe, deutsch von A. Nokk in einer Freiburger Programmbeilage von 1850. Über die Echtheit der Phaenomena vgl. insbesondere A. Nokk in seiner Bruchsaler Programmbeilage von 1847 Ueber die Sphärik des Theodosius 8. 17 fig. Neueste Untersuchungen in Heibergs Euklidstudien. ?) Die erhaltenen Schriften des Autolykus hat Fr. Hultsch herausgegeben. Leipzig 1885. °) Huitsch in der Vorrede zu Autolykus pag. XII mit Berufung auf Heiberg und P. Tannery. *) Der griechische Text abgedruckt in Heibergs Euklidstudien S. 100—102, eine deutsche Überarbeitung bei H. Weissenborn, Gerbert. Berlin 1888. $. 96 bis 98. Eine vollständige Ausgabe mit alter lateinischer Übersetzung, die sicher- lich schon im XIV. Jahrh. vorhanden war, hat Heiberg im 7. Bande von Euklids Werken (Leipzig 1895) besorgt. I 294 13. Kapitel. dadurch von hohem Interesse geworden sind, müssen wir berichten. Im 19. Kapitel ist die Höhemessung mittels des Schattens gelehrt, welche wir (8. 144) als die des Thales beschrieben haben. Im 20. Kapitel wird (Fig. 47) zur Messung der Höhe 4B ein Spiegel AZ benutzt, der auf der Erde liegt. Der Messende sieht, wenn I’ sein Auge ist, den Höhepunkt 4 in H; wird sodann ©H, BH, OT’ gemessen, so läßt AB vermöge der Ähnlichkeit der Dreiecke ABH und T®H sich leicht berechnen. Ähnlichkeit von Dreiecken führt im 21. Kapitel zur Messung einer Tiefe 41, indem (Fig. 48) der r Messende so weit sich entfernt, daß sein Auge E den Tiefpunkt / an dem Rande B des Brunnens, oder was es nun sein mag, vorüber erblickt. Endlich wird wieder mittels Dreiecks- ähnlichkeit im 22. Kapitel eine entfernte Länge gemessen (Fig. 49). Die JE wird der zu 4 3 messenden AB parallel gezogen (vielleicht auch Se vor die Augen gehalten?), so daß I’4A und TEB Sehstrahlen sind, welche in A und B eintreffen. Alsdann ist IT’4:T4A=J4JE:AB. Damit sind die hier genauer zu behandelnden Schriften des Euklid erschöpft. Ihm zugeschriebene Bücher über Musik nennen wir nur im vorübergehen; wir haben S. 165 ein Bruchstück der- selben erwähnt, welches von einem arithmetischen Satze des Archytas handelte. Überdies sind verschiedene Bruchstücke mechanischen Inhaltes!) teils in arabischer Sprache, teils in mittelalterlicher latei- nischer Übersetzung erhalten, für deren Echtheit oder Unechtheit wir uns nicht zu entscheiden brauchen, da sie dem Gegenstande unserer Untersuchungen doch nur sehr entfernt verwandt sind. So viel scheint gesichert, daß die Stücke in letzter Linie dem Griechischen ent- stammen, und daß sie einen tüchtigen Geometer der klassischen Zeit zum Verfasser hatten, der die Lehre vom Hebel beherrschte. ı) P. Duhem, Les Origines de la Statique I, 62—79. Archimedes und dessen geometrische Leistungen. 295 14. Kapitel. Archimedes und dessen geometrische Leistungen. Wir stehen an der Schilderung des Schriftstellers, welcher der Zeit nach unmittelbar auf Euklid folgt, dem Gehalte nach dagegen allen den Vorrang abgewann, die im Altertum mit Mathematik sich beschäftigt haben. Wir brauchen nach dieser in wenigen Worten enthaltenen Würdigung wohl kaum zu sagen, wen wir meinen. Archi- medes ist einer der wenigen Mathematiker des Altertums, welchen die Nachwelt zu allen Zeiten nach Gebühr ihre dankbare Erinnerung zuwandte. Er hat sogar einen eigenen Biographen in Heraklides gefunden, einem Schriftsteller von nicht näher zu bestimmender Lebenszeit, als daß er jedenfalls vor das VI. 8. zu setzen ist, da Eutokios aus ihm geschöpft hat!), es sei denn, man wolle in Hera- klides einen Freund des Archimedes wiedererkennen, der diesen Namen führte, und von welchem in dem Buche über Schneckenlinien wieder- holt die Rede ist?). Sei dem, wie es wolle; das vermutlich wichtige Quellenwerk über das Leben des Archimedes ist uns verloren, und so muß, was über seine persönlichen Verhältnisse zu sagen ist, aus den verschiedensten Schriftstellern zusammengesucht werden°). Archi- med wurde in Syrakus wahrscheinlich 287 v. Chr. geboren. Eine Stelle aus einer Schrift des Archimedes Badia Ö2 Tod ’ Anovzaroog‘), der man keinen guten Sinn abgewinnen konnte, und die man deshalb für verderbt hält, hat zur Vermutung?) geführt, es habe ursprünglich Deidin Tod duod naroög geheißen, und der Name von Archimedes’ Vater sei demnach Pheidias gewesen, derselbe habe sich überdies als Astronom verdient gemacht. Allerdings ist damit der Zweifel nicht gehoben, ob Archimed, wie eine Nachricht meldet, dem Könige Hieron verwandt, ob er, nach einer anderen Nachricht, von niederer Geburt war. Sein nahes fast freundschaftliches Verhältnis zu dem Könige steht jedenfalls außer Zweifel. Wer die Lehrer des Archimed gewesen sind, ist nicht bekannt. So viel gibt Diodor an®), und ein !) Archimedes (ed. Heiberg) III, 266 zitiert Eutokius: “'Hoaxksidng &v to Aezıufjdovg Pin. °) Archimedes (ed. Heiberg) II, 2 und 6. °) Die Haupt- quellen sind Plutarch- (vita Marcelli), Livius XXV, Cicero (Tusculan. und Verrin.), Diodor, Silius Italicus, Valerius Maximus, Tzetzes. Die neuesten Zusammenstellungen in Bunte, Ueber Archimedes (Programm der Realschule zu Leer, Ostern 1877) und in der Kopenhagner Doktordissertation von 1879: J. L. Heiberg, Quaestiones Archimedeae. %) Archimedes (ed. Heiberg) II, 248 lin. 8. °) F. Blass in den Astronomischen Nachrichten CIV, 2556. °) Diodor V, 87. 296 14. Kapitel. unbekannter arabischer Schriftsteller bestätigt es, daß er in Ägypten war, er wird daher jedenfalls zu den Alexandrinern in Beziehung ge- treten sein. Auch von einem Aufenthalte Archimeds in Spanien wird erzählt. Nach Syrakus zurückgekehrt lebte er dort der Wissenschaft, deren praktische Anwendung er jedoch so wenig verschmähte, daß gerade seine Leistungen in der Mechanik zu denen gehören, welche ihn am berühmtesten gemacht haben. Vor allem waren die Dienste, die er seiner Vaterstadt Syrakus im Kriege gegen Rom leistete, ge- eignet, seinem Namen Glanz zu verleihen. Die Bemühungen des Archimed waren es ganz allein, so erzählt Livius, welche die Angriffe des Marcellus auf die belagerte Stadt durch zwei Jahre vereitelten. Nur durch eine Überrumpelung von der Landseite aus gelang es 212 v. Chr. Syrakus zu nehmen, und bei dieser Gelegenheit starb Archimed im Alter von 75 Jahren), ein Opfer der Roheit eines römischen Soldaten, welcher ihn niedermachte, während er des Tumultes nicht achtend seine geometrischen Figuren in den Sand zeichnete. Ob er dabei die Worte aussprach: za«o« xepaA&v xal wi) Tuol yoau- ucv, jener möge lieber den Kopf als die Linien ihm verletzen, oder nur um Schonung seiner Figuren bat, dröormdı, © Kvdowne, Tod dıayoduuetög uov, wie ein anderer Berichterstatter in jedenfalls un- richtigem Dialekte ihn ausrufen läßt?), ist ziemlich gleichgültig. Mar- cellus, der römische Feldherr, empfand große Trauer über den Tod des berühmten Gegners und ließ ihm ein Grabmal setzen mit einer mathematischen Figur als Inschrift, wie jener es einst selbst ange- ordnet hatte. Das Grabmal scheint indessen von Archimeds Lands- leuten schmählich vernachlässigt worden zu sein, da Cicero, der es bei seinem Aufenthalte in Syrakus, wo er 75 v. Chr. als Quästor von Sizilien verweilte, aufsuchte, es nur mit Mühe unter dem über- wuchernden Gestrüppe entdeckte und an der Inschrift erkannte. Er ließ es darauf aufs neue instand setzen. Die Schriften Archimeds®) sind nur zum Teil auf uns gekommen und zudem nicht alle im reinen unverderbten griechischen Grund- texte. Die besterhaltenen tragen als besonderes Kennzeichen noch an sich, daß sie im dorischen Dialekte abgefaßt sind, wodurch sie auch sprachliche Wichtigkeit besitzen. Durch Vergleichung der Persönlichkeiten, welche in den einzelnen Schriften des Archimed ') Nach Tzetzes. Auf dieser Angabe beruht die Berechnung seines Ge- burtsjahres. ?) Die erste Redensart nach Zonaras, die zweite nach Tzetzes. ®) Die beste ältere Ausgabe des Textes und des Kommentars von Eutokius von Askalon, so viel davon vorhanden ist, war die von Torelli. Oxford 1792. Sie wurde. weit überholt durch die Ausgabe von Heiberg in 3 Duodezbänden. Leipzig 1880—81. Die beste deutsche Übersetzung von Nizze. Stralsund 1824. Archimedes und dessen geometrische Leistungen. 297 genannt sind, nämlich des Konon, des Zeuxippus, des Dositheus, des Königs Gelon, durch fernere Vergleichung der nicht allzuseltenen Benutzung in späteren Schriften von Sätzen, welche in früheren be- wiesen worden waren, ist es gelungen folgende wahrscheinlich zu- treffende Anordnung der vorhandenen archimedischen Schriften nach ihrer Entstehungszeit zu erhalten: 1. Zwei Bücher vom Gleichgewichte der Ebenen, zwischen welche eine Abhandlung über die Quadratur der Parabel mitten eingeschoben ist. 2. Zwei Bücher von der Kugel und von dem Zylinder. 3. Die Kreismessung. 4. Die Schnecken- linien oder Spiralen. 5. Das Buch von den Konoiden oder Sphäroiden. 6. Die Sandeszahl. 7. Zwei Bücher von den schwimmenden Körpern. 8. Wahlsätze. Es will nieht gut angehen wieder, wie wir es bei Euklid getan haben, den Inhalt dieser Schriften einzeln und der Reihe nach durch- zusprechen. Daß einer solchen Darstellung notwendigerweise die Übersichtlichkeit abgeht, wird der Leser gerade in den Euklid ge- widmeten Kapiteln bemerkt haben. Dort mußten wir aber diese sonst wesentliche Bedingung opfern, weil es darauf ankam zu zeigen, was alles unter dem Namen Elemente der Geometrie einbegriffen wurde. Eine ähnliche Notwendigkeit wird uns im 18. und 19. Kapitel noch zwingen, die für uns vielfach unzusammenhängenden Gegen- stände, die Herons großes feldmesserisches Werk behandelte, einzeln zu nennen. Archimed aber hat kein uns erhaltenes Sammelwerk ge- schrieben. Er verfaßte vorwiegend einzelne Abhandlungen, in denen er zumeist Neues, von ihm selbst Erdachtes mitteilte, und da wird es für die Würdigung der Größe der Entdeckungen sich als zweck- mäßiger empfehlen, die Gegenstände aus den einzelnen Abhandlungen herauszureißen und nach ihrem Inhalte zu neuen Gruppen zu ver- einigen. Wir werden zu reden haben von den Entdeckungen Archi- meds in der Geometrie der Ebene und des Raumes, in der Algebra und Arithmetik, endlich im Zahlenrechnen, wobei wir des griechischen Zahlenrechnens überhaupt gedenken müssen, wir werden auch nicht umhin können, seine mechanischen Leistungen ins Auge zu fassen. Vielleicht beginnen wir am besten mit einem geometrischen Spielwerke. Ein Metriker aus dem Jahre 500 etwa, Atilius Fortu- natianus, erzählt!) von dem loculus Archimedius. Ein elfen- beinernes Quadrat war in 14 Stücke von verschiedener vieleckiger Gestalt zerschnitten, und es handelte sich darum aus diesen Stücken das ursprüngliche Quadrat, aber auch sonst beliebige Figuren zu- sammenzulegen. Es bleibe dahingestellt, ob Archimed wirklich selbst ') Veteres Grammatici (ed. Putschius) pag. 2684. 298 14. Kapitel. dieses Spiel erdachte, oder ob man nur als archimedisch, d. h. als sehr schwierig bezeichnen wollte, die einzelnen Gestaltungen her- zustellen. Als archimedisch wird auch häufig die Definition genannt, die Gerade sei die kürzeste Entfernung zweier Punkte. Diese Behauptung ist richtig und unrichtig, je nachdem man den Nach- druck auf den Wortlaut des Satzes oder auf seine Eigenschaft als Definition legt. Archimed benutzt den Satz allerdings in seinen Büchern über Kugel und Zylinder, aber er beabsichtigt keineswegs durch ihn die Gerade zu erklären. Er nehme an, sagt er vielmehr ausdrücklich), von den Linien, welche einerlei Endpunkte haben, sei die gerade Linie die kürzeste; er nehme ferner an, von Linien in einer Ebene, die mit einerlei Endpunkten versehen nach einer Seite hin hohl seien, müsse die umschlossene die kürzere sein. Als geometrisch interessant bieten sich uns ferner einige Wahl- sätze. Das unter diesem Titel bekannte, aus 15 Sätzen der ebenen Geometrie bestehende Buch ist aus dem Arabischen ins Lateinische übertragen worden?). Daß es in der Form, wie wir es besitzen, keinenfalls von Archimed selbst herrühren kann, dessen Name im 4. und 14. Satze genannt ist, während in anderen Sätzen andere Unzuträglichkeiten nicht zu verkennen sind, ist mit Recht bemerkt worden’). Einige Sätze scheinen uns gleichwohl archimedischen Ur- sprunges zu sein, unter welchen namentlich der 4, 5., 6., der 11., der 14., der 8. hier genannt seien. Satz 4.—6. beschäftigen sich mit dem Arbelos (Fig. 50), einer in Gestalt eines Schusterkneifes gekrümmten Figur, bestehend aus einem Halbkreise, über dessen Durchmesser in zwei aneinander- stoßenden Abteilungen kleinere Halbkreise in das Innere des umschließenden Halbkreises sich erstrecken. Daß Archimed sich mit dieser Figur beschäftigt habe, ist einer Stelle des Pappus®) zu ent- nehmen, in welcher wenigstens von alten Untersuchungen über sie die Rede ist. Im 5. und im 6. Satze ist von dem gemeinsamen Durchschnitts- punkte der drei Höhen eines Dreiecks die Rede’). Der 11. Satz besagt, Fig. 50. !) Archimed (ed. Heiberg) I, 8—10, (ed. Nizze) 44. ?) Liber assump- torum. Archimed (ed. Heiberg) II, 428—446, (ed. Nizze) 254—262. °) Hei- berg, Quaestiones Archimedeae, 24. *, Pappus Buch IV, 19 (ed. Hultsch) Bd. I, pag. 208. °) Archimed (ed. Heiberg) II, 434 und 436. a Ei ara sans lei ame, gr R Archimedes und dessen geometrische Leistungen. 299 daß wenn in einem Kreise zwei Sehnen sich senkrecht durchschneiden, die Quadrate der vier so gebildeten Abschnitte zusammen dem Quadrate des Durchmessers gleich sein müssen. Der 14. Satz lehrt den Flächen- inhalt des Salinon messen, der Wogen- ’g gestalt, wie man den ausdrücklich als von Archimed herstammend bezeugten Namen vielleicht übersetzen darf!). Diese Figur entsteht (Fig. 51), wenn über und unter derselben Geraden als Richtung des Durch- messers von demselben Mittelpunkte aus 7 aber mit verschiedenen in beliebigem Verhältnisse zueinander stehenden Halb- messern Halbkreise beschrieben werden, zu welchen noch zwei Halbkreischen nach der Seite des großen Halb- kreises hin gerichtet über dem durch den nach der Jenseite sich wölbenden kleineren Halbkreis freigelassenen Stückchen des Durch- messers treten. Wird durch den Mittelpunkt der beiden erstgezeich- neten Halbkreise und senkrecht zu deren Durchmesser die Strecke AB gezeichnet, EHEN 4 so ist der um dieselbe als Durchmesser EN # beschriebene Kreis dem Salinon flächen- ” Fe x gleich. Der 8. Satz hat folgenden In- . En halt. Wenn (Fig. 52) eine willkürliche a Sehne AB eines Kreises verlängert und die Verlängerung BI' dem Halbmesser Fig. 32. des Kreises gleich gemacht wird, wenn hiernächst I’ mit dem Mittelpunkte 1 des Kreises verbunden und diese Verbindungslinie bis zum abermaligen Durchschnitte des Kreises nach E verlängert wird, so ist der Bogen A4E das Dreifache des B Fig..5t. ı) Von odAog = das Schwanken des hohen Meeres? Heiberg in seiner Archimedausgabe II, 443 gibt die Ableitung o&4ıvov = Eppich, mit dessen Blatt er in der Figur eine Ähnlichkeit erkennen will. Für diese Meinung führt P. Tannery (Bibliotheca Mathematica 3 Folge I, 266. 1900) an, daß auf den Münzen von Selinunt Eppichblätter abgebildet seien, welche der archimedischen Figur ähneln. T. L. Heath (The works of Archimedes. Cambridge 1897. In- troduction pag. XXXIHN) nimmt an, das Wort odAıvov sei erst in nacharchime- discher Zeit entstanden, als durch die römische Herrschaft lateinische Wörter in die Sprache Siziliens Eingang fanden, wie z. B. libra zu Airg« wurde, mutuum zu uoirov, carcer zu xdexagov, arvina zu deßivn, patina zu war«vn. Entsprechend sei odAıvov aus salinum, das Salzfäßchen, entstanden. Silberne Salzfäßchen waren als Familienerbstück schon zur Zeit der römischen Republik in jedem Haushalt vorhanden (Horaz Carmina II, 16, 13 und Livius XXVI, 36); die Salzfäßchen hatten aber einen der archimedischen Figur ähnlichen Durchschnitt, wenn man nach einem im British Museum vorhandenen Exemplare urteilen darf. 300 14. Kapitel. Bogens BZ. Man ziehe EH parallel zu 4B und die Halbmesser AB und AH. Der Parallelismus von AB und EH bringt V>D, zugleich aber U< P sofern U den Umfang des Vielecks, P die Kreisperipherie bedeutet, und zwar begründet sich diese letztere Ungleichung aus jener Annahme über die Gerade als kürzeste Entfernung zweier Punkte, von der oben die Rede war. Nun ist V gleich einem rechtwinkligen Dreiecke, welches als größere Kathete U, als kleinere die Senkrechte h besitzt, die vom SENSOR IERTSEICHTEORCER Archimedes und dessen geometrische Leistungen. 301 Kreismittelpunkte aus auf irgend eine Seite des Vielecks gefällt war, und die selbst kleiner als der Kreishalbmesser r sein muß. Mit anderen Worten V = > ae 3 und wegn V>D auch U:h> P.r, während jeder Faktor des größeren Produktes kleiner ist als ein ihm entsprechender Faktor des kleineren Produktes, und darin liegt ein Widerspruch. Zu einem ferneren Widerspruch führt auch die Annahme XP ist, und die Senkrechte A’ vom Kreismittelpunkte auf die Seiten dieses Vielecks notwendig = r sein muß. Trotzdem müßte hier Rn el sein oder U’

P. Es bleibt also nur die Annahme XK=D= ee übrig. Freilich hat man die an die Spitze gestellte Voraussetzung, es gebe eine (Gerade von der Länge P, welche als Seite eines rechtwinkligen Dreiecks auftreten könne, bemängelt. Wir erinnern daran, daß Dinostratus die gleiche Annahme schon sich gestattet hatte (5. 247). Auch Eutokius nimmt Archimed gegen den angeführten Vorwurf, welcher ihm damals schon gemacht worden war, in Schutz. Er habe nichts Unziemliches ausgesprochen. Die Kreislinie sei eine Größe von bestimmter Ab- messung, der irgend eine Gerade gleich sein müsse und es sei keines- wegs unstatthaft, das Vorhandensein jener Geraden in einem $atze vorweg zu benutzen, noch bevor man sie finden gelehrt habe. Aller- dings ist nun diese Auffindung das nächste Problem und ihm geht jetzt Archimed rechnend zuleibe, nach einer Methode also, welche Euklid, wie wir (S. 271) besprochen haben, sich wahrscheinlich unter- sagt hätte, nicht geometrisch, sondern geodätisch. Archimed sucht zwei Grenzen, zwischen welche er das Verhältnis der Kreisperi- pherie P zum Durchmesser d einschließen will und findet P:4<31 und Pia>3:1. Wir bemerken, daß Archimed bei seinem früheren Beweise ae 2 : : i K— —.- von den Quadraten ausging, welche dem Kreise ein- und umgeschrieben werden können, wie es (8. 272) Euklid im 12. Buche der Elemente getan hat um die Proportionalität von Kreisinhalt und Durchmesserquadrat festzustellen, wie es (S. 202) schon viel früher Antiphon getan hatte. Bei der Aufsuchung der Zahlengrenzen für das Verhältnis des Kreisumfanges zum Durchmesser ging Archimed 302 14. Kapitel. dagegen von einem ganz anderen Versuche aus, ‚welcher die größere Grenze ihm verschaffen sollte Er benutzte dasjenige gleichseitige Dreieck, welches seine Spitze im Kreismittelpunkte besitzt, während die dritte dieser Spitze gegenüberliegende Seite Berührungslinie an den Kreis ist. Heißt die Seite dieses Dreiecks a, der Kreishalb- messer r, so ist leicht ersichtlich a = 75 und r: Be 1. Ar- chimed behauptet ohne weitere a es sel r!— n_ 265 : 153 RER i 265 70225 und wirklich ist (5) — Sarg — = nu 5,26 ee Ferner ist a: 5 — 506 :153. Die beiden Verhältnisse vereinigt geben folg- lich (r a): >571:153. Nun kommt eine kleine geometrische Betrachtung. Wenn (Fig. 53) die 441 den Winkel BAT halbiert, so ist AB: AT=BA4:AT, (AB+AT): AT = (BA4+4T):AT oder (a+r)ır=:AT. Aus dieser Proportion folgt weiter r:4T= 4 (r+a): > >571:153. Dieses Ergebnis zu sa 8 nachheriger Benutzung aufsparend folgert Archi- med weiter r?: 41? >571?:153°? und (+ 2T”) : AT? > (571? + 153%) : 153? oder 41?:4T?> 349450 : 153? und 41: 41T > 591. : :153. Auch diese Zahlen sind richtig gewählt, denn (5914) — 349428), < 349450. Der Winkel AAT wird durch die 4E halbiert. Dadurch gewinnt man neue Fig. 53. Proportionen 441: AT= AE:ET, daan (44 +AT):AT= (AE + ET): ET und (44 + AT):(4E+ ET) = AT: ET, d.h. (r+449):4T'=r:ET. Nun erinnern wir uns an r» 1l’ > 511: 153 nebst 44: AT > 5912: 188. Die Vereinigung beider Verhältnisse gibt (r + AS): AT> 11625: 153 oder auch r: ET> 11625: 153. Die gewonnenen Ergebnisse stellen wir übersichtlicher zusammen: r: BI > 265: 153 ?:437>954775B El. > 1162; : 153. eh u Archimedes und dessen geometrische Leistungen. 303 BT' ist die halbe Sechsecksseite, /I' die halbe Zwölfecksseite, EI’ die halbe Vierundzwanzigecksseite, wenn immer die regelmäßigen dem Kreise umschriebenen Vielecke gemeint sind. Die Umfänge U), U,, U,, dieser Vielecke sind U;=12BT, U,=24BT, U,=48BT und somit r: U, > 265 : 1836 r: U, > 511 :3672 r.: 5, > 11622: 1344. Archimed setzt nun das Verfahren mit Winkelhalbierung, Verbindung von Verhältnissen, Einsetzen von nahezu richtigen, aber immer etwas zu kleinen Quadratwurzelwerten fort bis zu r: U, > 46735: 29376 und schließt daraus umgekehrt ’ 1 1 U,:4<14688: 4673, x re 2. da aber P< U), ist, so muß um so sicherer ER: Pot 3 12 sein. Nun kommt die entgegengesetzte Aufgabe, eine untere Grenze für das Verhältnis des Kreisumfanges zum Durchmesser zu finden an die Reihe, und hierzu nimmt Archimed die dem Kreise eingeschriebenen Vielecke zu Hilfe, indem er, wie Antiphon bei einem seiner Versuche, das eingeschriebene gleichseitige Dreieck zum Ausgange wählt, dessen Seite sich zum Halbmesser verhält wie V3: 1.02, %.,%1381.180. Winkelhalbierungen usw. führen hier zu h . “ 1 10 . U,,: d > 6336: 2017 > de; und um so gewisser zu 10 P:4> 31 =; 'Nächst dem Kreise beschäftigte sich Archimed bei seinen geo- metrischen Untersuchungen mit den Kegelschnitten. Man hat wohl angenoınmen, Archimed habe eine uns verloren gegangene Schrift Elemente der Kegelschnitte, oroıyei« xwvıxd, verfaßt. Man hat sich dabei auf zwei Stellen gestützt, die eine in der Abhandlung über die Quadratur der Parabel Satz 3.1), die andere in dem Buch von ') Archimed (ed. Heiberg) II, 300, (ed. Nizze) 13. 304 14. Kapitel. den Konoiden und Sphäroiden Satz 4.!), in welchen Archimed auf ein solches Werk verweist, ohne einen Verfasser zu nennen. Das tat, sagt man, Archimed nur, wo er auf eigene Arbeiten zurückgriff. So richtig diese Behauptung im allgemeinen ist, so erinnern wir uns doch einer Ausnahme. Archimed beruft sich, wie wir (8. 261) hervorge- hoben haben, im 6. Satze des ersten Buches über Kugel und Zylinder?) auf die Elemente und meint damit den Elementenschriftsteller, der vorzugsweise diesen Namen geführt hat, Euklid. Möglich, daß er denselben im Sinne hatte, als er von Elementen der Kegelschnitte sprach, da Euklid bekanntlich auch über diesen Gegenstand ein Werk verfaßt hat?). Vielleicht ist eine kleine Bestätigung dieser Vermutung folgendem Umstande zu entnehmen. Pappus gibt nämlich an, die vier ersten Bücher der Kegelschnitte des Apollonius, mit welchen wir uns bald zu beschäftigen haben, stützten sich wesentlich auf die Vorarbeiten Euklids. Bei Apollonius finden wir aber I, 20, 35, 46; II, 5; IIL, 17, 18, die Lehrsätze, welche Archimed als in den Elementen der Kegelschnitte enthalten benutzt. Mag dem sein, wie da wolle, jedenfalls rühren wertvolle Einzel- untersuchungen über Kegelschnitte von Archimed her. Wir legen nicht gerade großes Gewicht darauf, daß Archimed dem früher er- wähnten Satz von der Entstehung des Schnittes des spitzwinkligen Kegels den dort fehlenden Zusatz gab), die gleiche Kurve könne auf dem Mantel eines jeden Kegels erzeugt werden, aber um so höher steht seine Quadratur der Parabel. Wir haben schon gesagt, daß diese Abhandlung zwischen die beiden Bücher vom Schwerpunkte und dem Gleichgewichte der Ebene eingeschaltet erscheint. Die Me- thode, deren Archimed sich bedient, um zu seinem Ziele zu gelangen, ist ihren Hauptzügen nach folgende’). Wird ein Parabelabschnitt durch eine durch die Mitte der denselben bildenden Sehne der Achse parallel gezogene Gerade geschnitten, so ist die Berührungslinie an die Parabel in dem Schnittpunkte der Sehne selbst parallel. Somit ist die Senkrechte aus diesem Schnittpunkte auf die Sehne die größte Senkrechte, welche überhaupt aus einem Punkte innerhalb des ge- gebenen Parabelbogens auf die Sehne gefällt werden kann, oder dieser Punkt ist als höchster Punkt des Parabelabschnittes über seiner Sehne zu bezeichnen. Daraus folgt weiter, daß der Parabelabschnitt durch- ') Archimed (ed. Heiberg) I, 302, (ed. Nizze) 158. ?) Archimed (ed. Heiberg) I, 24, (ed. Nizze) 48. °) Diese Ansicht ist auch durch Heiberg, Die Kenntnisse des Archimedes über Kegelschnitte (Zeitschr. Math. Phys. XXV, Histor.-literar. Abtlg. S. 42) ausgesprochen und teilweise anders begründet worden. *) Archimed (ed. Heiberg) I, 288, (ed. Nizze) 154. °) Archimed (ed. Hei- berg) II, 294—353, (ed. Nizze) 22—25. RE, Archimedes und dessen geometrische Leistungen. 305 aus eingeschlossen ist in dem Rechtecke, welches jene Senkrechte als Höhe, die Sehne nebst der ihr parallelen Berührungslinie als Grund- linie besitzt. Bildet man nun das Dreieck, welches die Sehne zur Grundlinie, den genannten Höhepunkt als Spitze besitzt, und welches folglich von dem ersten Parabelabschnitte um zwei neue kleinere Abschnitte sich unterscheidet, so muß dasselbe als Hälfte des Recht- ecks und als eingeschrieben in den Parabelabschnitt größer sein als die Hälfte des Abschnittes, kleiner als sein Ganzes. Man kann aber auch die umgekehrte Folgerung ziehen und die Fläche des Abschnittes größer als das betreffende Dreieck, kleiner als das Doppelte desselben nennen. Im jeden der beiden neuen kleineren Abschnitte wird nach ähnlicher Regel wieder ein Dreieck beschrieben, deren jedes mehr als die Hälfte des ihn enthaltenden Abschnittes einnimmt und genau den achten Teil des ersten Dreiecks als Flächeninhalt besitzt. Es ist das ein Verfahren, bei welchem dasjenige als Muster gedient haben mag, dessen Euklid sich bediente (S. 272), um zu beweisen, daß Kreis- flächen sich wie die Quadrate ihrer Durchmesser verhalten. Der Parabelabschnitt wird dadurch in zweiter Annäherung größer als 1. kleiner als In des ersten Dreiecks, welches ihm eingezeichnet worden war. Nun werden in die neuen immer kleineren Parabelabschnitte wieder neue Dreiecke beschrieben und dem eben Behaupteten ähn- liche Folgerungen gezogen. Nach heutiger Schreibweise kommt die Reihenfolge der so zu gewinnenden Sätze auf die Summierung der unendlichen Reihe 1 + E ..- (4) = 4) +... hinaus, deren An- fangsglied 1 den Flächeninhalt des ersten Dreiecks, deren Summe den Flächeninhalt des ganzen Parabelabschnittes darstellt. Archimed, frei- lich das Unendliche nur mittelbar in seine Betrachtungen einbegreifend, begnüst sich mit der Summierung der endlichen geometrischen Reihe, ES RN, ’ deren letztes Glied wir (z) nennen wollen. Deren Summe sei, sagt er, nur um den dritten Teil des niedersten Gliedes kleiner als = d.h. also = = — Ei +)". Daran schließt sich der apagogische Teil des Beweises, welchen wir wiederholt als Ersatz für Unendlichkeits- betrachtungen haben eintreten sehen. Aus der Möglichkeit den Unterschied zwischen dem Parabelabschnitte und . des ersteingezeich- neten Dreiecks kleiner als irgend eine angegebene Größe werden zu lassen, folgt die doppelte Unmöglichkeit, daß der eine oder der andere Flächenraum der größere sei. Was die beiden anderen Kegelschnitte, die Hyperbel und die CAnNToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 20 306 14. Kapitel. Ellipse betrifft, so scheint Archimed der ersteren besondere Aufmerk- samkeit nicht zugewandt zu haben. Dagegen hat er die Quadratur der Ellipse gefunden und zwischen den Untersuchungen über Ko- noide und Sphäroide als Satz 5. und 6. eingeschaltet!). Die merkwürdigste uns erhaltene Schrift des Archimed über einen Gegenstand der ebenen Geometrie ist das Buch von den Schnecken- linien, zeot EAlawov. Die Schneckenlinie ist die erste krumme Linie, welche durch eine doppelte Gattung von Bewegungen und von be- wegten Elementen zugleich erzeugt worden ist. Die Quadratrix des Hippias benutzte freilich auch eine drehende und eine fortschreitende Bewegung zu ihrer Entstehung, aber die bewegten Elemente sind doch zwei gerade Linien, deren Durchschnittspunkt die genannte Kurve zum Orte hat. Wir halten es durchaus nicht für unmöglich, daß Archimed, der bei seinen Studien mit der Quadratrix und deren Anwendungen bekannt geworden sein muß, gerade durch die Ab- handlungen des Hippias und des Dinostratus über ıhre Kurve mehr- fache Anregung gewann, die bei einem Archimed zu einem Fort- schritte für die Wissenschaft werden mußte. Ein Fortschritt war es, wenn Archimed nicht mehr wie Dinostratus einfach annahm, daß die Kreisfläche einem rechtwinkligen Dreiecke von den Katheten r und P gleich sei, sondern diese Gleichheit streng bewies. Eine nicht ge- ringere Bereicherung der Wissenschaft war es, als er, anstatt die fort- schreitende Bewegung einer Geraden mit der Drehung einer zweiten Geraden zu verbinden, wie Hippias es getan hatte, darauf verfiel jene fortschreitende Bewegung einem Punkte beizulegen. Die archime- dische Definition sagt ausdrücklich ?): „Wenn eine gerade Linie in einer Ebene um einen ihrer Endpunkte, welcher unbeweglich bleibt, mit gleichförmiger Geschwindigkeit sich bewegt, bis sie wieder dahin gelangt, von wo die Bewegung ausging, und wenn zugleich in der bewegten Linie ein Punkt mit gleichförmiger Geschwindigkeit von dem unbewegten Endpunkte anfangend sich bewegt, so beschreibt dieser Punkt eine Schneckenlinie in der Ebene.“ Gehört diese Schneckenlinie, die archimedische Spirale, wie man sie gegenwärtig zu nennen pflegt, wirklich Archimed als Erfinder an? Man hat mit sich forterbendem Irrtume lange behauptet, nicht Archimed, sondern sein Freund Konon habe die Spirale erfunden und die sich auf dieselben beziehenden Sätze entdeckt. Letzteres ist durchaus unrichtig?) und folglich ersteres nicht hinlänglich begründet. !) Archimed (ed. Heiberg) I, 312—316, (ed. Nizze) 160—161. ?°) Ar- chimed (ed. Heiberg) II, 10, (ed. Nizze) 118. °) Das hat Nizze S. 281 in seinen kritischen Anmerkungen nachgewiesen. Archimedes und dessen geometrische Leistungen. 307 [7 Archimed hatte vielmehr jene Sätze an Konon zum Beweise geschickt, eine Sitte, welche in den allerverschiedensten Jahrhunderten, aber stets in Zeiten reger mathematischer Arbeit uns wieder begegnen wird, und hatte auch nach Konons Tode noch viele Jahre gewartet „ohne daß irgend jemand sich mit einer dieser Aufgaben beschäftigt hätte“). Alsdann erst setzte er die Beweise in der Schrift über die Sehneckenlinien auseinander. Wir können die Gedrungenheit der Be- weise in keinem wiederholt abkürzenden Berichte deutlich machen. Wir verweisen auf die Abhandlung selbst, in welcher gerade der moderne Leser, der gewohnt ist Kurven von der Natur der Spiral- linien nur mit Hilfe der Infinitesimalrechnung zu untersuchen, wäh- rend er in der Lehre von den Kegelschnitten noch heute häufiger von synthetisch geometrischen Anschauungsbeweisen Gebrauch macht, die bewunderungswürdige Gewandtheit des Archimed in der Hand- habung einfachster Hilfsmittel staunend erkennen wird. Einige wenige leicht abzuleitende Proportionen und Ungleichheiten, letztere wieder unerläßlich für das apagogische Verfahren der altertümlichen Ex- haustion, die Zerlegung des Raumes der Schneckenlinie in Ausschnitte, deren jeder kleiner als ein äußerer, größer als ein innerer Kreisaus- schnitt ist, das ist der ganze wissenschaftliche Vorrat, mittels dessen die Quadratur der Schneckenlinie gefunden, die Berührungslinie an irgend einen Punkt derselben gezogen wird. Manche andere Schriften des Archimed würden an dieser Stelle noch zu besprechen sein, wenn sie nicht verioren gegangen wären. Kaum daß die Überschriften uns durch arabische Berichterstatter er- halten blieben?). Ihnen zufolge verfaßte Archimed ein Buch über das Siebeneck im Kreise; ein anderes beschäftigte sich mit der gegenseitigen Berührung von Kreisen; ein drittes war den Parallellinien, ein viertes den Dreiecken gewidmet, letzteres möglicherweise auch unter anderem Titel noch genannt. Auch Daten und Definitionen soll Archimed in einem Buche vereinigt haben. Unter dem, was der Verfasser. für die Geometrie des Raumes leistete, ist zunächst eine Untersuchung zy erwähnen, von der wir nicht einmal wissen, bei welcher Gelegenheit und in welchem Zu- sammenhange er sie angestellt hat. Die Untersuchung selbst da- gegen ist von Pappus, dem einzigen Schriftsteller, der von ihr spricht, mit genügender Deutlichkeit geschildert?), daß man nach ihm darüber berichten kann. Euklid hatte die Lehre von den fünf einzigen regel- mäßigen Körpern erschöpfend behandelt. Archimed erfand zu ihnen ') Archimed (ed. Heiberg) I, 2, (ed. Nizze) 116. °) Heiberg, Quae- stiones Archimedeae 29—30. °) Pappus V (ed. Hultsch) 350 sqq. 20* 308 . 14. Kapitel. 13 halbregelmäßige Körper, welche durch regelmäßige Vielecke von mehr als nur einer Gattung begrenzt werden. Der Anzahl nach können 8, 14, 26, 32, 38, 62 oder 92 Grenzflächen vorhanden sein. Der Art nach sind es Dreiecke, Vierecke, Fünfeeke, Sechsecke, Acht- ecke, Zehnecke und Zwölfecke, welche auftreten. Bei zehn von den archimedischen Körpern sind nur Flächen zweierlei Art, bei den drei übrigen dreierlei Flächen vorhanden. Kein geringerer Mathematiker als Kepler!) hat zuerst nach Archimed seine Aufmerksamkeit diesem Gegenstande wieder zugewandt, worauf aufs neue eine zweihundert- jährige Pause eintrat, bis seit Anfang des XIX. S. die halbregelmäßigen Vielflächner Eigentum der elementaren Stereometrie geworden sind. Archimed selbst stellte von allen seinen Entdeckungen diejenigen am höchsten, welche er in den zwei Büchern von der Kugel und dem Zylinder niedergelegt hat. Es handelt sich darin um den Beweis von drei neuen Sätzen’): 1. daß die Oberfläche einer Kugel dem Vierfachen ihres größten Kreises gleich sei; 2. daß die Öber- fläche eines Kugelabschnittes (die Kugelkalotte) so groß sei als ein Kreis, dessen Halhmesser einer geraden Linie vom Scheitel des Ab- schnittes bis an den Umfang des Grundkreises gleich sei; 3. daß der Zylinder, welcher zur Grundfläche einen größten Kreis der Kugel habe, zur Höhe aber den Durchmesser der Kugel, mit anderen Worten der der Kugel umschriebene Zylinder, anderthalbmal so groß sei als die Kugel, und daß auch seine Oberfläche das Anderthalbfache der Kugeloberfläche sei. Ein gewisser Nikon hat in Pergamum eine Inschrift, welche diesen Sätzen galt, in Stein hauen lassen?). Daß Archimed gerade auf diese Sätze einen wohlberechtigten Stolz emp- fand, geht daraus hervor, daß er die Kugel mit dem sie umgebenden Zylinder auf seinen Grabstein eingemeißelt wünschte, und daß es ge- rade diese Figur war, an welcher Cicero die Begräbnisstätte des großen Mannes erkannte‘). Archimed hat in demselben Werke über Kugel und Zylinder, im 4. und 5. Satze des II. Buches’), noch zwei andere die Kugel be- treffende Aufgaben gestelt, welche ihn geraume Zeit beschäftigten. Eine Kugel soll durch eine Ebene derart geschnitten !) In der Harmonice mundi. ?°) Archimed (ed. Heiberg) I, 2—4, (ed. Nizze) 42. °) Vgl. Ideler in v. Zachs Monatlicher Correspondenz zur Be- förderung der Erd- und Himmelskunde XXIII, 257 und Buzengeiger ebenda XXIV, 572. *) Wir haben früher (wir wissen nicht mehr nach welchem Gewährs- manne) hier eingeschaltet, die Figur habe sich auf Münzen der Stadt Syrakus erhalten. H. Junge teilt uns mit, daß nach Erkundigungen, welche er im Münz- kabinette des Berliner Museums einzog, solche Münzen nicht bekannt sind. °, Archimed (ed. Heiberg) I, 210 sqq., (ed. Nizze) 91 flgg. Archimedes und dessen geometrische Leistungen. 309 werden, daß Oberflächen und Körperinhalte der beiden so gebildeten Kugelabschnitte in gegebenem Verhältnisse stehen. Die erstere Aufgabe hat, sofern die Berechnung der Kugel- kalotte vorher bekannt ist, wie es der Fall war, keine Schwierigkeit; sie führt alsdann auf eine rein quadratische Gleichung. Anders ver- hält es sich mit der zweiten Aufgabe. Sie ist nur dann lösbar, wenn, wie Archimed ausdrücklich sagt, eine Länge gefunden werden kann, welche in die Proportion sich einfügt, die in Buchstaben (a—x):b=c?”:x°” lauten würde, wenn also eine Lösung der kubi- schen Gleichung x? — "x? +bce?= (0 gefunden werden kann. Archi- med geht nun noch einen großen Schritt weiter, er gibt den Dio- rismus der Aufgabe. Sie sei, sagt er, nicht allgemein möglich, sondern unter der Voraussetzung e=2(a—c) nur bei Anwendung eines @— c, welches selbst größer als b ist. Mit anderen Worten: er nennt die Gleichung x? — aa? + a = () lösbar, d. h. mit einer positiven Wurzel versehen, so lange b< . Beides, so fährt Archi- med fort, d. h. die Notwendigkeit des Diorismus und zugleich die Konstruktion der Aufgabe unter der Annahme, daß jene Bedingung erfüllt sei, solle am Ende seine Analyse und Synthese finden. Es ist undenkbar, daß Archimed eine so bestimmte Zusage gegeben haben sollte, wenn er nicht der gestellten Aufgabe in jeder Be- ziehung Herr gewesen wäre. Aber wo sind die versprochenen -Er- gänzungen? Schon sehr bald nach Archimed zur Zeit des Diokles waren sie verloren, wie wir im 17. Kapitel sehen werden. Ob eine von Eutokius im VI. S. aufgefundene alte Handschrift in dorischer Mundart wirklich, wie er vermutete, der Originalarbeit des Archimed nachgebildet war, ist mit Bestimmtheit nicht zu behaupten noch zu leugnen. An Wahrscheinlichkeit fehlt es übrigens der Vermutung des Eutokius um so weniger, als jene Auflösung sich zur Konstruktion nur einer Parabel und einer Hyperbel bedient, mithin Kurven be- nutzt, welche zur Auflösung einer anderen räumlichen Aufgabe, der Würfelverdoppelung, ziemlich lange vor Archimed, wie wir wissen, bereits in Anwendung waren. Mit der Geometrie des Raumes hat es ferner das Buch von den Konoiden und Sphäroiden zu tun. Archimed kennt unter diesen Namen die Körper, welche durch die Umdrehung einer Parabel, einer Ellipse, einer Hyperbel entstehen. Er teilt diese Umdrehungs- körper durch einander parallele gleich weit voneinander entfernte ebene Schnittflächen und erhält so zwischen je zwei Schnittebenen ein Körperelement, das von einem Zylinder eingeschlossen einen anderen Zylinder in sich enthält. Die Summierung sämtlicher größerer Zy- 310 15. Kapitel. linder nebst der der sämtlichen kleineren Zylinder wird somit zwei Grenzen bilden, zwischen welchen der Körperinhalt des gegebenen Umdrehungskörpers enthalten ist, und welche bei gegenseitiger An- näherung der Schnittflächen selbst beliebig wenig voneinander unter- schieden sind. Einige auf Widersprüche führende Vergleichungen vollenden wieder die Exhaustion, und so wird die Kubatur der ge- nannten Körper gefunden. Gelegentlich zeigt dabei Archimed im 8., 9. und 10. Satze!), wie zu jeder Ellipse unendlich viele Kegel und Zylinder gefunden werden können, auf deren Mantel sie sich befindet, offenbar ein Anfang dessen, was man perspektivische Eigenschaften krummer Linien zu nennen pflegt. Wir bemerken ferner, daß, wo von den Asymptoten der Hyperbel die Rede ist, diese den Namen der engstanschließenden Geraden, &ı Eyyıora ebdEıaı, führen ?). Wir können die Entdeckungen Archimeds im Gebiete der Raum- geometrie nicht verlassen ohne zweier falscher Sätze zu gedenken, welche er absichtlich, wie er ausdrücklich sagt?), seinerzeit beweislos in die Öffentlichkeit gab „um eben solche Leute, die da alles zu finden behaupten, und doch nie einen Beweis vorbringen, zu über- führen, daß sie auch einmal etwas Unmögliches zu finden verheißen hätten“. Es waren Sätze, die sich auf den Körperinhalt von Kugel- abschnitten bezogen und damit unsere Bemerkung bestätigen, daß Ar- chimed sich geraume Zeit mit Fragen, welche auf die Durchschneidung einer Kugel durch eine Ebene sich bezogen, beschäftigte. 15. Kapitel. Die übrigen Leistungen des Archimedes. Wir gehen zu Dingen über, welche einen algebraischen Charakter tragen. In erster Linie haben wir einer Gesellschaftsrechnung zu gedenken, welche Archimed anstellte, und welche nicht etwa der Methode des Rechnens halber, die schon den alten Ägyptern ($. 77) geläufig war, aber wegen des Verfahrens, durch welches Archimed die zur Rechnung notwendigen Zahlen sich verschaffte, zu großer Berühmtheit gelangt ist. Wir meinen die sogenannte Kronenrech- nung. Richtiger wäre vielleicht die Übersetzung Kranzrechnung, ) Archimed (ed. Heiberg) I, 318—338 unter Bezeichnung der betreffen- den Sätze als 7. 8. 9., (ed. Nizze) 162—168. ?°) Archimed (ed. Heiberg) I, 278 lin. 1—2 und I, 436 lin. 1. °) Archimed (ed. Heiberg) II, 2—4, (ed. Nizze) 116. EEE Die übrigen Leistungen des Archimedes. 311 da corona dem orepavog entspricht, einem aus Zweigen gewundenen Kranze, während die Fürstenkrone erst späteren Ursprunges ist?). Vitruvius, der Schriftsteller über Architektur im augusteischen Zeit- alter, erzählt die Sache folgendermaßen?). König Hiero habe von einem Goldarbeiter eine Krone aus Gold anfertigen lassen und die- selbe alsdann dem Archimed übergeben, um zu ermitteln, ob nicht, wie man zu vermuten Grund hatte, der Künstler nur Gold in Rech- nung gebracht, in Wirklichkeit aber teilweise Silber zur Masse hinzu- getan hatte. Zufällig sei nun Archimed in ein Badhaus getreten und habe beim Einsteigen in eine mit Wasser ganz angefüllte Wanne be- merkt, daß ebensoviel Wasser auslief, als sein Körper verdrängte. Nun schloß Archimed so: die Menge des verdrängten Wassers hängt nur von der Ausdehnung, nicht von dem Gewichte des eingetauchten Körpers ab, das Gewicht dagegen verändert sich bei gleicher Aus- dehnung nach der Natur des Stoffes. Andere Stoffe werden bei gleicher Ausdehnung verschiedenes Gewicht, bei gleichem Gewichte verschiedene Ausdehnungen haben. Bildet man sonach eine reine Goldmasse und eine reine Silbermasse, beide von genau gleichem Ge- wichte mit der Krone, so wird das Silber am meisten Flüssigkeit aus einem bis zum Rande gefüllten Gefäße verdrängen, nächstdem die aus beiden Metallen geinischte Krone, das Gold endlich am wenigsten. Die Schlüsse, wenn auch noch nicht in der hier ausgeführten Deut- lichkeit, scheinen dem Geiste Archimeds sich plötzlich dargeboten zu haben. Die drei Wassermengen 6, #, y, welche durch das Silber, die Krone, das Gold verdrängt wurden, boten das Mittel die Mischungs- verhältnisse der Krone zu berechnen. Wog nämlich die Krone k Ge- wichtsteile, worunter s Gewichtsteile Silber und g Gewichtsteile Gold, so mußte erstlich s+9—=% sein. Zweitens verdrängte aber das Silber nur -->< o Raumteile Wasser und das Gold xy Raumteile derselben Flüssigkeit, die ganze Krone also gt Raumteile, oder '* Raumteile, demnach war auch ss +9y =kx. Die beiden Angaben führten dann vereint in Betracht gezogen zu s= _ >< k, wenn 8’, k', g° die Gewichts- — {0 oO verluste im Wasser der an Gewicht außerhalb des Wassers gleichen Mengen Silber, Kronenmetall und Gold bedeuten. Welche von den beiden Methoden also Archimed auch anwandte, und die Wahrschein- lichkeit für die eine wie für die andere zu erörtern gehört der Ge- schichte der Physik an, die Rechnung als solche war immer die gleiche, war, wie wir zum voraus bemerkten, eine Gesellschaftsrech- nung, dergleichen ähnliche wenn auch nicht völlig übereinstimmende im Übungsbuche des Ahmes erledigt sind. Dem Archimed wird ferner eine unbestimmte Aufgabe zuge- schrieben, welche in Distichen abgefaßt unter dem Namen des Rinder- problems bekannt ist?). Es handelt sich um die Auffindung von vier Unbekannten in ganzen Zahlen mittels dreier zwischen ihnen gegebenen Gleichungen vom ersten Grade. Zu dieser ursprünglichen Form des Problems sind alsdann in späterer Überarbeitung, wie es scheint, noch anderweitige Zusätze getreten, welche zu ihrer Berücksichtigung Kenntnisse in der Lehre von den Quadratzahlen und von den Drei- eckszahlen voraussetzen, welche wir wohl berechtigt sind, einem Ar- chimed als zugänglich anzunehmen, wenn schon Philippus Opuntius (S. 169) über vieleckige Zahlen schreiben konnte Bezüglich der Echtheit dieses Problems sind die Ansichten geteilt. Der letzte Schriftsteller, der in eingehender Weise mathematisch wie philologisch mit Archimed sich beschäftigt hat, steht nicht an, das Gedicht, wie !) Scriptores metrologiei Romani (ed. Hultsch) pag. 88 sqq. Die auf die Kronenrechnung bezügliche Stelle v. 124— 208. Über die Datierung vgl. Hultschs Prolegomena $ 118. ?) Ältere Ansichten über das Rinderproblem bei Nesselmann, Algebra der Griechen S. 481—491 wissen einen nur halbwegs erträglichen Sinn nicht herauszubringen. Dieses gelang Vincent in dem als Anhang zu den Nowvelles annales de mathematiques T. XV (Paris 1856) erschie- nenen Bulletin de bibliographie etc. I, 39 figg. Einen anderen Sinn haben die Verfasser der neuesten Abhandlung Krumbiegel und Amthor „das Problema bovinum des Archimed‘“ ermittelt. Vgl. Zeitschr. Math. Phys. Bd. XXV. Histor.- literar. Abteilung (1880). Die übrigen Leistungen des Archimedes. 313 es erhalten ist, als archimedisch anzuerkennen‘), Wir selbst ent- halten uns eines bestimmten Urteils, wie wir (S. 286) uns entschieden, die Frage nach der Echtheit des sogenannten euklidischen Problems als eine offene zu betrachten. Zu einem Ergebnisse kommen wir allerdings auch hier: daß nämlich ein Grund das Rinderproblem darum für untergeschoben zu erklären, weil Archimea es nicht habe lösen können, in keiner Weise vorliegt. Eine Beschäftigung mit Quadratzahlen ist Archimed jedenfalls nachzurühmen. Er hat jedenfalls in dem Buche von den Schnecken- linien die Summierung der aufeinander folgenden Quadrat- zahlen von 1 anfangend gelehrt und bewiesen. Er kleidet die Summenformel in folgenden Satz: „Wenn man eine willkürliche An- zahl von Linien‘ annimmt, die nacheinander gleiche Unterschiede haben, so daß die kleinste dem Unterschiede selbst gleich ist, und wenn eine eben so große Anzahl anderer Linien angenommen wird, welche einzeln der größten von jenen gleich sind, so wird die Summe aller Quadrate von denen, welche der größten gleich sind, nebst dem Quadrate der größten selbst und dem Rechtecke unter der kleinsten und einer Linie, welche so groß ist als die Summe aller um gleiche Unterschiede verschiedener, dreimal so viel betragen als die Summe aller Quadrate der um gleiche Unterschiede verschie- denen Linien“?). In Zeichen geschrieben heißt das 3la’ + (2a)? + Ba) +++ (na) = (n+1)(na)’+ala+2a+3a +:-:- + na). Da Archimed, wie aus dem Beweise sich ergeben wird, die Summen- formel der arithmetischen Reihe anzuwenden wußte, so ist es einigermaßen auffallend, daß er nicht a +2a-+3a+:.:+na zu _ : > vereinigte, um schließlich a + (2a)? + (3a)’ +: + (na)? .nan+1)(2n-+1)a? Ban 6 zu erhalten. Wir erkennen daraus, daß ein so lautender Satz bei Archimed nicht vorkommt, wie sehr man sich hüten muß den Schluß, dieser oder jener Schriftsteller konnte so oder so schließen, hat es also getan, anzuwenden, wenn nicht be- sondere anderweitige Gründe für jenen Schluß vorhanden sind. Noch eine Bemerkung drängt sich auf. Wir sagten Archimed habe die Summierung der Quadratzahlen vollzogen, und in dem Wortlaute seines Satzes, wie seines Beweises, kommen nur Linien vor. Allein es sind unzusammenhängende Linien, wie sie im’ V. Buche der eukli- dischen Elemente zur Versinnlichung von Zahlen dienen, und haben hier gleichfalls keine andere Bedeutung. Wir lassen nun den Be- weis folgen, an welchem wir keine andere Veränderung vornehmen, ') Heiberg, Quaestiones Archimedeae 26. ?°) Archimed (ed. Heiberg) U, 34—40, (ed. Nizze) 125—128 314 15. Kapitel. als daß wir Archimeds Worte in Zeichen übersetzen. Es ist na=(n—l)a+tla=(n—-2)Ja+2a= (n—Ba+tda=:--=1a +(n— 1)a. Quadriert man alle diese unter sich gleichwertigen Formen von na, so erhält man ebensoviele verschiedene Formen von (na)?, nämlich (na)? = (n — Da)’ + (la)? +2.(n— 1)a-la= (mn — 2a)? +(2a”? +2(n— 2)a-2a=(n— Ba)” +(a)” +2:m—B5)a-5a =... = (la”’ +(nm — Da” +2-1a-(n—1)a. Jede solche Form besteht aus zwei quadratischen Gliedern und einem doppelten Pro- dukte. Addiert man die sämtlichen Formen nebst 2(na)? = (na)? + (na)? und ordnet die quadratischen Glieder erst fallend dann steigend, und die doppelten Produkte nach fallendem erstem Faktor, so entsteht (n +1) (na)? = (na)? +(n — Da) + (n— 2a) +---+ (la)’+ (la)? +...+(n — Da)’ +(n— Da) +(na)’+2[(n — 1D)a-la+ (n— 2)a -24a+:-.:+la(n—1)a]. Addiert man ferner auf beiden Seiten a(a+2a-+-:-+ na), so erhält man (n+ 1)(na)” +ala+2a-+:-- + na) = 2[a? + (2a)? + ++ (na)’] + 2[(n — Da: la+(n — 2)a-2a +..-+la-(n— 1a] +ala +2a+---+ na]. Damit der zu An- fang ausgesprochene Satz bewiesen sei, bedarf es also nur noch Eines: es muß gezeigt werden, daß a’ + (2a) ++ (na) =2[(n—1)a- 1a +(n—2)a-2a+---+la-n— D)al+ala+2a+--:+na] sei. Die beiden Ausdrücke rechts vom Gleichheitszeichen sind aber a: A und @- B oder vereinigt a(A + BD), wobei A=2(n—1)a+4n—2)a+::-+(2n--2):1a B=na+(n—-1)a+lkn—2)a+t:::+la A+B=1:na+3:n—- Da+5-m—2)a+---+(2n—1): 1a (A+B)-a=a|l-na+3:.(n— V)a+5-(n—2)a+--+(2n—1)-la]=R. Von den n Quadraten, als deren Summe R zu beweisen ist, wird nun das höchste (na)? umgeformt in a(ll-na+m-— 1)na). Aber die arithmetische Reihe (n— 1)a+(n —2)a+:-:+ la hat als Summe n—1.n-a 2 von Archimed benutzt wird. Demnach ist (n — 1)na = 2[(n — 1)a +(n—2)a+-:-+1la] und (na) =all-na+2(n—1)a+2(n—2)a +.--+2-1al. Ziehen wir diesen Wert von R ab, so bleibt ein Rest R, ähnlicher Form wie R, nämlich a[l- (n — 1)a + 3(n — 2)a + ...+(2n—3)-1la]= R,. Nun könnte ((n — 1)a)? umgeformt und von R, abgezogen ‚werden, wodurch ein Rest A, entstünde, dem gegenüber das Verfahren fortzusetzen ist. Schließlich bleibt nichts übrig, es ist also a + (2a) + ---+ (na)’= R, wie zu beweisen war. Wir haben vorher bei der archimedischen Aufgabe von der durch eine Ebene geschnittenen Kugel die kubische Gleichung x? — ax? +3 a?b = () angeschrieben (5. 309), zu welcher diese Aufgabe führt. ‚ eine Formel, welche demnach, wie oben angekündigt, Die übrigen Leistungen des Archimedes. j 315 Wir haben dieses zur deutlicheren Einsicht in die Frage für unsere an die Gleichungsform gewohnten Leser getan. Man muß sich jedoch wohl hüten das, was wir dort taten, als den gleichen Ge- sichtspunkten entsprechend zu betrachten, wie das, was uns bei unserer letzten Darstellung der Summierung aufeinanderfolgender Quadratzahlen leitete. Wir haben hier nur Zeichen statt der Worte gesetzt, den archimedischen Gedanken in keiner Weise verändernd. Wir haben dort eine Gleichung aus einer Proportion entwickelt. Archimed hätte eine solche Entwicklung dem ganzen Zustande der damaligen Wissenschaft gemäß, welche Körperzahlen kannte, vor- nehmen können, aber er hat es nicht getan. Er blieb bei der : + F # : f Proportion (a—x):b=—a?:x*” stehen, und wir würden in ihn hineinlesen, was er nicht gewußt zu haben scheint, wenn wir auch nur annähmen, Archimed habe eine wesentliche Ähnlichkeit zwischen seiner Aufgabe und der Aufgabe der Würfelverdoppelung, geschweige denn zwischen ihr und der Aufgabe der Winkeldreiteilung bemerkt. Die Würfelverdoppelung verlangte die Einschaltung zweier geome- trischer Mittelglieder zwischen gegebenen Größen; von einer der- artigen Einschaltung ist bei der archimedischen Kugelteilung nicht die Rede, mag man auch, um die Unbekannte nach innen zu bringen, die Proportion in der Form b:(a— 2)=.#?: en oder in der Form b:?=(a—ı) .2@ schreiben. 9 Wir müssen hier vielleicht einem Vorwurfe begegnen, den man uns darüber machen könnte, daß wir, als wir es mit Euklid und dessen durch quadratische Gleichungen darstellbaren Aufgaben zu tun hatten, nicht auch so streng an den Wortlaut des griechischen Schriftstellers uns halten zu müssen glaubten. Wahr ist es, es wäre vorsichtiger gewesen auch dort nicht als Gleichung zu schreiben, was nur eine Proportion war, allein wir können doch einiges hervor- heben, welches einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der eukli- dischen und der archimedischen Aufgabe bedingt und dadurch auch eine formelle Verschiedenheit der Darstellung gestattet, ganz abgesehen davon, daß wir wenigstens nicht versäumt haben (S. 285), unsern Zweifel darüber zu äußern, ob Euklid eine Ahnung von dem alge- braischen Inhalte seiner Aufgaben gehabt habe. Quadratische und kubische Aufgaben — man gestatte uns diese leicht verständ- lichen, wenn auch sonst nicht gerade üblichen Benennungen — sind geometrisch gewaltig verschieden. Die quadratische Aufgabe gehört den Elementen in dem geometrischen Sinne des Wortes an. Sie läßt sich, sofern Nichtbeachtung des Diorismus nicht Größen als ge- 316 15. Kapitel. geben wählen ließ, welche jede reelle positive Lösung ausschließen, jedesmal durch Zirkel und Lineal bewältigen. Die kubische Aufgabe ist durch die Elemente nicht lösbar. Sie bedarf besonderer Kurven, deren Eigenschaften in besonderen Schriften erörtert zur Zeit, als Archimed lebte, überhaupt erst anfingen, genau studiert zu werden und die höhere Geometrie bildeten. Man darf daher wohl einen Unterschied machen zwischen der Tiefe, bis zu welcher Euklid und Archimed in das eigentliche Wesen quadratischer und kubischer Auf- gaben einzudringen vermochten. Daneben ist auch für rechnendes Verfahren ein nicht minder gewaltiger Unterschied zwischen quadra- tischen und kubischen Aufgaben, die einem Griechen gestellt waren. Die Ausziehung der Kubikwurzel durch Umkehrung des Verfahrens, welches zur Erhebung auf die dritte Potenz führt, also von der Formel («+ BB)? = «+ 3a?ß + 3aß? + ß? ausgehend, hat, wie wir vorgreifend bemerken dürfen, kein griechischer Schriftsteller des Alter- tums oder des Mittelalters jemals gelehrt; ob ein anderes Rechnungs- verfahren zu dem gleichen Zwecke angewandt wurde, müssen wir hier noch dahingestellt sein lassen. Eine Ausziehung von Quadrat- wurzeln dagegen durch Rechnung, und zwar auch bei solchen Zahlen, welche nur eine Annäherung an den wahren Wert gestatten, hat die griechische Mathematik vielleicht, wie wir (8. 223) sahen, schon seit Platon besessen, jedenfalls hat Archimed in seiner Kreismessung den Beweis geliefert, daß er im Besitze sehr vollkommener Methoden zur Auffindung solcher Wurzelwerte gewesen sein muß. Damit ist aber, wie zum Schlusse dieser Ausführungen hingeworfen werden mag, zugleich auch die (S. 285) schon begründete Behauptung vollends gesichert, daß man in sehr früher Zeit bei den Griechen quadratische Aufgaben rechnend löste, d. h. tatsächlich mit quadra- tischen Gleichungen sich beschäftigte, denn wie wäre man sonst zu Methoden der Quadratwurzelausziehung gelangt, die das leisteten, was z. B. von Archimed, zu dessen Arbeiten wir so zurückkehren, geleistet worden ist? | Archimed hat in seiner Kreismessung eine ganze Anzahl von angenäherten Quadratwurzeln berechnen müssen. Er hat da- 3 1351 > 265 SREFBET 1 bei erkannt, daß rn > VE» ing, dab V 349450 > 5915, dab 33 3 z : V 1373943? > 11721, aaß V 54721321, > 23391. Wie hat er diese Zahlen gefunden? Die Frage ist vielfach aufgeworfen, ver- schiedentlich beantwortet worden!. Man kann wohl sagen, daß !) Zusammenstellungen der auf diesem Gebiete ausgesprochenen Meinungen bei S. Günther, Antike Näherungsmethoden im Lichte moderner Mathematik THREE! “ “Die übrigen Leistungen des Archimedes. 317 sämtliche Versuche in einem Punkte zusammentreffen, näml'ch in dem Bestreben, ein mehr oder weniger bewußtes Zusammentreffen der Methode des Archimedes mit dem modernen Kettenbruchverfahren nachzuweisen, d. h. mit den Formeln yartzırrın 2a+b SaH.. und b ve-b-a-z.ı;, 2a %a — bei griechischen Schriftstellern mit aller Bestimmtheit auftritt, wie wir bei der näheren Betrachtung des Werkes des Theon von Smyrna im 21. Kapitel erkennen werden. Es ist ferner (S. 267) darauf hin- gewiesen worden, daß die Art und Weise, in welcher Euklid den größten gemeinschaftlichen Teiler zweier ganzer Zahlen aufsucht, einen vollständigen Kettenbruchalgorithmus darstellt, und dennoch können wir die Frage, wie eigentlich Archimed verfuhr, noch nicht als vollständig beantwortet erachten. Die Werte, welche Archimed als angenäherte Quadratwurzeln benutzt, andere Werte, die bei späteren griechischen Schriftstellern auftreten, entstehen nämlich, mit Ausnahme der von uns schon betonten Y2 und einer weiteren Ausnahme, nicht aus den obigen Kettenbruchformeln, es sei denn, daß man sie auf ein Prokrustesbett spannte, wie wir es nicht ver- (in den Abhandlungen der k. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften VI. Folge, 9. Band, Prag 1878) und bei Heiberg, @uaestiones Archimedeae 60 bis 66. Bei letzterem auch das bei dem ersteren fehlende Referat über Ab- handlungen von Mollweide (1808) und Oppermann (1875). Über die Ab- handlung Mollweides vgl. auch einen Bericht von Gauß in den Göttinger Ge- lehrten Anzeigen vom 9. Januar 1808. Spätere Arbeiten von Hunrath, Die Berechnung irrationaler Quadratwurzeln vor der Herrschaft der Dezimalbrüche (Kiel 1884) unter anderen haben unserer Ansicht nach die Frage immer noch nicht geklärt. Auch Hultsch, Über Archimeds Quadratwurzeln (Göttinger Ge- lehrte Anzeigen 1893) und Ebenderselbe, Zur Kreismessung des Archimedes (Zeitschrift für Mathematik und Physik XXXIX, Historisch-literarische Abteilg. 1894) lassen noch zu manchem Zweifel Raum. 318 15. Kapitel. antworten zu können glauben. Die erwähnten archimedischen Werte von v3 z. B. entstehen nicht aus Y4—1=2— 2 , son- we dern die aufeinanderfolgenden Näherungsbrüche dieses Kettenbruches = 4 ns - -.., unter welchen wir 7 und = hervor- heben als die weitere Ausnahme, von welcher soeben die Rede war, da diese Werte für Y3 in der Tat geschichtlich nachweisbar bei Griechen vorkommen, wie das 18. und 19. Kapitel uns lehren werden. Wir lassen also die Frage nach der Art und Weise, in welcher Ar- chimed seine Quadratwurzeln fand, offen, soviel zugestehend, daß be- stimmte Beispiele auf Anwendung von Kettenbruchformeln bei anderen Schriftstellern hinweisen, die somit jener Formeln sich bedient haben werden, wenn auch natürlich nicht als Kettenbrüche, an deren Vor- handensein nicht zu denken ist, bevor eine Schreibweise der Brüche durch räumlich unterscheidbare Zähler und Nenner sich verbreitet hatte. Es ist nur ein unglücklicher Zufall, daß wir über die Wurzel- ausziehungsmethoden Archimeds im dunkeln tappen. Eutokius, der sind 2, einen Kommentar zur archimedischen Kreismessung geschrieben hat, sagt, wo er an die Quadratwurzelwerte kommt: „Wie man aber die Quadratwurzel, die einer gegebenen Zahl sehr nahe kommt, finden könne, ist von Heron in seinem metrischen Werke gezeigt worden, ebenso von Pappus, Theon und mehreren anderen Exegeten der großen Zusammenstellung des Klaudius Ptolemäus. Es ist daher nicht nötig Untersuchungen über diesen Gegenstand anzustellen, da Freunde der Mathematik bei jenen darüber nachlesen können“). Was wir diesen Schriftstellern, soweit sie erhalten sind, entnehmen, müssen wir später im Zusammenhang mit ihren sonstigen Leistungen besprechen. Versagt uns der Kommentar des Eutokius den Dienst, wo wir seiner am dringendsten bedürfen, so läßt er uns doch nicht ganz ohne Ausbeute. Er vollzieht aufs ausführlichste mehrere Multi- plikationen, und diese Stellen gehören zu den bedeutsamsten für die Kenntnis griechischer Rechenkunst. Der Gebrauch der Stamm- brüche (S. 128) beim wirklichen Rechnen geht daraus aufs unzwei- deutigste hervor, dann aber auch, daß die Griechen bei ihren Multi- plikationen im wesentlichen der gleichen Methode sich bedienten, der wir noch heute folgen, nur daß sie bezüglich der Anordnung I) Archimed (ed. Heiberg) III, 270. EEE r N wir‘ Die übrigen Leistungen des Archimedes. 319 der Teilmultiplikationen den entgegengesetzten Weg einschlugen. Sie fingen nämlich mit dem, was wir die Ziffer höchsten Ranges im Multiplikator nennen, an und stiegen dann zu den niedrigeren Stellen herab, sie beobachteten die gleiche Reihenfolge innerhalb der Teile des Multiplikandus. So wird z.B. 2016, folgendermaßen quadriert. Es ist 2000 - 2000 = 4000000, 2000.10 = 20000, 2000 - 6 = 12000, 1 2000. —— 333,5 10-2000 = 20000, 10-10 — 100, 10:6 = 60, 1 2777 10.51, 4; 6: 2000 — 12000, 6.10 = 60, 6.636, si Kr: 1 1 I ER Main BE IB 6.21; 2:2000= 3335, 10-1, 4,5 6-1, 545-5 und alle diese Teilprodukte vereinigt geben 4064928, Man könnte bei diesem Fortschreiten von den größeren Teilen der Zahlen zu immer kleineren an die mehrerwähnte Stelle des Herodot!) denken, daß die Hellenen beim Rechnen die Hand von links nach rechts bewegen. Links befand sich (8. 133) auf der Rechentafel mit gegen den Rechner senkrechten Kolumnen die höchste Rangstellee Man dürfte auch die Vermutung aussprechen, die Ver- einigung der Teilprodukte, welche als vollzogen gedacht wird, ohne zu erklären, wie man dabei verfuhr, sei auf der Rechentafel erfolgt, deren Gebrauch zur Zeit des Polybius, mithin nur ein halbes Jahr- hundert nach Archimed (8. 132) wir uns ins Gedächtnis zurück- rufen. Jedenfalls ist dieses griechische Rechnen innerhalb und mit Benutzung des Zehnerzahlensystems ein ungeheurer Fortschritt gegen- über dem ägyptischen Verfahren der Multiplikation und Division, welches fast nur fortgesetzte Verdoppelungen und Halbierungen nebst additiver Vereinigung so gewonnener Ergebnisse benutzte. In Griechen- land selbst wurden übrigens nach Aussage eines Scholiasten zum Charmides des Platon beide Methoden gelehrt, denn anders sind die Ausdrücke hellenische und ägyptische Methoden der Multiplikation und Division nicht zu verstehen?). Ihr Nebeneinanderbestehen läßt vermuten, daß bereits die Griechen die Erfahrung machten, die ägyp- tische Methode lasse sich im Handelsverkehre leichter als die helle- nische anwenden, eine Erfahrung, welche italienische Kaufleute um Jahrhunderte später erneuerten. Wir nannten die hier erwähnten Stellen des Eutokius als zu den bedeutsamsten für die Kenntnis griechischer Rechenkunst gehörend. Vieles ist leider verloren gegangen. Unter den Schriften des " Herodot I, 36. °) P. Tannery, La geometrie grecque etc. pag. 49 hat zuerst auf diese wichtige Stelle hingewiesen. 320 15. Kapitel. Xenokrates, welche wir nur dem Titel nach kennen!) (S. 249), soll eine Logistik gewesen sein. Ein Rechenmeister Apollodorus wird uns genannt (S. 150). Von der Logistik des Magnus erwähnt Eutokius Rühmendes am Schlusse seines Kommentars zur archi- medischen Kreismessung?),. Eine Schrift, welche in griechischer Sprache von dem Rechnen auf dem Rechenbrette handelte, war im XVII. Jahrh. noch in der S. Marcusbibliothek in Venedig vorhanden, ist aber inzwischen abhanden gekommen oder verlegt, so daß sie in den Handschriftenverzeichnissen der genannten Bibliothek nicht mehr vorkommt ?). Aber was läßt mit so dürftigen Angaben sich machen? Sogar die Lebenszeit dieser Schriftsteller mit Ausnahme des Xeno- krates ist in tiefstes Dunkel gehüllt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Archimed selbst ein Buch verfaßt hat, welches mit der Rechen- kunst sich beschäftigte. Zu dieser Vermutung geben wenigstens einige Bruchstücke und deren Titel Veranlassung. Die Schrift hieß die Grundzüge, doyei, und war dem Zeuxippus zugeeignet‘). Archimed lehrte darin unter anderen das dekadische Zahlensystem in übersicht- licher Gliederung weit über die Grenzen derjenigen Zahlen aus- dehnen, mit welchen man insgemein zu tun hat. Archimed faßt nämlich acht aufeinander folgende Rangordnungen in eine Oktade zusammen°). Die erste Oktade geht also von der Einheit bis zur Myriade der Myriaden, d. h. bis zu 100000000, welche Zahl die Ein- heit der zweiten Oktade bildet. Die Einheit der dritten Oktade ist ihm folglich die Zahl, welche wir durch Eins mit 2 mal 8 oder mit 16 Nullen schreiben. Die Einheit der 26. Oktade ist in unserer Schreib- weise 1 mit 25 mal 8, d. h. mit 200 Nullen. Diese Oktaden setzt Archimed fort bis zur 10000 mal 10000sten und sämtliche Zahlen bis zur höchsten dieser letzten Oktade bilden die erste Periode. An sie schließt sich aber eine neue zweite Periode, deren Einheit folglich nach unserer Zahlenschreibweise eine 1 mit 800 Millionen Nullen ist! Es schwindelt einem bei dem Gedanken, auch mit dieser zweiten Periode von 10000 mal 10000 Oktaden die Zahlenreihe nicht abgeschlossen zu finden, sondern vielmehr die Möglichkeit zugeben zu müssen, noch höhere Perioden oder gar höhere Gruppenordnungen als die Perioden selbst zu bilden. Für die Richtigkeit dieses Auszuges bürgt, daß er von Archimed ') Diogenes Laertius VII, 12. ?) Archimed (ed. Heiberg) II, 302. °») Privatmitteilung des Grafen Soranzo in Venedig auf die Anfrage des Ver- fassers nach dem Abacus in Graeco, von welchem Bern. de Montfaucon, Bibliotheca bibliothecarum manuscriptarum I, 468 D spricht. *) Archimed (ed. Heiberg) II, 242, 246, (ed. Nizze) 209, 212. °) Archimed (ed. Heiberg) II, 266 sqq., (ed. Nizze) 217. ; RAR Die übrigen Leistungen des Archimedes. | 321 in eigener Person herrührt. Er gibt ihn uns in einer vollständig erhaltenen Abhandlung, der Sandrechnung, Yauuwirng (lateinisch: arenarius). In ihr ist die Aufgabe gestellt eine Zahl anzugeben, welche größer sei als die Zahl der Sandkörner, die eine Kugel fassen würde, deren Halbmesser die Entfernung des Erdmittelpunktes von dem Fixsternhimmel wäre. Vorausgesetzt nun, daß 10000 Sandkörner hinreichen ein Körnchen von der Größe eines Mohnkornes zu liefern, und daß der Durchmesser eines Mohnkornes nicht kleiner als der 40. Teil einer Fingerbreite sei, vorausgesetzt ferner, daß der Welt- durchmesser kleiner als 10000 Erddurchmesser, der Erddurchmesser endlich kleiner als eine Million Stadien sei, findet Archimed eine Zahl, welche die Sandkörnerzahl einer der Weltkugel gleich ge- dachten Sandkugel überschreitet in 1000 Einheiten der 7. Oktade der 1. Periode. Ja Archimed geht noch weiter. Er nimmt nach astronomischen Anschauungen des Aristarchus von Samos!) die Weltkugel, die er alsdann Fixsternkugel nennt, noch größer an und erkennt, daß Sandkörner 1000 Myriaden der 8. Oktade an Zahl mehr als nur ausreichen würden, selbst diese Fixsternkugel zu bilden ?). Was ist die Bedeutung dieser eigentümlichen Aufgabe? Mannig- fache Vermutungen sind darüber ausgesprochen worden. Man hat vielleicht nicht ganz unglücklich versucht den Zweck der Schrift in jenem Bruchstücke der Grundzüge zu finden. Mit anderen Worten: man hat es als einzigen Zweck der Sandrechnung bezeichnet, ein Beispiel davon zu liefern, wie man die Aussprache der Zahlen von einer gewissen Höhe an bedeutend vereinfachen und dabei eine Ein- sicht in die Art ihres Wachstums gewähren könne. Neben diesem Zwecke hat man einen anderen wichtigeren zu erkennen geglaubt, die Sandrechnung sei dazu bestimmt, die arithmetische Ergänzung der geometrischen Exhaustionsmethode zu bilden. Dem Unendlich- kleinen gegenüber ist das Unendlichgroße der zweite Pol des Un- endlichkeitsbegriffes, wenn wir so sagen dürfen; um beide dreht sich die ganze Infinitesimalrechnung. Will man aber beide Gegensätze deutlicher hervortreten lassen, so eignen sich geometrische Betrach- tungen nahezu zusammenfallender Raumgebilde vorzugsweise dazu, das Unendlichkleine zu versinnlichen, während das Unendlichgroße unmöglich an Figuren zu begreifen ist, welche dem Auge innerhalb des Raumes begrenzt erscheinen. Nur durch die Zahl wird es dem Verständnisse näher gebracht. Man kann zeigen, daß jede noch so ı) Vgl. über diesen Wolf, Geschichte der Astronomie 35—37. ?) Archi- med (ed. Heiberg) II, 290, (ed. Nizze) 223. CAanTorR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 21 322 | 15. Kapitel. große, aber gegebene Zahl durch eine im übrigen nicht näher be- stimmte Zahl überstiegen werden kann, man kann über jede noch so ferne Grenze dabei als zu nahe gelegen hinausgehen. Das gerade hat Archimed in seiner Sandrechnung geleistet. Ist die Frage nach dem Zwecke der Sandrechnung schon eine schwierige, so ist die Frage nach ihrer Heimat womöglich noch weniger sicher zu beantworten. Auf der einen Seite ist unzweifelhaft die philosophische wie die mathematische Erkenntnis des Unend- lichen ein Gegenstand griechischer Forschung schon in einer Zeit gewesen, die um reichlich ein Jahrhundert vor Archimed liegt. Auf der anderen Seite ist die griechische Denkart im ganzen so über- trieben großer Zahlen nicht gewohnt. Nicht vor, nicht nach Archi- med finden wir ähnliches in griechischer Sprache. Man könnte erwidern, nicht vor, nicht nach Archimed finde man unter den grie- chischen Schriftstellern einen Archimed! Allein auch eine andere Aus- kunft ist nicht unmöglich. Es könnte hier ein auswärtiges Problem vorliegen, welches Archimed irgendwie, irgendwo einmal zu Ohren gekommen wäre, welches er mit seinem allumfassenden Geiste auf- nahm und im Sinne seiner Absicht, die vielleicht von der des ur- sprünglichen Stellers der Aufgabe himmelweit verschieden war, be- handelte. Man möchte fast für diese Auffassung auf die einleitenden Sätze der Sandrechnung verweisen: „Manche Leute glauben, König Gelon, die Zahl des Sandes sei von unbegrenzter Größe. Ich meine nicht des um Syrakus und sonst noch in Sizilien befindlichen, son- dern auch dessen auf dem ganzen festen Lande, dem bewohnten und unbewohnten. Andere gibt es wieder, welche diese Zahl zwar nicht für unbegrenzt annehmen; sondern nur daß noch keine so große Zahl jemals genannt sei, welche seine Menge übertrifft. Wenn sich nun eben diese einen so großen Sandhaufen dächten, wie die Masse der ganzen Erde; dabei sämtliche Meere ausgefüllt und alle Ver- tiefungen der Erde so hoch wie die höchsten Berge, so würden sie gewiß um so mehr glauben, daß keine Zahl zur Hand sei, die Menge derselben noch zu überbieten. Ich aber will mittels geometrischer Beweise, denen Du beipflichten wirst, zu zeigen versuchen, daß unter den von mir benannten Zahlen, welche sich in meiner Schrift an den Zeuxippus befinden, einige nicht nur die Zahl eines Sandhaufens übertreffen, dessen Größe der Erde gleichkommt, wenn sie nach meiner Erklärung ausgefüllt ist, sondern auch die eines solchen, dessen Größe dem Weltalle gleich ist.“ So der Anfang der Abhandlung, und man wird zugeben müssen, daß Archimed in ihm die eigentümliche Grup- pierung und Benennung der großen Zahlen für sich in Anspruch nimmt, aber keineswegs den Gedanken eines der Erdkugel gleichen Die übrigen Leistungen des Archimedes. 323 Sandhaufens selbst als einen neuen bezeichnet, welchen noch niemand vor ihm geäußert habe. Wir haben (S. 297) zugesagt, auch die Kenntnisse Archimeds im Gebiete der Mechanik in das Bereich unserer Darstellung zu begreifen. Bei Archimed war mehr als bei irgend früheren Schrift- stellern die Mechanik der Geometrie eng verschwistert. Geometrische Betrachtungen feinster Art standen ihm im Dienste der Mechanik, mechanische Lehren wurden aber auch zur Beweisführung geome- trischer Sätze von ihm angewandt. Wir haben wiederholt von der Stellung der Abhandlung über die Quadratur der Parabel mitten zwischen den beiden Büchern vom Gleichgewicht der Ebenen gesprochen, und diese Stellung ist kennzeichnend nach beiden Seiten hin. Eine Stetigkeit des Inhaltes vom I. Buche zur Zwischenabhand- lung, von dieser zum II. Buche ist unverkennbar, so unverkennbar, daß es schwer wird zu sagen, welcher einzelne Satz für Archimed mit der Geltung eines mechanischen, welcher mit der eines geome- trischen Satzes versehen ist. Es handelt sich in der ganzen Schrift um Schwerpunktsbestimmungen, welche auf Grund des Satzes!) gefunden werden, daß der Schwerpunkt einer aus zwei gleich schweren nicht denselben Schwerpunkt besitzenden Größen zusammengesetzten Größe in der Mitte derjenigen geraden Linie liegen muß, welche die Schwerpunkte der beiden Teile verbindet, zu welchem der andere bereits in der aristotelischen Mechanik (8. 255) enthaltene Satz ?) kommt, daß kommensurable wie inkommensurable Größen im Gleich- gewicht stehen, sobald sie ihren Entfernungen von dem Stützpunkte des Hebels, an welchem sie wirkend ge- dacht sind, umgekehrt proportioniert # sind. So findet Archimed den Schwer- punkt eines Parallelogrammes, eines Dreiecks, eines Paralleltrapezes und hat damit das nötige Material, um nun end- a lich bis zum 17. Satze der Zwischen- abhandlung mechanisch die Quadratur der Parabel abzuleiten), von deren sich alsdann noch anknüpfender geometri- schen Begründung wir im vorigen Kapitel gesprochen haben. Der Gang ist in aller Kürze folgender. Zuerst (Fig. 54) wird an dem gleicharmigen in B gestützten Hebel ABI’ ein Dreieck TAH mit RB I’ Fig. 54. ‘) Gleichgewicht der Ebenen Buch I, Satz 4 (ed. Heiberg) II, 146, (ed. Nizze) 2. ) Gleichgewicht der Ebenen Buch I, Satz 6 und 7 (ed. Heiberg) I, 152—160, (ed. Nizze) 3—5. °) Archimed (ed. Heiberg) II, 308—336, (ed. Nizze) 12—22. 21° 324 15. Kapitel. den Befestigungspunkten B und I’an dem Wagbalken BI’ aufgehängt gedacht. Es wird gezeigt, daß dieses Dreieck mit einer in A auf- gehängten Figur Z in Gleichgewicht ist, wenn Z der dritte Teil des | Dreiecks TAH ist. Des weiteren 4 BE #7 7 wird (Fig. 55) ein Paralleltrapez auf- PVG gehängt gedacht, dessen nicht parallele 2 Seiten sich in I’ schneiden, während die parallelen Seiten senkrecht gegen N den Wagbalken sind. Für die diesem Trapeze 1KPT bei A das Gleich- f gewicht haltende Figur Z wird be- “ Er wiesen, daß sie zwischen zwei Grenzen, ig. 55. BE BH dem Be und dem 5 fachen des Trapezes enthalten ist. Jetzt geht Archimed (Fig. 56) zur Aufhängung eines Parabelabschnittes über. Er hat schon im Eingange der Ab- handlung einige Eigenschaften dieser Kurve erwähnt. Er zeigt nun, daß wenn die den Abschnitt bildende Sehne BI’ in beliebig viele gleiche Teile geteilt wird, wenn aus jedem Teilpunkte eine Parallele zu KA und aus den Schnittpunkten A £ 7° dieser Parallelen mit der Parabel Ver- 97, bindungslinien nach I'gezogen werden, H welche man noch jenseits des Parabel- E punktes bis zur nächsten Parallelen Bk | verlängert, der Parabelabschnitt als- M dann äls zwischen zwei Summen von 2 9 /a trapezartigen Stücken enthalten sich kundgibt. Durch Aufsuchen der jedem Trapezchen in 4 das Gleichgewicht haltenden Figur, sowie durch Ver- 4 bindung der beiden genannten Gleich- Fig. 56. gewichtssätze für das Dreieck und das Trapez ergibt sich endlich der Parabel- abschnitt als Drittel des großen Dreiecks BI’4. Andrerseits ist unter der Voraussetzung, .es sei EM® die der BI’ parallele Berührungs- linie an die Parabel, M die Mitte von HA, H die Mitte von BI' und A die Mitte von I'f, folglich HM = A, Daraus ergibt sich, dab der Parabelabschnitt z des kleinen Dreiecks BMT' ist, wie erwiesen werden sollte. Im II. Buche des Gleichgewichts der Ebenen geht dann Archimed dazu über, den Schwerpunkt des parabolischen Abschnittes zu finden. Tun * Die übrigen Leistungen des Archimedes. 325 Noch gewaltiger förderte Archimed die Erkenntnis der Gesetze gegenseitigen Druckes flüssiger und fester Körper. Er entdeckte das nach ihm benannte hydrostatische Prinzip), welches als Lehr- satz gekleidet von ihm folgendermaßen ausgesprochen wurde: Jeder feste Körper, welcher, leichter als eine Flüssigkeit, in diese eingetaucht wird, sinkt so tief, daß die Masse der Flüssigkeit, welche so groß ist als der eingesunkene Teil, ebensoviel wiegt, wie der ganze Körper’). Daraus folgt ein weiterer Satz: Wenn ein Körper, leichter als eine Flüssigkeit, in diese getaucht wird, so verhält sich sein Ge- wicht zu dem einer gleich großen Masse Flüssigkeit, wie der einge- sunkene Teil des Körpers zum ganzen Körper?). Dieser Satz bildet selbst die wissenschaftliche Definition des spezifischen Gewichtes für solche Stoffe, die leichter als die zur Dichtigkeitseinheit gewählte Flüssigkeit sind. | Das spezifische Gewicht dichterer Körper hatte Archimed, wie wir (8. 310—312) besprochen haben, bei seiner Kronenrechnung zu benutzen verstanden. Wir lehnten es dort ab, zu entscheiden, welcher von den beiden berichteten Methoden Archimed sich tat- sächlich bediente. Auch jetzt, wo der Zusammenhang mit den Büchern von den schwimmenden Körpern uns nahe legen würde, von jener unpartelischen Zwischenstellung uns zu entfernen, sprechen wir nur mit besonderem Vorbehalte unsere persönliche Meinung über jene Frage aus. Die Methode mehrfacher Abwägungen ließ jedenfalls ein genaueres Ergebnis finden als die Methode der Abmessung der aus- laufenden Flüssigkeit, und gerade deshalb scheint uns, da nun einmal beide Methoden berichtet werden, beide also mindestens zur Zeit, als der Berichterstatter lebte, wahrscheinlich aber viel früher, bekannt gewesen sein müssen, die letztgenannte Methode die ersterfundene gewesen zu sein). Der Gedankengang ist doch wohl der natür- lichere, daß dem Archimed zuerst unmittelbare Messung des ver- drängten Wassers vorschwebte, und daß erst später, sei es durch ihn selbst, sei es durch Nachfolger, das mittelbare Verfahren erfunden wurde, nachdem die praktische Unausführbarkeit erkannt war, das verdrängte Wasser vollständig und genau aufzufangen und zu messen. Sei dem nun, wie da wolle, jedenfalls hat, wie wir schon andeuteten, !) Über das hydrostatische Prinzip vgl. Ch. Thurot, Recherches historiques sur le principe d’Archimede in der Revue Archeologique 1869. °) Archimed, Von schwimmenden Körpern Buch I, Satz 5 (ed. Heiberg) IV, 367, (ed. Nizze) 227. °) Archimed, Von schwimmenden Körpern Buch II, Satz 1 (ed. Hei- berg) II, 375, (ed. Nizze) 232. *) Montucla, Histoire des Mathematiques 1, 229 vertritt die entgegengesetzte Ansicht und Thurot scheint ihm zu folgen, wenn er sich auch nicht so bestimmt ausspricht. 326 15. Kapitel. . die Kronenrechnung frühzeitig ein verdientes und ungewöhnliches Auf- sehen verursacht. Vitruvius nennt sie neben der Inkommensurabilität der Diagonale eines Quadrates und neben dem pythagoräischen Drei- ecke aus den Seiten 3, 4, 5 in gleicher Linie. Sie stellen ihm ge- meinschaftlich die drei größten mathematischen Entdeckungen dar!). Proklus erzählt, König Gelon habe im Hinblick auf die Kronen- rechnung gesagt, er werde hinfort nichts bezweifeln, was Archimed behaupte). Dasselbe geflügelte Wort, erzählt Proklus weiter, werde auch auf König Hiero zurückgeführt, und knüpfe sich an eine andere mecha- nische Leistung, welche dem Laien noch wunderbarer vorkommen mußte, weil ihm selbst eine unbegreifliche Handlung ermöglicht wurde. Archimed habe nämlich mit Hilfe von eigentümlich zusammen- gesetzten Herrichtungen es fertig gebracht, daß König Hiero ganz allein ein schweres Schiff von Stapel lassen konnte. Ob die Herrichtung der Hauptsache nach ein Flaschenzug”), rgLomdorog, war, ob eine Spirale), &Aı&, sie darstellte, ist ziemlich gleichgültig. Jedenfalls ist der Name des Archimed für alle Zeiten mit dem einer dritten Gattung von Vorrichtungen, mit der Schraube?), xoyAl«, verbunden geblieben, welche er als Wasserhebewerk benutzte, und das ihm inne- wohnende Bewußtsein der großen Leistungsfähigkeit seiner Maschinen spiegelt sich in dem stolzen Worte: Gib mir wohin ich gehen kann, und ich setze die ganze Erde in Bewegung‘), z& B& zei yaeıoriovı tov yav xıvion möüsev, oder gib mir wo ich stehe und ich bewege die Erde”) dog uol mod oT& xal zım& iv yiv. Wir übergehen das, was von einem vielleicht durch eine Art Gebläse oder durch Wasserkraft in Bewegung gesetzten Himmels- globus®) des Archimed erzählt wird, was sich auf ein für König Hiero erbautes großes Schiff mit 20 Ruderbänken”), was sich auf die Brennspiegel bezieht, mittels deren Archimed bei der Römer- belagerung die feindlichen Schiffe in Brand gesetzt haben soll"). Das sind Gegenstände, die noch weniger als die zuletzt besprochenen der Geschichte der Mathematik angehören, und die, mag an ihnen wahr sein, was da wolle, die Verdienste Archimeds für unsere Zwecke weder erhöhen, noch beeinträchtigen. ı) Vitruvius IX, 1-3. °) Proklus (ed. Friedlein) 63. °) Tzetzes II, 35. *) Athenaeus V, p. 217. °) Diodor I, 34 und V, 37. ®) Tzetzes II, 130. °) Pappus VII, 11 (ed. Hultsch) 1060. °) Bunte, Leerer Gymnasial- programm von 1877, S. 15—18 und Hultsch, Ueber den Himmelsglobus des Archimedes. Zeitschr. Math. Phys. XXI, Histor.-literar. Abteilung 106 (1877). ®), Athenaeus V, pag. 207. !%) Heiberg, Quaestiones Archimedeae 39—41. Eratosthenes. Apollonius von Pergä. 321 16. Kapitel. Eratosthenes. Apollonius von Pergä. Etwa 11 Jahre nach der Geburt des Archimedes, im Jahre 276 oder 275 wurde in Kyrene, der therischen Kolonie an der Nordküste Afrikas, Eratosthenes, Sohn des Eglaos geboren!). Er verbrachte den größten Teil seines Lebens in Alexandria. Dort ward er er- zogen unter der Leitung seines Landsmannes Kallimachus, des gelehrten Vorstehers der großen Bibliothek, sowie eines anderen sonst unbekannten Philosophen Lysanias. Dann wandte er sich nach Athen, wo er der Schule der Platoniker sich näherte, so daß er selbst als Platoniker bezeichnet wird, und wo er wahrscheinlich auch zuerst in das Studium der Mathematik eindrang. Ptolemaeus Euergetes — der dritte Ptolemäer, wie Suidas erzählt, dem die Notizen für das Leben des Eratosthenes fast ausschließlich zu verdanken sind — berief Era- tosthenes wieder nach Alexandria zurück als Nachfolger seines Lehrers Kallimachus in der Vorstandsstellung bei der Bibliothek, und von da an scheint sein Verhältnis zu diesem Fürsten wie zur Fürstin Arsinoe ein besonders freundschaftliches geworden zu sein. Es ist folglich keinerlei Grund vorhanden anzunehmen, Eratosthenes sei in späteren Jahren von der Bibliothek entfernt ins Elend geraten, wenn auch andrerseits die Nachrichten allzu übereinstimmend sind um sie zu verwerfen, daß Eratosthenes augenleidend, vielleicht sogar erblindet, seinem Leben ungefähr 194 v. Chr. durch freiwilligen Hungertod ein Ende machte. Die wissenschaftliche Bedeutung des Eratosthenes war eine mannigfaltige.e Das Hauptgewicht scheint er selbst auf seine litera- rische und grammatische Tätigkeit gelegt zu haben, wenigstens gab er sich den Beinamen des Philologen. Allein auch in den meisten anderen Lehrgegenständen trat Eratosthenes als Schriftsteller auf, wie die erhaltenen Überschriften seiner Werke bezeugen, und sicherlich nicht mit Unrecht nannten ihn deshalb die Schüler des Museums Pentathlon, den Kämpfer in allen fünf Fechtweisen, welche bei den Kampfspielen in Gebrauch waren. Um diese Vielseitigkeit zu kenn- zeichnen mag nur der Schrift über das Gute und Böse neben der Erdmessung, des Werkes über die Komödie neben der Geo- ı) Vgl. Fabricius, Bibliotheca Graeca (ed. Harless) IV, 120—127. Era- tosthenis geographicorum fragmenta (ed. Seidel) Göttingen 1789. G. Bern- hardy, Eratosthenica. Berlin 1822 und desselben Verfassers Artikel Eratos- thenes in Ersch und Grubers Encyklopädie. Eratosthenis Carminum reliqwiae (ed. Hiller) Leipzig 1872. 328 16. Kapitel. graphie, der Chronologie neben dem Buche über die Würfel- verdoppelung gedacht sein. In der Erdmessung, mit welcher eine besondere Schrift IZsot Tis Avaustonosog tüg yüg sich beschäftigte, war zum ersten Male von eineni Griechen der Versuch gemacht die Größe der Erde genau zu bestimmen. Er fand den Grad zu 126000 Meter, während die wahre Länge des Breitengrades in Ägypten 110 802,6 Meter beträgt, so daß also Eratosthenes bei seiner Schätzung um fast 13°, Prozent irrte, ein Irrtum, den man aber nicht so beträchtlich finden wird, wenn man erwägt, daß dem KEratosthenes dabei höchstens bis zur zweiten Katarakte wirkliche Landesvermessungsergebnisse zu Gebote standen, während er für das obere Land bis zu den Nilkrümmungen und nach Meroe von den ganz unbestimmten Angaben der wenigen Reisenden abhängig war, weiche die Hauptstationen und ihre Ent- fernungen in Tagesmärschen aufgezeichnet hatten). Den erhaltenen Bruchstücken der Geographie hat man ent- nommen, daß Eratosthenes nicht nur eine klare Beschreibung des Vorhandenen lieferte, sondern auch allgemeine Betrachtungen über das Werden und die Ursachen der Veränderungen der Erdoberfläche mit Glück gewagt hat?). Für die Chronologie ist seit Auffindung des Ediktes von Kanopus ein Inhalt bekannt geworden, an welchen niemand früher dachte, niemand denken konnte. Wir haben gelegentlich (S. 75) von dieser Verordnung gesprochen. Die in Kanopus, nur wenige Weg- stunden von Alexandria entfernt, versammelte Priesterschaft verkündete unter dem Datum des 19. Tybi des 9. Regierungsjahres Ptolemaeus III., Euergetes I. d. i. am 7. März 238 v. Chr. den Befehl?), daß „damit auch die Jahreszeiten fortwährend nach der jetzigen Ordnung der Welt ihre Schuldigkeit tun und es nicht vorkomme, daß einige der öffentlichen Feste, welche im Winter gefeiert werden, einstens im Sommer gefeiert werden, indem der Stern um einen Tag alle vier Jahre weiterschreitet, andere aber, die im Sommer gefeiert werden, in späterer Zeit im Winter gefeiert werden, wie das sowohl früher geschah, als auch jetzt wieder geschehen würde, wenn die Zusammen- setzung des Jahres aus den 360 Tagen und den 5 Tagen, welche später noch hinzuzufügen gebräuchlich wurde, so fortdauert, von !) Lepsius, Das Stadium und die Gradmessung des Eratosthenes auf Grundlage- der ägyptischen Maße (in der Zeitschr. f. ägypt. Sprache und Alter- thumskunde 1877, 1. Heft). °) Alex. v. Humboldt, Kosmos Il, 208 und zuge- hörige Anmerkung S. 435. Berger, Die geographischen Fragmente des Eratos- thenes neu gesammelt, geordnet und besprochen. Leipzig 1880. °) Lepsius, Das bilingue Dekret von Kanopus. Berlin 1866. Ba. I. 7 “ & N at v2 % er - N iM 2 | IR D ” N Ei iur & An is Eratosthenes. Apollonius von Pergä. 329 jetzt an 1 Tag als Fest der Götter Euergeten alle 4 Jahre gefeiert werde hinter den 5 Epagomenen und vor dem Neuen Jahre, damit jedermann wisse, daß das, was früher in bezug auf die Einrichtung der Jahreszeiten und des Jahres und das hinsichtlich der ganzen Himmelsordnung Angenommene fehlte, durch die Götter Euergeten glücklich berichtigt und ergänzt worden ist.“ Ob Eratosthenes selbst diese wichtige chronologische Neuerung veranlaßte, ist unsicher. Kalli- machus soll nämlich um die OXXXV. oder CXXXVI. Olympiade ge- storben sein. Der Anfang der ersteren war 240, der der zweiten 236. Zwischen beide Anfänge fällt das Edikt von Kanopus. Da nun Eratosthenes erst nach dem Tode des Kallimachus wieder nach Alexandria zurückkehrte, so hängt es wesentlich von der genauen Bestimmung dieses Todesjahres ab, ob Eratosthenes bei Erlaß des Ediktes zur Stelle war oder nicht. Aber sei dem, wie da wolle, irgend eine Beziehung zwischen der Schaltjahreinrichtung und der Chronologie des Eratosthenes wird nicht wohl von der Hand zu weisen sein. Wir machen zugleich darauf aufmerksam, daß von dieser merkwürdigen Tatsache des Vorhandenseins eines ägyptischen Schaltjahres in der frühen Ptolemäerzeit der Altertumsforschung vor Auffindung des Ediktes selbst nicht eine Silbe bekannt war. Nicht _ die leiseste Anspielung auf diese jetzt durchaus feststehende bedeut- same Reform kommt in uns erhaltenen alexandrinischen Schriften vor, ein Wink, nicht gar zu viel auf das negative Zeugnis fehlender Be- lege für eine an sich wahrscheinliche Vermutung zu vertrauen. Über alle diese Schriften müssen kurze Andeutungen hier ge- nügen. Bevor wir zum Briefe über die Würfelverdoppelung und ' damit zur mathematischen Seite der Tätigkeit des Eratosthenes über- gehen, wollen wir nur eines weiteren Beinamens noch gedenken, unter welchem er mitunter vorkommt. Man nannte ihn nämlich Beta. Die Bedeutung dieses Beinamens ist sehr zweifelhaft. Die einen wollen, er habe ihn deshalb erhalten, weil er der zweite Vor- steher der großen Bibliothek gewesen sei. Allein dieses ist eines- teils unrichtig, wenn, wie sonst angenommen wird, Zenodotus der erste, Kallimachus der zweite, Eratosthenes also erst der dritte Vor- steher war, andernteils ist nirgends eine Spur zu finden, daß Zeno- dotus oder auch Kallimachus etwa Alpha, oder einer der Nachfolger des Eratosthenes Gamma oder Delta genannt worden wäre Wahr- scheinlicher ist die andere Ableitung, wonach das Wort Beta ihn als zweiten Platon kennzeichnen sollte, oder allgemeiner als denjenigen, der überall den zweiten Rang wenigstens sich zu erobern wußte, wenn der erste Rang auch ehrfurchtsvoll den Altvordern eingeräumt werden muß. Endlich kommt noch in Betracht, daß Buchstaben als 330 16. Kapitel. Beinamen, und zwar unter den seltsamsten Begründungen, auch ander- weitig bei den Griechen um das Jahr 200 v. Chr. vorkommen. So wird ein Astronom Apollonius, der zur Zeit des Königs Ptolemaeus Philopator sich mit Untersuchungen über den Mond beschäftigte und dadurch sich weithin bekannt machte, als Epsilon bezeichnet; denn der Buchstabe € sehe der Gestalt des Mondes gleich). Der Brief über die Würfelverdoppelung ist von uns be- reits mehrfach benutzt worden. Dem Anfange desselben entnahmen wir (S. 211) die Geschichte der Entstehung jenes Problems. Als wir von Eudoxus und Menächmus und ihren Würfelverdoppelungen redeten (S. 231 und 229), bezogen wir uns auf ein Epigramm’?), welches den Schluß des Briefes bilde. Der Hauptteil des Briefes lehrt selbst eine Verdoppelung des Würfels unter Anwendung eines eigens dazu erfundenen Apparates, des Mesolabium, wie es genannt wurde, weil es dabei auf die Auffindung zweier geometrischer Mittel zwischen zwei gegebenen Größen und zwar durch Bewegungsgeo- metrie (S. 209) ankam’). Das Mesolabium bestand aus drei einander gleichen rechtwinkligen Täfelchen von Holz, Elfenbein oder Metall, welche zwischen zwei mit je drei Rinnen versehenen Linealen ein- geklemmt in diesen Rinnen übereinander weg verschoben werden konnten. Die Anfangslage ist in 4 A zZ der Figur, welche Eutokius in seinem Kommentare zu Archimeds Büchern von der Kugel und dem Zylinder, % wo der ganze Brief des Eratosthenes 5 p = 5 eingeschaltet sich findet, beigibt, mit Fig. 57. den Buchstaben (Fig. 57) AEZA, AZHI, IH®4 versehen, wobei, wie wir im vorübergehen bemerken, der Buchstabe I auffallen mag. Auch in der in dem gleichen Kommentare erhaltenen Figur zur Würfelverdoppelung des Archytas (8. 228 Fig. 36) kommt ein I vor, während Euklid diesen Buchstaben grundsätzlich vermieden hat, viel- ) Ptolemaeus Hephaestio bei Photius cod. CXC. ®%) Hiller in seiner Ausgabe der poetischen Fragmente des Eratosthenes hält aus sprach- lichen Gründen das Schlußepigramm sowie vielleicht den ganzen Brief für un- echt. Die sprachliche Form geben wir deshalb preis, da wir uns nicht be- rechtigt glauben auf diesem Gebiete zu widersprechen, den Inhalt aber halten wir der wesentlichen Übereinstimmung wegen mit allem, was wir wissen, nach wie vor für echt. °) Den Namen des Mesolabium kennen wir aus Vitruvius IX, 3 und aus Pappus Ill, 4 (ed. Hultsch) 54. Die Beschreibung des Appa- rates bei Pappus III, 5 (ed. Hultsch) 56 sq. weicht in Einzelheiten, aber nicht in dem Hauptgedanken von dem eratosthenischen Briefe ab und bestätigt so unsere in der vorigen Anmerkung ausgesprochene Meinung. vn —— ee Eratosthenes. Apollonius von Pergä. 331 mehr nach ® sofort zu K überging. Offenbar wollte man dadurch der leicht möglichen Verwechslung des Buchstaben I mit einem ein- fachen Vertikalstriche vorbeugen. Aristoteles freilich und wohl alle ihm vorhergehenden Schriftsteller vermieden das I noch nicht bei Figurenbezeichnungen'). Wohl möglich, daß diese Sitte auch zur Zeit des Eudemus, dessen Aufzeichnungen Eutokius das Verfahren des Archytas entnimmt, noch nicht aufgekommen war. Für das Vor- kommen des I in einer Figur des Eratosthenes wissen wir keine andere Erklärung, als daß an dem ursprünglichen Texte mancherlei, wenn auch den Inhalt wenig berührende Änderungen vorgenommen worden sein müssen, von denen unter anderen die Buchstaben der einen Figur betroffen wurden. War nun AE die größere, 1® die kleinere Linie, zwischen welche die beiden mittleren Proportionalen ein- 4 zuschalten waren, so mußte man N (Fig. 58) die Rechteckehen so ver- >.& schieben, daß das erste einen Teil des INN zweiten, dieses einen Teil des dritten ER EZ zZ uH9 KK verbarg und zwar derart, daß die Fig. 58. von A nach 41 gezogene Grade durch die Punkte B, I' hindurchging, von welchen an die Diagonalen des zweiten und dritten Rechteckchens sichtbar waren; die BZ und TH sind alsdann, wie leicht zu beweisen ist, die beiden gesuchten mitt- leren Proportionallinien. Eratosthenes schlug diese seine Erfindung so hoch an, daß er zum ewigen Gedächtnisse derselben ein Exemplar als Weihgeschenk in einem Tempel aufhängen ließ. Die von ihm selbst entworfene Inschrift, welche die Gebrauchsanweisung enthielt, soll das mehrgenannte Schlußepigramm des eratosthenischen Briefes sein. Ob ein von Pappus an zwei Stellen?) erwähntes Werk des Eratos- thenes über Mittelgrößen, zsol weoorjtwav oder röroı mo0g WEod- zntes, sich gleichfalls auf die Würfelverdoppelung bezog, ist ungewib. Wäre dem so, so würde daselbst möglicherweise eine geometrische Lösung gelehrt worden sein, da Pappus das eine Mal bemerkt, diese Schrift stehe mit den lineären Örtern ihrer ganzen Voraussetzung nach in Zusammenhang. Noch geringfügiger sind die Spuren eines weiteren Werkes des Eratosthenes, welche auf wenige unbedeutende Zitate bei Theon von Smyrna®) sich beschränken. Wenn auch der Schluß gerechtfertigt ') Heiberg in den Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik XVII, 18. ?) Pappus VI, Prooemium (ed. Hultsch) 636 und 662. °) Theon Smyr- naeus (ed. Hiller) 82, 107, 111. 332 16. Kapitel. sein mag, in jenem Werke sei von den Proportionen und sonstigen arıthmetischen Fragen die Rede gewesen, so schwebt doch die Be- hauptung') ganz in der Luft, sie habe den Titel Arithmetik geführt. Vielleicht gehört ebendahin ein Bruchstück, welches bei Niko- machus von Gerasa und in dem Kommentare zu dessen Arithmetik von Jamblichus sich vorfindet?). Vielleicht aber bildet auch dieses Bruchstück einen Teil einer besonderen Schrift, welche den Titel des Siebes führte. Das Sieb, x60x:v0v (lateinisch: ceribrum Eratos- thenis) ist eine Methode zur Entdeckung sämtlicher Primzahlen. Man schreibt, so lautet die Regel, alle ungeraden Zahlen von der 3 an der Reihe nach auf. Man streicht nun jede dritte Zahl hinter der 3 durch, so sind die Vielfachen der 3 entfernt. Dann geht man zur nächsten Zahl 5 über und streicht jede fünfte Zahl hinter ihr durch ohne Rücksicht darauf, ob sie schon durch einen früheren Strich vernichtet ist oder nicht, so sind die Vielfachen der 5 entfernt. Fährt man weiter so fort, indem man beim Abzählen und Durchstreichen die bereits durchstrichenen Zahlen den unberührten gleichachtet und nur den Unterschied macht, daß man keine durchstrichene Zahl als Ausgangspunkt einer neuen Aussiebung benutzt, so bleiben schließlich nur die Primzahlen übrig. Sämtliche zusammengesetzte Zahlen da- gegen sind vernichtet, und am Anfange fehlt auch noch die Prim- zahl 2, welche Jamblichus, weil sie gerad sei, nicht unter die Prim- zahlen gerechnet wissen will, trotzdem Euklid sie fehlerhafterweise dorthin verwiesen habe?). Die Siebmethode des Eratosthenes ist gerade keine solche, zu deren Ersinnung ein übermäßiger Scharfsinn gehörte. Trotz dessen glauben wir gie ihrer geschichtlichen Stellung wegen für einen ziem- lich bedeutenden Fortschritt in der Zahlentheorie halten zu müssen. Man erwäge nur, wie die Sache der Zeitfolge nach liegt. Zuerst unterschied man Primzahlen von zusammengesetzten Zahlen und leitete wohl manche Eigenschaften der letzteren aus den ersteren ab. Der zweite Schritt war der, daß Euklid zeigte, wie die Anzahl der Prim- zahlen unendlich sei, wie es folglich nicht möglich sei, alle Prim- zahlen zu untersuchen. Jetzt erst gewinnt es als dritter Schritt Bedeutung, wenn Eratosthenes zeigt, wie man wenigstens imstande sei, die Primzahlen, soweit man in der Zahlenreihe gehen will, zu entdecken, und somit der Unausführbarkeit der Darstellung sämtlicher Primzahlen eine von der Willkür des Rechners abhängende untere ı) Fabrieius, Bibliotheca graeca (ed. Harless) IV, 121. ®) Nicomachus (ed. Hoche) 29 figg. Jamblichus in Nicomachi arithmeticam (ed. Tennulius) 41, 42, (ed. Pistelli) 29 sqq. °) Jamblichus in Nieomachi arithmeticam (ed. Tennulius) 42, (ed. Pistelli) 30, 31. es nn Eratosthenes. Apollonius von Pergä. 333 Grenze zu setzen. An und für sich hätte die Erfindung des Eratos- thenes ebensogut vor als nach Euklid gemacht werden können; nur, meinen wir, wäre ihr wissenschaftlicher Wert geringfügiger gewesen, wenn sie älter war. Damals hätte das Sieb ein verunglückter Ver- such sein können die genaue Anzahl der Primzahlen zu ermitteln. Jetzt dagegen, nach Euklid, konnte es nur eine Methode sein, bei deren Aussinnung man von Anfang an gerade das beabsichtigte, was sie zu leisten imstande ist. Darin aber schon liegt ein Zeugnis höherer Vollkommenheit, wenn Methoden zu bestimmten Zwecken gesucht und auch wirklich gefunden werden. Das Jahrhundert von 300 bis 200 v. Chr., welches, weil am Anfang desselben Euklid blühte, das Jahrhundert des Euklid genannt werden kann, schloß würdig ab mit Apollonius von Pergä!). Den Beinamen, der ihn von außerordentlich vielen bekannten Männern, welche gleichfalls Apollonius heißen, unterscheiden soll, führt er nach seinem Heimatsorte, einer Stadt in Pamphilien. Ob er mit dem früher erwähnten Astronomen, dem der Beiname Epsilon beigelegt wurde, zusammenfällt oder nicht, steht in Zweifel. ‘Die Lebenszeit der beiden ist allerdings übereinstimmend. Apollonius von Pergä wurde während der Regierung des Ptolemaeus Euergetes geboren und hatte seine Blütezeit, gleich jenem Astronomen, während der bis 205 dauernden Regierung des Ptolemaeus Philopator. Eine fernere Über- einstimmung könnte man darin finden, daß auch von Apollonius von Pergä bekannt ist, daß er mit Sternkunde sich beschäftigte. Wenig- stens geht die beste Lesart einer Stelle des 1. Kapitels des XII. Buches des ptolemäischen Almagestes dahin, daß Apollonius von Pergä über den Stillstand und die rückläufige Bewegung der Planeten geschrieben habe, und sie mit Hilfe der Epizyklen zu erklären suchte Ein freilich nur negativer Gegengrund liegt darin, daß Ptolemäus von den Untersuchungen über den Mond gar nichts sagt, welche doch gerade die vorzüglichste Leistung des Apollonius Epsilon gebildet haben müssen. ") Das Material für die Biographie des Apollonius von Pergä ist zusammen- gestellt in der Vorrede von Halleys Ausgabe der Kegelschnitte des Apollonius (Oxford 1710). Vgl. auch Fabricius, Biblioth. Graeca (ed. Harless) IV, 192 bis 203. Montucla, Histoire des mathematiques I, 245—253. Terquem, Notice bibliographique sur Apollonius in den Nowvelles annales des mathematiqwes (1844) III, 350--352 und 474—488, endlich die Vorrede von H. Balsam zu seiner deutschen Bearbeitung (nicht Übersetzung) der Kegelschnitte des Apollonius von Pergä. Berlin 1861. Die neueste Ausgabe der vier ersten griechisch erhaltenen Bücher der Kegelschnitte des Apollonius nebst ihren Kommentatoren ist die von Heiberg in 2 Duodezbänden. Leipzig 1891—93. W. Crönert (Sitzungsber. der Berliner Akad. 1900, S. 942—950) gibt das Jahr 170 als Todesjahr des Apollonius. 334 16. Kapitel. Von den Lebensverhältnissen des Apollonius von Pergä ist nichts weiter bekannt, als daß er schon als Jüngling nach Alexandria kam, wo er seine mathematische Bildung von den Nachfolgern des Euklid erhielt. Ein bestimmter Lehrer wird nicht genannt. Später ist ein Aufenthalt in Pergamum gesichert, wo Apollonius einem gewissen Eudemus befreundet war, welchem er mit Wachrufung der Erinne- rung an jenes Zusammenleben sein Hauptwerk, die acht Bücher der Kegelschnitte, «ovıxd, widmete. Zeitgenossen und Nachkommen bewunderten dieses Werk und ehrten dessen Verfasser durch den Beinamen des großen Mathe- matikers. So erzählt ausdrücklich Geminus, dessen Bericht Eutokius in seinem Kommentare zu den vier ersten Büchern der Kegelschnitte des Apollonius uns aufbewahrt hat!). Eutokius will damit den Un- grund des Vorwurfes darlegen, welchen Heraklides, der Biograph des Archimed (S. 295) gegen Apollonius ausspricht, als habe derselbe nur einen literarischen Raub an noch unveröffentlicht gebliebenen Schriften des Archimed begangen. Mit gleichem Rechte läßt der Bericht des Geminus sich gegen die früher (S. 288) erwähnte Be- hauptung des Pappus verwerten, als stützten sich die vier ersten Bücher des Apollonius wesentlich auf die Kegelschnitte des Euklid’°). Apollonius wird gewiß so wenig wie ein Schriftsteller irgend einer Zeit und irgend eines Volksstammes versäumt haben die Vorarbeiten auf dem Gebiete, welches er zu behandeln wünschte, kennen zu lernen. Er wird sicherlich von den Vorarbeiten, insbesondere wenn sie von einem Euklid, einem Archimed herrührten, Vorteil gezogen haben; er sagt auch nirgends in seinen Schriften, daß das Ganze seiner Kegel- schnitte sein ausschließliches Eigentum sei. Aber von der Benutzung fremder Vorarbeiten als Grundlage, als untere Voraussetzung eines Werkes zu unrechtmäßiger Aneignung fremder Entdeckungen ist doch eine unermeßliche Kluft, und es fällt schwer einem Manne von der sonst allseitig anerkannten Bedeutung des Apollonius letztere Hand- lung zuzutrauen. Zwei ganz grundlegende Neuerungen haben wir überdies unter allen Umständen dem Apollonius zuzuschreiben. Geminus sagt ausdrücklich, wie uns Eutokius an der oben er- wähnten Stelle berichtet, die Alten hätten nur gerade Kegel ge- schnitten und die Schnitte stets senkrecht zur Seite des Kegels geführt, worauf sie je nach dem Winkel an der Spitze des Kegels den Schnitt des spitzwinkligen, des rechtwinkligen, des stumpfwink- ligen Kegels unterschieden (8. 244). Apollonius dagegen habe ge- ') Apollonius, Conica (ed. Heiberg) II, 170. %) Pappus, VII Pro- oemium (ed. Hultsch) 672. & TE ERS Eratosthenes. Apollonius von Pergä. 335 zeigt, daß alle diese Schnitte an einem einzigen Kegel hervor- gebracht werden können, und daß man zu diesem Schnitte ebenso wie den geraden Kegel auch den schiefstehenden verwenden könne. Wir sehen also, daß Apollonius das vervollständigte, was Euklid (8. 292), was Archimed (S. 304) nur von der Ellipse wußten, daß sie auf jedem — jetzt nachdem wir den Bericht des Geminus kennen, müssen wir mit einer weiteren Einschränkung sagen: auf jedem geraden — Kegel herausgeschnitten werden kann. Gegen Geminus anzunehmen, daß auch jene schon alle Kegelschnitte auf jedem Kegel hervorzubringen imstande gewesen seien, ist eine Be- hauptung, welche auf keinerlei alten Bericht sich stützt. Von der anderen Neuerung wissen wir durch Pappus!), der gleichzeitig auch das von Geminus Mitgeteilte bestätigt. Apollonius habe, wie er die Herstellbarkeit jedes Kegelschnittes auf der Ober- fläche eines jeden Kegels erkannte, für dieselben neue Namen ein- geführt, und zwar die Namen Ellipse, Parabel, Hyperbel mit Rücksicht auf gewisse Eigenschaften der Flächenanlegung. Wir haben auf diese mit äußerster Bestimmtheit ausgesprochene Angabe uns gestützt, um (8. 291) Euklid die Kenntnis abzusprechen, daß die pythagoräischen Sätze von Flächenanlegungen zu Kegel- schnitten als geometrischen Örtern führen konnten. Mit Rücksicht auf die gleiche Stelle hat man gewiß mit Recht die Zuverlässigkeit einiger archimedischen Handschriften in Zweifel gezogen ?), in welchen die Wörter Parabel und Ellipse statt des Schnittes des rechtwinkligen und spitzwinkligen Kegels vorkommen. Der Name der Parabel ins- besondere erscheint nur in der Überschrift der Abhandlung über die Quadratur dieser Kurven, und auch wo der Name der Ellipse im fortlaufenden Texte der Abhandlung von den Konoiden und Sphäroiden dreimal sich vorfindet, dürfte eine späte Einschiebung durch Ab- schreiber, welche den Wortlaut ganz unbeschadet des Sinnes abkürzen zu dürfen meinten, anzunehmen sein. Hat aber Apollonius zuerst die Entstehung aller Kegelschnitte an jedem Kegel, zuerst die Eigenschaften derselben erkannt, die wir heutigentages aus den Scheitelgleichungen der drei Kegelschnitte herauszulesen gewohnt sind, dann ist seine Bearbeitung der Kegel- schnitte unzweifelhaft ein Originalwerk, mögen auch noch so viele Lehrsätze in den vier ersten Büchern vorkommen, die von Euklid, wenn nicht schon von Menächmus und Aristäus dem Älteren ge- ', Pappus VI, Prooemium (ed. Hultsch) 674. 2) Archimed (ed. Nizze) 285. Die entgegengesetzte Meinung bei Chasles, Apergu hist. 17 in der Anmerkung (Deutsch 15). 336 16. Kapitel. kannt waren. Zwei andere Vorgänger nennt übrigens Apollonius selbst in der Vorrede zum IV. Buche): Konon von Samos und Nikoteles von Kyrene, deren ersterer uns schon als geistreicher Freund des Archimed bekannt geworden ist, wenn auch der Umstand, daß seine Schriften uns sämtlich verloren sind, uns abhielt, ihm eine besondere Stelle ausführlicher Beachtung zu gewähren. Hätten wir doch nur berichten können, daß er in Samos geboren, in Alexandrien lebte, aber auch in Italien und Sizilien astronomische Beobachtungen anstellte, daß er um 246 das Haupthaar der Berenike, der Gemahlin des Ptolemaeus Euergetes, unter die Sterne versetzte?). Gehen wir nun mit raschen Schritten an dem Inhalte der Kegel- schnitte des Apollonius vorüber?). Im I. Buche wird nach der all- gemeinen Definition des Kegels als der Oberfläche, die durch eine Gerade sich erzeugt, welche um eine Kreisperipherie herumgeführt wird, während sie zugleich durch einen festen, außerhalb der Ebene der Kreisperipherie liegenden Punkt geht, die so erhaltene Fläche durch Ebenen geschnitten. Jeder Schnitt durch den festen Punkt, d. h. durch die Spitze des Kegels, erzeugt ein Dreieck, und liegt in dieser Schnittebene auch die Achse des Kegels, die Verbindungsgerade der Spitze zum Mittelpunkte des bei der Erzeugung des Kegels mit- wirkenden Kreises, so entsteht das Achsendreieck. Nun wird vor- geschrieben, neue Schnittebenen zu führen, deren Spuren in der Grund- fläche senkrecht auf der Spur des Achsendreiecks stehen, und Apol- lonius zeigt, wie je nach der Richtung dieser Schnitte zur Seite des Achsendreiecks die verschiedenen Kegelschnittskurven auf der Kegel- oberfläche erscheinen. Die Durchschnittslinie der Schnittebene mit dem Achsendreiecke ist jedesmal ein Durchmesser des Kegelschnittes, d. h. sie halbiert alle Sehnen des Kegelschnittes, welche unter sich und einer jedesmal bestimmten Geraden parallel gezogen werden. Der Punkt, in welchem der Durchmesser die Oberfläche des Kegels trifft, ist der Scheitel des Kegelschnittes. Durch diesen Scheitel wird nun in der Schnittebene, also senkrecht zum Achsendreiecke und parallel zu dem durch den Durchmesser halbierten Sehnensysteme eine Gerade errichtet, deren Länge durch gewisse Methoden geometrisch bestimmt wird, und welche jenes p darstellt, jene Länge, an welche nach unseren früheren Auseinandersetzungen (S. 289) ein gewisser Flächenraum in Gestalt eines Parallelogrammes angelegt werden soll. Diese Linie, welche man in moderner Sprache den Parameter des Kegelschnittes !) Apollonius, Conica (ed. Heiberg) I, 2. ?°) A. Böckh, Ueber die vierjährigen Sonnenkreise der Alten S. 28—29. °) Eine sehr hübsche Zusammen- stellung von Housel in Liouvilles Journal des Mathematiques (1858) XXIL, 153—192. Eratosthenes. Apollonius von Pergä. 351 nennt, heißt bei Apollonius schlechtweg die Errichtete, öo®L«, ein Name, der alsdann in den lateinischen Übersetzungen zum latus rectum geworden ist. Man sieht leicht ein, daß Apollonius mittels dieser Vorschriften genau die gleichen Linien ziehen läßt, deren man noch heute bei Anwendung der Methoden der analytischen Geometrie sich bedient. Es ist ein förmliches Koordinatensystem gezeichnet, dessen Anfangspunkt auf dem Kegelschnitte selbst liegt, dessen Abszissen- achse ein Durchmesser des Kegelschnittes, und dessen Ordinatenachse die jenem Durchmesser konjugierte Berührungslinie im Koordinaten- anfangspunkte ist. Die dabei gebrauchten Benennungen lauten rer«- yuEvog xarnyusvaı d. h. geordnet gezogen!) und drorsuvdusvaı d. h. abgeschnitten?). Von wirklichen Koordinaten sind diese Ge- raden dadurch wesentlich verschieden, daß sie nicht ein Liniensystem für sich bilden, sondern nur gleich anderen geometrischen Hilfslinien in Verbindung mit dem Kegelschnitte und hervorgerufen durch den jeweil zu beweisenden Lehrsatz auftreten. Diese gegebenen Elemente handhabt nun Apollonius in griechischer Weise. Er rechnet natürlich nicht mit Formeln und Gleichungen, wie wir es tun, aber er ver- knüpft und verbindet Proportionen von Längen und von Flächen- räumen, welche nur einen anderen Ausdruck des in den Gleichungen der Kegelschnitte enthaltenen Gedankens darstellen, um zu den gleichen Folgerungen zu gelangen. Läuft der Schnitt der Seite des Kegels ' parallel, so kann nur von einem Scheitel der Parabel die Rede sein. Im entgegengesetzten Falle wird außer dem einen Schenkel des Achsen- dreiecks auch der zweite entweder selbst oder in seiner Verlängerung über die Spitze des Kegels hinaus durch den Schnitt getroffen, und so entsteht ein zweiter Scheitel der Kurve bei der Ellipse, ein Scheitel der Gegenkurve bei der Hyperbel. Die Entfernung der beiden Scheitel begrenzt die Länge des Durchmessers. In der Mitte zwischen beiden ist der Mittelpunkt der Kurve, d.h. ein Punkt, in welchem alle durch ihn gezogenen Sehnen halbiert sind. Mit dem Mittelpunkte tritt auch der Begriff des dem ersten Durchmesser konjugierten Durch- messers auf, der eine gleichfalls begrenzte Länge besitzt, wenn auch bei der Hyperbel die Begrenzung nicht äußerlich sichtbar ist. Zwei zueinander senkrechte konjugierte Durchmesser werden Achsen ge- nannt. Apollonius knüpft daran ferner Betrachtungen über die Be- rührungslinie an irgend einen Punkt eines Kegelschnittes und über die Vielheit von Paaren konjugierter Durchmesser, welche mög- lich sind. In dem II. Buche sind zunächst Eigenschaften der Asymptoten ") Apollonius (ed. Heiberg) I, 70 lin. 15. ?) Ebenda I, 72 lin. 10—11. CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 22 338 16. Kapitel. der Hyperbel auseinandergesetzt, d. h. der Linien, welche den Hyperbelarmen sich mehr und mehr nähern, ohne mit denselben zu- sammenzutreffen. Die geometrische Definition ist folgende: Man ziehe an einen Hyperbelpunkt eine Berührungslinie, trage auf derselben die Länge des ihr parallelen Durchmessers auf und verbinde den so ge- fundenen Punkt mit dem Mittelpunkt der Hyperbel geradlinig, diese Gerade wird eine Asymptote sein!). Aus den übrigen Sätzen des II. Buches mag noch hervorgehoben werden, daß die Gerade, welche den Durchschnittspunkt zweier Berührungslinien mit der Mitte der Berührungssehne verbindet, ein Durchmesser des Kegelschnittes ist, sowie der andere, daß in jedem Kegelschnitte nur ein einziges senk- rechtes Achsenpaar existiert. In dem III. Buche bilden die ersten 44 Sätze einen besonderen Abschnitt, dessen Charakter schon in dem 1. Satze sich dahin aus- weist, daß hier Verhältnisse von Produkten aus Tangenten und Sekanten der Kegelschnitte auftreten. Jener erste Satz heißt etwa folgendermaßen: Es seien M, und M, zwei Punkte eines Kegelschnittes, dessen Mittelpunkt in O liegt (bei der Parabel wäre OÖ unendlich entfernt, und somit die OM, mit OM, und mit der Achse der Parabel parallel); die Berührungslinien in beiden Punkten seien M,T, und M,T,, indem 7, den Durchschnitt der Berührungs- linie an M, mit der OM, bezeichnet, und eine ähnliche Definition für 7, gilt; die M,T, und die M,T, schneiden einander in R. Als- dann sind die Dreiecke M,T,R und M,T,R flächengleich. Die fol- genden Sätze stützen sich auf diesen ersten, und lassen sich, in so vielfältiger Teilung sie auch im Originale ausgesprochen sind, in zwei Hauptsätze zusammenfassen. Der eine Satz, daß, wenn von einem Punkte zwei Sekanten gezogen werden, das Produkt der Entfernungen des Ausgangspunktes nach den beiden Schnittpunkten der einen Sekante dividiert durch dasselbe Produkt in bezug auf die zweite Sekante einen Quotienten gibt, der sich nicht verändert, wenn man von irgend einem anderen Ausgangspunkte ein den ersten Sekanten paralleles Sekantenpaar konstruiert. Der zweite Satz, daß eine Sekante, aus deren einem Punkte man zwei Berührungslinien zieht, durch diesen Ausgangspunkt, den Durchschnitt mit der Berührungssehne und die beiden Durchschnittspunkte mit dem Kegelschnitte eine har- monische Teilung darbietet?). Noch einige auf Flächen bezügliche Wahrheiten schließen sich ziemlich naturgemäß an, wie z. B, daß die Dreiecke, welche durch die Asymptoten und irgend eine Berührungs- !) Apollonius (ed. Heiberg) I, 194 lin. 15 das erste Vorkommen des Namens doöurror«a. °) Apollonius benutzt dabei allerdings noch nicht das Wort: harmonische Teilung, sondern schreibt den Satz als Proportion. Eratosthenes. Apollonius von Pergä. 339 linie der Hyperbel gebildet werden, einen konstanten Flächeninhalt haben, da derselbe Satz, anders ausgesprochen, dahin gehen würde, daß jede Berührungslinie der Hyperbel auf den Asymptoten Stücke von konstantem Produkte abschneide Alsdann kommt der Verfasser in dem 45. Satze zu den Punkten, welche er onusi« &x tig zao«ßoAng nennt, eine Bezeichnung, welche schwierig zu verdeutschen ist, da Punkte, die bei der Anlegung entstehen, kaum den Anspruch erheben können, nur einigermaßen einen Begriff davon zu gewähren, welche Punkte gemeint sind; es sind aber die Brennpunkte der Ellipse und Hyperbel, während der Brennpunkt der Parabel in dieser Zeit- periode noch nicht vorkommt. Die Definition der Brennpunkte bei Apollonius und die Eigenschaften, welche er besonders hervorhebt, sind folgende: ein Brennpunkt ist ein Punkt, der die große Achse in zwei Teile teilt, deren Rechteck einem Viertel der Figur gleich ist; unter Figur aber ist das Rechteck des Parameters mit der großen Achse zu verstehen, oder, was dem Werte nach gleichbedeutend ist, das Quadrat der kleinen Achse. Wenn man das Stück einer Berüh- rungslinie, welches zwischen den beiden Senkrechten zur großen Achse in den Endpunkten derselben abgegrenzt ist, zum Durchmesser eines Kreises nimmt, so schneidet dieser Kreis die große Achse in den Brennpunkten. Die 4 Punkte, welche derart bestimmt sind, nämlich 2 Brennpunkte und 2 Punkte einer Berührungslinie werden paarweise verbunden, je ein Punkt der Berührungslinie mit dem einen, der andere mit dem anderen Brennpunkte. Diese Verbindungs- geraden nennt man konjugierte Linien. Sie schneiden einander auf der Normallinie, d. h. auf der Senkrechten, welche zur Berüh- rungslinie im Berührungspunkte errichtet ist. Nun folgt der Satz über Winkelgleichheit für die Winkel, welche die Normallinie mit den beiden Brennstrahlen des Berührungspunktes bildet; ferner der Satz, daß die Fußpunkte der Senkrechten von den Brennpunkten auf Berührungslinien sämtlich in einer um die große Achse als Durch- messer beschriebenen Kreisperipherie liegen; endlich der Satz von der konstanten Summe, beziehungsweise Differenz der Brenn- strahlen. Alle diese Wahrheiten entwickelt Apollonius der Reihe nach in dem III. Buche, welches dadurch fast für sich allein den Charakter einer elementaren Kegelschnittslehre gewinnt. Man ist aller- dings in der Wertschätzung dieses III. Buches viel weiter gegangen, als wir es taten. Apollonius sagt in der Vorrede zum I. Buche seiner Kegelschnitte, von Euklid sei die Synthesis des Ortes zu drei und vier Geraden nicht gegeben, sondern nur ein Teil derselben, und dieser überdies nicht glücklich; es sei auch nicht möglich gewesen, diese Synthesis richtig zu vollenden ohne das, was er, Apollonius, eben in 22° 340 16. Kapitel. dem III. Buche neu gefunden habe!). Pappus tadelt diese Ruhn- redigkeit, indem er gleichzeitig hervorhebt, daß Apollonius seinen Vorgängern hätte dankbar sein müssen, ohne deren Vorarbeiten es ihm unmöglich gewesen wäre, das Neue hinzuzuentdecken. Der Ort zu drei oder vier Geraden sei aber folgender: Sind drei (vier) Gerade der Lage nach gegeben, und zieht man nach ihnen hin von einem gegebenen Punkte aus Gerade unter gegebenen Winkeln, ist alsdann das Verhältnis zwischen dem Rechtecke aus zwei der Verbindungs- geraden zu dem Quadrate der dritten (dem Rechtecke aus den beiden anderen) ein für allemal dasselbe, so liegt der Ausgangspunkt der Verbindungsgeraden auf einem Kegelschnitte?). Das ist alles, was aus alten Quellen bekannt ist. Wenn man nun versucht hat?), jenes Örtsproblem unter Zugrundelegung des III. Buches des Apollonius vollständig zu erledigen, so kann man in diesem Wiederherstellungs- versuche die ganze geometrische Begabung seines Verfassers bewun- dern, aber ein geschichtliches Ergebnis ist es darum keineswegs. Waren die drei ersten Bücher dem Eudemus gewidmet, so be- ginnt das IV. Buch mit einem Sendschreiben an Attalus, in wel- chem der Tod jenes Freundes beklagt, nebenbei aber auch der Inhalt des beigefügten Buches kurz dahin bezeichnet wird, es beschäftige sich mit der Frage, wieviele Punkte Kegelschnitte mit Kreis- _ peripherien und mit anderen Kegelschnitten gemein haben können, ohne ganz und gar zusammenzufallen. Apollonius weiß dabei sehr wohl eine Berührung von einer Durchschneidung zu unter- scheiden. Er hebt z. B. hervor, daß 2 Kegelschnitte 4 Durchschnitts- punkte haben können, oder 2 Durchschnittspunkte und 1 Berührungs- punkt oder 2 Berührungspunkte; ferner daß 2 Parabeln nur 1 Be- rührungspunkt haben können, ebenso Parabel und Hyperbel, wenn die Parabel die äußere Kurve ist, ebenso Parabel und Ellipse, wenn die Ellipse die äußere Kurve ist usw. | Es ist einleuchtend, daß die Sätze dieses IV. Buches für die Griechen eine viel höhere Bedeutung hatten als für neuere Mathe- matiker. Waren es doch gerade die Durchschnittspunkte der Kurven, deren zum Zwecke der Würfelverdoppelung notwendige Ermittelung die Kurven selbst hatten untersuchen oder gar erfinden lassen. Die Methode, nach welcher Apollonius die Punkte bestimmt, welche zwei Kurven gemeinsam sind, kommt auf eine apagogische Beweisführung hinaus, die sich großenteils auf das Lemma des III. Buches bezüg- !) Apollonius (ed. Heiberg) I, 4 lin. 13—17. 2) Pappus (ed. Hultsch) II, 676—678. °) Zeuthen, Die Lehre von den Kegelschnitten im Alterthume, siebenter und achter Abschnitt. Eratosthenes. Apollonius von Pergä. 341 lieh der harmonischen Teilung stützt. So mußte das IV. Buch der Form und dem ganzen Inhalte nach gleichmäßige Verbreitung mit den 3 ersten Büchern gewinnen, deren Abschluß es gewissermaßen für solche Mathematikstudierende bildete, welche von der damaligen höheren Mathematik gerade das in sich aufnehmen wollten, was bis zur Lösung der delischen Aufgabe, diese mit inbegriffen, notwendig war. Ja diese innere Zusammengehörigkeit engerer Art der 4 ersten Bücher bewährte sich geschichtlich auch dadurch, daß nur sie im griechischen Texte sich erhielten, während das V., VI. und VII. Buch erst in der Mitte des XVII. $. aus einer arabischen Übersetzung be- kannt wurden, das VIII. Buch sogar als ganz verloren wird betrachtet werden müssen. Das V. Buch läßt die vorhergehenden weit hinter sich. Apollo- nius erhebt sich bewußtermaßen hoch über seine Zeit, indem er Sätze über die längsten und kürzesten Linien, die von einem Punkte an den Umfang eines Kegelschnittes gezogen werden können, hier vereinigt. Es hätten, so erklärt Apollonius in einleitenden an Attalus gerichteten Worten, Mathematiker, welche vor ihm und zu seiner Zeit lebten, die Lehre von den kürzesten Linien gleichfalls behandelt, aber ihre Behandlungsweise muß nach Inhalt und Zweck eine andere als die des V. Buches der Kegelschnitte gewesen sein. Dem Inhalte nach begnügten sie sich mit einer geringeren Anzahl von Sätzen, und ihren Zweck fanden sie in dem Diorismus zu gestellten Aufgaben. Wir haben bei Euklid, bei Archimed Beispiele solcher Maximal- und Mini- malwerte auftreten sehen, und die geringste Überlegung führt zum Bewußtsein, daß fast jeder Diorismus neben die Bedingung, unter welcher eine Aufgabe gelöst werden kann, den Grenzwert stellen wird, bis zu welchem eine in der Aufgabe vorkommende Größe wachsen oder abnehmen darf, ohne die Ausführbarkeit zu gefährden. Auf- gaben größter und kleinster Werte mußten also vorkommen und wurden gelöst, ohne daß man darüber sich klar gewesen wäre, dab man hier eine eigenartige, auch außer ihrer zum Diorismus führenden Wirkung bedeutsame Gattung von Fragen behandelte. Apollonius dagegen schließt jene Einleitung zum V. Buche mit den Worten: „Das so Behandelte ist für die dieser Wissenschaft Beflissenen be- sonders notwendig, sowohl zur Einteilung und zum Diorismus, als zur Konstruktion der Aufgaben, abgesehen davon, daß dieser Gegen- stand zu den Dingen gehört, welche würdig sind, um ihrer selbst willen betrachtet zu werden.“ Die Art vollends, in ' welcher Apollonius Einzelfälle dieses Gebietes unterscheidet und durch deren Zusammenfassung die Gesamtheit der Möglichkeiten erschöpft, die merkwürdige Verschlungenheit, man kann fast sagen Unnatürlich- 342 16. Kapitel. keit der Beweise sind bewunderungswürdig nicht minder als wunder- lich. Man kann kaum umhin zu argwohnen, was zu glauben man doch nicht wagen darf, daß Apollonius irgend geheime Methoden besaß, um diejenigen Sätze zu entdecken, deren künstliche Beweise er erst nachträglich aufsuchte. Was Apollonius aus der Lehre vom Größten und Kleinsten kennt, das sind, wie gesagt, insbesondere die längsten und kürzesten Linien, welche aus irgend einem Punkte der Ebene nach einem Kegelschnitte gezogen werden können, Linien, welche Apollonius zuerst für die Fälle bestimmt, in denen der ge- gebene Punkt auf der Achse liegt, und die Konstruktion durch Ab- schnitte erfolgen kann, die selbst auf der Achse des Kegelschnittes auftreten. Dann folgt eine Reihe von Sätzen, die etwa mit dem modernen Begriffe der Subnormalen sich beschäftigen. Die Konstanz dieser Strecke bei der Parabel wird bewiesen. Später gelangt Apol- lonius zu dem Nachweise, daß die am Anfange des Buches be- sprochenen größten und kleinsten Linien Normallinien zum Kegel- schnitte sind, daß also auch die Aufgabe im Früheren zur Lösung vorbereitet ist: von irgend einem Punkte einer Ebene Normalen zu einem in der Ebene befindlichen Kegelschnitte zu zeichnen. Er geht an die Aufgabe selbst heran und findet eine Konstruktion, bei welcher von Durchschnitten mit Hyperbeln Gebrauch gemacht ist. Indem er nun sich bewußt wird, daß in der Zahl der Senkrechten, welche von einem Punkte aus nach einem Kegelschnitte gezogen werden können, keine Willkür herrscht, daß dieselbe vielmehr einesteils von der Art des Kegelschnittes, andernteils von der Lage des gegebenen Aus- gangspunktes abhängt, findet er, daß in dieser Beziehung gewisse Punkte eine Ausnahmestellung einnehmen. Diese Punkte, aus welchen man nach dem gegenüberliegenden Teil des Kegelschnittes nur eine Normale ziehen kann, sind die Krümmungsmittelpunkte, deren Vor- handensein somit Apollonius bekannt war, so fremd ihm der Begriff der Krümmung geblieben ist. Möglicherweise ist es sogar nicht zu weit gegangen, wenn man annimmt, Apollonius habe die stetige Auf- einanderfolge der Krümmungsmittelpunkte geahnt, d. h. jene Kurve geahnt, wenn auch nicht untersucht, welche wegen anderer Eigen- schaften den Namen der Evolute erhalten hat. Das VI. Buch handelt von gleichen und ähnlichen Kegel- schnitten, sofern dieselben auf geraden einander ähnlichen Kegeln auftreten. Am Schlusse wird sogar die Aufgabe behandelt, durch einen gegebenen Kegel eine Schnittfläche zu legen, welche eine gleich- falls gegebene Ellipse erzeugen soll. | Zwischen dem VII. und dem VIII. Buche scheint wieder ein engerer Zusammenhang stattgefunden zu haben, wie uns Apollonius Eratosthenes. Apollonius von Pergä. 343 selbst versichert. In seiner Zuschrift sagt er, das VII. Buch be- schäftige sich mit Sätzen, welche zu Bestimmungen führen, das VII. Buch enthalte wirklich bestimmte Aufgaben über Kegelschnitte. Auch aus Pappus läßt sich eine solche Zusammengehörigkeit der beiden Bücher folgern. Derselbe teilt nämlich eine ziemlich beträcht- liche Zahl von Lemmen zu den Kegelschnitten des Apollonius mit. Die Lemmen zu allen übrigen Büchern sind nach den Büchern ge- sondert; nur die Lemmen zum VII. und VIII. Buche sind vereinigt'). Auf diese Grundlage hin hat man sogar eine Wiederherstellung des verlorenen VIII. Buches versucht”), welche indessen doch zu unsicher scheint, um .näher besprochen zu werden. Wir begnügen uns mit der Bezeichnung einiger interessanten Theorien aus dem erhaltenen VI. Buche. In ihm finden sich die Sätze über komplementäre Sehnen, welche konjugierten Durchmessern parallel laufen, in ihm die Sätze über die konstante Summe der Quadrate konjugierter Durchmesser, in ihm die Entwicklung des Flächenraumes jener Parallelogramme, deren zwei aneinanderstoßende Seiten die Hälften zweier konjugierter Durchmesser sind. Auch diese Sätze, begreif- licherweise geometrisch und nicht durch Rechnung abgeleitet, er- fordern bei Apollonius die Unterscheidung zahlreicher Einzelfälle, bei welcher er wiederholt die Gewandtheit an den Tag legt, welche man schon in den früheren Büchern bewunderte. Dieses in Kürze der Inhalt des merkwürdigen Werkes, wobei wir uns gegen die verlockende Versuchung, noch mehr hineinzulesen als Apollonius gesagt hat, zu wappnen gesucht haben. Auch der von uns angegebene nackte Inhalt ist sehr wohl geeignet, unsere Neugier anzuregen, inwieweit derselbe Mathematiker seinen erfinderischen Geist auch noch anderen Gebieten unserer Wissenschaft zuwandte. Leider können wir diese Neugier nicht vollauf befriedigen. Wir wissen von solchen anderen Arbeiten nur eben genug, um die Vielseitigkeit des Apollonius zu ahnen, aber bei weitem nicht so viel, um den Wert der Untersuchungen abschätzen zu können, deren Titel nur bei Pappus?) mehrenteils sich erhalten haben, und die Vermutung zu einer wahr- scheinlichen machen, daß Anwendungen der Kegelschnitte auf be- stimmte geometrische Aufgaben in denselben behandelt wurden. Die Titel dieser verloren gegangenen Schriften sind: Berührungen, xegi &napov (de tactionibus),; ebene Örter, &xixedoı zöxoı (loci plani); Neigungen, wsol vevoswv (de inchinationibus); Raumschnitt, zeol ‘) Pappus VII, 298—311, (ed. Hultsch) 990—1004. ?°) Halley 8. 137 bis 169 der zweiten, mit dem V. Buche anfangenden, Abteilung seiner Ausgabe der Kegelschnitte. °) Pappus VII, Prooemium. 344 16. Kapitel. yagplov droroung (sectio spatii); bestimmter Schnitt, sei dıweıs- uevns tous (sectio determinata). Hypsikles führt außerdem, wie wir im nächsten Kapitel zu besprechen haben, eine Schrift des Apollonius über die in dieselbe Kugel eingeschriebenen Dodekaeder und Ikosaeder an, Proklus eine zsoi tod xoyAlov!) von gänzlich unbekanntem Inhalte und ein Schriftsteller, den wir im 24. Kapitel als Verfasser einer Schrift über Brennspiegel kennen lernen werden, nennt eine Abhandlung des Apollonius gleichen Titels?): Über Brennspiegel, zsoi xvoiwv. Die Bedeutung einer solehen Schrift für die Geschichte der Geometrie ist nicht zu unterschätzen. Wir sahen (S. 339), daß Apollonius nur von den Brennpunkten derjenigen Kurven handelte, welche solche paarweise besitzen. Daß auch die Parabel einen Brennpunkt habe, konnte nicht wohl früher bemerkt werden, als bis man einer halben Ellipse, einer halben Hyperbel mit ihrem Brennpunkte ein gewisses Interesse abgewonnen hatte, und das war vielleicht bei Gelegenheit optischer Untersuchungen, d. h. eben in Abhandlungen über Brennspiegel. Damit soll freilich weder aus- gesprochen, noch schlechtweg geleugnet werden, daß Apollonius be- reits diesen Fortschritt vollzog. Gewiß ist vielmehr fürs erste nur, daß Pappus”®) gegen Ende des III. nachchristlichen Jahrhunderts den Brennpunkt der Parabel kannte. Nur eine einzige Schrift, die zwei Bücher vom Verhältnis- schnitt, zegi Aoyov dmoroung (de sectione rationis) ist in arabischer Sprache der Neuzeit überblieben und aus dieser übersetzt worden®). Die Aufgabe des Verhältnisschnittes ist folgende: Es sind zwei un- begrenzte Gerade in derselben Ebene der Lage nach gegeben, ent- weder gegenseitig parallel oder einander schneidend, und in jeder derselben ist ein Punkt gegeben, auch ist ein Verhältnis und über- dies ein Punkt außerhalb der Linien gegeben; man soll durch den gegebenen Punkt eine Gerade ziehen, welche von den der Lage nach gegebenen Geraden Stücke abschneide, deren Verhältnis dem gegebenen gleich sei. Man erkennt leicht, daß diese Aufgabe durch einen großen Reichtum an Fällen sich auszeichnet, je nach der Lage des Punktes außerhalb der beiden Geraden zu diesen Geraden selbst und zu der ') Proklus (ed. Friedlein) 105. ?) Vgl. die Zeitschrift Hermes, Bd. XVI, S. 271—72. °) Pappus VII, 318 (ed. Hultsch pag. 1012, lin. 24sqqg.). °%) Edw. Bernard fand die ziemlich verderbte Handschrift am Ende des XVII. S. und begann dieselbe ins Lateinische zu übersetzen. Als er kaum den zehnten Teil bewältigt hatte, gab er die Arbeit auf. Nun vollendete der des Arabischen vorher unkundige Halley die Übersetzung, des von Bernard hinterlassenen Bruchstückes als Grammatik und Wörterbuch sich bedienend. Halleys Aus- gabe von 1706; eine deutsche Ausgabe von Aug. Richter. Elbing 1836. Eratosthenes. Apollonius von Pergä. 345 durch die beiden auf den Geraden gegebenen Punkten gezogenen Transversalen, und ferner je nach der Richtung, in welcher jene in Verhältnis tretenden Stücke von den :gegebenen Punkten aus liegen sollen. Das ist dem geometrischen Charakter des Apollonius so recht angemessen. Wir nannten oben eine ganze Reihe von Schriften als verloren, ohne daß man erheblich mehr als deren Titel kenne. Bei dem Raum- sehnitte war die Aufgabe dahin gestellt, daß während eben dieselben Geraden und derselbe Punkt wie beim Verhältnisschnitte gegeben waren, die zu ziehende Gerade Stücke abschneiden mußte, welche ein der Fläche nach gegebenes Rechteck bildeten!), Die allgemeinste Aufgabe der Neigungen?), von welcher Apollonius die leichteren Fälle behandelte, bestand darin: zwischen zwei der Art und der Lage nach gegebenen Linien eine gegebene Strecke so einzuzeichnen, daß sie verlängert durch einen gegebenen Punkt ging. Eine geometrische Auflösung dieser Aufgabe ist mittels Anwendung von Kegelschnitten möglich. Ihr Vorkommen bei Aristoteles, dem die Kegelschnittlehre sicherlich noch fremd war, führt zur Vermutung, man habe die Auf- gabe ursprünglich versuchsweise durch Bewegungsgeometrie gelöst?) In den Berührungen war die sogenannte Berührungsaufgabe des Apollonius behandelt, d. h. die Aufgabe, einen Kreis zu zeichnen, der drei Bedingungen genüge, deren jede darin bestehen kann, durch einen gegebenen Punkt zu gehen, oder eine gegebene (Gerade, oder einen gegebenen Kreis zu berühren®),. Aus der Schrift von den Be- rührungen kennen wir ferner möglicherweise eine Tatsache, welche interessant genug ist, da sie das, was wir früher (S. 249 und 256) von Spuren kombinatorischer Betrachtungen bei griechischen Schrift- stellern anmerken durften, zu ergänzen geeignet ist. Bei der über den eigentlichen Urheber ‚herrschenden Unsicherheit ziehen wir in- dessen vor, den Gegenstand im 22. Kapitel bei Pappus zur Rede zu bringen. Auch dem rechnenden Teile der Mathematik hat Apollonius, wie wir durch Eutokius wissen, seine Aufmerksamkeit zugewandt. Euto- kius sagt uns nämlich in dem mehrfach bereits benutzten Kommen- tare zur archimedischen Kreismessung: Soviel in meinen Kräften stand, habe ich nun die von Archimedes angegebenen Zahlen einiger- maßen erläutert. Wissenswert ist aber noch, daß auch Apollonius von Pergä in seinem Okytokion dasselbe durch andere Zahlen be- ') Pappus VII ed. Hultsch p. 640. ?°) Ebenda p. 670. ‚°) So die scharf- sinnige Vermutung von Oppermann. Vgl. Zeuthen, Die Lehre von den Kegel- schnitten im Alterthum S. 252 Note 1 und Heiberg in den Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik XVII, 16. *) Pappus VII ed. Hultsch p. 611. 346 16. Kapitel. wiesen hat, wodurch er sich der Sache noch mehr näherte“!). Wir haben hier die Lesart &xvroxıov aufgenommen, welche durch zwei Pariser Handschriften verbürgt auffallend genug lange Zeit durch das sprachlich ganz rätselhafte Wort &xvroßoov verdrängt war. Voll- ständigen Einblick in die Art, wie Apollonius seine Kreismessung vollzog, die noch genauer als die des Archimed gewesen sein muß, erhalten wir freilich auch durch den Namen Okytokion keineswegs. Dem Wortlaute nach übersetzt sich dieser Titel als Mittel zur Schnellgeburt, es handelte sich also höchst wahrscheinlich um raschere Rechnungsverfahren, aber wie dieselben zu dem oben ge- nannten Ziele führten, darüber sind wir doch nicht besser aufgeklärt. Die Mutmaßung?), Apollonius habe den Näherungswert x = 3,1416 herausgerechnet, der, wie wir im 30. Kapitel sehen werden, in Indien bekannt war, schwebt ziemlich in der Luft. Eine dem gewöhnlichen griechischen Verfahren gegenüber ein- fachere und dadurch abgekürzte Multiplikation des Apollonius, welche daher möglicherweise einen Abschnitt des Okytokion bildete, kennen wir aus Pappus. In dem auf uns gekommenen Bruchstücke des zweiten Buches seiner Sammlung?) berichtet Pappus von zwei zu- sammenhängenden, aber doch begrifflich zu trennenden Gegenständen. Erstens entnehmen wir seinem Berichte, daß Apollonius in ähn- licher Weise wie Archimed die Zahlen in Gruppen zu teilen wußte, welche eine leichtere Aussprache und zugleich eine größere Über- sichtlichkeit gewährten, als sie ohne Gruppierung zu erreichen ge- wesen wäre. Es ist derselbe Gedanke, der beiden Schriftstellern gleichmäßig vorschwebte, ja es ist eigentlich dieselbe Gruppierung, welche wir von beiden gelehrt finden. Denn wenn auch Archimed (S. 520) Oktaden bildete, während Apollonius sich mit Tetraden begnügte, so ist doch die Gleichheit des Prinzips dadurch hergestellt, daß zwei Tetraden des Apollonius nebeneinander geschrieben nach moderner Bezeichnung der Zahlen einer Oktade des Archimed gleich- kommen, daß Archimed also nur eine höhere Gruppeneinheit annahm als Apollonius, aber eine Einheit, aus welcher die des Apollonius, als in jener enthalten, sich leicht ableiten ließ, ebenso wie es denkbar ist, daß beide Gruppierungen unabhängig voneinander aus dem !) Archimedes (ed. Torelli) 216 und 452, die Varianten der Pariser Handschriften. Torelli benutzte sie in seiner Übersetzung. Neuerdings wurde dann durch Knoche und Maerker im Herforder Gymnasialprogramm für 1854 auf diese Lesart hingewiesen, sowie von M. Schmidt in Mützells Zeitschrift für die Gymnasialwissensch. 1855, S. 805. Vgl. auch Archimedes (ed. Hei- berg) II, 300. ?) Recherches sur l’histoire de l’astronomie ancienne par Paul Tannery. Paris 1893, pag. 67—68. °) Pappus II (ed. Hultsch) 2—29. Eratosthenes. Apollonius von Pergä. 347 griechischen Sprachgebrauche hervorgehen konnten, welchem die Myriade das letzte unzusammengesetzte Zahlwort, die Myriade der Myriaden das letzte einfach zusammengesetzte Zahlwort war. Die Namen, welche Apollonius für seine Tetraden benutzt, sind für die erste Tetrade, welche von 1 bis 9999 sich erstreckt, der Name der Einheiten; dann folgt die Tetrade der Myriaden; auf diese die der doppelten Myriaden, der dreifachen, vierfachen usw. Myriaden, bis zur »ten Myriade als allgemeine Bezeichnung einer beliebigen Höhe!), wobei wir freilich dahingestellt sein lassen müssen, ob diese an sich hochbedeutsame Allgemeinheit Apollonius oder dem Berichte des Pappus eigentümlich ist. Mit diesen Zahlen werden nun zweitens Multiplikationen aus- geführt, und dabei ist die Vorschrift gegeben, die Multiplikation irgend welcher Zahlen auf die ihrer Wurzelzahlen, zvdueveg, zurück- zuführen. Das Wort Pythmen findet sich in einer arithmetischen Bedeutung schon bei Platon?), ob aber genau in derselben wie bei Apollonius, ist bei dem vielbestrittenen Sinne der platonischen Stelle nicht zu erhärten. Bei Pappus?) bedeuten Pythmenes die kleinsten Zahlen, in welchen ein Verhältnis angegeben ist. Apollonius ver- stand unter der Wurzelzahl die Anzahl der Zehner oder der Hun- derter, die in einer nur aus Zehnern, beziehungsweise nur aus Hun- dertern bestehenden Zahl enthalten sind. So ist 5 der Pythmen von 50 wie von 500, 7 der Pythmen von 70 wie von TOO usw. Wurzel- zahlen von Tausendern, Zehntausendern usw. kommen wenigstens unter den miteinander zu vervielfachenden Zahlen nicht vor. Der Grund dafür, wie für das Hervorheben der anderen Pythmenes liegt in der uns bekannten griechischen alphabetischen Bezeichnung der Zahlen (8. 127). Die moderne Ziffernschrift läßt sofort 3 als die Wurzelzahl von 30, von 300, von 3000 erkennen. Ebenso war dem Griechen ein leicht ersichtlicher Zusammenhang zwischen y und ‚y, nicht aber zwischen y und A, zwischen y und r geboten, letzterer mußte erst gezeigt werden. Vielleicht haben wir unseren Lesern durch die Wahl des Wortes zeigen einen Hinweis gegeben, wie der Gedanke an die Pythmenes bei einem Griechen entstehen konnte: nicht wenn er die schriftliche Aufzeichnung der Zahlen vor sich sah, wohl aber wenn er ihren Wortlaut hörte. Der Ähnlichklang von roeig, TOLEKXoVT«, TgLax00L0ı sagte ihm, was an y, A, r erst gezeigt werden mußte, und so glauben wir nicht irre zu gehen, wenn wir ') Pappus (ed. Hultsch) 4. dinin wveias; 6. reımln) wvolas; 20. Evvemin wvolag; 18. uverddes Öumvvuor t& x, für die «fache (nicht die 20fache) My- riade oder für 10000 auf die xte Potenz. *®) Platon, Staat VII, 546 C ö» Exi- teırog zvduijv. .°) Pappus II (ed. Hultsch) pag. 80. 348. 16. Kapitel. in den Pythmenes eine Frucht des mündlichen Rechenunterrichtes, nicht schriftlicher Erörterung erblicken. Sei dem, wie da wolle, jedenfalls vollzog Apollonius die Multiplikation nunmehr an den Pythmenes, und die Ordnung des jedesmaligen Produktes wird aus der Anzahl der Faktoren unter besonderer Berücksichtigung, wie viele derselben Zehner, wie viele Hunderter waren, abgeleitet. Eine Unter- scheidung von zahlreichen Einzelfällen, die dabei vorkommen, kann uns bei Apollonius am wenigsten überraschen; wir bemerken sie auch nur mit der ausgesprochenen Absicht gelegentlich wieder daran zu erinnern. Endlich müssen wir noch einer Arbeit des Apollonius über Irrationalgrößen gedenken, von welcher schwache Spuren in einer arabischen Handschrift entdeckt worden sind!). Wir haben (S. 268—270) über das X. Buch der euklidischen Elemente und über die dort unterschiedenen Irrationalitäten, die Medialen, die Binomialen und die Apotomen berichtet. Zu diesem X. Buche hat ein griechischer Schriftsteller Erläuterungen geschrieben, deren Über- setzung in das Arabische aufgefunden worden ist. Wer der Ver- fasser war, darüber ist volle Bestimmtheit nicht vorhanden, wenn- gleich die Wahrscheinlichkeit dafür spricht, man habe es hier mit dem überliefertermaßen gleich dieser Übersetzung aus zwei Büchern bestehenden Kommentare zum X. Buche der Elemente von Vettius Valens, einem byzantinischen Astronomen aus dem II. S. n. Chr., zu tun. Dieser Kommentator erzählt, die Irrationalgrößen hätten ihren Ursprung in der Schule des Pythagoras gehabt. Theaetet habe, nach den Mitteilungen des Eudemus, die Lehre vervollkommnet, in- dem er Irrationalgrößen unterschied, die durch Multiplikation, durch Addition und durch Subtraktion untereinander verbunden eine ver- wickeltere Form besaßen. HKuklid habe vollends Ordnung in den (kegenstand gebracht durch genaue Bestimmung und Scheidung der verschiedenen Gattungen der Irrationalitäten. Dieser Bericht stimmt soweit durchaus mit unseren aus anderen Quellen geschöpften Mit- teilungen überein und bestätigt dieselben, wie andererseits ihm selbst dadurch eine um so größere Glaubwürdigkeit erwächst. Der Kommen- tator fährt fort: „Apollonius war es, welcher neben den geordneten (terayusvos des Proklus) Irrationalgrößen das Vorhandensein der ungeordneten (är«xrog) nachwies und durch genaue Methoden ı) Woepcke, Essai d’une restitution de travaux perdus d’Apollonius sur les quantites irrationelles d’apres les indications tirces d’un manuserit arabe in den Memoires presentes a lV’academie des sciences XIV, 658—720. Paris 1856. Vgl. auch den Bericht von Chasles über diese Abhandlung in den Compt. Rend. XXXVII, 553—568 (17. Oktober 1853). Die Epigonen der großen Mathematiker. 349 eine große. Anzahl derselben herstellte“ Jetzt folgt der eigentliche Kommentar, dem freilich die Klarheit, welche man von einem der- artigen Werke zu fordern berechtigt ist, gar sehr abgeht. Selbst der Versuch aus ihm herauszulesen, worin die bedeutende Erweiterung bestand, welche Apollonius zu verdanken ist, mit anderen Worten, was man unter ungeordneten Irrationalgrößen zu verstehen habe, ist trotz allen aufgewandten Scharfsinnes nur Versuch geblieben und hat eine bloße Vermutung zutage gefördert. Eine Erweiterung meint man demgemäß, könne nach zwei Richtungen hin stattgefunden haben; es könne statt der aus zwei Teilen bestehenden Binomialen oder Apotomen eine additive, beziehungsweise subtraktive Verbindung von mehr als zwei Quadratwurzeln in Untersuchung genommen worden sein; es könne auch um Ausziehung von Wurzeln mit höheren Wurzelexponenten als 2 sich gehandelt haben, oder anders ausge- sprochen, um die Einschaltung von 2, 3,...n mittleren geometrischen Proportionalen zwischen zwei gegebenen Größen, d. h. um Aufgaben, von welchen das delische Problem den einfachsten Fall darstellt. 17. Kapitel. Die Epigonen der großen Mathematiker. In den fünf letzten Kapiteln haben wir uns mit den großen Mathematikern, welche das Jahrhundert von 300 bis 200 etwa durch ihre Tätigkeit erfüllten, bekannt zu machen gesucht. Zusammen- fassende Übersichten, wie wir sie anderen Kapiteln wohl als Schluß dienen ließen, waren hier nicht zu geben Haben wir doch überhaupt auf das Notwendigste und Wichtigste uns beschränken müssen, so daß unsere ganze Darstellung gewissermaßen als die vielleicht ver- mißte Zusammenfassung zu gelten hat. Nur das sei noch besonders hervorgehoben, daß Euklid, Archimed, Eratosthenes und Apol- lonius die Mathematik auf eine Stufe förderten, von welcher aus mit den alten Hilfsmitteln, insbesondere ohne Erweiterung der In- finitesimalbetrachtungen zu einer allgemeinen Methode, was die Ex- haustion nicht war, wenn sie es auch hätte sein können, ein Höher- steigen nicht möglich war. Zur Infinitesimalmethode, wie zur mathe- matischen Allgemeinheit überhaupt war der griechische Geist mit vereinzelten Ausnahmen, zu welehen vermutlich Apollonius gerechnet werden darf, nicht angetan. Das ist ein Erfahrungssatz, welcher wesentlich auf dem Fehlen allgemeiner Methoden beruht. War aber ohne sie ein weiteres Steigen nicht möglich, so war der erreichte 350 17. Kapitel. Gipfel nach allen Richtungen hin gar bald durchforscht. Es blieb nur ein Abwärtsgehen und bei dem Abwärtsgehen ein Anhalten da und dort, ein Umsichschauen nach Einzelheiten übrig, an welchen man beim jähen Aufwärtsklimmen vorher vorübergeeilt war. Damit ist die Zeit gekennzeichnet, zu deren Betrachtung wir in diesem Kapitel übergehen. Die Elemente der Planimetrie waren erschöpft. Sie blieben, was Euklid aus ihnen gemacht hatte, abgesehen von Zutaten, die der Lehre von den größten und kleinsten Werten entstammten. Auch die Lehre von den Kegelschnitten konnte nach Apollonius eine wesent- liche Ergänzung nicht finden. In der Stereometrie blieb dagegen nach Euklid und selbst nach Archimed noch manches zu tun. Am meisten war von theoretisch Neuem in der Lehre von den von Kegelschnitten verschiedenen Kurven zu finden, einem Gebiete, zu dessen Bearbeitung Archimeds Spiralen entschieden aneifern mußten. Und endlich war die rechnende Geometrie ein Gegenstand, an welchem Archimeds Kreisrechnung auch verwöhnten Geistern Geschmack beigebracht haben mochte. Das sind die Felder, auf denen die Epigonen sich tummelten, deren Bewegungen wir uns zu vergegenwärtigen haben. Die meisten Schriftsteller freilich, die wir hier nennen werden, sind ihrer Lebenszeit nach höchst unbestimmt. Von einigen ist es, wie wir selbst erklären, zweifelhaft, ob sie mit Recht gerade in diesem Kapitel zur Rede kommen. Am sichersten ist dieses wohl für Niko- medes und Diokles anzunehmen, die Erfinder der Konchoide und der Cissoide, mithin zweier Kurven, deren Namen Geminus um das Jahr 70 v. Chr. kannte!), die also zu dieser Zeit jedenfalls vorhanden waren, während andererseits Nikomedes nach dem Berichte des Euto- kius?) sich im Vergleiche zu Eratosthenes mit seiner Erfindung brüstete, also sicherlich auch nicht früher als um das Jahr 200 etwa gelebt haben kann. Die Konchoide oder Muschellinie des Nikomedes ist der geometrische Ort eines Punktes, dessen geradlinige Verbindung mit einem gegebenen Punkte durch eine gleichfalls gegebene Gerade so geschnitten wird, daß das Stück zwischen der Schneidenden und dem Orte eine gegebene Länge besitzt. Je nach dem Größenverhältnisse des Abstandes des gegebenen Punktes von der gegebenen Geraden und der Konchoide besitzt letztere drei verschiedene Formen, doch ist kaum anzunehmen, daß die Griechen diese Formen kannten, deren wesentlichste Verschiedenheit auf dem Zweige der Kurve beruht, welcher von der festen Schneidenden aus gesehen auf derselben Seite ') Proklus (ed. Friedlein) 177. ?) Archimedes (ed. Heiberg) III, 114. rs Die Epigonen der großen Mathematiker. 351 wie der feste Punkt liegt, und von diesem Zweige ist überhaupt nicht die Rede. Allerdings wird, falls diese Meinung als richtig gilt, vollends unverständlich, was Pappus in seinem IV. Buche die zweite, dritte und vierte Konchoide genannt haben mag, die zu anderen Zwecken als die erste benutzt worden seien!). Nikomedes nannte, wie wir durch Eutokius und Pappus wissen, den festen Punkt Pol, zö4or. Er erfand auch, wie beide Bericht- erstatter uns melden, eine Vorrichtung | —==S |] zur Zeichnung der Konchoide, die aus der Figur sofort verständlich ist (Fig.59). N Sie bestand aus drei miteinander ver- ' bundenen Linealen. Zwei derselben IN waren senkrecht zueinander fest ver- Zu. einigt, und während das eine fast seiner ganzen Länge nach durch eine Ritze durchbrochen war, trug das andere ein kleines rundes Zäpfchen. Das durehbrochene Lineal stellte die feste Gerade, das Zäpfchen auf dem anderen stellte den Pol der Muschellinie vor. Das dritte Lineal trug unweit des spitzen Endes ein Zäpfchen ähnlich dem Pole, etwas weiter davon entfernt eine Ritze ähnlich der auf der festen Geraden; die Entfernung des Zäpfehens von der Spitze stellte den gleichbleiben- den Abstand vor. Offenbar mußte nun die Spitze dieses dritten Lineals eine Muschellinie beschreiben, wenn das Lineal selbst alle möglichen Lagen annahm, deren es fähig war, während sein Zäpf- chen in der Ritze der festen Geraden sich befand und seine Ritze das als Pol dienende Zäpfchen einschloß. Nikomedes hat gezeigt: 1. daß die Muschellinie der festen Ge- raden sich mehr und mehr nähert?); 2. daß jede zwischen der festen Geraden und der Muschellinie gezogene Gerade die Muschellinie schneiden muß; 3. daß mittels der Muschellinie die Aufgabe der Würfel- verdoppelung gelöst werden kann. Den Ideengang seiner Auflösung und seines Beweises lassen wir hier folgen, wobei wir nur diejenigen geringfügigen Abänderungen vornehmen, welche notwendig sind, um statt eines Rechnens mit Proportionen das uns geläufigere Rechnen mit Gleichungen einzuführen. Aus den Strecken «X = 2a und «ß = 2b wird (Fig. 60) das Rechteck aßyA gebildet und ßy um weitere 2a nach n verlängert. Außerdem wird in der Mitte &e von ßy die e& senkrecht zu ßy errichtet und Fig. 59. ı) Pappus (ed. Hultsch) 244. ?) Proklus (ed. Friedlein) 177 ist geradezu von der Asymptote der Konchoide die Rede. 352 17. Kapitel. deren Endpunkt &.durch y&= ßd =b bestimmt. Somit ist auch n$ gegeben, und ihr parallel wird durch p diey® gezogen Diese letztere wird als feste Gerade, $ als Pol, db als Abstand benutzt und die Muschel- fr linie konstruiert, welche die Ver- längerung von By in x schneidet, d.h. welche d9%x—=b werden läßt. Verbindet man nun endlich x mit A und verlängert «A bis zum @ / E a Durchschnitte u mit der ver- längerten «ß, setzt man dabei uu=i, ya=Y, so ist 2a:2=t:y=y:2b, y a a und die Aufgabe, zwischen 2a und £ 9 2b zwei mittlere Proportionalen r einzuschalten, ist gelöst. Aus den BE Dreiecken «Au, yx4 folgt näm- RL De ehe b _"7:% Daraus erkennt man £9=x und 2a y Yy y% folglich &&=x+b. Nun ist e& Kathete zweier rechtwinkliger Drei- ecke y&s und x&e. Das erstere hat y&=b als Hypotenuse, ye= a als zweite Kathete.e Das zweite hat z&=x+b als Hypotenuse, xce=y-+a als zweite Kathete. Mithin ist ®— a’= (x -+b)—(y-+a)? oder z(x +2b)=y(y-+ 2a) und en — /F?@ Man kennt ferner den- 0 2b selben Bruch Yo = GE — er — 2 wegen der Ähnlichkeit der Drei- ecke ßxu und yxA. Man weiß also auch j& == Sr 2bx=y?. Diese Gleichung abgezogen von dem vorher gefundenen z(x+2b)=y(y+ 2a) läßt 2?=2ay zum Reste, und die Umstellung der beiden Glei- chungen 2? = 2ay, y —2bx in Proportionen liefert das verlangte 2a:2=a@:y=y:2b. Auflösung und Beweis sind gleichmäßige Zeugnisse für den Scharfsinn des Erfinders, der schon um des oben beschriebenen Konchoidenzeichners willen einen rühmlichen Platz ın der Geschichte der Mathematik verdient. Der Zirkel, als Hilfsmittel geometrischen Zeichnens wurde von den Alten auf den Neffen des Dädalus zurückgeführt!), wohl denselben Talus, auf welchen schon (S. 163) für andere Erfindungen verwiesen worden ist, d.h. auf einen mythischen . Ursprung. Die ') Ovid, Metam. VII, 247—49: Primus et ex uno duo ferrea brachia nodo Vinxit, ut, aequali spatio distantibus illis, Altera pars staret, pars altera duceret orbem. Die Epigonen der großen Mathematiker. 353 Vorrichtungen des Platon und des Eratosthenes zur Würfelver- doppelung beruhen auf Geschicklichkeit des Benutzers, der versuchs- weise gewisse Lagenverhältnisse der Teile der Apparate hervorbringen mußte. Etwaige Mittel die Kegelschnitte zu zeichnen sind, wenn Menächmus wirklich dergleichen besaß (S. 244), nicht zu unserer Kenntnis gelangt. Die Quadratrix, die Hippopede, die Spirale mecha- nisch zu zeichnen gab es kein Mittel. So ist die Muschellinie des Nikomedes neben der Geraden und dem Kreise die älteste Linie, von deren mechanischer Konstruktion in einem fortlaufenden Zuge wir genügenden Bericht besitzen. Dieselbe Muschellinie hat auch zur Auflösung einer anderen Auf- gabe, nämlich zur Dreiteilung des Winkels Anwendung gefunden. Soll man den Worten des Pappus Glauben schenken, so hätte dieser sich jene Anwendung zuzuschreiben‘). Dagegen sagt Proklus aus- drücklich, Nikomedes habe mit Hilfe der Muschellinie jeden Winkel in drei gleiche Teile zerlegt”), und so glauben wir es gerechtfertigt hier von dieser Anwendung zu reden. ‘Wir wissen, daß Archimed (S. 300) die Dreiteilung des Winkels auf die Zeichnung einer Geraden von einem gegebenen Punkte aus zurückführte, welche einen Kreis und eine Gerade so schneiden sollte, daß die zwischen beiden Schnittpunkten liegende Strecke einer ge- gebenen gleich werde. Konnte man hier den Kreis durch noch eine Gerade ersetzen, so war die Aufgabe nur noch: von einem Punkte aus durch eine gegebene Gerade hindurch bis zum Durchschnitte mit einer zweiten gegebenen Geraden eine Gerade zu zeichnen, welche zwischen beiden Durchschnittspunkten einen bekannten Abstand zeige, und das gelingt mit Hilfe der Muschellinie, deren Pol der gegebene Punkt, deren feste Gerade die erste gegebene Gerade, deren gleich- bleibender Abstand die gegebene Strecke ist. $ * — Pappus hat uns eine der- BET 7 artige Umformung über- rn LTE liefert®). Es sei (Fig.61) rn Ind: «ßy der in drei gleiche Teile zu teilende spitze Winkel. Von « aus wird «y senkrecht zu Py gezogen und das Rechteck «yß& vollendet. Die ßs dritteilt nun den gegebenen Winkel, wenn die Strecke d& zwischen ihren Durch- schnitten mit der «y und der Verlängerung der && doppelt so groß ist wie «@ß. Weil nämlich «ds ein rechtwinkliges Dreieck, so wird, ) Pappus IV, 27, (ed. Hultsch) 246. °) Proklus (ed. Friedlein) 272. ®) Pappus IV, 38, (ed. Hultsch) 274. CANTOoR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 23 354 17. Kapitel. wenn n der Mittelpunkt der Hypotenuse de ist, 2 =ö0n=ne=na sein. Folglich sind zwei gleichschenklige Dreiecke «ßn und «ns in der Figur vorhanden. Da überdies x, und x. Es ist nämlich 2 1 2 >x insofern 2,2%, — (%, + 2)e +8 = (2, — 2)(2, — x) >0, wovon die Wahrheit einleuchtet. Ist neuerdings «= 3, x, = 2, aber x, = Ki so berechnen sich die vier aufeinanderfolgenden Näherungswerte folgen- dermaßen: 7 1 E 1 eg 7 1 4.2. —-4% 4 16 26 2 = N = 2, dy=]; iz ’- 1 =: j8 | Lange 26 d 15? 1 0. —dx 15 225 97 2 ee udn 77T %=2, dh, =]; nk ’—- 1 Be 7 1.5 en U Ng Zu 9 ai ae it. d,z, —dın 56 3136 __ 362% a et ae ı hd R 1 209 BIS 374 18. Kapitel. 362 1 362 1 dc, —dı%, __ 209 43681 ° 1381 Bart nn Saar =2,d=1; Er 209 43681? ” a 1 780 43681 Der obere archimedische Näherungswert ist damit gleichfalls gefunden. Nun wird aber eine ähnliche Benutzung zweier falschen Ansätze an- gewandt, um eine angenäherte Kubikwurzel zu finden. Sei Ya=» und seien x, und x, zwei Näherungswerte von der Eigenschaft x, <&<%. Hier nennen wir # —2’=d, %°—x=d, Alsdann RR Wa Ge u A 6 Inn ist 2,0, La,a, el neuer Näherungswert. Soll /100 ermittelt werden, so ist ,=4 2,=5, weil 64<100 <125 und zugleich ist 100 — 64=36=d, 125 —-100=25=d, Da hie ,=x +1 ange- X, d, +2,d, 5-36 180 5-36 +4:25 -44 55 —4+ : und das Merkwürdige ist nun, daß genau dieser Wert genau nommen ist, so wird der Näherungswert i in die Gestalt x, + a gebracht werden können, in Zahlen also 4 + nach der angegebenen Formel 4 + ausgerechnet im 3. Buche «36 00710 der Metrika vorkömmt!). Da kann kaum mehr gezweifelt werden, Heron habe sich die gleichen Zahlen auch als Übersetzung der gleichen Buchstabenformel, welche hier vermutet worden ist, verschafft. Wir kehren nach dieser Zwischenbemerkung, welche dadurch veranlaßt wurde, daß wir die Ausziehung der Kubikwurzel bei Heron von der der Quadratwurzel nicht trennen wollten, zum 1. Buche der Vermessungslehre, und zwar zur heronischen Dreiecksformel zurück. Heron, sagten wir, wendet sie auf das Dreieck mit den Seiten 7, 8, 9 an. Er läßt dem Zahlenbeispiele den Beweis der Formel folgen’). Das Dreieck «ßy erweist sich (Fig. 64) bei Einbeschreibung des Kreises mit dem Halbmesser ns als gleich dem Doppelten eines Drei- ecks mit diesem Halbmesser als Höhe und dem halben Umfang von «ßy oder mit y0 als Grundlinie (sofern 9 = «Öö genommen ist). Nun wird die Hilfskonstruktion 74 senkrecht zu 77, 84 senkrecht zu ßy und yA von dem Durchschnittspunkte A jener beiden Senkrechten nach y vollzogen, nebst den Halbmessern n6, n&, n$ des eingeschrie- benen Kreises und den Verbindungsgeraden n«, nß, ny seines Mittel- punktes mit den Endpunkten des Dreiecks. Weil XynA=yPßA= MW, muß y4 der Durchmesser des umschriebenen Kreises für die beiden Dreiecke ynA und yßA sein, d.h. ynBA ist ein Sehnenviereck und Ö ynß Me yıß= 180°. Aber K und !ı) Heron III, 178. ?°) Ebenda III, 20—25. Heron von Alexandria. 375 addiert man dann noch and = _ und berücksichtigt &7s + end + ö6n&= 360°, so zeigt sich auch irn fr, p Ähnlichkeit der Dreiecke Pix, enx folgt auch | A NE 8» mithin B6 su Br? Durch Addition der Einheit 2 auf beiden Seiten des Gleich- Fig. 64. heitszeichens entsteht v0 sß 0? _ ye-eß 9 _ yes-eß Teer und daraus folgt a aa oder 5 2 Br PL und daraus (y6-ne)? =ye:8ß-ß0-y6. Nun war der Flächeninhalt des Dreiecks «ßy (als des Doppelten des Dreiecks 70) —2- en — <—yd:1s, und somit ist, wenn man die Fläche des Dreiecks «ßy durch 1 be- zeichnet, = Yys-2ß:-ß9-y0. Setzt man endlich @&ß=c, ay=b, Br = a, so lassen die Faktoren unter dem Wurzelzeichen sich leicht anders ordnen und schreiben, so daß he RE (SEE a) ae Me ’) erh) entsteht, eben die Formel, die Herons Namen führt. Nach geliefertem Beweise erprobt Heron die Formel nochmals an dem Dreiecke mit den Seiten 13, 14, 15 und erhält 7=Y21-8:7:6=384. Noch ein weiteres Dreieck ist das aus den Seiten 8, 10, 12. Um dessen Fläche zu erhalten!) wird die Höhe auf die Seite 8» = 10 von « aus gezogen und der an die kleinere Seite «&ß = 8 angrenzende Abschnitt ß0 der Grundlinie dadurch gefunden, daß man von 28y: Bd = 20 aus- geht. Es: ist nämlich «y? +2ßy: Bd = ap?’+ Py?, also 2ßBy - Bd = aß? + By? — ay? = 64 + 100 — 144 = 20, was allerdings nicht be- sonders ausgerechnet ist. Vermöge 8y = 10 zeigt sich Bd =1, B&?=1 ") Heron III, 26. 376 18. Kapitel. und ad? = aß? — Pe = VBE-12 IL, was offenbar mittels Y64 — 1=8 — en gefunden ist. Die Fläche ist aber eu 5 V63 - 392 = 22: Wir können unseren Bericht unmöglich in gleicher Ausführlichkeit fortsetzen. Nach dem Dreiecke kommt das Viereck an die Reihe und zwar, da das Rechteck gleich am An- fange des Buches besprochen war, das rechtwinklige Paralleltrapez, dann das gleichschenklige, das spitzwinklige und das stumpfwinklige. Unter den letzteren beiden Namen wird verstanden, daß, wenn eine der beiden parallelen Seiten als Grundlinie dient, beide Winkel an der Grundlinie spitz, oder einer spitz und einer stumpf sein sollen. ' Als Rhombus wird das gleichseitige, als Rhomboid das ungleichseitige Parallelogramm bezeichnet. Zu ihrer Berechnung ist die Kenntnis der Diagonale erforderlich, welche aber hier als Diameter benannt ist (S. 218), während nur wenig später das Wort Diagonale gebraucht ist!). Zuletzt erscheinen Vierecke, in welchen keine Seite einer anderen parallel läuft. Der nächste Gegenstand der Untersuchung ist der Flächeninhalt regelmäßiger Vielecke vom Dreieck bis zum Zwölfeck, welches letztere sich dem Kreise nähert”). Heißt a, die Seite, F', die Fläche des regelmäßigen Vielecks und c, eine von einem Vieleck zum anderen sich ändernde Zahl, so findet Heron F,=c,a? und ins- besondere: Bar er Der Fünfecksinhalt stammt, wie En sagt, daher, daß v5 31 9 RN: Ds i6 4 gesetzt wurde. Ein genauerer Wert sei auffindbar, wenn ein genauerer Wert von Y5 in Rechnung gezogen werde. FR, Va, weil das Sechseck das Sechsfache eines über a, beschriebenen gleich- seitigen Dreiecks ist. Zur Auffindung der Siebenecksseite führt der ausgesprochene aber unbewiesene Hilfssatz, sie sei nahezu gleich der Senkrechten vom Kreis- mittelpunkt auf die Sechsecksseitee Das entspricht rechnungsmäßig der Gleichung a,’=r? Kari r V3. Man könnte auch r Y3 = a, 4? A, ') Vgl. Heron III, 36 lin. 12 mit 46 lin. 10. 2) Heron II, 46 &&ns de neol rov loonlebgmv re xal looyaviov eidvygoduumv yodıbouev &ygı Tod dmdsx«- yavov, Exeıdn Toöro ovveyyißeı uühkov Ti) Tod nbxAov megLpegeie. Heron von Alexandria. 377 benutzen und a, = — a, schreiben, eine, wie wir im 34. Kapitel sehen 2 werden, den Arabern geläufige Ausdrucksweise, deren sich Heron jedoch nicht bedient. Da Heron die Näherungsformel «a, — - V3 nicht begründet, so muß sie vor ihm zur Genüge bekannt gewesen sein. Wir weisen nur mit einiger Schüchternheit auf Archimeds Siebeneck im Kreise (S. 307) als mögliche Quelle hin. Rechnungs- mäßig kleidet sich der Satz, die a, sei die Senkrechte aus dem Kreis- mittelpunkte auf a,, wie wir schon sagten, in die Gleichung a, — —V3. I r, und dieses entspricht der Annahme w”Bn2— = = 4 = vv Dann wird weiter Y207 = 142 ange- nommen und daraus schließlich gefolgert 43 9 F, = ib) Ay” Zur Auffindung von F, bedient sich Heron der Fig. 64a. K ist der Mittelpunkt des Umkreises, KA ist senkrecht zu JE gezogen und AM bildet mit 4K einen Winkel von der Größe 4 Rechter. Ebenso groß ist Heron schreibt dafür a, = Z2AKA und mithn ZMA1A= = Rechter nebst 1M A4A=1 Rechter, woraus Z1MA = MAA und 14A= AM, 4AM?’=2MA4}, AM= MA Y2 folgt, wofür ° MA ge- setzt wird. Wegen der Gleichschenkligkeit des Dreiecks 1MK hat man also Fig. 64a. _17 KM+MA_ KA KA 1+2 > 00 512%) BE IM SA. et, und KA=-7 > 44= = 57 er > = Mi als Fläche des Dreiecks AEK, welches RR ist. Somit zeigt gi AE. Ferner sieht man 25 0% Die Berechnung von F, geht von der der Schrift über die Ge- raden im Kreise, also Hipparch, entnommenen Formel aus, 3a, sei annähernd der Durchmesser des wen Daraus folgt unter aber- maliger Anwendung von Y2 2; daß 378 18. Kapitel. 17 Der Näherungswert Y2 » 75 Ist offenbar gewonnen, indem zuerst vV?r1+ = dann Y2 = _ 2 gesetzt wurde. Ausgehend von bei Berechnung von F, gewonnenen Werten ge- langt Heron zu 18°, Fo=5 % Sei (Fig. 64b) ZU = a,,, Z#& Durchmesser, NH Halbmesser des Umkreises. Die Dreiecke ZHN, #HN haben bei gleichen Grund- linien ZN, N die gemeinschaftliche Spitze in H, sind also einander gleich, und ihre Summe ZH# ist das Doppelte des Dreiecks ZNH, welches selbst nn ist. Heron führt diesen Beweis nicht, zieht nicht einmal die Hilfslinie NH, sondern setzt sofort das Dreieck ZHF& CH 2 . 0 . =. F,, und bemerkt, es sei rechtwink- lig, weil ZH# ein Winkel im Halb- kreise seı. Nun entnimmt er wieder der Schrift über die Geraden im Kreise 25 2 . . . . — ER _ 2 Ay). Ist dieses richtig, so ıst ZH = 2 Ay.) — (Ay Z Hl 576 24 BE. = Ay y =, und das Dreieck ZHE ist — d,, sowie 49 7 66 Pr Fir Bei dem Nachweise von 45 q Sry 4 9 ist wieder geometrisch verfahren ohne auf Hipparch zurückzugreifen. Die dabei auftretende Y3 ist ebenso wie bei der Aufsuchung von F, durch 4 ersetzt. Wir erkennen also in dieser Gruppe von Sätzen die wiederholte Anwendung von LE 0: Auf die geradlinig begrenzten Figuren folgen die mit gekrümmter Begrenzung, bei welchen Heron ausdrücklich erklärt, er bediene sich von Archimed herrührender Sätze; insbesondere wird 7 = = fort- während benutzt. Den Kreisabschnitt, welcher kleiner als ein Halb- kreis ist, und welcher die Sehne s als Grundlinie und Höhe h besitzt, Heron von Alexandria. 379 s+h 2 angaben. Heron fügt hinzu, diese Formel sei richtig beim Halbkreise, sofern x = 3, und davon hätten die Alten Gebrauch gemacht und die Formel auch noch verallgemeinert. In der Tat ist bei m=3 die Fläche des Halbkreises Be a — 2 r, während 2r=s, r=h ist. Ein etwas genaueres Ergebnis fand man, fährt Heron fort, mittels der Formel En ee — (>) ‚ und diese passe auf den Halbkreis bei 1 3— r? In der Tat ist dann die Fläche des Halbkreises ee maßen EB Alten ziemlich ungenau), indem sie seinen Inhalt als .S LTE, + (). Als dritte genauere Methode lehrt Heron ein der archimedischen Parabelquadratur (S. 304) nachgebildetes Ver- fahren, welches dahin mündet, daß man dem Kreisabschnitte ein gleichschenkliges Dreieck einzeichnet, welches sich dann zu dem Ab- schnitte nahezu wie 3:4 verhält. Bei dieser Gelegenheit nennt Heron die Abhandlung Archimeds unter dem sonst nicht überlieferten Namen Ephodikon?). Ist der zu messende Kreisabschnitt größer als der Halbkreis, so wird er zum ganzen Kreise durch einen anderen Kreis- abschnitt ergänzt, der als kleiner als der Halbkreis nach dem soeben gelehrten Verfahren berechnet wird; die ganze Kreisfläche kennt man auch; man hat also das Gesuchte als Unterschied zweier bekannter Größen. Heron lehrt weiter unter fortwährender Nennung des Archi- med, als desjenigen, dem er folge, die Messung der Ellipse, der Parabel, der Oberfläche des Zylinders, des Kegels, der Kugel, des Kugelabschnittes. Er schließt das Buch mit der Vorschrift, eine un- regelmäßig begrenzte ebene Figur durch eine nahezu ihr gleiche gerad- linig begrenzte Figur zu ersetzen, deren Fläche man berechnen könne, eine unregelmäßig gekrümmte Oberfläche aber, wie z. B. die einer Statue, mit dünnem Papyrus zu belegen, welchen man loszulösen und eben auszustrecken vermöge, worauf er als unregelmäßig begrenzte ebene Figur gemessen werde. Das 2. Buch wendet sich dem Rauminhalte der Körper zu. Die in Anwendung tretenden Formeln sind zumeist als von Archimed herrührend bezeichnet. Es handelt sich um gerade Zylinder, um Kegel, um schiefe Zylinder, um parallelepipedische Körper, um Prismen, um Pyramiden, um Pyramidenstumpfe, um Kegelstumpfe, um Kugeln, ı) Heron II, 72 ro 2 rujua Tod nuixlov To Eharrov Nunvaklov oi usv Goyaloı kueh£oregov Euergovv. ?) Heron II, 80 lin. 12. Vgl. auch W. Schmidt, Archimedes’ Ephodikon in der Bibliotheca Mathematica 3. Folge Bd. I, 13 bis 14 (1900). 380 18. Kapitel. um Kugelabschnitte, um spirische Körper (S. 242), um Zylinderhufe, um die fünf regelmäßigen Körper Platons. Bei Gelegenheit der spi- rischen Körper ist von einer Schrift des Dionysodor') über die Spiren die Rede. Dieser aber ist, wie wir vermuten, Herons Zeit- genosse und wird uns im 20. Kapitel wieder begegnen. Den Schluß des 2. Buches bildet die Ausmessung des Körperinhaltes unregelmäßig begrenzter Gebilde nach einer Methode, welche, wie einige erzählen, von Archimed herrühre?). Bewegliche Körper werden in ein bis zum Rande mit Wasser gefülltes Gefäß geworfen, um Wasser zum Aus- laufen zu bringen, dessen Menge man an dem Höhenunterschied der nach Herausziehung des Körpers noch übrigen Flüssigkeit erkennt. Unbewegliches wird durch einen Überzug von Wachs oder Lehm in ausmeßbare parallelepipedische Gestalt gebracht, und ebenso verfährt man mit dem abgekratzten Überzug, um den Unterschied zweier be- kannter Körperinhalte als Antwort auf die gestellte Frage bilden zu können. Das 3. Buch ist das von den Teilungen. Wir wissen von einer fast genau ebenso betitelten Schrift des Euklid (S. 287), von welcher aber die Bearbeitung Herons wesentlich abweicht. Die Aufgaben sind zwar vielfach die gleichen, z. B. ein gegebenes Dreieck durch eine der Grundlinie parallele Gerade in einem gegebenen Verhältnisse zu teilen, aber während Euklid sich mit allgemeinen Konstruktions- vorschriften begnügte, ist Heron bestrebt, mit den zahlenmäßig ge- gebenen Längen der einzelnen Dreiecksseiten zu rechnen. Er sucht sogar wie weit von der Dreiecksspitze entfernt die gesuchten Durch- schnittspunkte der verlangten Parallelen mit beiden Dreiecksseiten sind, weil, wie er ausdrücklich hervorhebt?), es auf dem Felde wegen der Unregelmäßigkeiten des Bodens schwierig sei eine Parallele zu ziehen. Nur wo eine Rechnung anzustellen ihm nicht gelingt, begnügt er sich mit der Angabe von Konstruktionen teilweise auf andere Schriftsteller verweisend. In diesem Zusammenhange erscheint die oben (S. 364) von uns erwähnte Berufung auf den Raumschnitt?). Ferner geht Heron auch in der Beziehung über Euklid hinaus, daß er nach den Teilungen ebener Figuren auch solche von gekrümmten Oberflächen und solche von Körpern behandelt. So soll z. B. eine Pyramide durch eine der Grundfläche parallele Ebene geteilt werden, so daß zwischen der an der Spitze losgetrennten kleineren Pyramide und der ursprünglichen ein gegebenes Zahlenverhältnis obwalte. Diese Aufgabe führt?) zur näherungsweisen Ausziehung der V 100, von welcher ') Heron III, 128 lin. 3. ?°) Ebenda III, 138. °) Ebenda III, 144 lin. 15 bis 16. *) Ebenda III, 162 lin. 2 und 166 lin. 14. °) Ebenda III, 178 lin. 3—16. Heron von Alexandria. 381 wir oben (8. 374) geredet haben. Den Schluß des Buches bildet die archimedische Aufgabe der Teilung einer Kugel bei gegebenem Ver- hältnisse der beiden durch den Schnitt gebildeten Kugelabschnitte. Wollen wir nach dieser Inhaltsangabe der Vermessungslehre noch in Kürze eine Kennzeichnung des Werkes geben, so dürfen wir sagen, es seien Elemente der rechnenden Geometrie dort gelehrt. Ver- fasser der ersten derartigen Schrift war Heron wohl kaum, so wenig ‘ als Euklid der Verfasser der ersten Elemente der konstruierenden Geometrie war. Nur hat Euklid einen Proklus gefunden, welcher uns über die Vorgeschichte seines Werkes belehrt, während wir von einem Kommentare zu Heron nichts wissen. Dagegen sagt uns die übereinstimmende Überlieferung aller Völker, daß die praktische Feld- messung der eigentlichen wissenschaftlichen Geometrie, der theoreti- schen Raumlehre, vorausging und diese erfinden ließ. Mag auch in den griechischen Staaten im engeren Sinne des Wortes die Geometrie häufiger ihrer theoretischen als ihrer praktischen Richtung nach be- handelt worden sein, wie schon daraus hervorgeht, daß das Wort Geodäsie überhaupt erst seit der Zeit des Aristoteles (S. 252) in der griechischen Literatur nachgewiesen werden kann, Herons Tätigkeit verweist nach Alexandria, auf ägyptischen Boden, wo seit Jahrtausenden die Kunst der Feldmessung blühte, wo die Harpedonapten, Seil- spanner, wie der alte Grieche sie nannte (S. 104), ihr Handwerk übten, an welches wir uns bald erinnern müssen. Auch Euklids Aufenthalt in Ägypten ist verbürgt, und eine Spur feldmesserischer Vorschriften fanden wir in seiner Optik (8. 294). Die ägyptischen Feldmesser müssen dem erhaltenden Wesen ägyptischer Bildung entsprechend gewisse Vorschriften, wie man zu verfahren habe, mündlich oder wahrscheinlicher schriftlich unter sich vererbt haben. Ihr Erbe muß auf Heron gelangt sein. Ohne Zweifel hat er es verstanden dieses Erbe wuchern zu lassen. Ihm, wenn er nicht in Dikaearch und Era- tosthenes Vorgänger hatte (S. 257), ist vielleicht die Erfindung der Dioptra zuzuschreiben, während man früher mit mangelhafteren Vor- richtungen sich begnügte, aber Vorrichtungen hatte man, z. B. den sogenannten Stern, und deren Gebrauch muß, wir wiederholen es, eine ältere mündlich oder schriftlich überlieferte Feldmeßkunst gelehrt haben. Der letzte geodätische Schriftsteller blieb Heron allerdings für lange Zeit. Euklid und Heron waren nachgerade ihrer Persön- lichkeit beinahe entkleidet worden. Sie waren Titel von Schulbüchern geworden, welche auch zu Völkern drangen, die in anderen Sprachen als in der griechischen dachten und redeten. Mochten in diesen „Euklid“ der Theoretiker, in diesen „Heron“ der Praktiker Dinge eingedrungen sein, an welche der lebende Euklid, der lebende Heron nie gedacht hatte, 382 18. Kapitel. für die Nachkommen blieb es der „Euklid“, der „Heron“. Ja, es ist gar nicht unmöglich, daß bei derartigem nebeneinander hergehendem Gebrauche aus dem „Euklid“ dieses oder jenes, z. B. Definitionen, in den „Heron“ überging; auch das Entgegengesetzte wäre möglich, wenn es gleich an Beispielen dafür uns fehlt, aber die heronische Dreiecks- formel etwa hätte samt ihrem Beweise ganz gut in eine Handschrift des Euklid eindringen können. Gehen wir nun zur Feldmeßkunst des Heron über, wie sie in der Abhandlung über die Dioptra!) beschrieben ist, und beginnen wir mit der Schilderung der Dioptra selbst. - Sie bestand aus einem 4 Ellen langen Lineal, welches an beiden Enden Plättchen zum Hin- durchvisieren, oder, wie man heute sagt, Dioptervorrichtungen trug. Sie ruhte auf einer kreisrunden Scheibe, auf welcher sie in Drehung versetzt werden konnte, und eine vertikale Drehung war mit der Scheibe auf einem die ganze Vorrichtung tragenden Fuße ermöglicht. Wir dürfen in der Dioptra den Keim des Theodoliths der neueren Feldmeßkunst erkennen. Sie diente zum Abstecken von Geraden in den mannigfachsten Richtungen, wenn auch eine Winkelmessung auf dem Felde nicht stattfand. Um eine Senkrechte zu einer gegebenen Richtung sich zu verschaffen, dienten senkrecht zueinander eingeritzte Gerade auf der Dioptrascheibe, von deren ersten bis zur zweiten die Dioptra gedreht werden mußte, um einen rechten Winkel zu erhalten. Den oben erwähnten vorheronischen Stern bildeten zwei in horizontaler Ebene sich rechtwinklig schneidende Lineale, also eine Art von Winkelkreuz. Die Vorriehtung zum Hindurchvisieren aber fehlte, und ebenso fehlten verschiedene Hilfsapparate, die mit der Dioptra in Verbindung standen. Bei ihr war die vertikale Stellung des Fußes verbürgt durch einen herabhängenden Bleisenkel, welcher längs einer auf dem Fuße eingeritzten Geraden seinen Verlauf nehmen mußte. Die Horizontalität der Scheibe entnahm man einer Wasser- wage. Statt beider mußten bei dem Sterne Bleisenkel dienen, welche an den 4 Enden des Winkelkreuzes hingen, welche aber, wie Heron tadelnd hervorhebt, namentlich bei einigermaßen stark gehendem Winde, nicht leicht zur Ruhe kamen und somit die Brauchbarkeit des Apparates, welche von der gesicherten richtigen Aufstellung un- trennbar ist, wesentlich verringerten. Mit Hilfe der Dioptra und ab- geteilter selbst mit Bleisenkel versehener Signalstangen wurden die wichtigsten Aufgaben auf dem Felde gelöst. Nivellierungen; Ab- 1) "Howvog AlsEdvögsng zegl di6rreug abgedruckt mit französischer Über- setzung von Vincent, mit den Anmerkungen von Venturi und Vincent in den Notices et extraits des manuserits de la bibliotheque imperiale XIX, 2 (Paris 1858) und mit deutscher Übersetzung von Herm. Schöne in Heron III, 187 sqq- Heron von Alexandria. 383 'steckung einer Geraden zwischen zwei Punkten, deren keiner von dem anderen aus gesehen werden kann; Bestimmung der Entfernung eines sichtbaren aber unzugänglichen Punktes; Auffindung der Breite eines Flusses, ohne ihn zu überschreiten; Auffindung der Entfernung zweier Punkte, die beide sichtbar, beide unzugänglich sind; Absteckung einer Senkrechten zu einer unzugänglichen Geraden in einem unzugäng- lichen Punkte derselben; Bestimmung der Höhe eines entfernten Punktes über dem Standorte des Beobachters; Aufnahme eines Feldes; Wiederherstellung der mit Ausnahme von 2 oder 3 durch Grenz- steine gesicherten Punkten verloren gegangenen Umfriedigung eines Feldstückes unter Anwendung des vorhandenen Planes: das dürften etwa die interessantesten Aufgaben sein, welche Heron in seiner Schrift von der Dioptra behandelt hat, bei späteren Aufgaben stets früher gelehrte Operationen benutzend, wodurch das Einheitliche dieser Abhandlung sich erweist. Es würde zu weit führen, wollten wir genau schildern, in welcher Weise Heron jedesmal verfährt. Nur die beiden letztgenannten Auf- gaben müssen aus besonderen Gründen hier zur Rede kommen. Die Aufnahme eines Feldes erfolgt durch Absteckung eines Rechtecks, welches 3 seiner Eckpunkte auf der Umgrenzung selbst besitzt. Die Seiten dieses Rechtecks werden nun freilich mit den Grenzen des Feldes nicht zusammentreffen, aber die zwischenliegenden Grenz- strecken bestimmen sich durch die senkrechten Entfernungen ein- zelner Punkte derselben von den Rechtecksseiten unter genauer Be- merkung derjenigen Punkte der Rechtecksseiten, in welche jene meist kleinen Senkrechten eintreffen. Der geschickte Feldmesser wird, nach Herons ausdrücklicher Vorschrift, es so einzurichten wissen, daß die Grenze zwischen zwei zur Bestimmung ihrer Endpunkte dienenden Senkrechten leidlich geradlinig aussieht. Wenn wir noch so vorsichtig ans davor hüten wollen, neue Gedanken in alte Methoden hineinzu- lesen, hier müssen wir ein bewußtes Verfahren mit rechtwinkligen Koordinaten erkennen. Nicht als ob wir behaupten wollten, Heron habe nach einem gemeinsamen Gesetze gesucht, welchem die verti- kalen und horizontalen Entfernungen zu bestimmender Punkte von gegebenen Linien gehorchen, das tut nicht einmal die moderne Feld- meßkunst, welche sehr wohl empirische Linien von geometrischen Kurven zu unterscheiden weiß. Aber denken wir daran, daß Hipparch (5. 362) die Erde mit Koordinaten überzog, welche die Lage jedes Punktes derselben bestimmen sollten, daß dieser die Breite von dem Äquator, die Länge von dem Meridiane von Rhodos, mithin von ganz genau definierten Anfangslagen beginnen und messen ließ, so werden wir in Herons Verfahren die Wiederholung auf kleinerem Felde finden 384 18. Kapitel. von dem, was sein etwas älterer Zeitgenosse für die Erde in ihrer Gesamtoberfläche gelehrt hat, beide vielleicht abhängig von uralten Vorbildern, aber über jene hinausgehend. Wir erinnern daran, daß um 1400 die ägyptischen Bildhauer unter König Seti I. die mit Bild- werk zu versehenden Wände zunächst mit einem Netze kleiner Quadrate überzogen (S. 108). Das waren auch Koordinaten. Aber ob und wie Linien der beabsichtigten Figuren in diese Quadratchen hineinfielen, dürfte an sich unerheblich gewesen sein. Vermutlich sollten nur bei der Ausführung im großen dieselben Verhältnisse beibehalten werden, welche der Künstler in seiner Handskizze dem Augenmaße oder der Übung nach sich vorgezeichnet hatte. Jetzt entwarf Heron kleinere 'rechtwinklige Figuren zu bestimmtem Zwecke und wählte Zahl und Entfernung der Senkrechten in bewußter Beliebigkeit. Früher war es eine zufällige, jetzt eine absichtliche Bestimmung einzelner Punkte mittels senkrecht zueinander gezeichneter Strecken. Nicht minder lehrreich ist für uns die Rückübertragung des gezeichneten Planes auf das Feld, wenn nur einige Punkte desselben gegeben sind. Erhalten seien (Fig. 65) die Grenzsteine «, ß, deren Inschriften gestatten, sie auf dem Plane £ zu identifizieren; gesucht werden die beiden Hauptrichtungen auf dem Felde, € welche zueinander senkrecht dem ganzen | Plane als Grundlage dienen, so daß = ° ” 7 wem z.B. «y einer dieser Hauptrich- tungen gleichlaufend und 0 zu ihr senkrecht wäre, die Längen «6, ßö mit den Inschriften der beiden Grenzsteine in Einklang stehen. Jedenfalls kann man auf dem Felde «ß ab- stecken und auf dieser Strecke einen Punkt & ziemlich nahe bei « sich genau bemerken. Nun ist auf dem Plane das Dreieck «ßö be- kannt und vermöge der erfolgten Abmessung von «ß auch das Ver- hältnis der Längen auf dem Plane zu denen auf dem Felde. Das Dreieckchen «e& muß dem «ßö ähnlich sein, aus der gemessenen Länge «se folgen daher durch Rechnung die Längen von «& und Ge, welche auf einem Seile o6r durch Strichelchen angemerkt werden. Nun befestigt man dieses Seil mit o in «, mit r in & und spannt es in 6 an, so wird bei 6 ein rechter Winkel entstehen und & gefunden sein und damit zugleich die Richtung «&ö6y. Das geschichtlich Bedeutsame bei diesem Verfahren besteht darin, daß der rechte Winkel durch Anspannung eines Seiles gewonnen wird, welches mit zwei durch Striche oder Knoten bezeichneten Stellen an zwei Pflöcken im Boden befestigt wurde. Das ist ja nichts anderes als die ägyp- Fig. 65. Heron von Alexandria. 385 tische Seilspannung (S. 104—106) bei der Grundsteinlegung der Tempel, ein Verfahren, welches, wie wir wissen, vielleicht schon zur Zeit des Königs Amenemhat I. um das Jahr 2300 nicht wesentlich anders geübt worden war als 237 bei der Gründung des Tempels von Edfu. Damit gewinnt aber auch die Vermutung einigen Halt: im Jahre 237 werde man etwa so verfahren sein, wie im ersten vor- christlichen Jahrhunderte, und das letztere uns genau bekannte Ver- fahren sei mit einigen Abänderungen, wie wir früher auszusprechen wagten, in ältester Zeit bereits zur Erlangung rechter Winkel benutzt worden. Natürlich können die damals angenommenen Zahlen für die gegenseitigen Entfernungen der drei Knoten hier, wo es sich um Herstellung eines einem bestimmten rechtwinkligen Dreiecke ähnlichen Dreiecks handelt, nicht zur Bestätigung kommen. Noch eine Ver- änderung ergab sich, wie wir finden, im Laufe der Jahrhunderte. Demokritus nannte die Seilspanner Harpedonapten, das Seil selbst also Harpedon mit einem Worte, dessen Klang schon den ägypti- schen Ursprung verrät. Zu Herons Zeit führte das aus Binsen ge- flochtene Seil den griechischen Namen Schoinion und wurde, wie es in einer Heron zugeschriebenen Schrift heißt!), abwechselnd mit dem Rohre, Kalamos, zu Messungen benutzt. Wir bemerken hierzu beiläufig, daß xdAauog und das dem oyoıviov nahe verwandte oyoivog neben der allgemeinen Bedeutung Meßstab und Meßschnur auch die besonderer und zwar untereinander verschiedener Maße besitzen. Wir haben noch bei einem Paragraphen der Schrift über die Dioptra zu verweilen, der den Beweis für die sogenannte heronische Dreiecksformel liefert und ganz genau mit der entsprechenden Stelle der Vermessungslehre?) übereinstimmt. Wir stehen hier einer ganz ähnlichen Erscheinung gegenüber wie bei der Einschaltung zweier mittleren geometrischen Proportionalen zwischen zwei gegebene Strecken. Heron hat sein Verfahren sowohl der Mechanik als der Vorschrift zur Anfertigung von Geschützen einverleibt, und Pappus hat uns sein Erfinderrecht ausdrücklich bestätigt. Für unser Gefühl, das betonen wir jetzt nachträglich, war jene Bestätigung überflüssig. Man kann wohl einen wichtigen Satz in zwei verschiedenen Werken zur Anwendung bringen, aber man verbindet nicht an beiden Stellen mit dem Satze auch seinen Beweis, wenn nicht ein gewisses Selbst- gefühl uns dazu treibt. Ebenso beurteilen wir, wo uns zufällig keine Bestätigung durch einen Dritten vorliegt, die wiederholte Mitteilung der Formel für den Dreiecksinhalt samt ihrem Beweise. Sie ist und bleibt für uns die heronische Dreiecksformel, benannt nach ihrem geistvollen Erfinder. ') Heron (ed. Hultsch) II, 43. °) Vgl. Heron III, 280 sqq. mit 20 sqq. CAnTorR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 25 386 Ä 19. Kapitel. 19. Kapitel. Heron von Alexandria. (Fortsetzung.) Von der Abhandlung über die Dioptra wenden wir uns zu einem raschen Überblick über anderes, was von Zeugen, deren Zuverlässig- keit unbestritten ist, unserem Heron zugeschrieben wird. Der erste Zeuge ist Proklus, der in seinen Erläuterungen zu Euklids Ele- ‚menten zwei Beweise als von Heron stammend anführt!), einen Be- weis des Satzes, daß in jedem Dreiecke die Summe zweier Seiten größer als die dritte Seite ist und einen solchen des Satzes, daß wenn zwei Dreiecke in zwei Seiten stückweise übereinstimmen, in der dritten aber nicht, der der dritten Seite gegenüberliegende Winkel in dem Dreiecke der größere sein wird, in welchem die genannte Seite die größere ist. Der zweite Zeuge ist Al Nairizi?), der gleichfalls Erläuterungen zu Euklids Elementen verfaßte und darin vielfach auf Heron sich beruft. Diese Berufung findet allerdings für die beiden durch Proklus überlieferten Beweise nicht statt”), deren ersten Al Nairizi ohne Urhebernamen wiedergibt und den zweiten mit der Be- merkung, er wisse nicht, von wem der Beweis herrühre, aber dadurch verlieren die anderen Zitate nicht an Wert. Es geht aus dem Mangel an Übereinstimmung, der sich vielfach auch darin äußert, daß Proklus keinen Urheber nennt, wo der Araber sich auf Heron beruft, nur hervor, daß beide nicht nach der gleichen Vorlage arbeiteten. Wir heben nur weniges hervor. Nach dem Berichte des Al Nairizit) er- kannte Heron, daß bei dem Euklidischen Beweise des Pythagoräischen Lehrsatzes die Senkrechte aus der Spitze des rechten Winkels auf die Hypotenuse und die Verbindungsgeraden der beiden anderen Dreiecks- spitzen mit den gegenüberliegenden Eckpunkten der über den beiden Katheten nach außen gezeichneten Quadrate einen gemeinsamen Durchschnittspunkt besitzen. Heron bewies’), daß von jedem außer- halb eines Kreises gelegenen Punkte zwei gleiche Berührungslinien an den Kreis gezogen werden können. Heron dehnte den Satz, daß der Peripheriewinkel die Hälfte des Zentriwinkels auf gleichem Bogen sei, auf stumpfe Peripheriewinkel aus®) und bewies mit dessen Hilfe den Satz, daß im Sehnenviereck je zwei einander gegenüberliegende Winkel sich zu zwei Rechten ergänzen. Heron hat den Satz aus- ı) Proklus ed. Friedlein pag. 323 und 346. ?°) Anaritii in decem libros priores Elementorum Euelidis ed. Max Curtze. Leipzig 1899. °) Anaritius pag. 58 und 62. *) Ebenda pag. 78. °) Ebenda pag. 130. °) Ebenda pag. 130 bis 133. Heron von Alexandria. (Fortsetzung.) 387 gesprochen!), jedes regelmäßige Vieleck besitze einen von allen Eck- punkten gleich weit entfernten Mittelpunkt, der zugleich Mittelpunkt des Umkreises und des Innenkreises des Vielecks sei. Heron be- hauptet?), die Halbierende eines Winkels eines regelmäßigen Vielecks halbiere zugleich auch den gegenüberliegenden Winkel, und alle diese Winkelhalbierenden schnitten sich im gleichen Punkte. Die damit ausgesprochene Abpaarung der Winkel zeigt, daß Heron ausschließ- lich vom 2n-Eck redete, und diese Einschränkung bestätigt sich mittelbar dadurch, daß gleich darauf?) der Satz Euklids erwähnt ist, im regelmäßigen 2» +1 Eck*) stünden die Winkelhalbierenden auf den gegenüberliegenden Seiten senkrecht, und auch diese Winkel- halbierenden besäßen einen gemeinschaftlichen Durchschnittspunkt. Wo freilich dieser Euklidische Satz sich vorfand ist heute unbekannt. Ebensowenig weiß man, wo Euklid, wo Archimed eine Definition von homogenen Größen gegeben haben mögen, welche Heron dahin erläuterte?), homogene Größen seien Größen derselben Gattung, von denen die eine durch Vervielfachung über die andere hinaus- wachsen könne, während z. B. eine Strecke selbst ins Unendliche ver- vielfacht niemals größer als eine Fläche werden könne. Ganz be- sonders möchten wir aber hervorheben, daß Heron die Verfahren kannte, welche in lateinischer Übersetzung dissolutio und compositio heißen®), und welche wir Klammerauflösung und Absonderung nennen, d. h. daß er wußte, man sei berechtigt 6(2+3+5) =6 - 10 — 60 und umgekehrt 10-10 =-10-3+10.7= 530 +70 zu setzen. ‚ Nächst diesen Sätzen erwähnen wir Definitionen, welche ein zusammenhängendes Ganzes darstellend als heronisch überliefert sind, allerdings aber von manchen Schriftstellern‘) für ganz unecht, von anderen, darunter von uns selbst, für überarbeitet und mehrfach ent- stellt gehalten werden. Deren Kern aber sehen wir keinen Grund Heron als Sammler, wenn nicht als Urheber, abzusprechen. Eine hochwichtige Frage geht nun dahin, ob ursprünglich die hier erwähnten Sätze und Definitionen vereinigt oder getrennt vor- handen waren, und wenn vereinigt, in welcher Gestalt? Es dürfte wohl. am meisten für sich haben die Vermutung auszusprechen, Heron habe einen Kommentar zu Euklids Elementen verfaßt, und in diesem seien auch diejenigen geometrischen Definitionen enthalten gewesen, welche Heron statt der von Euklid gegebenen an ‚die Spitze der Geometrie gestellt wünschte. Wir wollen nicht ver- hehlen, daß dieser Vermutung Bedenken im Wege stehen, daß man ") Anaritius pag. 152. °) Ebenda pag. 154. °) Ebenda pag. 155. *) Fi- gurarum quarum laterum numerus impar. °) Anaritius pag. 162. °) Ebenda pag. 89. °) Friedlein im Bulletino Boncompagni IV, 93—121 (1871). 25* 388 19. Kapitel. Zweifel hegen kann, ob schon im ersten vorchristlichen Jahrhunderte, an welchem wir, wie im vorigen Kapitel ausführlich begründet wurde, als Herons Lebenszeit festhalten, eine kommentierende Tätigkeit unter den Mathematikern Platz gegriffen hatte, daß man bei Proklus bei Erklärung der euklidischen Definitionen nirgend einer Erwähnung Herons begegnet, die doch, da sich Proklus für einige wenige Be- weise auf unseren Sehriftsteller bezieht, mit einiger Wahrscheinlich- keit zu erwarten gewesen wäre, aber wir ziehen trotz dieser Schwierig- keiten die ausgesprochene Vermutung einer anderen vor, zu welcher der Keim in Herons Definitionen selbst enthalten liegt. In einer Art von Widmung an Dionysius, welche der Verfasser der Defini- tionen diesen vorausschickt, heißt es nämlich, er wolle eine wissen- schaftliche Darstellung der geometrischen Elemente!) geben, und später ist in ganz ähnlichen Worten von einer Einleitung in die arithmetischen Elemente?) die Rede Man wäre dadurch versucht, an zwei mehr oder weniger selbständige Schriften mit diesen Titeln zu denken. Allein diese Ausdrücke lassen sich auch auf Kommen- tare zu den geometrischen und zu den arithmetischen Büchern Euklids deuten, so daß wir diese letztere Auffassung der gebrauchten Worte vorziehen. Unter den Definitionen wollen wir eine besonders hervorheben, die der Parallellinien?), in welcher es heißt, sie besäßen alle Senk- rechten, welche von irgend einem Punkte der einen Parallelen auf die andere gefällt werden, von gleicher Länge. Eben diese Definition in die Worte gekleidet, Parallellinien hätten gleichen Abstand von- einander, erscheint nämlich auch in einer als Geometrie Herons be- zeichneten Schrift*), von der wir gleich zu reden haben werden, er- scheint ferner bei Proklus®), wo sie dem Posidonius, also jedenfalls dem Posidonius von Rhodos, zugeschrieben wird, der ja auch in Herons Mechanik vorkommt (S. 365), lauter Umstände, die einander gegenseitig als Stütze zu dienen geeignet sind. Wir gelangen weiter zu den Schriften, welche vor der Auffindung der Vermessungslehre als Hauptquellen für die Kenntnis heronischer Mathematik galten, und von welchen wir (S. 368) erörterten, in welchem Sinne wir sie alle als echt, alle zugleich als unecht be- zeichnen möchten. Wir werden für sie mitunter den Ausdruck: hero- nische Sammlungen gebrauchen. ') Heron (ed. Hultsch) pag. 7 lin. 1: rjg yewuergixjg oroıyeıwoewg Teyvo- kodusve. *) Ebenda pag. 34 lin. 12—13 und pag. 38 lin 1—2: &v roig eo rs doıdusrinnjg oroıygeınosaug. °) Ebenda pag. 22 lin. 15—17. *) Ebenda pag. 44 lin. 12—14. °) Proklus ed. Friedlein pag. 176 lin. 6—10. Vgl. auch L. Majer, Proklos über die Petita und Axiomata bei Euklid 8.18 Note3. Tübingen 1375. Heron von Alexandria. (Fortsetzung.) 389 Die erste ist das Buch der Geometrie. Geometrische Defini- tionen, zwischen welche eine historische Notiz über den Ursprung der Geometrie mit Hinblick auf den jährlichen Austritt des Nils ein- geschaltet ist, und eine Maßtabelle eröffnen dasselbe. Nach diesen kommt die Bereehnung von Quadraten und Rechtecken, deren Fläche und deren Diagonale gesucht wird. Das rechtwinklige Dreieck folgt, auf dieses die aneinanderhängenden Dreiecke, das gleichseitige, das gleichschenklige, das beliebige Dreieck. Beim rechtwinkligen Drei- ecke werden die Methoden des Pythagoras und des Platon zur Auf- findung rationaler Seitenlängen gelehrt; beim beliebigen Dreiecke wird die Senkrechte von der Spitze auf die Grundlinie gefällt und unterschieden, ob diese Senkrechte die Basis selbst trifft und Ab- schnitte auf ihr erzeugt, oder ob sie jenseits der Basis eintreffend eine Überragung hervorbringt; es wird aber auch die heronische Formel unmittelbar angewandt, welche ohne Durchgang durch die Berechnung des Abschnittes, beziehungsweise der Überragung und der Höhe die Dreiecksfläche sofort aus den drei Seiten ableitet. Nun folgt die Rückkehr zum Vierecke und zu den mannigfaltigsten Zer- legungen einer Figur durch Hilfslinien. Quadrate in gleichschenklige Dreiecke eingezeichnet, Rhomben oder verschobene Quadrate, Recht- ecke, Parallelogramme, rechtwinklige Trapeze, gleichschenklige Tra- peze, beliebige Vierecke werden so der Berechnung unterzogen. Nach den geradlinig begrenzten Figuren wendet Heron sich zum Kreise und zu dessen Teilen. Durchmesser, Umfang, Inhalt des Kreises werden gegenseitig auseinander abgeleitet. Die Fläche eines Kreis- abschnittes und die Länge seines Bogens werden aus der Sehne und Höhe des Abschnittes ermittelt, und auch der Ring zwischen zwei konzentrischen Kreisen wird berechnet. Vom Kreise kehrt der Ver- fasser zu den regelmäßigen Vielecken zurück, indem er Formeln gibt, welche die Flächen dieser Vielecke vom Fünfecke bis zum Zwölfecke aus der Seitenlänge finden lehren. Damit dürfte der richtige Text im ganzen abschließen, indem das noch folgende Stück (fünf Seiten der Druckausgabe füllend) ziemlich unzweifelhaft als unecht sich er- weist. Dort ist nämlich eine dem Patrikius, also einem sehr späten Schriftsteller, angehörende Vorschrift, dort die Wiederholung der Vorschriften für die Vielecksberechnung, die Wiederholung der ge- schichtlichen Bemerkung über den Ursprung der Geometrie mit kaum erwähnenswerten Varianten, dort am Schlusse wieder eine Maßtabelle zu finden. | Eine andere Schrift heißt Geodäsie Auch sie beginnt mit Definitionen, mit einer historischen Notiz, mit Maßvergleichungen; auch sie berechnet den Flächeninhalt von Quadraten und Rechtecken, 390 19. Kapitel. bevor sie zum Dreiecke sich wendet, und zwar wieder zum recht- winkligen Dreiecke, welches nach Pythagoras und Platon aus ganz- zahligen Seiten bestehen kann, zu den aneinanderhängenden Drei- ecken, zu dem gleichseitigen, zu dem beliebigen Dreiecke, bei welchem die heronische Formel den Schluß bildet. Die sogenannte Stereometrie ist begreiflicherweise wesentlich anderen Inhaltes. Hier sind es Rauminhalte von Körpern und Körper- oberflächen, welche den Gegenstand der Berechnungen bilden. Die - Kugel, der Kegel, der abgestumpfte Kegel, der in langgestreckter Form bald Obelisk, bald Säule heißt, der Zylinder geben Beispiele, bevor zu den aliseitig eben abgegrenzten Körpern: Würfel, Parallel- epipedon, Keil übergegangen wird, als dessen nicht ganz deutlich be- schriebene Sonderfälle wohl der Huf, der Mäuseschwanz, der Ziegel zu betrachten sind. Fast eben diese, aber auch andere eben begrenzte Körper erscheinen sofort noch einmal als Pyramiden mit quadra- tischer, mit rechteckiger, gleichseitig dreieckiger, mit rechtwinklig dreieckiger Grundfläche, jede derselben sowohl ganz als abgestumpft der Untersuchung unterworfen. Dann kommen mancherlei der Praxis, aber nicht der eigentlichen Stereometrie angehörige Körperformen an die Reihe. Von dem Inhalt einer Muschel, einer Schale, von dem Umfange eines Amphitheaters und von der Menschenmenge, welche ein Zuschauerraum fassen kann unter der Annahme, daß die Bänke sich nach dem Gesetz einer arithmetischen Reihe verjüngen, von Speisesälen und Badezimmern, von Brunnen, von Kufen und Butten, von Transportschiffen ist die Rede, und wo man bei der Berechnung über die aus den Namen nicht mit genügender Klarheit hervorgehende Gestalt sich Rats erholen will, läßt jene uns meistenteils erst recht im Stiche. Eine zweite Sammlung mit der Überschrift als Stereometrie und dem Verfassernamen Herons gibt auch nur meist zweifelhafte Ergebnisse, bald mit denen der ersten Sammlung übereinstimmend, bald ihnen widersprechend. Die Reihenfolge ist dahin verändert, daß hier rätselhafte Körperformen, die selbst nicht durchweg die gleichen wie die der ersten Sammlung sind, die Reihe eröffnen. Zwischen- drein ist die Messung der Höhe einer Säule mittels ihres Schattens angegeben, das erstmalige Auftreten dieser von Thales (S. 138) her- rührenden Methode in einem geometrischen Werke. Die Schatten der Säule sowie eines seiner Länge nach bekannten Stabes werden gemessen, und dann wird die Proportion Stabschatten : Säulenschatten — Stab : Säule in Anwendung gebracht. Nun folgen erst Pyramiden, und zwar solche auf rechtwinklig dreieckiger oder gleichseitig drei- eckiger Grundlage und solche, deren Grundflächen regelmäßige Fünf- Heron von Alexandria. (Fortsetzung.) 391 ecke, Sechsecke und Achtecke sind. Nach einer unverständlichen Stufenpyramide kommt der Satz, daß jede Pyramide der dritte Teil des Prisma von gleicher Grundfläche und Höhe ist, worauf mit der Berechnung einer abgestumpften Pyramide auf rechteckiger Grundfläche unter dem Namen Altarstufe und mit der gegenseitigen Multipli- kation von Längenmaßen zu Flächenmaßen diese Stereometrie ab- schließt. Ausmessungen haben wir den Titel uererjocıg einer weiteren Schrift heronischen Namens übersetzt, welche ungleich den vorigen, denen doch annähernd gleichartige Probleme zum Gegenstande dienen, bald Flächen, bald Körperinhalte durcheinander gewürfelt in zwei- maliger Abwechslung darbietet. Zuerst erscheinen nämlich Körper, dann Flächen, dann wieder Körper, zuletzt Flächen. Wir heben aus der wirren Sammlung nur hervor, daß auch hier wieder Körper eigener Art auftreten, zu deren Verständnis noch gar manches fehlt, und daß zwischen die Inhaltsberechnungen auch Brunnenaufgaben ein- geschaltet sind, d. h. Aufgaben, in welchen die Zeit gesucht wird, binnen welcher eine Zisterne durch mehrere Röhren gefüllt werden kann, wenn man weiß, wie lange die Füllung durch jede einzelne Röhre dauern würde. Die letzte heronische Sammlung, das Buch des Landbaues, yennovıxdv BıßAlov, geht aus von Definitionen. Ihnen folgen Flächen- ausmessungen mancherlei Vierecke und Dreiecke, wobei die Vierecke den Dreiecken vorangehen, sowie rechnende Auflösung von Aufgaben, in welchen Kreise vorkommen. Nach Ausrechnung der Pyramiden auf quadratischer Grundfläche kehrt die Sammlung zu ebenen Auf- gaben, zu den Durchmessern der dem regelmäßigen Fünfecke und Sechsecke umschriebenen Kreise zurück. Wieder erscheinen Auf- gaben, welche, dem Gegenstande nach unerwartet, Einschaltungen sein könnten, und die sich auf die Auffindung von Rechtecken be- ziehen, deren Umfänge sowie deren Inhalt in gegebenem Zahlenver- hältnisse stehen sollen, Aufgaben, welche also eigentlich zahlen- theoretischer Natur freilich in planimetrischer Einkleidung sind, so daß die Unterbrechung des Gedankenganges nicht allzu auffällig und die Rückkehr zu wirklich geometrischen Aufgaben vom Rhombus, vom Rechtecke, von regelmäßigen Vielecken, von Kreisen eine leichte ist. Nur einmal gegen das Ende der Sammlung kehren stereome- trische Aufgaben wieder, welche aber auf Fässer und Fruchtmaße eigentümlicher Gestalt bezüglich dem Buche des Landbaues nicht ganz unangemessen erscheinen. Den Schluß bilden Vergleichungen zwischen Kubikfußen und Fruchtmaßen. Das ist in dürftiger, keineswegs erschöpfender, aber eben deshal» 392 19. Kapitel. vielleicht übersichtlicher Zusammenstellung die Reihenfolge der Gegen- stände, welche in den verschiedenen heronischen Sammlungen be- handelt sind. Die Geometrie und die Geodäsie lehnen sich, insbeson- dere die Geometrie, eng an den Stoff des ersten Buches der Ver- messungslehre, die beiden Bücher der Stereometrie an den von dessen zweitem Buch, die Ausmessungen und das Buch des Landbaues an den der beiden ersten Bücher. Von dem dritten Buche der Ver- messungslehre ist nirgend eine Spur zu finden. Wenn wir eine An- lehnung an den Stoff der beiden ersten Bücher der Vermessungslehre behaupten, so will dieses keineswegs sagen, nur das dort Gelehrte und alles dort Gelehrte kehre wieder, vielmehr sind auch Dinge be- handelt, deren wir in unserer bisherigen Darstellung keine Erwähnung zu tun hatten weder als wir von der Vermessungslehre, noch als wir von der Abhandlung über die Dioptra sprachen. Sollen wir aus diesen Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten die Folgerung ziehen, sämtliche soeben unter besonderen Titeln genannten Sammlungen seien nur späte byzantinische Überarbeitungen der Ver- messungslehre!)? Überarbeitungen müssen uns allerdings vorliegen, denn die Ähnlichkeit mit dem Stoffe der Vermessungslehre ist zu groß, um von ihr durchaus unabhängige Schriften anzunehmen, und die Unähnlichkeit wieder zu groß, um an bei einer bloßen Abschrift mögliche Veränderungen zu denken. Aber die folgerichtige Dar- stellung, das ungezwungene Sicheinordnen des Neuen in das Alte nötigen uns nach unserem persönlichen Gefühle an einen älteren und ebenbürtigeren Bearbeiter Herons zu denken als die byzantinische Zeit erzeugt hat. Jedenfalls möchten wir aus der erwähnten Vollwertig- keit der Einschaltungen den Schluß ziehen, der Bearbeiter habe Hero- nisches in Heronisches eingeschaltet. Woher dieses stammte? Wir wissen es vorläufig noch nicht. Wir wissen nur, daß an zwei nicht allzuweit voneinander entfernten Stellen der Geometrie?) von einem anderen Buche Herons — &v ühro BıßAlo "Howvog — die Rede ist, und dieses andere Buch, mög- licherweise die Vermessungslehre, wird der Bearbeiter vor sich ge- habt haben neben seiner Hauptvorlage, die vielleicht, wie wir schüch- tern und zweifelnd hinzusetzen, aus einer neben der Vermessungs- lehre zu gebrauchenden Aufgabensammlung bestand. Für die anderen heronischen Sammlungen hat man wahrscheinlich andere Bearbeiter anzunehmen von geringerer mathematischer Befähigung, denen aber ) Heiberg, Mathematik, Mechanik und Astronomie (in Kroll, Die Alter- tumswissenschaft) S. 131 unten. °) Heron (ed. Hultsch) pag. 131 lin. 14 und pag. 134 lin. 8 und 15. Heron von Alexandria. (Fortsetzung.) 393 doch alte Vorlagen zu Gebote standen, vielleicht noch solche, welche älter als Heron waren. Wir müssen rechtfertigen, warum wir in der Vermessungslehre möglicherweise das andere Buch Herons vermuten. Wir berufen uns auf unseren Auszug aus der Vermessungslehre (S. 376). Dort sagten wir, Heron lehre F, = a mit der Zusatzbemerkung, dieser Wert hänge von Y5= ab; werde ein genauerer Wert von Y5 in Rechnung gezogen, so könne man auch einen genaueren Wert von F, ermitteln. Für F, aber ist in der Vermessungslehre F, = 6 VE: angegeben, weil das Sechseck das Sechsfache des über a, beschriebenen gleich- BR . » ’ p . u 12 seitigen Dreiecks sei. In der Geometrie wird in erster Linie F,— a,’ gesetzt, während das andere Buch F, = a vorschreibe, und für das Sechseck lehrt die Geometrie F, = as, während das andere Buch verlange, man solle M, = 6(% + 5) rechnen!). Dieser letztere Wert ist ja an und für sich genau der gleiche wie der erste, aber er läßt die Versechsfachung deutlich hervortreten, die im ersten Werte verhüllt ist. Die andere Stelle, wo von dem anderen Buche Herons die Rede ist?), ist weniger beweiskräftig, denn sie benutzt zur Kreis- messung x — °“, während der gleiche Wert auch an solchen Stellen Fi ’ der Geometrie in Anwendung tritt, welche sich nicht auf das andere Buch berufen. Für beweiskräftig halten wir dagegen die Verschiedenheiten der Geometrie von der Vermessungslehre. Die Geometrie beginnt mit Definitionen, welche beiläufig bemerkt der Einführung in die Geo- metrie?) entnommen sein wollen und mit dem Buche der Definitionen, von welchem am Anfange dieses Kapitels die Rede war, nicht überein- stimmen. Dann folgen Maßtabellen®).. Von beidem ist in der Ver- messungslehre keine Spur zu finden. Die Vermessungslehre gibt Be- weise für die anzuwendenden Formeln, die Geometrie begnügt sich mit deutlich vollzogenen Rechnungen, aus welchen der Leser sich erst die benutzte, aber nicht bewiesene Formel herausschälen muß. Die Geometrie beginnt die Anweisung, wie man rechnen solle, mit den Worten°): mzoisı övrog, mache es so, in der Vermessungslehre ') Heron (ed. Hultsch) pag. 134. ?°) Ebenda pag. 131 ög0g xUxAov äves- Veig Ev Km Pußkio vod "Howmvog. °) Ebenda pag. 44 sisayayai av ysausroov- uevov. *) Ebenda pag. 47—49. °) Ebenda pag. 51 lin. 28—52 lin. 1 und an vielen anderen Stellen. 394 19. Kapitel. sind für den gleichen Zweck zwei Redensarten in Gebrauch: n 68 usdodög Eorıv &vrn, folgendes ist die Methode, und ovvredrjoerau droAoddwg Ti) Avahdosı Övrwg, der Analyse gemäß wird so gerechnet. Uns will scheinen, daß diese Verschiedenheiten ausreichen, um die Behauptung zu begründen, daß wer die Geometrie zusammenstellte, die Vermessungslehre unmöglich als Hauptvorlage, sondern nur ge- legentlich als Ergänzungsvorlage benutzt haben kann, und das war eben mit dem sogenannten „anderen Buche Herons“ der Fall, war der Fall in besonders nachweisbaren Stellen, und mithin glauben wir jetzt den Beweis geradezu geliefert, daß die Vermessungslehre das andere Buch war. Und die Hauptquelle der Geometrie? Wir werden jetzt wohl etwas weniger schüchtern annehmen dürfen, es sei eine Aufgaben- sammlung gewesen, werden jedenfalls behaupten können, die Haupt- vorlage habe eine täuschende Ähnlichkeit mit dem Rechenbuche des Ahmes besessen, das konservative Ägypten habe die alte Form auf- bewahrt, wenn es derselben auch zum Teil einen neuen Inhalt gab. Wir haben soeben das zolsı övrog der Geometrie erwähnt, Ahmes sagte: mache wie geschieht (8. 60). Wir haben die dem Leser auf- erlegte Pflicht die Rechnungsvorschrift den Rechnungen zu entnehmen bei der Geometrie kennen gelernt, Ahmes nötigte seine Leser zu der gleichen Gedankenarbeit. Ä Merit heißt bei Ahmes die obere Linie einer gezeichneten Figur (S. 93); Scheitellinie, xogvgpr, nennt sie Heron und definiert geradezu, Scheitellinie sei die oberbalb der Grundlinie hingelegte Gerade!). Das gleichschenklige Paralleltrapez war seit Ahmes bis zu den Edfu- inschriften eine von den Ägyptern bevorzugte Figur ($. 96 und 108); Heron widmete derselben Figur in der Geometrie neun aufeinander- folgende Kapitel”). Ahmes zerlegte Figuren durch Hilfslinien in Figuren einfacherer Natur, wie es scheint, wenn auch die genaue Übersetzung der betreffenden Aufgaben noch nicht möglich ist; die Tempelvorsteher von Edfu übten dieselbe Zerlegung bei Berechnung ihrer Felder; Heron bedient sich der Zerlegung durch Hilfslinien zur Messung von unregelmäßig begrenzten Grundstücken in der Abhand- lung von der Dioptra, löst gleicherweise verschiedentliche planimetrische Aufgaben in der Geometrie. Bei den Ägyptern heißt das Wort Qa, dessen Hieroglyphe ein die Arme in die Höhe streckendes Männchen ist, sowohl Höhe als allgemeiner die größte Ausdehnung eines Raum- ') Heron, Geometria 3 (ed. Hultsch) pag. 44 xogvpn dE £Eorıv 1, Eni Ti) Baseı Emırıdeutvn ebdele. °) Heron, Geometria T2—80 (ed. Hultsch) pag. 103 bis 108. Heron von Alexandria, (Fortsetzung.) 395 gebildes (8. 98); genau dasselbe gilt für das Wort unxog der Ale- xandriner!), bei Heron steht sodann der größeren Höhenabmessung die Breite, zAdros, als geringfügigere Ausdehnung gegenüber, wie be- sonders deutlich aus einer Stelle seiner Geometrie hervorgeht, wo nach Einzeichnung zerlegender Hilfslinien in eine Figur, ohne daß eine Drehung vorgenommen wäre, plötzlich Höhe heißt, was in der ungeteilten Figur Breite war”), offenbar nur deswegen, weil durch die Teilung die wirkliche Höhe abnahm, so daß sie geringer als die un- verändert gebliebene Breite wurde. Bei Ahmes war von Flächen zu- erst das Quadrat, dann das Dreieck, dann das aus dem Dreiecke durch Abstumpfung gewonnene Trapez zur Ausmessung gebracht (S. 96); in den Hdfuinschriften ergab sich eine Veränderung dahin, daß das Dreieck als Trapez mit einer verschwindenden Seite aufgefaßt wurde (8. 111); Heron bleibt dem Beispiele des Ahmes getreuer als selbst die priesterlichen Landsleute: bei ihm geht, wie wir bei flüch- tiger Schilderung der Reihenfolge der in seinen Schriften behandelten Gegenstände wiederholt bemerken mußten, die Flächenausmessung des Quadrats, demnächst auch des Rechteckes voraus; ihnen folst das Dreieck in seinen verschiedenen Formen, und nach diesem kehrt die Betrachtung zum Trapeze und zu anderen Vierecken zurück, dieselben zwar nicht als abgestumpfte Dreiecke untersuchend, aber Verwand- lungen und Teilungen durch Hilfslinien mannigfach vornehmend, wie wir schon betont haben. Ahmes hat, worauf wir wiederholt gleich- falls aufmerksam machen, Maßvergleichungen (S. 90), Heron des- gleichen. Ahmes bedient sich ausschließlich der Stammbrüche, zu welchen auch 2 gezählt wird (S. 61); Heron verfährt vorzugsweise ebenso, wenn er auch imstande ist, Brüche mit beliebigem Zähler und Nenner in Rechnung zu bringen, ohne sie vorher in eine Summe von Stammbrüchen zu zerlegen. Die Hauaufgabe Nr. 28. des Ahmes (8. 75) hat den Wortlaut e- hinzu, = hinweg bleibt 10 übrig“; wir erklärten sie durch (« + 3%) — sl + 3%) — 10; man vergleiche damit etwa die Art, wie in den Ausmessungen ein Kreisbogen aus Sehne und Höhe desselben berechnet wird°®): „Es sei ein Abschnitt, und er habe die Grundlinie von 40 Fuß, die Höhe von 10 Fuß; seinen Umfang zu finden. Mache es so. Füge immer Durchmesser‘) ") In der Geographie des Ptolemäus I, 6 (ed. Halma) pag. 17 heißt es ausdrücklich x«#640v ulv Ti ueldovı av dLaordosnv MYOGENTOUEV To WIROS. ”) Heron, Geometria 47, 48 (ed. Hultsch) pag. 88. °) Heron, Mensurae 33 ueronsıs Eregov tunjuerog (ed. Hultsch) pag. 199— 200. *, Soll heißen: Grundlinie. 396 19. Kapitel. und Höhe zusammen. Es entstehen 50 Fuß. Nimm allgemein davon = weg. Es ist 12. Rest 37 Zu diesen füge allgemein . 41 24:6.’ So viel mißt der Umfang des Abschnittes.. Wir haben aber ein Viertel weggenommen und ein Viertel hinzugefügt, weil ein Viertel der Teil ist der Höhe von der Grundlinie.“ Als Gleichung übersieht sich diese Vorschrift noch deutlicher in ihrer Ähnlichkeit zu der Ausdrucksweise des Ahmes. Sie lautet -[6+1) —(s+M)] +2-[+%) RE wenn s die Sehne, h die Höhe, B die Bogenlänge des betreffenden Abschnittes bedeutet. An und für sich ist die Formel 2 zur Un- hinzu. Es ist 9, Setze zusammen. Es sind Fuße 46— brauchbarkeit ungenau. Sie geht bi s=2r,h=rn B=-— °” über, welches, da der Halbkreis die Länge xr besitzt, die Annahme x = 2,25 in sich schließt, aber es kam uns bei Hervorhebung dieser Stelle nur darauf an, die Formverwandtschaft der heronischen Sammlungen, hier der „Ausmessungen“, mit dem Rechenbuche des Ahmes recht deut- lich hervortreten zu lassen. Alle diese Ähnlichkeiten vereinigt dürften jeglichen Zweifel an einer unmittelbaren Abhängigkeit Herons von altägyptischen Form- gewohnheiten vernichten. Was wir früher (8. 276) schon ankündigten, hat sich bestätigt: die Form der arithmetisch-geometrischen Beispiels- sammlung, eine in sich abgeschlossene von der anderer Werke sich wesentlich unterscheidende Form ist durch und durch ungriechisch, ist altägyptisch, und damit gewinnt die andere Vermutung erneuerte Wahrscheinlichkeit, es dürfte mit der Form des theoretisch-geometri- schen Lehrbuches, mit der Form der Elemente, sich ganz ebenso verhalten. Ein anderes freilich gilt für den Inhalt der heronischen Samm- lungen, welcher näher in Erwägung gezogen neben mancher über- raschenden Ähnlichkeit auch manche bei den Fortschritten, welche die Geometrie gemacht hatte, ziemlich selbstverständliche Abweichungen von dem ägyptischen Verfahren offenbart. Von überraschender Ähn- lichkeit ist die Anwendung der beiden Formeln en = 3 und = - x dı 1 (S. 111) zur Auffindung der Fläche eines Dreiecks oder Vierecks, welche wir in den Ausmessungen und in dem Buche des Landbaues wiederfinden‘), Daß Heron sie gelehrt haben sollte, ') Die Dreiecksformel in den Mensurae (ed. Hultsch) pag. 207 Jin. 1-5; = Heron von Alexandria. (Fortsetzung. 397 war uns früher so unglaublich, daß wir dieselben für Einschiebungen eines Kompilators hielten. Man hat uns entgegnet'), es sei für Heron umgekehrt geradezu unmöglich gewesen, in Ägypten in einer vollständigen Sammlung von geometrischen Rechnungsverfahren jene Formeln wegzulassen, und wir gestehen zu, daß diese Umkehrung der geschichtlichen Wahrheit wohl näher kommen dürfte als unsere erste Meinung. Wir neigen nunmehr selbst der Auffassung zu, auch diese theoretisch zwar unhaltbaren, praktisch aber mitunter ganz er- träglichen Näherungsverfahren habe Heron neben den theoretisch richtigen Formeln gelehrt, die meistens nicht unmittelbar zum Ziele, d.h. zur Kenntnis der verlangten Flächenräume führten, sondern vorher die Berechnung von Hilfsstrecken, als Höhen und dergleichen nötig machten. Vielleicht mag sogar die vorzugsweise sogenannte heronische Dreiecksformel ihre Entdeckung dem Bedürfnisse verdankt haben aus den drei Dreiecksseiten unmittelbar, aber richtiger als en Sc mittels a die Dreiecksfläche zu gewinnen. Einen wesentlichen Nachteil besaß freilich in den Augen des handwerksmäßigen Feldmessers die heronische Formel gegenüber der der Ägypter: sie verlangte eine Wurzelausziehung. Die Aus- führung dieser Operation überschritt, wie wir wissen, die Höhe des gemeinen Rechnens. Schriftstellerische Arbeiten wurden ihr gewidmet, von deren einstigem Vorhandensein wir Kenntnis erlangt haben, wenn sie auch selbst uns verloren sind. Um eine solche vielen MiB- behagen erzeugende Rechnungsaufgabe herumzukommen war fast Not- wendigkeit, wenn Praktiker mit der Ausführung betraut gewesen wären, und so blieben Näherungswerte für häufig auftretende ein für allemal berechnete Quadratwurzeln in Gebrauch. Wir haben in V2= = ein Beispiel kennen gelernt, welches (S. 223) vielleicht schon ‘zu Platons Zeit in Übung war, wir haben auch Y3 = a und V3 -7 hervorgehoben, auf dessen Entstehung wir (8.373) vielleicht einiges Licht werfen durften, wenn wir auch jetzt andere Entstehungs- weisen der Werte von Y3 wahrscheinlicher machen können. Y3 = e ist mittels der heronischen Methode zu gewinnen als V3= 2 + 1 die Vierecksformel in dem Liber Geeponicus (ed. Hultsch) pag. 212 lin. 15 bis 21. ‘) Agrimensoren 43 und dagegen S. Günther in der Beilage zur Allge- meinen Zeitung Nr. 81, vom 21. März 1876. 398 19. Kapitel. -=2— s = = und Y3 = TE mittels des doppelten falschen Ansatzes. Wenn nämlich 2, = ni =2,sitd = (7) - 3= en d, = (2)? RD... RR BE En BEE}. x —5-=1 und jr Senn = TI BETT Alle diese Nähe- 16 16 rungswerte hat Heron anzuwenden nicht verschmäht, | er, der doch unter die Schriftsteller zählt, die über Ausziehung der Quadratwurzeln schrieben. Den Nähsiihgewert V=- - glauben wir im Buche des Land- baues an zwei verschiedenen Stellen zu erkennen'). Die erstere Stelle behandelt das rechtwinklige Dreieck von den Seiten 30, 40, 50, bei welchem 56 = Y30? + 40°? sei; aber, heißt es weiter, es ist auch 50 = (30 +40) -5- 7 Will man diese Ausrechnung nicht für baren Unsinn nehmen, so kann man ihre Entstehung nur folgendermaßen erklären. Im gleichschenklig rechtwinkligen a von den Seiten cc, hist NE N re EROE, -5.-—. Daraus wurde i > nun weiter geschlossen, daß auch bei ungleiche Katheten c, und «, gerechnet werden dürfe h=(4+6)-5: 4 ,‚ ein Schluß, der uns bei Leuten, die gewohnt waren, in ungerechtfertigter Weise arithmetische Mittel ungleicher Seiten einer Figur in Rechnung zu ziehen, nicht sonderlich auffallen kann. Die andere Stelle werden wir weiter unten besprechen. Die Anwendung, welche Heron von Y3= — - macht, tritt bei den auf das gleichseitige Dreieck bezüglichen hervor. Die Höhe desselben ist offenbar gleich dem Produkte der Seite in v8 und ei 13 » MENSE 19. j dafür setzt Heron —, sei es nun, daß er dafür ——, sei es, daß 15? 85’ “ _ _ dafür schreibt. Die Höhe des gleichseitigen Drei- wirt ecks, sagt er ausdrücklich?), sei 1 — — mal der Seite, und die andere Wertform ist in der wiederholt auftretenden Angabe enthalten, die Fläche des gleichseitigen Dreiecks, mithin das Produkt der Seite ı) Heron, Liber Geeponicus 50 und 152—153 (ed. Hultsch) pag. 212, lin. 28—30 und pag. 226, lin. 9—16. ?°) Heron, Geometria 15 (ed. Hultsch) pag. 58, lin. 26—28. Heron von Alexandria. (Fortsetzung. 399 in die halbe Höhe, sei en vom Quadrat der Seite‘). Namentlich die Form der letzteren Vorschrift kehrt bei Nachahmern Herons fort- während wieder. Für spätere Vergleichungen müssen wir auch die bei Heron vor- kommenden aneinanderhängenden rechtwinkligen Dreiecke?), toiyova dedoyavız Hvoueve”), uns merken, worunter mutmaßlich zwei rechtwinklige Dreiecke mit rationalen Seiten gemeint sind, welche eine Kathete gleich haben, und an dieser zusammenstoßen, so daß die beiden anderen Katheten als gegenseitige geradlinige Fortsetzungen voneinander erscheinen. Bei der Dreiecksberechnung finden der Abschnitt, «dzoroun, und die Überragung, &#ßAndeio«, häufige Anwendung. Bedeuten b die Grundlinie, «, c die beiden anderen Seiten des Dreiecks und ce, & den Abschnitt, die Überragung von der einen oder der anderen b?+a?— ce? 2b R Richtung her an a anstoßend, so rechnet Heron «= Br BER RR ar 2b Die Formeln für den Flächeninhalt regelmäßiger Vielecke sind der Vermessungslehre und den heronischen Sammlungen*) gemeinsam, wie wir (8. 395) genauer zu erörtern genötigt waren, und wir wissen, daß wenigstens für das Neuneck und das Elfeck das Buch von den Geraden im Kreise benutzt wurde, daß wir die ältesten auf uns ge- kommenen trigonometrischen Formeln vor uns haben. Außer dem Flächeninhalt des regelmäßigen necks war unter allen Umständen der Halbmesser r, der Durchmesser d des um- schriebenen Kreises von Wichtigkeit. Offenbar lehrte die Sehnentafel == durch einfaches Nachschlagen a, = %.°@ ind so wird der heronische 2 Ursprung der im Buch des Landbaues sich vorfindenden?) Formeln a,= = undd= en, noch dazu durch einen Mangel an Folge- richtigkeit bei n—= 8 entstellt, indem es a, — = heißt, ungemein ver- dächtig,. Nur bin=6 st „er = ‚ aber die Ausdehnung dieses einen zufälligen Ergebnisses zur allgemeinen Formel kann Heron ") Heron, Geometria 14 und Geodaesia 13 (ed. Hultsch) pag. 58 und 147. ?) Heron, Geometria 13, 4 und Geodaesia 12, 4 (ed. Hultsch) pag. 58 und 147. ®) Das selten vorkommende vouevov ist von &v0w abzuleiten, welches selbst von &v (eins) abstammt und vereinigen heißt. *) Heron, Geometria 102, Mensurae 51—53, Liber Geeponicus 75—77 und 172—179 (ed. Hultsch) pag. 134, 206, 218, 229. °) Heron, Liber Geeponicus 146—164 (ed. Hultsch) pag. 225— 228. 400 19. Kapitel. unmöglich verschuldet haben. Wir können die Überzeugung dieser Unmöglichkeit selbst durch Erinnerung an zwei andere Angaben Herons über das regelmäßige Achteck stützen, welche ohnehin der Erörterung unterzogen werden müssen. In demselben Buche des Landbaues, in welchem die falschen Formeln sich breit machen, ist nur wenige Seiten später die Regel gegeben!), man solle zur Konstruktion eines regelmäßigen Achtecks sich eines (Quadrates mit seinen Diagonalen bedienen. Die Hälfte der Diagonale von jedem Endpunkte des Quadrates aus auf den beiden in ihm zusammentreffenden Seiten des Quadrates aufgetragen liefere 8 Punkte, welche miteinander verbunden das regelmäßige Achteck geben. Eine zweite Angabe über das regelmäßige Achteck findet sich in der zweiten stereometrischen Sammlung?), wo bei Gelegenheit der Ausmessung des Körperinhaltes der Pyramide auf achteckiger Grund- . 2\ d 2 8 3 8 : 8 i fläche von der Formel =, — (y: (2) + ” + (®) Gebrauch gemacht wird. Bevor wir den Zusammenhang dieser beiden richtigen Behaup- tungen nachweisen, wollen wir zeigen, daß die letztere mittels eines - Rechenfehlers zu der einen abweichenden Achtecksformel a, = 24 im 7 Buche des Landbaues Anlaß gab. Setzen wir nämlich V2= ws so wird (V2 (%) 2. a. B (®) ei (28 BE =) E. (=) ei eg = (® “) und da dieser Wert das Quadrat von = sein . 5 . ® .. nd soll, so ist a—,,d. Daraus kann aber sehr leicht irrtümlich 15) [3 . [2 [3 [3 . 0; = 15 dl entstanden sein. Gibt man uns dieses zu, so ist hier die . rn 7 . ’ . zweite Anwendung von Y2 = ; bei Heron nachgewiesen, welche wir (S. 398) angekündigt hatten. Man könnte freilich einen Einwand erheben, indem man sagte 13 Y 24 29 d=70 für u B--, Az, während doch Heron F, - 0 rechne. Allein dieser Widerspruch scheint uns geduldet werden zu müssen. Wir geben nämlich zu bedenken, daß weder d noch F% genau richtig, sondern nur angenähert berechnet sind, und daß die , Heron, Liber Geeponicus 199 ueronsıg Öönrayavov (ed. Hultsch) pag. 231. ®) Heron, Stereometrica Il, 37 nvoauid« Ert bxrayavov Bdoswg Beßnaviav uergnjoau (ed. Hultsch) pag. 184 lin. 10—17. Heron von Alexandria. (Fortsetzung.) 401 Einsetzung eines Näherungswertes in eine zweite Näherungsformel nicht immer zu den gleichen Ergebnissen führt, wenn sie in einem früheren oder in einem späteren Augenblicke erfolgt. Jedenfalls weicht = —4,833333 von dem wahren Werte c, — 4,828427 weniger ab als & =" — 4,800.000. Die erwähnte Konstruktion des Achtecks läßt sich mit Hilfe einer Figur rechtfertigen, welche ein Einwohner Ägyptens oft zu sehen in der Lage war, und deren Anblick einen Mathematiker um- gekehrt auf die Erfindung jener beiden Sätze bringen konnte. Die Figur, welche wir meinen, ist die (Fig. 14) zweier einander symmetrisch durchsetzender Quadrate, ein, wie wir uns erinnern (S. 108), häufiges Gewebemuster. Daß die Schnitt- punkte dieser Quadratseiten ein regelmäßiges Acht- \\ eck in der Figur erscheinen lassen, ist augen- N scheinlich. Eines Beweises bedarf (Fig. 66) nur die Behauptung «ß = ßy. Der Achteckwinkel bei y ist 135°, dessen Hälfte «yß, mithin 672. Ferner Fig. 66. ist der Winkel «ßy die Hälfte eines rechten Winkels oder 45°, und demnach yaß = 180° — 675° — 45° = 6710 = ayß, folglich «B = By. Wir werden im 26. Kapitel noch deutlicher erkennen, daß in der Tat ein dem hier gegebenen Beweise sehr ähnlicher von unserer Figur ausgehender Gedankengang zu dem heronischen Satze vom Acht- ecke geführt haben muß. Wenn wir heronischen Satz sagen, so meinen wir begreiflicherweise einen solchen, der uns am frühesten bei Heron begegnet, ohne Herons Erfindung für die möglicherweise noch ältere Wahrheit ausdrücklich in Anspruch zu nehmen. Haben wir hier eine, wie sich herausstellte, wichtige Zwischen- bemerkung aus der zweiten stereometrischen Sammlung in Betracht ziehen dürfen, so liefern uns die eigentlich stereometrischen Angaben als solche im allgemeinen wenig Ausbeute. Es mag ja immerhin sein, daß eine Vorschrift, welche in der Vermessungslehre (8. 379), welche aber auch in den Ausmessungen sich findet!), eine nicht regelmäßige Oberfläche, etwa die einer Bildsäule zu messen, indem man Leinwand oder Papier herumwickle, welches dann ausgebreitet als Maß diene, uralten Ursprung verrate, viel wird mit diesem Be- wußtsein nicht gewonnen sein. Daß wir aber den stereometrischen Aufgaben so wenig abgewinnen können, hat einen zweifachen Grund. Bald steht ungenügendes Verständnis, welche Körper eigentlich ge- ') Heron, Mensurae 46 (ed. Hultsch) pag. 204. CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 26 402 | 19. Kapitel. meint seien, hindernd im Weg, bald die Tatsache, daß recht viele Rechnungsergebnisse, auch wo sie verständlich sind, sich als falsch erweisen. Der Diorismus, ob eine Aufgabe wie die gestellte über-. haupt möglich sei, ist nicht selten versäumt. So ist z. B. eine ab- gestumpfte Pyramide mit rechteckiger Grundfläche zur Ausrechnung vorgelegt'), deren untere Fläche aus den Seiten 14 und’20, die obere aus den Seiten 2 und 4 gebildet wird, während dieser Körper bei mangelnder Ähnlichkeit der beiden Flächen gar nicht als Pyramiden- stumpf aufgefaßt werden kann; der Körper gehört vielmehr zu den- jenigen, welche deutsche Stereometer Obelisken zu nennen pflegen. Die räumliche Ausmessung der Obelisken findet allerdings nach der gleichen Formel statt, als hätte man es mit einem Pyramidenstumpf zu tun, doch glauben wir kaum, daß Heron dieses schon wußte und die Worte zvoauig #6Aovoog Eirovv NuıreAnig (abgestumpfte oder halb- fertige Pyramide) in der Meinung gebrauchte, es sei hier von zweierlei die Rede. Wer so weit zu gehen geneigt wäre, müßte jene Worte übersetzen: von Pyramidenstumpfen und ihnen nur verwandten Ge- staltungen. Unmittelbar vor dieser Stelle ist eine andere?), bei welcher der mangelnde Diorismus zum erstmaligen Erscheinen einer Quadrat- wurzel aus einer negativen Zahl geführt hat, welches in der Geschichte der Mathematik hat nachgewiesen werden können. Der Körperinhalt / einer abgestumpften Pyramide von quadratischer Grund- fläche wird gesucht. Nennt man nun a, die Seite des unteren größeren, a, die Seite des oberen kleineren Quadrates, % die Kante des Pyramidenstumpfes, F dessen senkrechte Höhe, h die Höhe einer der parallelotrapezischen Seitenflächen, so ist offenbar h -Vr farm N MORE Vr aa)‘ oder auch 1 H=-VYR- 4-0) 1264944079] Eine Ableitung dieser Formel findet so wenig statt wie die irgend einer anderen (mit Ausnahme der in der Abhandlung über die Dioptra bewiesenen heronischen Dreiecksformel), aber sie wird in einem ersten Beispiele, in welchem ,=10, ,=2,k=9 gewählt ist, mit gutem Erfolge angewandt. Es erscheint nämlich und endlich ) Heron, Stereometrica I, 35 (ed. Hultsch) pag. 163. °) Heron, Stereo- metrica I], 33 und 34 (ed. Hultsch) pag. 162—163. Heron von Alexandria. (Fortsetzung.) 403 H=V$®_*(0-2%=7 1-11" 2?) +4. (7) | 2895 Der Grund der Brauchbarkeit liegt darin, daß, wie es aus der Formel und daraus für H hervorgeht, A? > = (a, — Aa,) sein muß und bei den an- gewandten Zahlenwerten auch ist. (Greometrisch heißt das: ein Pyramidenstumpf mit quadratischen Grundflächen existiert nur dann, wenn bei senkrechter Projizierung der oberen Fläche auf die untere zwischen zwei benachbarten Eekpunkten der ursprünglich unteren Fläche und der Projektion eine Entfernung obwaltet, die kleiner ist als die Kante des verlangten Stumpfes. In einem zweiten Beispiele mitta,=28, ,=4, k=15 findet dieses aber nicht statt; es ist vielmehr 15° < (28 — 4)”. Der Rechner, der an der Formel, welche H unmittelbar aus «a,, a,, k liefert, diese Schwierigkeit bemerkt haben mag und sich ihr nicht gewachssen fühlte, suchte sich durch einen Umweg über h zu helfen. Er rechnete h = yıs — e- ) =), worauf er H= (®) — W?—= V63 — 8 weniger in setzte. Mit anderen Worten: die von Rechtswegen negative Differenz 81 — 144 unter dem Quadratwurzelzeichen wird zur absoluten Differenz der beiden Zahlen 81 und 144; es wird Y—1=1 gesetzt. Ob dieser Rechner Heron war, ob damals die Stereometrie noch immer ein weniger übliches Kapitel mathematischer Untersuchungen bildete und . insofern einem so hervorragenden Manne der Fehler den Diorismus vernachlässigt zu haben begegnen konnte, oder ob hier Unwissenheit der Abschreiber sündigte, dürfte nicht zur Entscheidung gebracht werden können. Welche von beiden Annahmen aber auch der Wahr- heit entsprechen mag, unter allen Umständen haben wir hier das älteste Auftreten des sogenannten Imaginären vor uns. Wenden wir uns zu den Beispielen, in welchen der Kreis vor- kommt, so tritt die Verhältniszahl x, welche fast bei allen solchen Kreisaufgaben eine Rolle spielt, in zweifachem Werte auf. Weitaus “. . 22 . am häufigsten ist #—=- angenommen, aber im Buche der Aus- messungen!) ist regelmäßig x = 3. Wir wissen aus unserem Auszuge aus der Vermessungslehre, daß dort gesagt wird, die Alten?) 6. &eyaioı, ') Heron, Mensurae (ed. Hultsch) pag. 183sqq. °) Heron II, pag. 72 lin. 29. 26* 404 19. Kapitel. hätten mit m —=3 gerechnet. Wir haben ($. 48) den babylonischen Ursprung dieses Wertes zu begründen gesucht, der aber bei dem regen Verkehre zwischen Babylon und Ägypten auch in dieses letztere Land eingedrungen sein mag. Und der ägyptische Wert, kann man fragen, =-($), welchen Ahmes angewandt hat (5. 98), kommt er nirgend vor? Nein, und wenn es auch insgemein mißlich ist, nega- tive Erscheinungen erklären zu wollen, hier wären wir am wenigsten in Verlegenheit, einen einleuchtenden Grund anzugeben. Die Neuerung 16 = 2 statt m = (F) war durch die größere Genauigkeit der Er- gebnisse bedeutsam, aber was die Rechnungsausführung betrifft, kaum redenswert. Ob der Praktiker mit dieser oder mit jener gebrochenen Zahl vervielfachte, das konnte ihm gleich sein. Er mußte aus Be- quemlichkeit alte und neue angenäherte Dreiecks- und Vierecksformeln ohne Wurzelausziehung festzuhalten suchen, um jener für ihn schwie- rigen Rechnungsoperation zu entgehen. Er mußte = =3 als ganz- zahligen Multiplikator vorziehen. Aber daß er nicht auf = = 22 . m : zugunsten von <= verzichten sollte, dafür gab es gar keinen Grund. Eine Stelle, welche auf den Kreis sich bezieht, verdient aus mehrfachen Gründen eine nähere Besprechung. Es ist dieselbe Stelle, welcher wir (8. 395) im voraus unsere Aufmerksamkeit zusicherten, als wir von dem anderen Buche Herons sprachen'). Es handelt sich um Berechnung des Kreisdurchmessers d aus der Summe S der in .einer Zahl vereinigten Kreisfläche X, Peripherie P und Durchmesser d selbst. Die Tatsache der durch $ angedeuteten Summenbildung ist an sich eine. höchst merkwürdige Eine Flächengröße und zwei Längenausdehnungen zu vereinigen widerspricht dem geometrischen Bewußtsein und ist nur denkbar, wenn wir zugeben, daß Heron hier auf durchaus algebraischem Boden stand, daß ihm die Zahlenwerte als solche und ohne Rücksicht auf ihren geometrischen Ursprung dienten. Unter dieser Voraussetzung gestattet aber Herons Rech- nungsergebnis sein Verfahren rückwärts zu ergänzen. Er rechnet _. V1545 + 841 — 29 d 4: Bekanntlich ist K=--d?, P=xd, folglich isttS=K+P+d= — d?+(x + 1)d, und ersetzt man x hierin 22 f . ; " durch , so ist die nach d quadratische Gleichung ı) Heron, @Geometria 101, 7—9 (ed. Hultsch) pag. 133 lin. 10—23. Das ganze Kapitel 101 trägt in der ältesten und besten Handschrift den Titel: 800g #Unhov Ebgshelg Ev &llm Pıßklo roö "Howmvog. Heron von Alexandria. (Fortsetzung.) 405 $1.,,5.:,99 der Auflösung unterbreitet. Nun sind von vornherein zwei Wege zur Auflösung vorhanden. Entweder man dividiert die Gleichung durch 11 F . ? ‚ 7, im eine neue Gleichung zu erhalten, in welcher das quadratische Glied den Koeffizienten 1 besitzt, oder man vervielfacht die Gleichung mit einer derartigen ganzen Zahl, daß im Produkte das quadratische Glied einen ganzzahligen quadratischen Koeffizienten besitze, während auch im übrigen nur ganzzahlige Koeffizienten auftreten. Den letz- teren Weg wird vorziehen, wer das Rechnen mit Brüchen so lange als möglich hinausschiebt. Befolgen wir ihn, so haben wir mit 14 mal 11 zu vervielfachen und erhalten 121d? + 6588d = 1548, daraus ferner 121d? + 638d + 841 = 1548 + 841 oder (11d + 29)? = 1545 + 841. Daraus entsteht der Reihe nach 11d + 29 = Y1548+841, 11d— VIBASF 841 — 29, endlich mit Heron d - Fu Damit ist also der Beweis geliefert, daß jedenfalls Heron die un- reine quadratische Gleichung a@”+bx—=c bereits als Rech- nungsaufgabe betrachtete, wenn man Euklid (8.285) und Ar- chimed (5. 316) diese Kenntnis zuzugestehen sich nicht entschließen wollte. Von Heron steht es jetzt fest, daß er die unreine quadra- tische Gleichung ar’ +bxz=c zu lösen verstand, und daß die Er- gänzung zu einem vollständigen Quadrate auf beiden Seiten des Gleich- heitszeichens so erfolgte, daß (az + 3) =ac+ (2): gesetzt wurde, Very a woraus A N — gefolgert wurde, nachdem schon am Anfange, wenn nötig, solche Multiplikationen vorgenommen waren, welche a,b,c zu ganzen Zahlen zu machen sich eigneten. Allerdings setzen diese Schlüsse, deren große Tragweite niemand verkennen wird, Eines voraus: daß Heron wirklich der Urheber der besprochenen Aufgabe samt ihrer Auflösung war. Wir sehen jedoch keine Veranlassung dieser Voraussetzung zu widersprechen. Wir haben zu zeigen gesucht, daß schon Euklid unreine quadratische Gleichungen, allerdings in vollständig geometrischem Gewande, nicht fremd waren. Die Aufgabe, an welche wir gegenwärtig unsere Folge- rungen knüpften, steht in derjenigen Sammlung heronischer Schriften, welche nächst der Vermessungslehre die verhältnismäßig größte Zu- verlässigkeit besitzt. Sie steht mitten unter anderen Aufgaben voll- 406 20. Kapitel. kommen heronischen Gepräges. Sie ist so gefaßt, daß erst eine kleine Überlegung die Überzeugung beibringen kann, daß die Stelle über- haupt richtig ist und auf einer quadratischen Gleichung beruht, ein in unseren Augen sehr schwer wiegender Grund spätere Einschiebung auszuschließen. Und zu allen diesen die bestimmte Aufgabe betreffen- den Erwägungen kommt eine allgemeine Erscheinung hinzu, deren wiederholter Erwähnung wir uns nicht enthalten können: die Ent- wicklungen Herons sind in den verschiedensten Kapiteln so aneinander gereiht, daß man sich dem Gedanken nicht verschließen kann, jener Mathematiker habe eine Formel aus der anderen gleichungsmäßig hergeleitet, nicht eine jede für sich geometrisch ermittelt, und diese Überzeugung bricht sich insbesondere bei den Aufgaben Bahn, in welchen der Kreis in Betracht kommt. So haben wir mit steigender Achtung die Leistungen Herons von Alexandria durchmustert, des Mannes, der es reichlich verdiente, daß seine Schriften als Lehrgebäude der Geodäsie durch viele, viele Jahrhunderte unmittelbar oder mittelbar ihre Wirksamkeit behielten. Er ist und bleibt uns der vorzugsweise Vertreter antiker Feldmeß- kunst und Feldmeßwissenschaft, wenn ersteres Wort uns die Lehre von den eigentlichen feldmesserischen Operationen, letzteres die von den anzuwendenden Formeln bedeuten soll. Er ist uns aber auch der Vertreter einer entwickelten Rechenkunst bis zur Aus- ziehung von Quadratwurzeln und Kubikwurzeln, der Vertreter einer eigentlichen Algebra, soweit von einer solchen ohne Anwendung sym- bolischer Zeichen die Rede sein kann, bis zur AuFIONUng unreiner quadratischen Gleichungen einschließlich. 20. Kapitel. Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. Kurze Zeit nach der Blüte des hervorragenden Geodäten, mit welchem wir uns in zwei Kapiteln beschäftigt haben, lebte wahr- scheinlich Geminus von Rhodos. Er schrieb eine Einleitung in die Astronomie, eigaeyoypı) eig T& pawvöueve, welche zwar erhalten ist!), aber um ihres eigentlichen Inhaltes willen uns nicht weiter be- 1) Dieses Werk ist mehrfach gedruckt, z. B. mit französischer Übersetzung von Halma in dessen Ausgabe des Ptolemäus hinter dem Kanon desselben. Paris 1819. Die letzte Ausgabe mit deutscher Übersetzung von Karl Manitius. Leipzig 1898. Über das mathematische Werk des Geminus ist ziemlich ab- schließend Carl Tittel, De Gemini Stoiei studiis mathematicis. Leipzig 1895. Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. 407 schäftigen darf, als daß wir bemerken, daß darin eine gute Dar- stellung der Sonnentheorie des Hipparch sich findet'), allerdings ohne daß der Name ihres Urhebers dabei genannt wäre. Außerdem ver- faßte er ein leider verlorenes mathematisches Werk von fast unbe- kanntem Titel und Inhalte. Unser Bedauern über den Verlust gründet sich auf etwa 16 Stellen, in welchen Proklus in seinem Kommentare zu den euklidischen Elementen aus Geminus geschöpft hat, auf andere, die bei Eutokius sich erhalten haben, und deren zum Teil geschicht- lich wertvollen Inhalt wir verschiedentlich zu benutzen Gelegenheit fanden. Ein eigentlich mathematisch-historisches Werk hat freilich Geminus gewiß nicht geschrieben, wenn man auch früher dieser An- nahme zuneigte?). Das ist aus dem Mathematikerverzeichnisse bei Proklus gefolgert worden?).. Wenn Proklus dort erklärt, die Schrift- steller über Geschichte der Mathematik hätten die Entwicklung bis dahin, d. h. bis kurz vor Euklid geschildert, wenn er dann in dem- selben Kommentare aus Geminus Auszüge gibt, welche für die Zeit- bestimmung des Nikomedes, des Diokles, des Perseus verwertbar waren, so ist eben das Werk des Geminus eine Geschichte nicht gewesen. Auch die nähere Prüfung der Notizen aus Geminus selbst würde zu der gleichen Schlußfolgerung führen. Sie sind gewiß nicht von der Art, wie man sie in einem Geschichtswerke suchen würde, sie haben ihre Bedeutsamkeit für historische Zwecke nur dadurch erlangt, daß in ihnen Namen vorkommen, daß also die Träger dieser Namen, beziehungsweise die Erfinder krummer Linien, welche Geminus nennt, früher als er gelebt haben müssen, daß seine genau ermittelte Lebenszeit daher eine untere Grenze für die anderer bildet. Um so notwendiger ist es in dieser Ermittlung jeden Zweifel auszuschließen. Man hat die Zeit, zu welcher Geminus schrieb, regelmäßig dem 6. Kapitel seiner Einleitung in die Astronomie ent- nommen. Dort heißt est): Die Griechen nehmen auf die Ägypter und Eudoxus sich stützend an, das Isisfest treffe mit dem kürzesten Tage überein. Das ist vor 120 Jahren einmal so gewesen, aber alle vier Jahre verschiebt sich die Übereinstimmung um einen Tag und beträgt jetzt einen Monat. Der Nutzen, welcher aus dieser Angabe zu ziehen sein kann, ist augenscheinlich. Weiß man, wann das Fest der Isis nach ägyptischem Kalender stattfand, weiß man ferner, wann das betreffende ägyptische ') Wolf, Geschichte der Astronomie 8.201. °) Montucla, Histoire des Mathematiques I, 266. °) Nesselmann, Algebra der Griechen 6. ‘) Unsere Übersetzung ist nicht wörtlich, kürzt vielmehr die Stelle wesentlich ohne jedoch den Sinn zu verändern. Vgl. ed. Halma pag. 43. 408 20. Kapitel. Datum genau auf das Wintersolstitium fiel, so hat man von dem so gewonnenen Jahre nur 120 Jahre weiter zu zählen, um zu der Zeit zu gelangen, zu welcher Geminus seine Einleitung in die Astronomie verfaßte. Diese Rechnung hat man angestellt und ist zu zwei sehr voneinander abweichenden Ergebnissen gekommen. Ein gelehrter Chronologe, Mitglied des Jesuitenordens am Anfange des XVII. S., Denis Petau!), hat in dem Isisfeste die Feier der Auffindung des Osiris erkannt, welche in Ägypten vom 17. bis zum 20. Athyr be- gangen wurde. Diese Feier, d. h. der 17. Athyr, fiel 197 auf das Wintersolstitium und die Abfassung der Einleitung in die Astronomie 120 Jahre später auf 77 v. Chr. Dagegen hat am Ende des XVI. S. ein anderer Gelehrter, Bonjour, folgende Ansicht begründet?). Nach römischer Überlieferung ist ein Isisfest vom 1. bis zum 5. Athyr gefeiert worden; der 1. Athyr fiel 257 auf das Wintersolstitium, und somit geben 120 Jahre weiter die Jahreszahl 137, in welcher Geminus geschrieben haben muß. Mit davon verschiedenen Gründen ist ein späterer Forscher gleichfalls 2u dem Jahre 140 gekommen, auf welches die Blüte des Geminus zu setzen sei?). Zwischen diesen beiden Möglichkeiten hat man sich zu entscheiden, und wir tragen Bedenken Geminus, welcher nach Hipparch gelebt haben muß, um dessen Sonnentheorie, wie wir zu Anfang bemerkten, deutlich darzustellen, der auch Hipparch in seiner Einleitung in die Astronomie einmal mit Namen nennt“), während die Beobachtungen Hipparchs von 161 bis 126 fallen, früher als 77 als Schriftsteller anzunehmen’). Das zweite Datum, dem wir in unserer Anordnung des Stoffes folgten, indem wir sonst Geminus vor Heron hätten nennen müssen, steht auch im Einklang mit anderen Umständen, die für sich allein nicht entscheidend gewesen wären. Geminus nennt in seiner Einleitung in !) Petavius, De doctrina temporum (Paris 1627), Lib. II, cap. 6, $4 und desselben Verfassers Uranologion sive systema variorum autorum qui de sphaera ac sideribus eorum motibus graece commentati sunt (Paris 1630) in den An- merkungen zu der dort abgedruckten Schrift des Geminus an dem betreffenden Orte. ?) Bonjour, De nomine Josephi a Pharaone imposito. Rom 1696. Vgl. eine Besprechung dieses Buches von Heinr. Pipping in den Acta Eruditorum für 1697, pag. 6 sqq. °) H. Brandes, Ueber das Zeitalter des Astronomen Geminus und des Geographen Eudoxus in den Jahnschen Jahrbüchern XII, Supplement S. 199—230, besonders 219. *) Eisayoyn x. rt! 4. (ed. Halma) pag. 19. °) Auch Aug. Böckh, Ueber die vierjährigen Sonnenkreise der Alten. Berlin 1863, 8. $flgg. und S. 200flgg. hat sich in ausführlicher Begründung für diese Meinung entschieden. Dagegen vermutet F. Blaß, Dissertatio de Gemino et Posidonio (Kiel 1883) eine noch spätere Lebenszeit des Geminus, nur durch das II. nachchristliche Jahrhundert als terminus ad quem begrenzt, weil Geminus bei Alexander Aphrodisiacus genannt ist. Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. 409 die Astronomie Eratosthenes!), der etwa 194 starb, den Geschichts- schreiber Polybius?), dessen Universalgeschichte, isropi« x«doAıxn, bis 146 herabreieht, Krates den Grammatiker?), wahrscheinlich den- jenigen dieses Namens, der aus Mallus 167 nach Rom kam, wo er etwa 144 starb, den Philosophen Boethus, welcher einen Kommentar zu Aratus geschrieben haben muß*), den man aber nicht bestimmt zu identifizieren vermag; sie alle können im Jahre 137 ebenso gut wie im Jahre 77 genannt worden sein. Auch darauf wird man kein zu großes Gewicht legen dürfen, daß die Beobachtungen, von welchen Geminus Gebrauch macht, auf Rhodos, Alexandria und Rom Bezug nehmen, Ein Alexandriner, das haben wir (5. 366) erörtert, würde kaum schon 137 Rom seine Aufmerksamkeit in so hohem Grade gewidmet haben, anders ein Rhodier, nachdem seine Landsleute die Bundesgenossen der Römer seit dem syrischen Kriege im Jahre 190 v. Chr. waren. Aber folgendes gibt endgültig den Ausschlag. Nach einer Angabe des Simplieius im Kommentare zum ll. Buche der aristotelischen Physik fertigte Geminus einen Kommentar zu den uerewgoAoyıxd& des Posidonius?. Nun gab es allerdings einen Posidonius von Alexandria (S. 198), Schüler des 259 verstorbenen Zenon, aber ihn würde Simplieius nicht ohne sonstige Bezeichnung nur Posidonius genannt haben. Dazu mußte die Persönlichkeit eine allgemein bekannte sein, und von einer solchen haben wir Kenntnis: Posidonius von Rhodos°), der Lehrer Ciceros, der. Freund des Pom- pejus, der auf der Insel Rhodos gestorben ist, auf welcher Geminus allem Anscheine nach lebte. Dieser Posidonius, der wiederholt durch Heron erwähnt worden ist, dem man eine Definition der Parallellinien verdankt (S. 388), wird frühestens um das Jahr 90 als Schriftsteller aufgetreten sein, und wer aus seinem Werke einen Auszug machte, kann nur 77, nicht 137 eine Einleitung in die Astronomie verfaßt haben. Damit stimmt aber endlich noch eine Tatsache überein. Die 120 Jahre rückwärts von Geminus fallen entweder auf 257 oder auf 197. Nach der ersteren Annahme würde das Edikt von Kanopus vom 7. März 238 die 120 Jahre unterbrochen und vermöge der in ihm angeordneten Einrichtung des Schaltjahres, so lange oder so kurz es in Gültigkeit war, die 30tägige Verschiebung des Isisfestes binnen 120 Jahren zu einer Unwahrheit gemacht haben. Rechnet man da- gegen jene 120 Jahre von 197 an, so ist dem nicht so. Man hat vielmehr alsdann eine Grenze gewonnen, wie lange das Edikt von ') Ed. Halma pag. 44. *) Ebenda pag. 67. °) Ebenda pag. 30, 31, 32, 66. *) Ebenda pag. 76. °) Aug. Böckh 1. e. 8.13. ®) Wolf, Geschichte der Astro- nomie S. 167. 410 20. Kapitel. Kanopus, von welchem man ohnedies weiß, daß es in Vergessenheit geriet, wirksam gewesen sein kann: von 238 an höchstens durch 40 Jahre hindurch. Eine Voraussetzung liegt allerdings unserer bisherigen Darstel- lung zugrunde: daß es nur einen Geminus gab und nicht deren zwei, einen Mathematiker und einen Astronomen!). Wer dieser Meinung sich anschließt, verzichtet auf die Ausnutzung der Isagoge zur Bestimmung der Lebenszeit des Mathematikers Geminus und kann daher unseren Entwicklungen nicht den geringsten Wert beilegen. Wir vermögen uns von dem erhobenen Zweifel nicht beirren zu lassen und glauben nach wie vor an die Übereinstimmung des Mathe- matikers mit dem Astronomen. Wer Geminus war, ist nicht bekannt. Der Name besitzt einen entschieden römischen Klang, und wenn auch die Rechtschreibung I’suivog, deren Proklus wie Pappus sich bedient, der römischen Aussprache widerspricht, so kann eine Ausgleichung darin gefunden werden, daß Simplicius den Ton auf die erste Silbe, T'euıvog, legt. Man hat demzufolge in Geminus wohl den Freigelassenen eines edlen Römers erkennen wollen. Das mathematische Hauptwerk des Geminus kann vielleicht den Titel: Über die gesetzmäßige Gliederung der Mathematik geführt haben?). Von dessen Inhalt haben wir in negativer Weise behauptet, er sei nicht wesentlich geschichtlich gewesen. Es war auch jeden- falls kein eigentliches Lehrbuch der Mathematik. Geminus wollte vielmehr nach aller Wahrscheinlichkeit die Anfeindungen, welche Zenon von Elea und dessen Nachfolger gegen den logischen Aufbau der Mathematik sich gestattet hatten, widerlegen. Man erkennt diesen Zweck aus der Art, wie das Werk des Geminus benutzt worden ist. Proklus entnimmt ihm gern die Entscheidung, wo es sich um Streit- fragen mehr allgemein logischer als mathematischer Natur handelt, um geometrische Erklärungen, Grundsätze und dergleichen. Eine einzige geometrische Entdeckung des Geminus kennen wir aus Proklus, wenn sie wirklich ihm zuzuschreiben ist, woran eine spätere Stelle bei Proklus wieder zweifeln läßt. Dieser sagt nämlich?): „Unter den ı) Vgl. K. Manitius, Des Geminos Isagoge, Sonderabdruck aus den Com- mentationes Fleckeisenianae (Leipzig 1890) mit der Besprechung der Abhand- lung in Zeitschr. Math. Phys. XXXVI. Histor.-literar. Abtlg. S. 96—97. In seiner Ausgabe der Isagoge von 1898 hat Manitius die 1890 ausgesgrochenen Ansichten wesentlich abgeändert und sieht seitdem in dem erhaltenen Texte einen späten in Konstantinopel angefertigten Auszug aus der ursprünglichen Isagoge des Geminus von Rhodos. *?) Pappus VIII, 3 (ed. Hultsch) 1026 heißt es: I'suivog 6 u@dnucrınög Ev ro neol rg Tov uednudrov rafeng. °) Proklus (ed. Friedlein) 112—113 und 251 lin. 2—11. Bretschneider 177. Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. 411 auf Körpern konstruierten Linien sind die einen in ihren Teilen gleich und ähnlich wie die zylindrischen Schraubenlinien, andere dagegen nicht, nämlich alle übrigen. Es ergibt sich nun aus diesen Unter- schieden, daß es nur drei Linien gibt, welche in allen ihren Teilen gleich und ähnlich sind, die Gerade, der Kreis und die zylindrische Schraubenlinie, von denen zwei ganz in der Ebene liegende einfache sind, eine aber eine gemischte ist und auf einem Körper liest. Auch dies beweist ganz klar Geminus, nachdem er vorher gezeigt hat, daß wenn an eine solche in allen Teilen gleich und ähnliche Linie von einem Punkte aus zwei Gerade gezogen werden, die mit ihr gleiche Winkel bilden, diese Geraden einander gleich sind.“ Vielleicht darf als mit Geminus annähernd gleichaltrig Theo- dosius!) genannt werden. Wenigstens kommt der Name dieses von Ptolemäus benutzten Mathematikers und Astronomen bei Strabon und Vitruvius vor, so daß er vor Christi Geburt gelebt haben muß, und dem Gegenstande seiner Untersuchungen nach etwa im letzten Jahr- hunderte dieser Zeit. Als Heimat des Theodosius gilt alsdann Tripolis an der phönikischen Küste. Seine Sphärik in drei Büchern ist eine ziemlich vollständige Geometrie der Kugeloberfläche mit Ausschluß des messenden, also trigonometrischen Teiles. Er stützt sich, ohne seine Vorgänger zu nennen, vielfach auf dieselben, wie es bei dem Verfasser eines Lehrbuches Sitte war, auch wohl noch ist. Ins- besondere hat die Abhängigkeit von den Phaenomena Euklids (S. 295) nachgewiesen werden können?). Wir bemerken, daß die Vermutung gleichfalls ausgesprochen worden ist?), der Mathematiker Theodosius sei von Theodosius von Tripolis verschieden. Er stamme vielmehr aus Bithynien und sei Landsmann sowohl als Zeitgenosse des Hipparch (5. 361) gewesen. Dionysodorus wird von Heron (8. 380), von Strabon®) und ") Vgl. Fabricius, Bibliotheca Graeca (ed. Harless) IV, 21. Die Sphärik ist griechisch mit lateinischer Übersetzung von Pena (Paris 1558) herausgegeben. Eine deutsche Übersetzung von Ernst Nizze, Stralsund 1826. Von ebendem- selben eine griechische Textausgabe mit lateinischer Übersetzung, Berlin 1852. Wertvolle Untersuchungen bei Nokk, Ueber die Sphärik des Theodosius, Pro- gramm des Bruchsaler Gymnasiums 1847. Hultsch hat im X. Bande der Ab- handlungen der philol.-hist. Klasse der Königl. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch. zu Leipzig (1887) Scholien zur Sphärik des Theodosius herausgegeben, welche teils dem zehnten nachchristlichen Jahrhundert angehören, teils mindestens bis zum dritten Jahrhundert zurückgehen. °) Nokkl. c. und Heiberg, Euklid- ‚studien S. 43—46. °) Recherches swr V’histoire de l’astronomie ancienne par Paul Tannery. Paris 1893, pag. 36—37 und Axel Anthon Björnbo in den Ab- handlungen zur Geschichte der mathemat. Wissenschaften, XIV, 8. 64—65. Leipzig 1902. *) Strabo XI, 3. 412 20. Kapitel. von Plinius’) genannt, muß also vor Christus gelebt haben. Strabon berichtet, Amisus im Pontus am asiatischen Südufer des Schwarzen Meeres sei seine Heimat gewesen. Plinius nennt ihn von Melos, so daß möglicherweise zwei verschiedene Persönlichkeiten gemeint sein können, und weiß eine Wundergeschichte zu erzählen, in welcher er eine Rolle spielt. Dem Mathematiker dürfte außer der von Heron erwähnten Schrift über die Spiren die Lösung der archimedischen Aufgabe der Kugelteilung nach gegebenem Verhältnisse der Abschnitte interessant sein, zu welcher Dionysodorus, nach den Mitteilungen des Eutokius?), den Durchschnitt einer Parabel mit einer Hyperbel be- nutzte. Man hat freilich Dionysodor auch weiter rückwärts zwischen Archimed und Apollonius einzuschieben Veranlassunk genommen, wodurch die Lebenszeit des Perseus als Erfinder der Spiren ebenfalls um einige Jahrzehnte zurückdatiert werden müßte?). Festen chronologischen Boden unter den Füßen gewinnen wir mit Menelaus von Alexandria. Zwei in Rom angestellte Beob- achtungen dieses Astronomen aus dem ersten Regierungsjahre Trajans, d.h. aus dem Jahre 98 n. Chr., sind im Almageste erhalten‘), und so kann über die Zeit der wissenschaftlichen Tätigkeit des Menelaus kein Zweifel stattfinden. Er verfaßte sechs Bücher über die Berechnung der Sehnen, welche aber gleich dem ähnlichen Werke seines Vorgängers Hipparch verloren gegangen sind. Seine drei Bücher der Sphärik sind im griechischen Originaltexte gleichfalls nicht bekannt, doch sind ein- ander gegenseitig bestätigende arabische und hebräische Übersetzungen aufgefunden worden, nach welchen seit dem XII. Jahrhunderte weitere lateinische Übersetzungen sich herstellen ließen, welche mehrfach her- ausgegeben sind’). Die Sphärik des Menelaus ist im Gegensatze zu der des Theodosius eine Art von sphärischer Trigonometrie. Wir meinen damit, daß Menelaus der Erste war, welcher die Lehre vom sphäri- schen Dreieck sowie die sphärische Trigonometrie aus der früheren ganz stereometrisch gehaltenen Sphärik aber auch aus der Astronomie ausgeschieden hat. Sein I. Buch ist dabei durchaus dem I. Buche ı) Plinius, Historia naturalis U, 109. °) Archimed (ed. Heiberg) II, 180sqq. °) Wilhelm Schmidt, Über den griechischen Mathematiker Dionyso- dorus. Bibliotheca Mathematica 3. Folge, Bd. IV, 321—325 (1904). *) Ptolemaer Almagestum VI, 3 (ed. Halma) T.II, pag. 25 und 27. °) Die noch immer beste Übersetzung von Halley. Oxford 1758. Die neuesten Untersuchungen über Me- nelaus bei Ad. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie I, 14—18 (1900) und besonders bei Axel Anthon Björnbo, Studien über Mene- laos’ Sphärik. Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften XIV, 1—154 (1902), an welche wir uns wesentlich anschließen, mit Ausnahme der Zurückdatierung des sogenannten Satzes des Menelaus bis auf Hipparch. Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. 413 der Euklidischen Elemente nachgebildet, dessen Dreieckssätze Menelaus aus der Ebene auf die Kugel übertrug. Dazu bedurfte es einer Defi- nition des sphärischen aus Bögen größter Kreise bestehenden Drei- ecks, und Menelaus gab sie, gab zugleich dem gebildeten Dreiecke den Namen rolnAsvoov im Gegensatze zu roiywvov als dem Namen des ebenen Dreiecks. Dann finden wir die Sätze, daß im sphärischen Dreiecke gleichen Seiten gleiche Winkel gegenüberliegen, daß der größeren Seite der größere Winkel gegenüberliegt, nebst der Um- kehrung der beiden Sätze. Die Summe zweier Seiten wird als größer als die dritte Seite erkannt, die Summe der drei Winkel als größer als 2 Rechte, während der die Winkelsumme nach oben begrenzende Satz, sie sei kleiner als 6 Rechte, nicht vorkommt. Menelaus ver- sucht niemals einen Deckungsbeweis für stückweise einander gleiche Dreiecke zu führen, wird also vermutlich des Unterschiedes zwischen Kongruenz und Symmetrie auf der Kugel bewußt gewesen sein. Das II. Buch ist nur mittelbar der Sphärik gewidmet und hauptsächlich astronomischen Inhaltes, so daß wir bei unserer Ausschaltung der Astronomie berechtigt, wenn nicht verpflichtet sind, darüber hinweg- zugehen. Das III. Buch enthält die eigentliche Trigonometrie und gründet sie auf den ersten Satz des Buches d. i. auf den sogenannten Satz des Menelaus, der zwar unmittelbar als sphärischer Satz aus- gesprochen ist, bei dessen Beweis aber der planimetrische Satz des Menelaus in Anwendung tritt. Der planimetrische Satz spricht sich dahin aus, daß bei Durchschneidung der drei Seiten eines ebenen geradlinigen Dreiecks durch eine Gerade Abschnitte erscheinen, welche das gleiche Produkt aus je drei Abschnitten, die keinen Endpunkt gemein haben, hervorbringen; der sphärische Satz verändert diesen Ausspruch nur dahin, daß die Abschnitte der Bögen durch die Sehnen der verdoppelten Abschnitte ersetzt werden. Menelaus selbst hat frei- lich so wenig wie seine Nachfolger bis in das XVI. S. seine Sätze in dieser Weise ausgesprochen. Es heißt niemals a, -a,-a,=b,:b, : b, oder das Parallelepipedon der betreffenden Abschnitte habe gleichen Inhalt, sondern das Verhältnis a, :b, =b,:-b,:q, a, ist gebildet und so ausgesprochen, daß gesagt wird, a, stehe zu b, in dem zusammen- gesetzten Verhältnisse von b, zu a, und von b, zu a, Der Name, unter welchem der Satz bekannt blieb, ist der des Satzes von den sechs Größen, regula sex quantitatum. Das Vorkommen zusammen- gesetzter Verhältnisse bei Euklid und Archimed ist uns (S. 266) be- kannt geworden. Wenn der planimetrische Satz in der Sphärik nicht bewiesen ist, so muß daraus gefolgert werden, er sei schon bekannt gewesen, mag man, wozu wir uns nicht leicht entschließen können, annehmen, Hipparch habe ihn bereits besessen und benutzt, oder mag 414 20. Kapitel. man der Ansicht sein, Menelaus habe auch eine Schrift über ebene Dreiecke verfaßt, in welcher der planimetrische Satz vorkam. Als Stütze dieser letzteren Ansicht dient ein bei Proklus erhaltener Be- weis des Menelaus zu einem Dreieckssatze und die Tatsache, daß ein Araber Menelaus als Verfasser von Elementen der Geometrie genannt hat. Von anderen im III. Buche der Sphärik vorkommenden Sätzen sei noch der 5. Satz erwähnt, der die Projektivität der Doppel- verhältnisse enthält und zwar ohne jeden Beweis, mithin als alt- bekannt, der 9. Satz, daß die drei Halbierungsbogen der Winkel, der 10. Satz, daß die drei Höhenbogen eines sphärischen Dreiecks je einen gemeinsamen Durchschnittspunkt besitzen. Die entsprechenden plani- metrischen Sätze waren längst, der zweite vermutlich seit Archimed (S. 298) vorhanden. Menelaus hat auch in der Kurvenlehre sich Verdienste erworben. Er hat, wie Pappus ungemein kurz sich fassend und deshalb für uns sehr fruchtlos erzählt), einer krummen Linie, mit welcher vorher zwei uns gänzlich unbekannte Geometer Demetrius von Alexan- dria und Philo von Tyana sich beschäftigten, seine besondere Auf- merksamkeit zugewandt und derselben den Namen der außergewöhn- lichen oder selisamen, z«oddo&og yozuwj, beigelegt. Klaudius Ptolemäus führte zu Ende, was Hipparch und Menelaus vor ihm begonnen hatten. Er schuf für den astronomischen Gebrauch eine Trigonometrie von so vollendeter Form, daß sie weit über ein Jahrtausend nicht überboten wurde und nicht weniger als die unter dem Namen des ptolemäischen Weltsystems bekannte Lehre von den Bewegungen der Gestirne aber mit besserem Erfolge die Wissenschaft beherrschte. Beides, das astronomische und das trigono- metrische Lehrgebäude, ist vereinigt in den 13 Büchern der großen Zusammenstellung, ueydAn ovvrekıg*). Als dieses Werk später, wie wir im 32. Kapitel zu schildern haben werden, aus dem Griechi- schen ins Arabische, aus dieser Sprache noch später ins Lateinische übersetzt wurde, erhielt es den durch Zusammenschweißung des arabischen Artikels al mit dem griechischen Superlativ ueyıorog gebildeten Bastardnamen Almagest, unter welchem es meistens be- kannt ist, und dessen auch wir uns bedienen, einigemal weiter oben schon vorgreifend bedient haben. ı) Pappus IV, 30, (ed. Hultsch) pag. 270. ?) Die bequemste Ausgabe ist die von Halma unter Beigabe einer französischen Übersetzung in zwei Quart- bänden veranstaltete. Paris 1813—16. Eine neue Textausgabe aber leider ohne Übersetzung veranstaltete Heiberg 1899—1903. Wichtige Untersuchungen über den Almagest namentlich nach seiner astronomischen Bedeutung in KRecherches sur Vhistoire de l’astronomie par Paul Tannery. Paris 1893. Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. 415 Im Almageste sind viele astronomische Beobachtungen verwertet, teils dem Ptolemäus eigentümliche, teils von anderen herrührend. Die späteste der so aufgenommenen Datierungen ist die einer Venus- beobachtung aus dem 14. Regierungsjahre des Antoninus!), also aus dem Jahre 151, und die Abfassung des Almagestes muß somit später fallen. Andererseits ist die früheste eigene Beobachtung des Ptolemäus, von der wir wissen, im Jahre 125 angestellt und damit erreichen wir als engste Grenzen seiner Wirksamkeit die Jahre 125 bis 141 oder 151. Das ist aber neben einem Aufenthalte in Alexandria auch alles, was wir von den: persönlichen Verhältnissen des Ptolemäus mit Ge- wißheit aussagen können. Nach später aus arabischer Quelle ge- flossener Angabe?) wäre Ptolemäus in Alexandria geboren und auf- gewachsen; er sei, heißt es dort, 78 Jahre alt geworden; auch weiß der Bericht von seiner hellen Farbe, seinen kleinen Füßen, einem roten Muttermale an der rechten Kinnlade, dem schwarzen, dichten Barte, seinen Lebensgewohnheiten und Charaktereigenschaften so viel zu erzählen, daß man sehr in Zweifel gerät, soll man der Genauigkeit trauen oder der Übergenauigkeit mißtrauen. Eine gründliche Unter- suchung?) des arabischen Berichtes hat ergeben, daß derselbe aus einer 1053 geschriebenen Spruchsammlung eines Emir Abü’l Wafä Mubaschschir ben Fatik stammt und auf ein ähnliches im IX. Jahr- hundert entstandenes Werk des Hunain ibn Ishäk zurückgeht. Der 78jährigen Lebensdauer des Ptolemäus, den man danach etwa von 100 bis 178 anzusetzen hätte, dürfte am ersten zu trauen sein. Die genaue Personalbeschreibung wird damit in Zusammenhang gebracht, daß gerade im U. Jahrhundert physiognomische Studien bei den Griechen in Blüte standen, und wie man aus den Gesichtszügen gei- stige Eigenschaften herauslas, mag man aus bekannten schriftstelle- rischen Leistungen auf ihnen entsprechende Gesichtszüge geschlossen haben. Daß Ptolemäus in Alexandria geboren sei, steht nicht bei Emir Abü’l Wafä, sondern ist Zusatz des Gerhard von Cremona. -Glaubwürdiger ist eine Angabe des byzantinischen Gelehrten Theo- dorus Meliteniota (um 1361), Ptolemäus stamme aus der Stadt Ptolemais Hermeiu. ‘ Wir haben es hier zunächst mit dem 9. Kapitel des I. Buches t, Da die anderen unter der Regierung des Antoninus gemachten Beobach- tungen den allerersten Jahren jener Regierung angehören, so mutmaßt Franz Boll, Studien über Klaudius Ptolemaeus (XXI. Supplementband von Fleckeisen und Masius Jahrb. f. class. Philol.) jene letzte Beobachtung gehöre nicht dem ıö—=14. sondern dem d—=4. Jahre an, sei also vom Jahre 141. °) B. Bon- compagni, Della vita e delle opere di Gherardo Oremonese etc. Roma 1851, pag. 16—17. ®) Bolll. ce. 8.58—63. 416 20. Kapitel. des Almagestes zu tun, dem wir die Berechnung einer Sehnentafel zu entnehmen haben!). Ptolemäus teilt den Kreisumfang in 360 Teile, runjuere, und jeden dieser Teile halbiert er zunächst nochmals. Ferner teilt er den Durchmesser des Kreises gleichfalls und zwar in 120 Teile, runiuere, setzt aber hier die Teilung sogleich sexagesimal fort. Die Unterabteilungen bringen 60 erste, 60 zweite Teile hervor, welche in den lateinischen Übersetzungen zu partes minutae primae und partes minutae secundae wurden, woraus andere Sprachen ihre Minuten und Sekunden hernahmen. Ein Neues hat Ptolemäus mit diesen Teilungen gewiß nicht gegeben. Wie die Gradeinteilung des Kreises über Geminus, über Hipparch bis auf Hypsikles in Alexandria ver- folgbar nach Babylon als Mutterland hinweist, so dürfte ähnliches für die Teilung des Kreishalbmessers nach sexagesimaler Grundzahl gelten müssen, die jedenfalls seinen alexandrinischen Vorgängern be- kannt gewesen sein wird. Das Verdienst des Ptolemäus liegt dagegen in seiner Sehnenberechnung selbst. Theon von Alexandria, der Kom- mentator des Almagestes, sagt uns ausdrücklich”), Hipparch habe die Lehre von den Sehnen in 12 Büchern und Menelaus in sechs Büchern abgehandelt, man müsse aber erstaunen, wie bequem Ptolemäus mit Hilfe weniger und leichter Sätze ihre Werte gefunden habe. Den Ausgangspunkt bildet der sogenannte ptolemäische Lehrsatz vom Sehnenviereck°’), daß das Produkt der Diagonalen der Summe der Produkte je zweier einander gegenüberliegender Seiten gleich sei, und neben diesem Satze die Kenntnis einiger ganz bestimmter Sehnen, nämlich der Seiten der regelmäßigen dem Kreise eingeschriebenen Dreiecke, Vierecke, Fünfecke, Sechsecke, Zehnecke als der Sehnen von Bögen von 120, von 90, von 72, von 60, von 36 Bogengraden jedes- mal in Teilen des Durchmessers, beziehungsweise des Halbmessers des Kreises dargestellt. Nun folgt aber aus den Sehnen zweier Bögen süle Sehne ihres Unterschiedes, aus der Sehne eines Bogens die Sehne des halb so großen Bogens, aus den Sehnen zweier Bögen .die Sehne ihrer. Summe. Die Beweise der betreffenden Sätze bestehen dem Sinne nach in folgendem. Aus (Fig. 67) «ß und «y soll ßy gefunden werden. Man zieht von « aus den Durchmesser «d, der also 120 Teile ent- hält und vollendet das Sehnenviereck «ßyö nebst seinen Diagonalen. Nun ist 76 = Y120? — ay?, B6 = V120? — aß?, ay - Bö = ad: By !, Ein vortrefflicher Auszug von L. Ideler unter dem Titel: „Ueber die Trigonometrie der Alten‘ in Zachs Monatlicher Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde (Juli 1812). Bd. XXVI, 3—38. °®) Theon Ale- xandrinus (ed. Halma) I, pag. 110. °) Almagest (ed. Halma) I, pag. 29. Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. 417 +aß-yö oder «y- V120? — aß?=120:By-+ aß: YV 120°? — &y?, woraus ßy gefunden werden kann. Soll ferner (Fig. 68) aus 8y die Sehne y6 des halb so großen Bogens ermittelt werden, so zieht man den Durchmesser «y, außer- dem «ß, «d, Bd, schneidet auf dem Durch- messer «&y das Stück ge = .«ß ab, zieht de i und endlich Ö& senkrecht zum Durchmesser N ay. Die Dreiecke Bad, e«d sind nun kon- al Sp gruent, weil die beiden gleichen in « ihre | ® gemeinschaftliche Spitze besitzenden Winkel in von gleichen Seiten gebildet werden. Dem- | gemäß sind auch die dritten Seiten gleich Bo = de, und da überdies Bd=d6y als ER Sehnen gleicher Bögen, so ist das Dreieck ösy gleichschenklig, und die Senkrechte 5 ö& auf dessen Grundlinie halbiert dieselbe, 2 rt Pe d.h. es ist Eee : ’ h. a —= 60 — = v120?— 8y?. Ferner sind die Fig. 68. beiden rechtwinkligen, einen spitzen Winkel gemeinschaftlich enthalten- den Dreiecke yö&, ya ähnlich, also $y:yO=yd:ay und yO?=ay-: &y —= 120 [60 — a V.120°? — ßy?], woraus endlich y8 sich ergibt. Die letzte Aufgabe ist die, (Fig. 69) aus den Sehnen «ß und ßy die Sehne «y zu finden. Zu diesem Zwecke werden die Durch- messer «0 und ße, außerdem Bd, Öy, ye und ds gezogen, welche letztere wegen der Kongruenz der Dreiecke «ß&, Öe£ der «ß gleich sein muß. Der auf das Sehnenviereck ßyds angewandte ptolemäische Lehrsatz liefert nunmehr ßd-ys= ßy:-d& + Be- yÖ Fig. 69. oder V120° — aß? . Y120° — By? = By: «aß + 120 - V120? < ap}, wodurch &y bestimmt ist. Zu den als bekannt vorausgesetzten Sehnen zurückkehrend erhält demnach Ptolemäus aus den Sehnen von 72° und von 60° die von 12°— 60° oder von 12°. Wiederholte Halbierung des Bogens lehrt 10 N. — , von — kennen. Ptole- alsdann die Sehne von 6°, von 3°, von 1 2, z mäus beabsichtigt aber die Sehnen der um je = Grad steigenden CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 27 418 20. Kapitel. Bögen in eine Tabelle zu vereinigen, er bedarf also dazu in erster Linie der Kenntnis der Sehne von 1°, und dazu verhilft ihm ein Ver- gleichungssatz von höchster Eleganz. Es seien (Fig. 70) zwei Bögen «ß, ßy desselben Kreises gegeben, deren letzterer größer als der erstere, und es seien die Sehnen der einzelnen Bögen sowie der Summe der beiden gezogen, wobei wir zur Unterscheidung der Bögen und Sehnen jene z. B. als arcus «ß, diese als chorda «ß oder als «ß schlechtweg bezeichnen wollen. Der Winkel bei ß werde durch die ßÖ halbiert; d« und y» 0y werden gezogen, auch Ö& senkrecht zu «7, und mit de d. h. mit der Entfernung des Punktes d vom Durchschnitte der ßd mit der «y als Halbmesser und mit ö als Mittelpunkt wird ein Kreisbogen beschrieben, der einesteils die d« andernteils die Ö&, selbst oder in ihrer Verlängerung, in 7 und 6 schneidet. Nach dem bekannten Satze von der Halbierung eines Dreieckswinkels ist @ß:ßy = as: ey, aber aß < By, also auch «ae < ey d.h. «se ist weniger als die Hälfte von «y, & fällt zwischen « und & und es ist demzufolge d« > de > df, woraus weiter folgt, daß 7 auf d« selbst, 9 auf der Verlängerung von 6% liegen muß. Dann ist aber der Kreissektor den kleimer als das Dreieck de«, und der Kreissektor 6:6 größer als das Dreieck ds£. Aus diesen Ver- gleichungen folgen die beiden anderen: Dreieck ds& _ Sektor 0:9 Dreieck des£& Dreieck Ös£ | Sektor den “ Sektor den " Sektor den Dreieck de«’ aus deren Verbindung hervorgeht, daß | Dreieck Ös£& Sektor 0:0 Dreieck ds« “ Sektor den Sektor 620 arcus 80 und Sektor den “ arcus en Fig. 70. Dreieck de£ Era Dreieck ds« s.w Aber Die gewonnene Ungleichung heißt also auch °° < ©, Wird beiderseits die gs« Varcus en Einheit hinzugefügt und alsdann verdoppelt, so entsteht @y _ 2 arcus nd E74 arcus en Nun vermindert man wieder beiderseits um die Einheit und gewinnt arcus 0e + arcus On y.: By damit ?° < — —— Da aber weiter @£ arcus ne ae aß und arcus Oe + arcus On Bogen von 1° mit denen von 1, und von -, verglichen, so er- 4 gibt sich chorda 1° = arcus 1° d chorda 143° arcus 15° chorda 3° ” arcus 2° UNE chorda 1° arcus 1° arcus 1° 4 arcus 14° 3 ’ ; Ab =; —- = _ und somit leicht arcus } 3’ arcus 1 2 2 10 4 30 ve chorda I < chorda 1° < = chorda ve Die beiden äußeren Werte heißen nun bis in den Sekunden überein- stimmend 1-2’°.50”, und somit wird mit einer Genauigkeit, welche die Sekunden noch zuverlässig erscheinen läßt, auch der dazwischen liegende Wert chorda 1°=1.2’.50” sein müssen. Jetzt ist die Sehne von 1° und die von 11- a folglich auch die Sehne von en be- kannt, und die Sehnen aller um je ae wachsenden Bögen von OÖ bis 180° einschließlich können gefunden werden. Sie alle hat Ptolemäus in seiner Sehnentafel vereinigt, größere Bögen ausschließend. Er tut dieses nicht etwa, weil die Sehne, die einen Bogen bespannt, der größer als der Halbkreis ist, zugleich auch zu einem anderen kleineren Bogen gehört, der den ersten zu einem ganzen Kreise ergänzt, sondern weil Bögen, die größer als der Halb- kreis sind, bei ihm überhaupt nicht vorkommen. Wenigstens führt er diesen letzten Grund ausdrücklich an?), während wir den erst- genannten nicht bei ihm finden. Für die Auffindung der Sehnen von Bögen, welche zwischen zwei in der Tabelle befindlichen ent- halten sind, sorgt eine weitere Kolumne der Proportionalteile oder, ') Dem Gedächtnisse kann man diesen Satz des Ptolemäus besser in der fast in die Sinne fallenden, bei Ptolemäus jedoch nicht vorkommenden Form einprägen, daß der Quotient des größeren Bogens durch seine Sehne größer sei als der Quotient des kleineren Bogens durch seine Sehne. ®) v.Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie I, 8, Note 1. °) Almagest |, 11 (ed. Halma) Il, pag. 51: xal Emil zav Eins dE Aaußavousvov megıpegsi®v TO Öuoov draxoveodo (Sc. £Ld60ov« elvaı Nurnvxhlov). 27° 420 20. Kapitel. wie Ptolemäus sagt, der Sechzigstel, &$nxoor@v, indem angenommen wird, daß die Veränderung der Sehnen der Bögen innerhalb der . 1 0 1 0 4 ’ tabellarischen Angabe von „ zu „ oder von 30° zu 30° der Ver- änderung der Bögen proportional sei. So steht beispielsweise neben dem Bogen 20° 0° die Chorde 20.50.16, neben dem Bogen 20° 30’ die Chorde 21.21.12. Der Zunahme des Bogens um 30 entspricht eine Zunahme der Chorde um 0.30.56, und findet diese im Ver- hältnisse der Bogenzunahme statt, so ist der mittlere Zuwachs der Chorde 0.1.1.52 für jede Minute, um welche der Bogen zwischen 20° und 20° 30° zunimmt. Diese Zahl 0.1.1.52 steht denn auch in der dritten Kolumne neben den Zahlen 20.0 der ersten, 20.50.16 der zweiten Kolumne. Ein Beweis für diese angenommene Propor- tionalität in engem Bereiche ist dagegen nicht vorhanden‘). War das 9. Kapitel der Entwerfung der Sehnentafel gewidmet, so ist im 11. Kapitel die Trigonometrie, und zwar hauptsächlich die sphärische Trigonometrie enthalten, sich aufbauend auf den Sätzen des Menelaus, die hier ohne Quellenangabe vorkommen’), so daß man sie lange für Erfindungen des Ptolemäus hielt, bis im XVL. S. Pater Mersenne sie ihrem Urheber zurückerstattete?). Der Hauptsatz der ebenen Trigonometrie, daß im Dreiecke zwei Seiten sich ver- halten wie die Sehnen der doppelten Bögen, welche die den Seiten gegenüberliegenden Winkel messen, ist allerdings nicht deutlich aus- gesprochen, sondern nur in anderen Sätzen inhaltlich mit enthalten. Vollständiger sind die Sätze der sphärischen Trigonometrie an- gegeben. Dem Wortlaute, aber nicht dem Gedanken nach moderni- siert lautet seine Darstellung etwa folgendermaßen‘). Wenn Ptole- mäus (Fig. 71) das bei H rechtwinklige Drei- eck AHB berechnen will, so konstruiert er den Pol P von AH, dann den zu A als Pol gehörigen Äquator PB’H’, der in B’, H’ die verlängerten Seiten AB, AH schneidet. Somit wird BH’=« und alle in der Figur vor- kommenden Bögen lassen sich durch a, b, h, « und deren Komplemente ausdrücken. Nun kann der Satz des Menelaus viermal angewandt ', Ideler l. c. 23 hat die Richtigkeit der ptolemäischen Zahlen geprüft und hat gefunden, daß sie auf fünf Dezimalstellen genau sind. °) Almagest (ed. Halma) I, pag. 50 der Satz für das ebene Dreieck, pag. 55 der Satz für das sphärische Dreieck. °) Vgl. Chasles, Apercu hist. 293, Deutsch 289. Chasles selbst ist geneigt, die Sätze auch dem Menelaus wieder abzusprechen und hält Euklid für den Erfinder, in dessen Porismen sie vorgekommen seien. #, Wir entnehmen diese Zusammenfassung fast wörtlich aus Hankel S. 285— 286, Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. 421 werden, nämlich auf die Dreiecke ABH, PBB', PHH', AB'H”. Die zugehörigen Transversalen sind in gleicher Ordnung PB’H’, AHH', B’BA, PBH, und die Anwendung des Satzes von den sechs Größen liefert die vier Gleichungen: 1. cos h= cosa - cosb oder cosh = cosa - cosb 2. sın «= sin« - sınh oder ssna=sinh-sin« 3. cosa-sinb-sin«e=cos«a-sina odertnga= sinb-tng« 4. sinb- cosh= cosb- cos«e:sinh odertngb = cos« - tngh. Die Beweise hat Ptolemäus nicht immer gegeben und die Kommen- tatoren haben nicht unterlassen, hier die sehr nötigen Ergänzungen eintreten zu lassen!). Die Trigonometrie als Kapitel des I. Buches des Almagestes be- handelt, entspricht vollständig dem, was wir (8.412) schon andeuteten. Die Trigonometrie ist wesentlich zu astronomischen Zwecken ent- standen, so daß die sphärische Trigonometrie notwendiger und dem- zufolge auch früher ausgebildet war als die ebene Trigonometrie. Eine ebene Trigonometrie im Dienste der theoretischen Planimetrie ist dem Altertume ebenso fremd wie eine solche im Dienste feld- messerischer Untersuchungen, wenn man von der einzigen Ausnahme der Zahlenformeln Herons für den Flächeninhalt regelmäßiger Viel- ecke absieht. Die Tatsache mag uns beim ersten Anblicke auffallen, eine Erklärung derselben scheint nicht schwer zu sein. Trigono- metrische Ausdrücke als Durchgangspunkte, von welchen man wieder zu anderen Größengattungen gelangen will, sind nicht denkbar, so lange noch keine ausgebildete Zeichensprache der Mathematik vor- handen ist. Bis dahin liefern trigonometrische Ausdrücke mit Hilfe von Sehnentafeln in Zahlen umgesetzt nur näherungsweise richtige Ergebnisse. Der wissenschaftliche Geometer war aber abgeneigt, sich mit einer bloßen Annäherung, und sei sie noch so nahe, zufrieden zu geben. Der unwissenschaftliche Feldmesser war abgeneigt, das Wissen sich zu erwerben, welches zur Erlernung des trigonometrischen Rechnens unerläßlich war. So überließen beide die mißachteten oder gescheuten Verfahrungsweisen der Trigonometrie dem Astronomen, der weniger heikel als der eine, weniger denkfaul als der andere der guten Ergebnisse dieser Nährungsmethoden sich freute und bediente. Gehören die übrigen Bücher des Almagestes der Geschichte der Astronomie an?), und ist für uns höchstens noch ein Wert von Anmerkung, da wir es kaum für möglich halten, eine bündigere und übersicht- lichere Darstellung zu liefern. ') Theon Alexandrinus (ed. Halma)I,pag. 243sqq. ?) Wolf, Geschichte d. Astronomie 8.61—63, eine sehr hübsche Übersicht über den Inhalt des Almagestes. 422 20. Kapitel. x—-3-8.30dh.-32.0.—3,, — 3.141666... bemerkenswert'), so hat die Entwicklungsgeschichte der Mathematik den Namen des Ptolemäus noch wegen anderer Werke aufzubewahren, die teilweise wieder für sie und für andere Disziplinen ein gemeinsames Interesse besitzen, teilweise rein mathematisch sind. Wir reden hier zuerst von der mathematischen Geographie des Ptolemäus?). Wir erinnern uns, daß Hipparch (8. 362) die Punkte der Erde durch Koordinaten der Länge und Breite bestimmte. Er ging von dem Meridiane von Rhodos als Anfang für die Längen aus. Marinus von Tyrus im ersten Jahrhundert n. Chr. dürfte den Anfangsmeridian nach den kanarischen Inseln verlegt haben, dem damals äußersten nach Westen gelegenen bekannten Punkte?). Ptole- mäus folgte auf Marinus und fußt in vielen Dingen auf dessen Unter- suchungen, in andern ihn tadelnd und verbessernd. Auch ihm heißen die Ausdehnungen von Ost nach West und von Nord nach Süd Länge, ufxog, und Breite, wAdrog, weil die Erde, wie jedermann zu- gestehe, mehr Ausdehnung in der ersten als in der zweiten Abmessung besitze, und Länge eben die größere Abmessung (S. 395) bezeichne). So hat sich also das Koordinatenbewußtsein in seiner geographischen Anwendung fortwährend erhalten. Ptolemäus ging aber vielleicht in dem Bewußtsein, daß man auf gewisse Grundrichtungen sich beziehen müsse, noch weiter. Wir denken dabei an eine Notiz, welche wir Simplicius, dem bekannten Erklärer des Aristoteles, schulden. In den Erläuterungen zum I. Buche vom Himmel berichtet er, Ptolemäus habe über die Aus- dehnungen, zegi dıaordoswov, geschrieben und dort gezeigt, dab nur drei Ausdehnungen eines Körpers möglich seien. Bei der Un- bestimmtheit dieser Angabe müssen wir allerdings dahingestellt sein lassen, ob man glauben will, es seien in jener Schrift Gedanken ent- halten gewesen, welche dem Begriffe von Raumkoordinaten nahe kommen. | Wieder an Hipparch sich anlehnend, lehrt Ptolemäus in der ı) Almagest VI, 7 (ed. Halma). Ptolemäus sagt ausdrücklich, dieser ’ Ä , . 1 Wert liege nahezu in der Mitte — usra&b Eorıv Eyyıor« — zwischen 3 7 und : b 1 ; + 10 3. In der Tat ist sexagesimal ausgedrückt 37 — 308’ 34,28” und 3 71 ‘ a 4 ‚ „ .. 17 — 30 8' 27,04’, und deren arithmetisches Mittel ist 3° 8° 30,66”, während 950 wie in unserem Texte angegeben ist 3° 8’ 30” beträgt. ?°) Traite de Geographie de Claude Ptolemee d’Alexandrie (ed. Halma). Paris 1828. °) Wolf, Geschichte der Astronomie S. 153. *) Ptolemee, Geographie (ed. Halma) pag. 17. (Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus. 423 Geographie die Anfertigung von Landkarten, und das 24. Kapitel des I. Buches!) ist wohl das älteste erhaltene Schriftstück, welches in seiner Überschrift als der Abbildung der bewohnten Erde auf einer Ebene gewidmet bezeichnet ist, so daß die Maße der Lagen- verhältnisse auf der Kugel beibehalten werden sollen. Verschiedene Projektionsmethoden werden hier gelehrt, mit welchen Ptolemäus sich auch in einer anderen Schrift, dem Planisphaerium, beschäftigt hat?). Ptolemäus benutzt vorzüglich die Projektion, bei welcher das Auge als im Pole befindlich gedacht wird und die Äquatorialebene die Zeichnungsebene bildet, die Projektion also, welcher Aiguillon 1613 den Namen der stereographischen beigelegt hat. Wieder eine andere Abhandlung ist das Analemma, das griechisch in nicht unbedeutenden Bruchstücken und lateinisch in einer im XII. Jahr- hunderte angefertigten Übersetzung vollständig erhalten ist?). Es handelt sich darum, den Ort der Sonne zu einer bestimmten Tages- zeit zu ermitteln, und diese Aufgabe wird graphisch gelöst. Was nun die praktische Benutzung der durch Zeichnung erhaltenen Figur betrifft, so geht aus dem Wortlaute des Ptolemäus hervor, daß er die beiden Möglichkeiten unmittelbarer und mittelbarer Winkelmessung kannte und ausübte. Zu der ersten diente ein in 90 Grade geteilter Kreisquadrant, zu der zweiten die Sehnentafel. Man hat darauf auf- merksam gemacht, daß die Figur selbst die Hälfte der Sehne des doppelten Winkels als meßbare Strecke darbot, daß also die Be- nutzung der Sehnentafel erst eine Verdoppelung einer Strecke, dann eine Halbierung eines Winkels verlangte, während diese Hilfsrech- nungen inWegfall kamen, wenn man das kannte, was in späterer Zeit und auf anderem Boden Sinustafeln genannt wurde. Schriften des Ptolemäus über die Harmonielehre, d. h. über die Verhältnisse, welche, wie man heute sagen würde, zwischen den Schwingungszahlen der einzelnen Töne stattfinden, und über Optik ®) begnügen wir uns zu nennen, da sie der Geschichte der Mathematik nicht angehören. Von Arbeiten über Mechanik wissen wir nur über- haupt, daß sie vorhanden waren; Pappus erwähnt ihrer in seinem ') Ptolemee, Geographie (ed. Halma) pag. 59. °) Diese Abhandlung hat Commandinus 1558 übersetzt und herausgegeben. °) Heiberg, Ptolemaeus de analemmate in den Abhandlungen z. Gesch. d. Mathem. VII, 1—30 (1895) hat die griechischen Bruchstücke und die alte Übersetzung herausgegeben. Über den Inhalt vgl. A.v.Braunmühl, Vorlesungen über Gesch. der Trigonometrie I, 11—14 (1900) und die wenig spätere Abhandlung von Zeuthen, Note sur la trigonometrie de V’antiquite in der Bibliotheca Mathematica, 3. Folge, I, 20—27 (1900). *) Vgl. Poudra, Histoire de la perspective. Paris 1864, pag. 28—32. Eine früher als Ptolemäus, De speculis bezeichnete Katoptrik ist nicht von Ptolemäus, sondern von Heron. SS. Agrimensoren 18—19. 494 20. Kapitel. VIII. Buche, Eutokius in seinen Erläuterungen zu der archimedi- schen Schrift über das Gleichgewicht. Vielleicht hatte Ptolemäus auch einen Sohn, der ein mechanisches Werk verfaßte, in welchem die ungleicharmige Wage mit Laufgewicht beschrieben war. Jener Sohn, so vermutet man), hieß Charistion und gab der von ihm erläuterten Wage seinen Namen. Dagegen hat uns Proklus Auszüge aus einem reingeometrischen Buche des Ptolemäus überliefert?), welche verdienen, daß wir bei ihnen verweilen. Aus diesen Auszügen geht hervor, daß Ptolemäus jedenfalls der erste Mathematiker war, von welchem bekannt ge- worden ist, daß er das sogenannte 11. Axiom des Euklid nicht als selbstverständlich betrachtet wissen wollte, daß er die zahllose Reihe derer eröffnet hat, welche durch Versuche die Parallelentheorie zu beweisen vergeblich sich abmühten, bis im XIX. S. der unendlich viel kühnere Versuch auftauchte, die Parallelentheorie als anfechtbar zu erklären und eine Geometrie zu schaffen, welche von ihr absehend als nieht-euklidische oder absolute Geometrie Geltung beansprucht. Ptolemäus beweist zunächst, daß Gerade, welche durch eine Trans- versale so geschnitten werden, daß die Winkel auf derselben Seite der Transversalen und auf entgegengesetzten Seiten der Geschnittenen sich zu zwei Rechten ergänzen, parallel sein müssen, d. h. sich nicht treffen (Fig. 72). Gesetzt «ß und yd schnitten sich in x, während die Winkel ß&n und dn& sich zu 4% zwei Rechten ergänzen. Wegen /e des Satzes über Nebenwinkel werden 7 = auch die Winkel «&n und yn& ER f 0 % sich zu zwei Rechten ergänzen, F 7 d und folglich wird auch auf der Seite, wo « und y steht, ein Durch- schnitt der beiden Geraden in 4 Fig. 72. stattfinden. Die Geraden «ß und yö schneiden sich also zweimal in x und A, ohne zusammenzufallen, d. h. sie schließen einen Raum ein, was nicht möglich ist. So wenig gegen diesen Beweis sich einwenden läßt, so wenig zutreffend ist der Beweis, den Ptolemäus von dem umgekehrten Satze liefert, daß bei wirklich vorausgesetztem Parallelismus die entsprechenden Winkel auf derselben Seite der Transversalen sich zu zwei Rechten ergänzen müssen. Die beiden ') P. Duhem, Les origines de la statique I, 86—87. ?) Proklus (ed. Friedlein) 362—8368. Vgl. L. Majer, Proklos über die Petita und Axiomata bei Euklid. Tübingen, Gymnasialprogramm 1875. RS a ER re Geometrie und Trigonometrie bis zu Ptolemäus 4925 «& und yn, sagt er nämlich, sind nicht weniger parallel als die &ß und nd. Wäre also die Summe der Winkel ß&n und ön& mehr oder weniger als zwei Rechte, so müßte genau das Gleiche für die Summe der Winkel @&n und yn& gelten. Die vier Winkel zusammen müßten also, sei es nun mehr, sei es weniger als vier Rechte betragen, während sie als zwei Paar Nebenwinkel genau vier Rechten gleich sind. Wie Ptolemäus die euklidischen Elemente in der Theorie der Parallellinien für ergänzungsbedürftig hielt, so scheint es damals auch mit anderen Büchern des darum nicht minder bewunderten Werkes gegangen zu sein. Wir bringen in Erinnerung (S. 348), daß im II. S. der byzantinische Astronom Vettius Valens einen aus 2 Büchern bestehenden Kommentar zum X. Buche der euklidischen Elemente verfaßte, dessen arabische Übersetzung sich möglicherweise erhalten hat. Die Schriftsteller, mit welchen wir in diesem Kapitel bekannt geworden sind, zeigen uns eine gewisse Gleichartigkeit unter sich und mit denjenigen, welche in dem 17. Kapitel besprochen wurden. Wieder haben wir es mit Geometern zu tun, welche der Kurven- lehre ihre Aufmerksamkeit zuwandten, welche die Stereometrie aus- bildeten, von allen Körpern hauptsächlich die Kugel beachtend, welche der rechnenden Geometrie die Vollendung zur Trigonometrie gaben, indem sie gewisse Linien berechneten und tabellarisch zusammen- stellten, welche zu gewissen Winkeln gehörten. Die Sehnentabelle ist — wir können uns nicht versagen, unsere Augen so weit nach rückwärts zu werfen — die für lange Zeit letzte Entwicklung eines alten Keimes. Das Segt genannte Verhältnis des Ahmes wuchs dazu heran, und es scheint fast, als ob die ganze, Entwicklung auf ägyp- tischem Boden vor sich ging. Ist aber eine Art von Gemeinsamkeit der Mathematiker von Nikomedes und Diokles bis auf Menelaus und Ptolemäus, von 200 v. Chr. bis 150 n. Chr. nicht zu verkennen, so ist es nicht minder notwendig, auf allgemeine kulturhistorische Veränderungen hinzu- weisen, welche innerhalb dieser Zeit eintraten, und welche nunmehr beginnen werden auf dem Gebiete, welches wir zu unserem Arbeits- felde ausgewählt haben, sich deutlich bemerkbar zu machen. In der Einleitung zum 12. Kapitel haben wir (8. 259) die alexandrinische Literaturperiode ihrem allgemeinen Charakter nach kurz umrissen. Wir haben als untere Grenze derselben die Einverleibung Alexandrias in das römische Reich bezeichnet in der Mitte des ersten vorchrist- lichen Jahrhunderts. Über diese Grenze hat uns das hier ab- schließende Kapitel hinübergeführt und noch über eine andere von weltgeschichtlich größter Bedeutung. Geminus 77 v. Chr., Ptolemäus 426 21. Kapitel. 150 n. Chr. bilden Anfang und Schluß unseres Kapitels. Müssen wir erst sagen, was zwischen beiden Jahreszahlen liegt? Und dennoch war die Entstehung des Christentums für die Geschichte unserer Wissenschaft ein zunächst fast nebensächliches Ereignis, weit gering- fügiger in seinen unmittelbaren Einwirkungen als jene Machtver- schiebung, die wir schon andeuteten. Rom kommt in den feld- messerischen Beispielen des Heron, in den astronomischen Beobach- tungen des Geminus vor. Auch Menelaus beobachtete in Rom. Ptolemäus entnahm seine Datierungen den Regierungsjahren römischer Kaiser. Daran erkennen wir äußerlich, daß neue staatliche Kombina- tionen innerhalb des Lebens gerade der Männer sich gebildet haben, welche wir in diesem Kapitel friedlich nacheinander betrachteten. Solche weltgeschichtliche Tatsachen dürfen auch ın der historischen Darstellung einer Wissenschaft nicht mit Schweigen übergangen werden. Die Entwicklung der Wissenschaft knüpft sich an die Träger der Wissenschaft, die Träger der Wissenschaft gehören als Menschen ihrer Zeit an. Deutlicher oder in verwischteren Spuren wird die Zeit auch in der Wissenschaft zu erkennen sein. Überblicken wir darum in raschestem Fluge die allgemeinen Verhältnisse. Wir gelangen damit zugleich zu denjenigen mathematischen Dingen, deren Erörterung uns der Zeit nach etwas zurückgreifend nunmehr obliegt. 21. Kapitel. An EA ed Arithmetiker. Nikomachus. Theon. Rom hatte nach and nach in Italien das unbestrittene Über- gewicht über die Mitbewohner des Landes südlich von den Alpen errungen. Der Tod des Archimed knüpft sich für uns an die Er- oberung von Syrakus, das Todesjahr des Apollonius war es ungefähr, in welchem Rom mit Mazedonien handgemein wurde und den Sieg bei Kynoskephalä erfocht. Zehn Jahre später und der syrische Krieg gegen Antiochus den Großen war geschlagen. Die seegeübten Be- wohner der Insel Rhodos wie die Krieger von Pergamum waren den Römern zur Seite gestanden und fühlten von jetzt an den Einfluß der mächtigen Weltbefreier, wie man die Römer noch nannte. Deut- licher wurde das Streben des die Stellung als Weltmacht sich er- obernden Staates, als um 150 die Nebenbuhlerschaft Karthagos ver- nichtet ward, und mehr und mehr drängte sich in dem nun folgenden Jahrhunderte römischer Wille den orientalischen Ländern mit Ein- schluß Ägyptens auf. Gegen Ägypten selbst führte Cäsar im Jahre 47 Neupythagoräische Arithmetiker. Nikomachus. Theon. 427 seine Truppen zum alexandrinischen Kriege, und der Eroberung der Stadt leuchtete mit bildungsfeindlicher Flamme der Brand des Brucheion. | Wir haben von dem großartigen Sammeleifer der ersten Ptole- mäer gesprochen. Ihnen fast voraus war die Gier, mit welcher König Attalus von Pergamum Bücher sich zu verschaffen suchte, und diese Wettbewerbung soll die Ursache nachweisbar vorgekommener Fäl- schungen gewesen sein. Im Il. vorchristlichen Jahrhunderte tauchten plötzlich Schriften auf, von welchen der sein sollende alte Verfasser nie eine Ahnung gehabt hatte, und welche wissenschaftlich nur so weit Verwertung finden können, als sie den Beweis liefern, daß man im H. S. mit den Dingen bekannt war, die den Inhalt derselben bilden. Durch Ankäufe echter und unterschobener Schriften wuchs die alexandrinische Bibliothek so, daß sie in einem Gebäude nicht mehr Platz fand. Nachdem das Brucheion in der Nähe des Hafens angefüllt war, legte man eine zweite Sammlung im Tempel des Serapis an. Jene erste Hauptsammlung war es, die der Feuersbrunst zum Opfer fiel, die mit mehr als 400000 Bänden das vernichtende Element nährte. Das war ein harter Schlag für die Wissenschaft und deren alexandrinische Vertreter. Bis zu einem gewissen Grade wurde zwar Ersatz geboten. Der römerfreundliche König von Pergamum, Atta- lus III, hatte sterbend im Jahre 133 v. Chr. den römischen Senat zum Erben seiner Schätze eingesetzt, und Antonius überließ die per- gamenische Büchersammlung der Stadt, welche durch die Reize Kleo- patras an ihm einen Gönner gewonnen hatte. So war aufs neue eine großartige Bibliothek, jetzt: im Serapeion, vereinigt. War die grammatische Tätigkeit, welche wir bei unserem früheren Berühren der alexandrinischen Wissenschaft als im Museum vorzugsweise neben und wohl vor der Mathematik gepflegt nannten, eine solche, die als Stoff ihrer Untersuchung ältere Schriften verwerten mußte, so mag jetzt, nachdem man gesehen, wie ein Unglücksfall unschätzbar vieles zerstört hatte, mehr noch als zuvor eine Neigung erwacht sein, durch Erläuterungen und Zusammenstellungen die alte Wissenschaft in Sicherheit zu bringen. Andere Momente waren gleichfalls vorhanden, anderen Beweggründen entstammend, aber für unsere Zwecke mit der kommentierenden Tätigkeit zusammenfallend. Alexandria war der Ort, wo Hellenentum, wo Ägyptisches, wo aber auch Asiatisches sich begegneten. Assyrer, Inder, Hebräer trafen dort ein, ihre ältere oder jüngere Bildung mit sich bringend, austauschend, ergänzend. Was bei einem solchen Zusammenströmen Weitgereister einzutreffen pflegt, fehlte auch hier nicht. Der Wissens- 428 | 21. Kapitel. durst schöpfte mit notwendigem Eklektizismus bald da, bald dort; das Wunderbarste übte die größte Anziehung; man fühlte sich ver- sucht, selbst nach jenen Gegenden, dem Schauplatze märchenhafter Erzählungen, aufzubrechen; man gewann aber auch neues Interesse an solchen, die ehedem gleiche Reisen ausgeführt hatten, denen man zu den wirklich erlebten Abenteuern neue hinzudichtete Die Phan- tasie gewann das Übergewicht über den nüchtern denkenden Ver- stand. Die Dialektik des Aristoteles entsprach den Neigungen nicht mehr in dem Maße wie Platons die Einbildungskraft anregende und voraussetzende Schriften. Platon als Schriftsteller, Pythagoras als Persönlichkeit zu verehren wurde allgemeiner und allgemeiner. Ein gewisser mystischer Pythagoräismus, von Wissenschaft freilich weit entfernt, war nie gänzlich verschollen. Er erholte sich zu neuem, kräftigem Leben. Die neue Akademie bildete sich heran, die Neu- pythagoräer entstanden. Sie studierten, sie erläuterten Platon im pythagoräischen Sinne, soweit derselbe zu ermitteln war. So kamen selbstverständlich auch diejenigen mathematischen Forschungen wieder in eifrigere Übung, welche schon vorher vor- handen gegen die Geometrie zurückgetreten waren, wenn auch ein Verschwinden derselben nicht behauptet werden kann. Die pytha- goräische Arithmetik wurde jetzt Mode in dem Sinne, wie wir dieses Wort schon einmal (S. 259) gebraucht haben. Männer wie Niko- machus, wie Theon standen auf. Nikomachus war in Gerasa zu Hause, einem Orte, der wahr- scheinlich in Arabien zu suchen ist!. Er nennt in einer musika- lischen Abhandlung Thrasyllus, womit jedenfalls der unter der Regierung des Tiberius lebende Platoniker aus Mende gemeint ist, er kann also nicht früher als etwa 30 n. Chr. geschrieben haben. Ihn übersetzte Appuleius von Madaura unter den Antoninen ins Lateinische’), und damit ist als untere Grenze das Jahr 150 etwa gewonnen. Gemeiniglich setzt man Nikomachus von Gerasa auf einen mittleren Zeitpunkt zwischen diese Grenzen, um das Jahr 100 n. Chr., denkt ihn also etwa als Zeitgenossen des Menelaus von Alexandria. Nikomachus war als Pythagoräer bekannt?), als Arithmetiker berühmt. Neben der Tatsache einer Übersetzung so kurz nach dem Erscheinen des Werkes, wie die des Appuleius, ist der Ausspruch des Lucian dafür bemerkenswert, der um 160 etwa einen Rechner nicht ') Die Stellen, welche diese Annahme unterstützen, vgl. bei Nesselmann, Die Algebra der Griechen $. 189, Note 33. ?) So berichtet Cassiodorius. Die Übersetzung selbst ist verloren. ®) Pappus III, 18 (ed. Hultsch) pag. 81 Nixo- ueyog 6 Ilvdayogınös. . Neupythagoräische Arithmetiker. Nikomachus. Theon. 429 besser zu kennzeichnen wußte als mit den Worten, er rechne wie Niko- machus von Gerasa!), und auch von Kommentaren zu den Büchern des Nikomachus, welche deren große Berühmtheit verbürgen, werden wir weiter unten zu reden haben. Die musikalischen Schriften des Nikomachus werden wir nicht zu betrachten haben, so wenig. wir andere Musiker in das Bereich unserer Besprechung ziehen. Uns kümmert ın erster Linie nur die „Einleitung in die Arithmetik in zwei Büchern“?), zisayoyn «oıduntıxn, eben jenes von Appuleius bald übersetzte Werk, dessen geschichtliche Stellung wir zu erörtern haben. Ein Schriftsteller aus dem Anfange des VII. S., Isidorus von Sevilla, hat behauptet, Nikomachus habe weitläufiger auseinandergesetzt, was Pythagoras über die Zahlenlehre schrieb’). Wir sind weit entfernt, an die über- treibungslose Wahrheit dieser Aussage zu glauben, allein eben so ge- wiß scheint uns, daß von dem Inhalte der Einleitung iu die Arith- metik vieles auf ältere und älteste Quellen zurückzuführen sein wird. Nikomachus ist uns auf arithmetischem Gebiete das, was uns Euklid, was uns Heron für die Elemente der theoretischen, der praktischen Geometrie gewesen ist. Er ist der erste Schriftsteller, von dem wir wissen, daß er die arithmetischen Lehren als solche zu einem Lehr- körper zusammenstellte. Euklid hatte auch Arithmetisches behandelt, aber als Einschaltung zwischen geometrische Untersuchungen und in geometrischer Einkleidung. Was Herons Einleitung in die arithme- tischen Elemente war, wissen wir nicht. Alle Zweifel schwinden bei Nikomachus. Er hat die Zahlenlehre für sich behandelt, und wenn er auch schon vorhandenen Stoff sicherlich nicht verschmähte, wenn er ebenso auch die Gewohnheit griechischer Mathematiker nicht so weit abzustreifen vermochte, daß er geometrische Begriffe gänzlich aus seiner Darstellung verbannte, er hat doch nicht fortwährend mit Linien. oder höchstens beiläufig mit Zahlen zu tun. Er ist, wenn wir so sagen dürfen, der Elementenschreiber griechischer Arithmetik. Er hat eine Liebhaberei, von welcher wir unsere Leser in Kenntnis setzen müssen. Er sucht so viel als möglich nach Dreiteilungen, auch wo dieselben nur mit einem gewissen Zwange erlangt werden können. Die an sich gerechte Bemängelung, die manchen seiner Ein- ') dgıdussıs ag Nixöuayog 6 T’eg«onvög. ?) Schon 1538 in Paris gedruckt, ist sie 1817 zugleich mit dem anonymen Buche #soloyodusva zig dedunrınng durch Ast herausgegeben, dann 1866 durch Hoche. Wir zitieren nach letzterer Ausgabe. °) Isidorus Hispaliensis, Origines II, 2: Numeri diseiplinam apud Gruecos Pythagoram autumant conseripsisse ae deinde a Nicomacho diffusius esse dispositam, quam apud Latinos primus Appuleius deinde Boethius trans- tulerunt. 430 21. Kapitel. teilungen geworden ist, mußte stets an diese Tatsache anknüpfen), eine Tatsache freilich, deren nähere Besprechung durchaus der .Ge- schichte der Philosophie und der Theologie angehört, welche mit dem Ursprunge und der Entwicklung des Trinitätsbegriffes sich abzufinden haben. Nach dieser Vorbemerkung berichten wir in aller Kürze über die Einleitung in die Arithmetik?). Unsere Leser werden, auch ohne daß wir sie besonders aufmerksam machen, ohne Zweifel vieles er- kennen, was wir in früheren Kapiteln dem Werke des Nikomachus entlehnten, um es für Pythagoras und seine Schule bis auf Platon und dessen nächste Nachfolger in Anspruch zu nehmen. Die Zahlen sind nach Nikomachus- gerade und ungerade, jede selbst von drei verschiedenen Gattungen. Die geraden Zahlen sind nämlich 1. gerademalgerad, doridxıg &grioı, d. h. führen durch fort- währende Halbierung auf die Einheit zurück; oder sie sind 2. gerade- ungerad, dgrıozeorrro:, d. h. führen durch einmalige Halbierung auf eine ungerade Zahl; oder sie sind 3. ungeradegerad, zeoı00derıoı, d.h. führen durch mehrmals fortgesetzte Halbierung auf eine ungerade Zahl. Die ungeraden Zahlen sind 1. unzusammengesetzte Primzahlen, 2. zusammengesetzte Sekundärzahlen, 3. unter sich teilerfremde Zahlen. Unter den geraden Zahlen wird eine neue Gruppierung in 1. voll- kommene, 2. überschießende, 3. mangelhafte Zahlen vorgenommen. Die vier ersten vollkommenen Zahlen sind 6, 28,496, 8128, jedesmal eine unter den Einern, Zehnern, Hundertern, Tausendern, abwechselnd mit 6 und 8 schließend?). Die euklidische Entstehung der vollkommenen Zahlen wird dann erörtert, welche ins Unendliche fortgesetzt werden könne*), oder soweit man mit den Ausrechnungen zu folgen imstande sei’. Von zwei gemeinsam betrachteten Zahlen ist die größere entweder ein Vielfaches der kleineren, die alsdann selbst Unterviel- faches der größeren ist, oder nicht. Im letzteren Falle werden die Namen angegeben, welche jedesmal der größeren, beziehungsweise der kleineren gegenüber von der anderen beigelegt werden, Namen, die jedes beliebige Verhältnis ausdrücken können, die aber ganz be- sondere, später auch in die lateinische Sprache übergegangene Formen erhalten, wenn, das Verhältnis wie 1 zu n+ eo; oder wie 1 zu n + Fe ist, wo n sowohl als m ganze Zahlen bedeuten, die min- ') So Nesselmann, Algebra der Griechen S. 195: ‚„‚Nikomachus hätte sicherlich diesen Fehler nicht begangen, wenn er nicht der Analogie wegen durchaus drei Teile hätte herausbringen wollen.“ ?) Ein ausführlicher Auszug bei Nesselmann |. e. S. 191—216. °) Nieomachi Introductio ete. (ed. Hoche) pag.40. *) Ebenda pag. 41 lin. 18 ueygıs dreipov. °) Ebenda pag. 43 lin. 18 bis 19 del Övrwg, ueyoıg &v ebrovi) rıg nagenechaı. Neupythagoräische Arithmetiker. Nikomachus. Theon. 431 destens der Einheit gleich sind. Um die Sache recht klar zu machen, bedient sich Nikomachus einer schachbrettartig aus 100 Feldern be- stehenden Tafel!). Die erste Horizontalzeile enthält einfach die Zahlen 1 bis 10, die zweite die Doppelten derselben, 2, 4 bis 20, ‚ die dritte die Dreifachen, 3, 6 bis 30 und so fort; endlich die zehnte Horizontalzeile enthält die Zehnfachen jener Zahlen oder 10, 20 bis 100. Sieht man die Tafel als aus zehn Vertikalkolumnen bestehend an, so gleicht jede Vertikalkolumne ganz genau und Zahl für Zahl der ent- sprechend bezifferten Horizontalzeile, die erste der ersten, die zweite der zweiten, die zehnte der zehnten. Wir halten uns bei dieser Be- schreibung etwas länger auf, weil die Benutzbarkeit der Tafel als Einmaleinstabelle einleuchtet. Das Produkt zweier einziffriger Zahlen steht an der Kreuzungsstelle der durch die beiden Faktoren bezifferten Zeile und Kolumne. Außerdem stehen zwei Zahlen der- selben Kolumne je in dem gleichen Verhältnisse wie die ihre Zeile eröffnenden Zahlen. Alle diese verschiedenen Verhältnisse lassen sich aber aus einer Terne von Einheiten durch eine gewisse Reihenfolge von Verbindungen hervorbringen, welche symbolisch geschrieben darauf hinauslaufen, daß aus den drei Zahlen a, b, c die drei neuen Zahlen a,a +b,a+ 2b-+ c gebildet werden sollen, ein Bildungsgesetz, welches der moderne Mathematiker mit einigem Staunen als das gleiche erkennen wird, das anderthalb Jahrtausende später zu den Größen #, 2 +42, 2 +241x+ 4°x führte. Der Reihe nach er- hält man: ee 1, 2, 4 oder die Verdoppelungen, 1, 3, 9 oder die Verdreifachungen, 1, 4, 16 oder die Vervierfachungen, usw. Schreibt man eine dieser Reihen z. B. die der Verdoppelungen rückläufig 4, 2, 1, d. h. benutzt man bei gleichem Bildungsgesetze wie oben a=4,b=2,c=1, so entsteht als neue Reihe 4, 6, 9 oder die Veranderthalbfachungen usw. Im zweiten Buche ist die Lehre von den figurierten Zahlen und daran sich anschließend die von den Proportionen enthalten. Die figurierten Zahlen erscheinen als vieleckige und als körperliche Zahlen. Die vieleckigen Zahlen sind solche, welche durch einzelne Punkte dargestellt ein regelmäßiges Vieleck zu bilden imstande sind. Vielecke aufeinander gehäuft bilden einen Körper, und so wird der Sinn der körperlichen Zahl erkennbar, die freilich zunächst ") Nicomachi Introductio ete. (ed. Hoche) pag. 51. 432 21. Kapitel. nichts mit dem Produkte dreier Faktoren gemein hat, welches Platon als Körperzahl bezeichnet, wenn auch Nikomachus in zweiter Linie auf diese Begriffsbestimmung zurückkommt. Ähnlich geht es schon vorher mit der Flächenzahl, welche für Nikomachus nicht wie für Platon ein Produkt zweier Faktoren bedeutet, während nachträglich diese Bedeutung doch eingeführt wird. Jede vieleckige Zahl ist bei Nikomachus, wie bei Hypsikles, Summe einer mit 1 beginnenden arithmetischen Reihe, deren Differenz stets um 2 kleiner ist als die Eckenzahl, und diese erzeugende arithmetische Reihe heißt auch die Reihe der Gnomonen der betreffenden Vieleckszahlen, weil jede neu hinzutretende Gnomonzahl die Vieleckszahl nur in die nächsthöhere ähnlicher Art verwandelt. Eine beliebige neckszahl mit der an Rang um 1 niedrigeren Dreieckszahl vereinigt gibt stets die » + lecks- zahl gleichen Ranges. So ist z. B. die vierte Sechseckszahl 28, die dritte Dreieckszahl 6, deren Summe 28-+6=34 wird die vierte Siebeneckszahl sein. — Die Summe aufeinander folgender ungerader Zahlen von der 1 an bildet, der vorher angegebenen Regel für Viel- eckszahlen gemäß, eine Quadratzahl. Die Summe aufeinander fol- gender gerader Zahlen von der 2 an bildet eine heteromeke Zahl. — Die Kubikzahlen erscheinen als Summen aufeinander fol- gender ungerader Zahlen'!), und zwar ist die erste Kubikzahl der ersten Ungeraden gleich: 1? = 1; die zweite Kubikzahl entsteht als Summe der zwei folgenden Ungeraden: 2?—= 3 +5; die dritte Kubik- zahl als Summe der drei nachfolgenden Ungeraden:3?=17+9+ 11 usw.?). Dieser durch seine Verwendung zur Summierung der Kubikzahlen selbst, wie wir im 26. Kapitel sehen werden, ungemein interessante Satz dürfte wohl von Nikomachus herrühren ?). — Die Proportionen- lehre zählt alsdann als die drei wichtigsten Proportionen die arith- metische, geometrische, harmonische auf, an welche die sieben andern sich anschließen, über die wir (8. 239) uns verbreitet haben. Den Schluß des Ganzen bildet die vollkommenste Medietät, usoorng reAsıo- tern, die nichts anderes ist als die musikalische, welche Jamblichus zufolge Pythagoras aus Babylon mitbrachte (S. 166). Außer der Einleitung in die Arithmetik muß Nikomachus auch eine solche in die Geometrie geschrieben haben, von welcher uns aber nur eine Erwähnung bei Nikomachus bekannt ist?). Vielleicht ') Nicomachi Introductio ete. (ed. Hoche) pag. 119, lin. 12—18. ?) Die ns Formel, welche Nikomachus nicht gekannt zu haben scheint, ist = (n"’—n+))+n’— n+3)+-:-+(m+n—1). ») So nimmt Back en S.210 an. *) Nicomachi Introduetio ete. (ed. Hoche) pag. 83, lin. 4: &v rjj ysousrgırj) wapadidoraı eisayoyi). Neupythagoräische Arithmetiker. Nikomachus. Theon. 433 ist eine Vermutung über deren Inhalt statthaft, zu welcher wir im 27. Kapitel gelangen werden. Ein aus arabischen Quellen schöpfender Schriftsteller des XII. S., Öcreatus, spricht von einer regula Nicomachi, welche die Quadrierung einziffriger Zahlen vollziehen läßt. Soll man a? finden, so zieht man a von 10 und die Differenz d= 10 — a wieder von a ab. Weil nun (a—d)- (a +d)= a” —d, so ist auch = (a—d):(a+d)+d? oder wegen a+d= 10 in diesem Falle a = 10. (a —d)-+d? und das ist die Regel des Nikomachus. Bei Nikomachus selbst ist sie als sehr schöne und von den meisten übersehene Eigenschaft der stetigen arithmetischen Proportion dahin ausgesprochen, das Quadrat des Mittelgliedes werde, wenn man das Produkt der äußeren Glieder davon abziehe, gleich dem Quadrate der konstanten Differenz!). Nikomachus scheint ferner eine Schrift über mystische Bedeutung der Zahlen, über Zahlentheologie mag der Titel gewesen sein, verfaßt zu haben, und sie dürfte auszugsweise oder erweitert einem gleichnamigen Buche zugrunde liegen, welches im 23. Kapitel ge- nannt werden wird; der Geschichte der Mathematik gehören diese Dinge kaum an. Theon von Smyrna ist nach aller Wahrscheinlichkeit der- selbe, welchen Ptolemäus als den Mathematiker Theon bezeichnet?), indem er vier durch denselben in den Jahren 128 und 132 vorge- nommene Beobachtungen des Merkur und der Venus benutzt. Der Kom- mentator des Almagestes, Theon von Alexandria, erklärt nämlich jenen Mathematiker Theon als den alten Theon, 70v zaAuıov Oduve, als ob ein Mißverständnis nicht möglich wäre?). Unser Theon selbst erwähnt als jüngsten Schriftsteller noch den Thrasyllus, der, wie wir bei Bestimmung der Lebenszeit des Nikomachus bemerkten, in die Regierung des Tiberius fällt, und den Adrastus, der wohl noch etwas später gelebt hat?). Wir haben (8.155) schon zu schildern gehabt, welcherlei Inhalt Theon von Smyrna seinem Werke ausgesprochenermaßen geben wollte. Er beabsichtigte vorzutragen, was von mathematischen Kenntnissen ») Nicomachi Introduetio ete. (ed. Hoche) pag. 125, lin. 18—21: &rı ro yAapvowrarov nal vodg mohlovg Asımdös, TO Ünd T@v &xemv yıvdusvov ovyagLwo- uevov TO do Tod ufoov Elerrov abrod sdoloxereı To Ömo rav diapopäv. ?) Al- magest IX, 9; X, 1 und X, 2. °) Die betreffende Stelle ist abgedruckt bei Nesselmann, Algebra der Griechen $. 224, Note 58. *) Vgl. Th. H. Martin in der Abhandlung, welche seiner Ausgabe der astronomischen Abteilung von Theons Werke (Paris 1849) als Einleitung dient pag. 6—12. Martin bezweifelt die Identität des Theon von Smyrna mit dem von Ptolemäus genannten Mathe- matiker, setzt ihn aber in die gleiche Zeit, worauf es uns schließlich allein an- kommt. CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 28 434 21. Kapitel. für das Studium Platons notwendig sei. Er ging dabei aus von der Arithmetik mit Inbegriff der musikalischen Zahlenverhältnisse, darauf sollte die Behandlung der Geometrie, der Stereometrie, der Astro- nomie, der Musik der Welten folgen. Man hat daraus lange Zeit die Vermutung geschöpft, es seien fünf Bücher ziemlich gleichen Um- fanges gewesen, welche das Werk des Theon von Smyrna bildeten, und diese Vermutung fand eine Art von Begründung in dem Um- stande, daß zwei verschiedene umfangreiche Bruchstücke sich vor- fanden, das eine vorzugsweise arithmetischen, das andere vorzugsweise astronomischen Inhaltes. Beide wurden getrennt herausgegeben '). In dem einen glaubte man das erste, in dem zweiten das vierte Buch zu erkennen. Man vermißte drei ganze Bücher von ähnlichem Cha- rakter: der Geometrie, der Stereometrie, der Musik der Welten ge- widmet. Wir sind nicht dieser Meinung und stehen in unserer durchaus abweichenden Ansicht auch nicht vereinzelt?). Wir er- kennen vielmehr in jenen beiden Fragmenten das ganze Werk Theons. Nach einer philosophischen Einleitung erscheinen Einteilungen der Zahlen in Gattungen ähnlicher Art, wie sie bei Nikomachus uns be- kannt wurden. Da ist von der Entstehung der Quadratzahl als Summe ungerader Zahlen, aber auch als Summe von je zwei Dreiecks- zahlen, von Viereckszahlen und Pyramidalzahlen, von vollkommenen Zahlen und Verwandtem die Rede, darunter von zwei Gegenständen, denen wir nachher besondere Aufmerksamkeit schenken wollen. Daran knüpfen sich Kapitel über die Tonzahlen untermischt mit weitläufig ausgesponnenen zahlensymbolischen Tüfteleien, die auch schon in der ersten Abteilung spukten, untermischt mit Erörterungen über die verschiedenen Proportionen. In kurzen kaum mehr als einige Wort- erklärungen bietenden Abschnitten ist von Geometrie und von Stereo- metrie die Rede’). Weitaus am ausführlichsten ist alsdann die Astro- nomie behandelt, vielleicht in diesem mangelnden Ebenmaße der An- sicht förderlich, daß Theon von Smyrna vorzugsweise Astronom, mithin der von Ptolemäus genannte Beobachter war. Die Schluß- worte heißen: „Das sind die notwendigsten Dinge und vorzugsweise ') Die sogenannte Arithmetik von Bullialdus. Paris 1644 und von De Gelder. Leiden 1827, die sogenannte Astronomie von Martin. Paris 1849. ?) Prof. E. Hiller, welchem wir unsere Ansicht brieflich darlegten, teilte uns mit, daß er die genau gleiche in seiner Bonner Habilitationsschrift (1869), welche ungedruckt geblieben ist, ausgesprochen und begründet habe. Diese Auffassung liegt auch der durch ihn besorgten Ausgabe des Theon von Smyrna (Leipzig 1878), nach welcher wir zitieren, zugrunde. °) Theon Smyrnaeus (ed. Hiller) pag. 111, lin. 14 bis pag. 113, lin. 8 und pag. 117, lin. 12 bis pag. 118, lin. 3. Die erstere Stelle enthält planimetrische und stereometrische Definitionen, die letztere die geometrische Konstruktion eines geometrischen Mittels. Neupythagoräische Arithmetiker. Nikomachus. Theon. 435 aus der Astronomie zur Kenntnisnahme platonischer Schriften. Da wir aber sagten, die Musik und Harmonie sei teils an Instrumenten, teils an Zahlen, teils am Weltall, und daß wir über die Musik der Welten das Notwendige nach der Astronomie angeben würden — denn auch Platon sagt, sie sei die fünfte Wissenschaft nach Arithmetik, Geometrie, Stereometrie, Astronomie — so ist auch darüber mitzu- teilen, was hauptsächlich Thrasyllus zeigte zugleich mit dem, was wir früher selbst ausgearbeitet haben.“ Diese Sätze machen auf uns den Eindruck, als wenn sie einem Werke, nicht bloß einem Abschnitte als Schluß gedient hätten, als ob Theon die zuletzt versprochene welt- harmonische Erörterung sich vorbehalten hätte. Mag dem nun sein wie da wolle, wesentliche Lücken zwischen dem Erhaltenen können wir uns unter keinen Umständen entschließen anzunehmen; höchstens könnten wir uns dazu verstehen, an eine Umstellung mancher Kapitel zu glauben, da es eigentümlich sich ausnimmt, wie Theon verschiedent- lich auf früher Besprochenes zurückkommt, ohne daß eine künstle- rische Anordnung des Werkes die Wiederholung erforderte. Viel- leicht sind solche Mängel auch der geringeren Befähigung Theons an- zurechnen. Theon war bei weitem kein Nikomachus! Seiner Zu- sammenstellung fehlt nach Form und Inhalt die Folgerichtigkeit. Er- wähnen wir ein Beispiel, welches geschichtlichen Wert besitzt. „Die Einheit ist nicht Zahl, sondern Anfang der Zahl“, sagt Theon'), den pythagoräischen Gedanken deutlicher als irgend ein anderer Grieche aussprechend; das hindert ihn aber nicht 1 neben 3, 5... als ungerade Zahl?) oder mit nachfolgenden 2, 3, 4... in der natürlichen Zahlenreihe auftreten zu lassen?). Es fällt uns nach dieser nicht sehr hohen Meinung, welche wir von Theon besitzen, schwer in ihm den Erfinder bedeutsamer arith- metischer Neuerungen zu sehen, und damit wächst umgekehrt die historische Benutzbarkeit seiner Angaben für alte Zeiten. Älteren Datums dürften daher auch die Dinge sein, auf welche zurückzukommen wir oben zugesagt haben. Jede Quadratzahl, sagt uns Theon‘), ist entweder selbst oder nach Verminderung um eine Einheit durch 3 wie auch durch 4 teilbar, und so entstehen vier Arten von Quadrat- zahlen durch Vereinigung jener beiden selbständigen je zwei Unter- arten bedingenden Unterscheidungen. Es ist ziemlich gleichgültig, wann man diesen Satz entdeckte, der freilich der Lehre von den quadratischen Resten angehört, aber eine große praktische Bedeutung nicht besitzt. ') Theon (ed. Hiller) pag. 24, lin. 23. ?) Theon pag. 28, 5 und 32, 11. °) Ebenda pag. 33, 4. *) Ebenda pag. 35, 17 etc. 28* 436 21. Kapitel. Ganz anders verhält es sich mit den Seiten- und Diametral- zahlen, mAsvod und dıdusroog, mit welchen Theon sich beschäftigt?). Die Entstehung dieser Zahlen ist folgende. Ausgehend von zwei Einheiten bildet Theon neue Zahlen, indem er einmal die beiden ge- gebenen Zahlen addiert 1+1=2 und das andere Mal das Doppelte der einen Zahl zur anderen fügt 2:1+1=3. Es soll hier nicht versäumt werden, auf Ähnliches bei Nikomachus ($. 431) erinnernd zurückzuverweisen. Von den beiden so gewonnenen Zahlen heißt ihm die kleinere 2 die Seite, die größere 3 die Diametralzahl. Diese Bildungsweise wird alsdann fortgesetzt, indem die Summe einer Seite und ihrer Diametralzahl die folgende Seite, die Summe der doppelten Seite und der Diametralzahl die folgende Diametralzahl liefert. Heißen etwa alle Seiten «, alle Diametralzahlen ö mit jedesmal beizufügen- der Ordnungszahl, so ist das Bildungsgesetz «, ,+6,_,=e«, und 2«@,_,+09,_,=9,. Das Quadrat einer jeden Diametralzahl, be- hauptet nun Theon, unterscheidet sich von dem doppelten Quadrate der zugehörigen Seite nur um eine Einheit, um welche bald die eine, bald die andere Zahl abwechselnd größer ist. Einen Beweis für diesen Lehrsatz: &=20+1 wird man bei Theon vergeblich suchen, richtig aber ist er, wie die Werte s=-1, 9, =1; ,=2, , =3; , -5, d, =-T, , =1l2, ö,—= 17 usw. zeigen. Allgemein folgt aus den Definitionsgleichungen für «, und Öd,, daß 202 _— 20”, + 40, 10,4 fr 26,_1, an U 20,0, — (Dan du) und durch Fortsetzung der gleichen Schlußart: 20 — di = (— 1120 — 07) = (— 1)" 12 — 1) = (— 1)! und = 2m + (— 1)”. Jedenfalls kann man aus dem als wahr angenommenen Satze die Ö : Folgerung ziehen, daß -" sich nur wenig von V 2 unterscheide, daß n ae Ki also —, 57,75 usw. aufeinander folgende Näherungswerte von ', Theon pag.43, 5ete. Nesselmann, Algebra der Griechen 9. 2283—231 hat eine von unserer Auffassung verschiedene Erklärung dieser Stelle. Mit uns stimmt dagegen überein Unger in einem Erfurter Gymnasialprogramm von 1843: Kurzer Abriß der Geschichte der Zahlenlehre von Pythagoras bis auf Diophant 8. 17—19. ur Ba ee TR RR RT Neupythagoräische Arithmetiker. Nikomachus. Theon. 437 V2 sein müssen. Jedenfalls deuten ferner die Namen Seiten- und Diametralzahl mit ihren Beziehungen zur Seite und Diagonale eines Quadrates darauf hin, daß Theon sich dieser Anwendung be- wußt war. Um so wahrscheinlicher wird die Vermutung, man werde bei Erfindung seines Satzes von einem wesentlich geometrischen Ge- dankengange geleitet worden sein. Man hat an folgende Entwicklung gedacht!). Es sei (Fig.73) N ABT ein gleichschenklig rechtwinkliges Dreieck 9 mit den Seiten «,_,, @,_1, 0,_ı- Werden nun die beiden Katheten jede um Öö,_, verlängert, 7 so entsteht das neue gleichschenklig rechtwink- lige Dreieck AAIE mit den Seiten «,, «,, 6, De Voraussetzungsmäßig ist «, = «,_,+6,_,, aber - B 4 aus der Figur sieht man dann sofort, daß BRE 6,=2«,_, + 9,_ı sein muß. Natürlich ist die hier gezeigte Kon- struktion falsch, indem die Diagonale des Quadrates von rationaler Seitenlänge irrational ist; aber um immer nähere Werte zu erhalten, mußte man geometrisch von der falschen Hypothese einer rationalen Diagonale ausgehen. Wir haben = mehrfach als mutmaßlich seit Platon bekannten Näherungswert von Y2 auftreten sehen. Der darauf folgende Bruch = wird im 30. Kapitel uns erinnerlich werden müssen. Dadurch wächst die Wahrscheinlichkeit, daß man der erwähnten Fol- = Au. gerung von dem Zusammenhange zwischen Y2 und as sich bewußt war, wenn die Folgerung selbst bei Theon auch nicht gezogen ist. Berücksichtigt man weiter, daß die Bildungsgesetze der Seiten- und der Diametralzahlen genau dieselben sind, welche die Nenner und ' Zähler der aufeinanderfolgenden Näherungsbrüche für den Kettenbruch +44 2+1 entstehen lassen, so wird man wohl zu der (8. 317) ausgesprochenen Behauptung genötigt, die Griechen seien natürlich nicht der Form nach, aber der Sache nach mit der Kettenbruchentwicklung von Y2 und mit dem Gesetze der Näherungsbrüche dieses Kettenbruches be- kannt gewesen. Wir brauchen nun nicht mehr zu sagen, wie wichtig es wäre, darüber unterrichtet zu sein, ob auch die Bildung der Seiten- ') P. Bergh in Zeitschr. Math. Phys. XXXI, Histor.-literar. Abtlg. $. 135. 438 22. Kapitel. und der Diametralzahlen, wie sie bei Theon sich vorfindet, vorplato- nischen Ursprunges war? Eine Stelle, auf welche wir noch aufmerksam zu machen haben, ist diejenige, wo erörtert wird, die Zahl 5 sei arithmetisches Mittel zwischen 1 und 9, zwischen 2 und 8, zwischen 3 und 7. Diese Tat- sache ist nämlich durch das Zahlenquadrat 1 a |? 2l5|[|s 3|[6I9 erläutert!) und zeigt dadurch einen ersten Anfang wenn auch nur un- vollkommener magischer Quadrate. 22. Kapitel. Sextus Julius Africanus. Pappus von Alexandria. Wir gelangen zum UI. S. nach Christi Geburt. Um die Zeit des Kaisers Alexander Severus, welcher 220—230 regierte, schrieb Sextus Julius Africanus seine Kesten. Der römische Name des Schriftstellers würde ihm in einem anderen Kapitel seinen Platz anweisen, wenn nicht die griechische Sprache, deren er sich bediente, uns veranlaßte, seiner hier zu gedenken. Kesten bedeutet wörtlich „mit der Nadel Durchstochenes“ und als Titel eines Werkes soll das wohl so viel sagen als „Aneinandergeheftetes“. Aneinandergeheftete Bemerkungen der verschiedensten Art sind es auch, die Sextus Julius Africanus dort vereinigt hat, und fast zufällig befinden sich darunter auch zwei Stellen, von welchen die Geschichte der Mathematik Nutzen zu ziehen hat. Das XXXI. Kapitel der Kesten?) beschäftigt sich mit praktischer Kriegsgeometrie, insbesondere mit der Auffindung der Breite eines Flusses, dessen jenseitiges Ufer vom Feinde besetzt ist, und mit der Auffindung der Höhe der Mauern einer belagerten Stadt, um danach im voraus die Größe der herzustellenden Kriegsmaschinen, Türme usw. ermessen zu können. Grundlage des ganzen Verfahrens ist ein geometrischer Satz, dessen Beweis, wie der Verfasser sagt, nur von dem I. Buche der euklidischen Elemente abhängt, der Satz nämlich, daß sämtliche Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks halbiert ', Theon pag. 102. ?) Notices et extraits des manuserits de la Bibliotheque imperiale. Tome XIX, Partie 2. Paris 1858, pag. 407—415 ist der Text nebst französischer Übersetzung von Vincent abgedruckt. Vgl. Agrimensoren S. 110 flgg. in a a do, engel Bl an u 9 aa Z Ir er Zn Sextus Julius Africanus. Pappus von Alexandria. 439 erscheinen, wenn aus der Mitte einer Kathete parallel zur anderen eine Gerade nach der Hypotenuse, und aus deren Durchschnittspunkte wieder eine neue Parallele zur ersten Kathete bis zum Durchschnitte mit der zweiten gezogen wird (Fig. 74). Sei «ß die erste Kathete und außer den vorgeschriebenen ös, &8& noch die Hilfslinie 08 ge- zogen. ad=b6ß, Öß=ei als \ Parallele zwischen Parallelen, folg- lich auch «ö # sd, und somit & treten in der Figur zwei Parallelo- £ y gramme auf yed&, Ößef, vermöge \ | deren dge=y&=PßE und dd = ey, | während (aus dem in dem Beweise | \ | \ nicht genannten Parallelogramme # S 7 ‘ % ” Fig. 74. Fig. 75. «ö&e folgend) auch d&=«e ist. Von diesem Satze aus wird die Breite eines Flusses gemessen. Liegt « am feindlichen Ufer (Fig. 75), während se die diesseitige Uferlinie bezeichnet, so stellt man die Dioptra in ı auf, weiter vom Flusse entfernt als der Fluß breit ist und visiert sowohl (senkrecht zur Fluß- linie ze, was aber nicht ausdrücklich gesagt, sondern nur aus der Figur zu entnehmen ist) nach «, als rechtwinklig zu dieser ersten Linie nach v, so daß dabei der Punkt x in der Mitte von ıv ge- wonnen wird. Steckt man nun von v aus die Richtung va, von x aus x tr ı« und endlich 90 Ht ıv ab, so ist &ı doppelt so groß, «g genau gleich groß mit so und läßt nach Abziehung von go die ge- suchte «p übrig. Man kann als wesentlich bei dieser Methode auffassen, daß die gesuchte Breite, beziehungsweise eine ihr gleiche Breite, wirklich auf dem Felde dargestellt wird. Man kann bei dem uns erhaltenen Berichte auf die von allen geometrischen Gewohn- heiten abweichende Buchstabengebung für die einzelnen Punkte hin- weisen. Nicht nur, daß ı nicht vermieden ist, das hörte überhaupt um die Zeit, in welcher wir uns befinden, auf, und noch spätere Geometer ersten Ranges benutzen unterschiedlos ı wie andere Buch- staben, es ist überhaupt kein System zu erkennen, nach welchem «, &, 7, r 0, ı, %, 0, v, g als Buchstaben an eine Figur gewählt worden sein mögen. Das war anders in der vor- | ni hergehenden Figur, anders in der Bi folgenden (Fig. 76), an welcher un- en mittelbar anschließend eine von Dreiecksähnlichkeiten ausgehende Methode die Flußbreite zu messen gelehrt wird. Man soll längs 440) 22. Kapitel. dem Flusse in der gemessenen Linie #y einhergehen und dabei einen massiven rechten Winkel von augenscheinlich ziemlich bedeuten- der Größe, der das Kennzeichnende des Verfahrens bildet, und uns wiederholt begegnen wird, mitnehmen. Auf dem einen Schenkel dieses rechten Winkels in & ist überdies eine Signalstange senkrecht zur Ebene des rechten Winkels befestigt. Wird nun y so gewählt, daß jene Signalstange bei & mit dem den Punkt « bezeichnenden Gegenstande und dem Standpunkt y in einer Geraden liegt, so ist aus der Ähnlichkeit der Dreiecke ßy:yd = «ß:ed, mithin «ß gefunden. Dieselbe Figur, so beschließt der Verfasser dieses interessante Kapitel, dient die Höhe einer Mauer von weitem zu messen. Die Dioptra wird dazu in d als ds aufgestellt und ihr Lineal in die Neigung e« ge- bracht, wo « einen Punkt des oberen Mauerrandes bedeutet. Die rückwärtsige Verlängerung dieser Richtung &g« nach y lehrt yö neben dem bekannten de und neben dem nach der vorigen Aufgabe er- mittelten »ß finden und nun ist y&:de=yß:Pßea. Der Schüler Herons ist hier unverkennbar, und die Paragraphe von dessen Ab- handlung über die Dioptra, an welche das angegebene Verfahren sich ° anlehnt, haben nachgewiesen werden können, wenn auch der massive rechte Winkel bei Heron nicht vorzukommen scheint. Das LXXVI. Kapitel der Kesten!) lehrt eine Art von Feuer- telegraphie kennen. Die Römer hätten, so erzählt der Sammler, an leicht sichtbaren Plätzen drei Signalstangen aufgerichtet, je eine links, eine rechts, eine in der Mitte. An jeder Stange konnten bis zu neun Fackeln befestigt werden, und zwar bedeuteten dieselben Einer, wenn sie an der Stange links, Zehner, wenn sie an der mitt- leren Stange, Hunderter, wenn sie an der Stange rechts befestigt wurden. »$ie sollten nämlich von weitem gesehen werden, und für den gegenüberliegenden Beobachter kehrt sich natürlich rechts -in links, links in rechts, so daß die Ordnung der Zahlenwerte ihm von rechts nach links zunehmend erscheint, wie es z. B. auch bei der sala- minischen Tafel (S. 133) der Fall war. Zahlen als solche sollten freilieh nieht mitgeteilt werden. Man machte von den Zahlen Ge- brauch, um Buchstaben des griechischen Alphabetes zu erkennen zu geben, deren jeder je einen der Werte 1 bis 9, 10 bis 90 oder 100 bis 900 besitzt, und so konnten an der richtigen Stange sichtbar gemachte Fackeln die Buchstaben eines Wortes, eines Satzes nach und nach dem entfernten Freunde bekannt machen. ) Vgl. Vincent in den Comptes Rendus de lacademie des sciences vom 3. Januar 1842, XIV, 43, und Friedlein im Bullettino Boncompagni 1868, pag. 49—50. RN EEE ERTEILEN u Ku ar Re gi Sextus Julius Africanus. Pappus von Alexandria. 441 Eine Sammlung ganz anderen wissenschaftlichen Wertes ist die des Pappus von Alexandria, eines Schriftstellers, der mutmaßlich dem Ende des III. S. angehört hat!). Wir besitzen über seine Lebens- zeit überhaupt nur zwei, beide aber bestimmt lautende und einander geradezu widersprechende Angaben, beide selbst aus der gleichen Zeit, nämlich aus dem X.S. Die Leidener Bibliothek besitzt eine in den Jahren 913—920 angefertigte Handschrift der theonischen Handtafeln, welche am Rande der Regentenliste verschiedene literärgeschichtliche Glossen aus der Zeit der ersten Niederschrift besitzt. So steht neben der Regierung des Diokletian die Bemerkung: &rmi rovrov 6 IIdnog Eyoapev, unter diesem schrieb Pappus. Daß der Name hier nur mit einem x geschrieben auftritt, kann uns nicht beirren. In der Mitte des Namens bricht nämlich die Zeile ab und macht eine Spaltung in II& und xog notwendig, wobei leicht ein x verloren gegangen sein kann, für welches in der ersten Zeile etwa kein Platz mehr vor- handen war. Außerdem ist, wenn der Mathematiker Pappus nicht gemeint sein wollte, kein Schriftsteller gleichen oder nur wenig ab- weichenden Namens aus der Zeit des Diokletian bekannt. Dieser regierte 284 bis 305, folglich wäre Pappus in dieselbe Zeit zu setzen. Dem gegenüber steht unvermittelt, was Suidas, der bekannte Lexiko- graph, an zwei sachlich übereinstimmenden Stellen sagt. Unter Theon heißt es bei ihm, er sei Zeitgenosse des Pappus, der wie er in Alexan- dria zu Hause gewesen sei, und beide hätten unter der Regierung, des älteren Theodosius gelebt. Unter Pappus heißt es, er habe unter der Regierung des älteren Theodosius gelebt, zur Zeit, als auch der Philosoph Theon in seiner Blüte stand, welcher über den Kanon des Ptolemäus schrieb. Die Werke des Pappus seien eine Erdbeschrei- bung, ein Kommentar zu den vier Büchern der großen Zusammen- stellung des Ptolemäus, ferner über die libyschen Flüsse und über Traumdeutung. Auch diese Angabe ist von bestimmtester Klarheit. Theon hat, wie wir aus seinem chronologischen Werke selbst ent- nehmen, jedenfalls 372 noch gelebt; Theodosius I. regierte 379 bis 395; diese Zahlen stimmen zueinander, und folglich wäre Pappus wie Theon an das Ende des- IV. S. zu setzen, was auch alle Ge- schichtswerke der Mathematik ohne Anstand getan haben. Wenn wir gleichwohl der Meinung folgen, welche den älteren Zeitpunkt für Pappus als zutreffend erachtet, so leitet uns folgender Gedanke. Bei zwei einen Widerspruch enthaltenden gleichzeitigen Angaben müssen ') Vgl. Zeitschr. Math. Phys. XXI, Histor.-liter. Abtlg. S. 70 figg. (1876) über die Lebenszeit und die Handschriften des Pappus. In bezug auf letztere diente die Einleitung zu Hultschs Pappusausgabe als Quelle. 4492 22. Kapitel. wir einesteils uns fragen, ob und wie ein Irrtum des einen, beziehungs- weise des anderen Gewährsmannes Erklärung finden kann, müssen wir andernteils überlegen, ob innere Gründe die eine oder die andere Meinung unterstützen. Die Behauptung des Schreibers des Leidener Kodex ist nun, wenn falsch, auf keine Weise zu verstehen. Suidas könnte dagegen dadurch zu seinem Irrtume gelangt sein!), daß in seiner Quelle .die beiden Schriftsteller Pappus und Theon von Alexan- dria ihrer Heimat, ihrer verwandten literarischen Tätigkeit wegen un- mittelbar hintereinander aufgeführt waren, oder aber dadurch, daß er einen aus den Erläuterungen des Pappus und des Theon gemischt zusammengesetzten Kommentar zum Almageste vor Augen hatte, eine Möglichkeit, die im 24. Kapitel sich uns ergeben wird, und daß er nun auf eine gar nicht angegebene, weil überhaupt nicht vorhandene Gleichzeitigkeit der beiden Erklärer schloß. Als unterstützend dienen folgende Gesichtspunkte. Suidas war mit des Pappus Werken nicht aufs beste bekannt. Er nennt unter denselben gar nicht dasjenige, welches allein in einiger Vollständigkeit sich erhalten hat, und welches genügt, um unsere Bewunderung des Verfassers zu rechtfertigen. Der andere Berichterstatter ist in seinem Schweigen entschuldigt, weil er gar kein Werk des Pappus mit Namen anführt. Ferner wäre es sehr auffallend, wenn Pappus und Theon an dem gleichen Orte lebend zur selben Zeit einen Kommentar zu demselben Werke, dem Almageste des Ptolemäus, geschrieben hätten. Weit wahrscheinlicher wird diese Tatsache, wenn Pappus hundert Jahre vor Theon von Alexandria schrieb. Fraglich erscheint dabei, ob Pappus den ganzen Almagest erklärt haben mag, oder nur vier Bücher. Die Vermutung, es habe bei Suidas ursprünglich IT'=13 Bücher geheißen, der wirklichen Bücherzahl des Almagestes entsprechend, und daraus sei 4—=4 Bücher verschrieben worden”), ist ausgesprochen worden und hat manche Wahrscheinlichkeit, nachdem es sich erwiesen hat, daß Pappus jeden- falls zum ersten, zum fünften und zum sechsten Buche des Almagestes einen Kommentar verfaßte, daß der zum fünften und sechsten Buch gehörende Teil sich noch erhalten hat?). Wahr ist es, daß Theon seinen Vorgänger niemals genannt hat außer in Überschriften, deren Ursprung ja immer zweifelhaft ist. Mag aber Theon 100 oder ein paar Jahre nach Pappus gelebt haben, so ist dieses Schweigen gleich auffallend, zu derselben Zeit auch gleich einfach damit zu erklären, daß Theon den Pappus recht fleißig benutzte. Es bildet, wie uns !) Diese Hypothese rührt von Usener her. Neues Rheinisches Museum 1873, Bd. XXVII, S. 403. ?) So glaubt Hultsch pag. VIII, Anmerkung 3 der Praefatio, welche den dritten Band seiner Pappusausgabe eröffnet. ?) Hultsch l. ec. pag. XIV. ET, _ Sextus Julius Africanus. Pappus von Alexandria. 443 von philologischer Seite versichert wird, geradezu eine Eigentümlich- keit der Kommentatoren des IV. 5. etwa ein wahres Plünderungs- system an älteren Schriftstellern auszuüben, welche niemals genannt werden, so daß nur in einzelnen Fällen ein glückliches Ohngefähr es möglich gemacht hat, diesen unrechtmäßigen Aneignungen auf die Spur zu kommen. So nehmen wir also an, Pappus habe an der Schwelle vom Ill. zum IV. S. gelebt und geschrieben. Ob ein Zitat bei Proklus!) dahin zu deuten ist, daß Pappus gleich Heron an der Spitze einer Schule stand, mag dahingestellt bleiben. Nach griechischem Sprachgebrauche kann ol zeoi "Howve x«i Ilaxxov unzweifelhaft diese Bedeutung einschließen, die Worte können aber auch Heron und Pappus allein bezeichnen sollen, und letzteres wohl noch häufiger als ersteres. Unter den Schriften, welche Pappus verfaßte, fanden seine Bemerkungen zum Almageste mehr- fache Erwähnung. Wir erinnern daran, daß (S. 318) Eutokius auch sie unter den Schriften genannt hat, welche über die Ausziehung von Quadratwurzeln zu Rate gezogen werden können. Pappus selbst spricht von einem Kommentare, welchen er zu dem Analemma des Diodorus angefertigt habe?). Von jenem Schriftsteller ist zwar auch bei anderen wiederholt die Rede?), jedoch ohne daß dadurch sein Zeit- alter oder der Inhalt seiner Schrift genauer bekannt würde; deren Titel stimmt allerdings mit demjenigen eines Buches des Ptolemäus überein, von welchem (5. 423) die Rede war. Eine weitere schrift- stellerische Leistung des Pappus bildete ein Kommentar zu den eukli- dischen Elementen, von welchem Bruchstücke, insbesondere eine von Eutokius®) erwähnte Bemerkung, in einem Vatikankodex aufgefunden worden sind’). Diesem Kommentare dürfte eine Anzahl von Be- merkungen entnommen sein, welche bei Proklus sich erhalten haben, und deren eine verdient, daß wir ihrer erwähnen. Pappus habe, berichtet Proklus®), Ein- spruch gegen den Satz erhoben, daß der “ $ Winkel, der einem Rechten gleich sei, immer selbst ein Rechter sein müsse. Er stellte näm- os EN lich (Fig. 77) zwei gleichlange Gerade «ß, By pr, y senkrecht zueinander und beschrieb über jede Fig. 77. x ') Proklus (ed. Friedlein) 429, 13. °) Pappus IV, 27 (ed. Hultsch) pag. 246. °) Vgl. Hultschs Praefatio zum III. Bande seiner Pappusaus- gabe IX—XI. *) Archimed (ed. Heiberg) III, 34 in dem Kommentare des Eutokius heißt es: sienrau zul Ildano sis tb dmdurnue av ororysiov. °) Hei- berg, Om scholierne til Euklids Elementer in den Vidensk. Selsk. Skr.6. Raekke, historisk. og philosophisk. Afd. II, 3. Kjöbnhavn 1888, pag. 297. 9°) Proklus (ed. Friedlein) 190. | .’ 444 22. Kapitel. derselben einen Halbkreis. Da diese Halbkreise sich decken, müssen die Winkel «ße, yß& vollkommen gleich sein. Wird sodann von dem rechten Winkel «ßy der eine jener identischen Winkel weg- genommen, der andere beigefügt, so muß also ein Etwas entstehen, welches einem rechten Winkel wieder gleich ist, ohne daß man doch sagen könnte, dieser Winkel &ß& sei ein rechter Winkel. Diese Be- trachtung über nicht geradlinige Winkel ist das Vorbild späterer Spitzfindigkeiten ähnlichen Inhaltes geworden (S. 264). Das mathematische Werk des Pappus, welches auf uns gekommen ist, und welches merkwürdigerweise durch keine bekannt gewordene Er- wähnung von seiten irgend eines Mathematikers oder sonstigen Schrift- stellers in seinem Vorhandensein bestätigt wird, führte den Namen der Sammlung, ovveyoyyj, und bestand aus acht Büchern'). Titel und Einteilung verbürgt uns eine vatikanische Pappus-Handschrift aus dem XI. S., welche selbst sämtlichen übrigen, keineswegs seltenen Ab- schriften unmittelbar oder mittelbar zugrunde liest. Der Charakter dieser Sammlung besteht darin, daß Pappus den Inhalt von zu seiner Zeit hochgeschätzten mathematischen Schriften kurz angibt und zu denselben erklärende, aber auch erweiternde, oftmals nur den aller- losesten Zusammenhang mit dem gerade in Rede Stehenden wahrende Sätze hinzufügt. Diese Beziehung, oder fast besser diese Beziehungs- losigkeit lassen uns die Sätze erkennen, von denen Pappus uns sagt, daß sie zu Werken gehören, welche, wie die Kegelschnitte des Apol- lonius von Pergä, auf uns gekommen sind und den Vergleich ge- statten. Die Freiheit, welche Pappus sich demgemäß bei seinen Zu- sätzen gestattet hat, die Genauigkeit, deren er daneben bei übersicht- liehen Inhaltsangaben sich befleißigte, machen den doppelten Wert seiner Sammlung aus. Jene Gewissenhaftigkeit, welche wir als zweite Tugend des Pappus erwähnten, macht, daß seine Sammlung als Er- satz für wertvolle im Urtexte verloren gegangene Abhandlungen dienen kann, so daß wir nach dem Vorgange aller Schriftsteller über Ge- schichte der Mathematik keinen Anstand nahmen, sie im Verlauf dieses Bandes wiederholt zu solchem Zwecke zu benutzen. Jene Selbständigkeit, die wir zuerst rühmend betonten, hat uns Dinge ge- liefert, die, teils nicht anderweitig rückwärts verfolgbar, teils von Pappus ausdrücklich für sich in Anspruch genommen, den zuver- lässigen Beweis für die hohe Meisterschaft des Verfassers insbesondere !) Eine lateinische Übersetzung durch Commandinus erschien 1588, dann in mehrfachen neuen Abdrücken bis 1602. C. J. Gerhardt gab 1871 das VII. und VII. Buch im Urtexte mit nicht tadelloser deutscher Übersetzung heraus. Eine vortreffliche Textausgabe mit lateinischer Übersetzung und reichhaltigen Anmerkungen veranstaltete Fr. Hultsch in 3 Bänden. Berlin 1875, 1877, 1878. Sextus Julius Africanus. Pappus von Alexandria. 445 in solchen geometrischen Untersuchungen liefern, welche unser Jahr- hundert unter dem Namen der neueren oder der höheren synthetischen Geometrie kennt. Welchen Gang Pappus bei Ausarbeitung seiner Sammlung ein- schlug, ob er überhaupt einen bestimmten Gedanken planmäßiger Reihenfolge zugrunde legte, ist mit Sicherheit nicht zu ermitteln, weil das erste Buch und die mutmaßlich größere Hälfte des zweiten Buches verloren gegangen ist, die Darstellung sich mithin auf die übrigen Bücher beschränken muß. Dabei ist überdies vorausgesetzt, daß alle vorhandenen Bücher Pappus angehören. Allerdings nimmt man dieses gegenwärtig an, und ein vereinzelter Versuch') nur das III. und IV. Buch, welche ursprünglich ein einziges gebildet hätten, dann das VII. und das VIII. Buch Pappus zuzuschreiben, alles übrige als unechte spätere Einschaltung auszuscheiden, ist, soviel wir wissen, ohne jegliche Beistimmung geblieben. Der vorhandene Überrest des II. Buches enthält die Multiplika- tionsmethode des Apollonius von Pergä. Im Ill. Buche sind vier verschiedene Abhandlungen vereinigt. Die erste beschäftigt sich mit der Aufgabe zwischen zwei gegebenen Längen zwei mittlere geometrische Proportionalen einzuschalten nach Methoden des Eratosthenes, des Nikomedes, des Heron, des Pappus selbst. Die zweite Abhandlung lehrt die drei verschiedenen Mittel, welche zwischen zwei Strecken bestehen, das arithmetische, das geo- metrische und das harmonische Mittel, von welchen übrigens auch in den einleitenden Kapiteln der ersten Abhandlung des III. Buches schon die Rede war, an einer und derselben Figur zur Erscheinung bringen. Aber dieses geometrische Problem dient nur zum An- knüpfungspunkte für eine ganz Lehre von den Medietäten, welche mit einer Tabelle von ganzzahligen Beispielen für sämtliche zehn Formen von Medietäten abschließt. Die dritte Abhandlun& beschäftigt sich wieder mit einer ganz anderen Untersuchung. Der 21. Satz des J. Buches der euklidischen Elemente behauptet, daß, wenn innerhalb eines Dreiecks ein Punkt gewählt und mit den Endpunkten der Grundlinie geradlinig verbunden wird, die Summe dieser Geraden kleiner ausfalle als die Summe der sie umfassenden Dreiecksseiten. Ganz anders, wenn die inneren Geraden nicht nach den Eckpunkten, sondern nach zwischen denselben liegenden Punkten der Dreiecks- grundlinie gezogen werden. Alsdann kann die Summe der inneren ) C.J. Gerhardt, Die Sammlung des Pappus von Alexandria. Programm des Gymnasiums in Eisleben für 1875. Vgl. dazu die Besprechung in der Zeitschr. Math. Phys. XXI, Histor.-literar. Abteilung 37—42 (1876). 446 22. Kapitel. Geraden unter Umständen ebenso groß sein, sie kann auch mehr be- tragen als die der umfassenden Seiten und zwar in mannigfachen Abstufungen, und diese sämtlichen Fälle werden ausführlich durch- genommen. Die vierte Abhandlung geht zur Einbeschreibung der fünf regelmäßigen Vielflächner in die Kugel über, bei welcher Ge- legenheit die Sphärik des Theodosius von Tripolis mehrfach benutzt aber auch ergänzt wird. Es ist mit großem Rechte bemerkt worden!), daß die Auffassung der Aufgabe eine wesentlich andere ist als die, von welcher Euklid im XIII. Buche seiner Elemente ausgeht, und daß dadurch die erneute Behandlung um so höheren Wert erhalte, Euklid kommt es auf die metrischen Zusammenhänge zwischen Po- lyederseite und Kugeldurchmesser an; er bildet sich zuerst die Polyeder und beweist hinterdrein ihre Einbeschreibbarkeit. Pappus will die Polyeder selbst erhalten; er geht aus von der Kugel und verschafft sich die Parallelkreise auf der Kugeloberflläche, welche je eine Polyeder- fläche als eingeschriebenes Vieleck besitzen. Das IV. Buch zerfällt gleichfalls in mehrere Abteilungen, wenn schon die Sonderung derselben nicht auf den ersten Blick in die Augen fällt. Es beginnt mit der Lehre von den Kreistransversalen, an welche sich die Aufgabe knüpft, den drei einander äußerlich be- rührende Kreise umschließenden Kreis zu konstruieren. Noch andere Berührungsaufgaben vollenden das, was wir die erste Abhandlung des IV. Buches nennen möchten. Auf sie folgen eine Anzahl von Sätzen aus der Lehre von der archimedischen Spirale sowie von der niko- medischen Konchoide und darauf eine ziemlich ausgedehnte Abhand- lung über die Quadratrix, in welche verschiedene andere Unter- suchungen sich ziemlich naturgemäß einfügen. Wir nennen die Rek- tifikation des Kreises; wir nennen Beziehungen zwischen Quadratrix und Spirale; wir nennen die Trisektion des Winkels und die allge- meinere Aufgabe der Teilung des Kreises in beliebigem Verhältnisse der Bögen mittels der Quadratrix, aber auch mittels der Spirale; wir nennen endlich die Benutzung der Quadratrix zur Lösung der drei Probleme: ein regelmäßiges Vieleck von beliebiger Seitenzahl in einen Kreis zu beschreiben, zu einer gegebenen Sehne einen Kreisbogen zu finden, welcher ein bestimmtes Längenverhältnis zur Sehne besitze, zueinander inkommensurable Winkel zu zeichnen. Das V. Buch beginnt mit dem Auszuge aus der Abhandlung des Zenodorus über Figuren gleichen Umfanges, so weit ebene Figuren in Frage stehen. Dann geht Pappus zu dem Raume über, lehrt die ı) Woepcke im Journal Asiatique serie 5, T. V (Fevrier-Mars 1855) pag. 238—240. Sextus Julius Africanus. Pappus von Alexandria. 447 archimedischen Körper kennen und zeigt, daß bei gleicher Oberfläche Kegel sowohl als Zylinder kleineren Rauminhaltes als Kugeln sind. Damit ist der Rückweg zur Abhandlung des Zenodorus, soweit sie auf Raumkörper sich bezieht, gewonnen, und der Beweis wird ihr nachgebildet, daß von den fünf platonischen regelmäßigen Körpern bei gleicher Oberfläche stets der mehreckige den größeren Inhalt einschließe. Das VI. Buch stellt sich in seiner Überschrift die Aufgabe Auf- lösungen zu den Schwierigkeiten zu finden, welche in dem soge- nannten kleinen Astronomen, uıxg0g dorgovouovuevog, enthalten sind. Der Gegenstand, der damit gemeint ist, ist uns keineswegs neu, nur der Name begegnet uns hier zuerst, und deshalb haben wir bis hierher es aufgespart uns desselben zu bedienen. Der kleine Astronom ist nämlich eine Sammlung von Schriften, deren Studium nach dem der Elemente des Euklid und vor dem des Almagestes des Ptolemäus eingeschoben werden mußte, wenn letzteres vollen Erfolg haben sollte. Ob der kleine Astronom eine endgültig begrenzte Samm- lung war, ob nicht vielmehr der an sich lose Zusammenhang ge- stattete, bald diese bald jene kleinere Schrift aufzunehmen oder aus- zuschließen, dürfte zweifelhaft sein. Der Kommentar des Pappus verbreitet sich über nachfolgende Bücher, welche demgemäß zum kleinen Astronomen gehörten: Die Sphärik des Theodosius, die Ab- handlung des Autolykus über die sich drehende Kugel, die des Theo- dosius über Tag und Nacht, die des Aristarchus über Größe und Entfernung von Sonne und Mond, die Optik des Euklid, die Phaeno- mena desselben Verfassers. Ein Kommentar des Menelaus zu dem letztgenannten Werke hatte zwar nach einer durch Pappus gegebenen Zusage!) auch noch erläutert werden sollen, doch findet sich davon in dem auf uns gekommenen Texte keine weitere Spur. Wir be- merken, daß die beiden Astronomen Autolykus und besonder Ari- starchus von Samos in der Geschichte ihrer Wissenschaft hoch- bedeutsame Persönlichkeiten sind. Autolykus?) lebte kurz vor Euklid um 330 etwa, Aristarch?), wie wir schon (8. 419) "bemerkten, ein gutes halbes Jahrhundert später um 270. : Wir bemerken ferner, daß die Erläuterungen des VI. Buches, auch wo sie auf astronomische Werke sich beziehen, ihrer größten Mehrzahl nach geometrischer Natur sind. Wir bemerken endlich, daß Pappus durch seine Namens- nennung selbst den Geometern, welche er nur unter den Ersten des Faches auswählt, ein hohes Lob erteilt, daß man also beispielsweise ') Pappus (ed. Hultsch) pag. 602, lin. 1. ?) Hultsch in der Vorrede zu seiner Ausgabe des Autolykus. Leipzig 1885. °) Wolf, Geschichte der Astro- nomie. S.35—37. 448 22. Kapitel. aus diesem VI. Buche sich eine Meinung von dem Ansehen bilden kann, in welchem damals verdientermaßen die Schriften des Theodosius und des Menelaos standen. Wer die Elemente des Euklid inne hat und von ihnen aus der Astronomie sich zuwenden will, bedarf, wie vorher bemerkt, des Studiums des kleinen Astronomen, bei welchem das VI. Buch ihn zu unterstützen bestimmt ist. Wer, mit den allgemeinen Elementen vertraut, erlernen will, wie.man durch Konstruktion mannigfacher Linien die Auflösung gestellter Aufgaben vollende, bedarf dazu eines anderweitigen eignen Übungsstoffes, der unter dem Namen Sammel- werke analytischer Natur!) von Euklid, von Apollonius von Pergä, von Aristäus dem Älteren behandelt worden ist. Die hierzu not- wendigen Hilfssätze und Erläuterungen hat Pappus in seinem VII. Buche vereinigt. Gleichwie im vorhergehenden Buche sind Unterabteilungen gebildet, welchen die Namen der einzelnen Werke als ‚Überschriften dienen, welche Pappus zu empfehlen wünscht. Er nennt die Daten des Euklid, den Verhältnisschnitt, den Raumschnitt, den bestimmten Sehnitt, die Berührungen des Apollonius, die Porismen des Euklid, dann wieder von Apollonius die Neigungen, die ebenen Örter, die Kegelschnitte, endlich die körperlichen Örter des Aristäus, die Örter auf der Oberfläche des Euklid, die Mittelgrößen des Eratosthenes. Es sind dies, sagt Pappus, 33 Bücher, deren Inhalt bis zu den Kegel- schnitten des Apollonius ich Dir übersichtlich herausgestellt habe’), und in der Tat entspricht dieser Angabe eine Einleitung von ziem- lichem Umfange. An sie knüpft sich eine große Anzahl von Hilfs- sätzen zu den Büchern des Apollonius über den Verhältnisschnitt und den Raumschnitt, über den bestimmten Schnitt, über die Neigungen, über die Berührungen, über die ebenen Örter. Weitere Hilfssätze zu den Porismen des Euklid folgen. Die zu den Kegel- schnitten des Apollonius und endlich zu Euklids Örtern auf der Ober- fläche bilden den Beschluß des Buches. Der 8. Satz zu dem Ver- hältnisschnitt des Apollonius?®) würde unter Benutzung von Brüchen statt der Verhältnisse aussprechen, daß u immer zwischen — und 72 ß 5 liege. In der Tat ist dat A pero. 5 Sehe +0 7 srela 3) eg 1 VERERB R OST ee 3) Pp+s ») So die richtige Übersetzung von r6xog dvakvöusvog, wie Gow, A short history of greek mathematics pag. 211 Note 1 gezeigt hat. ?) Pappus (ed. Hultsch) pag. 636, lin. 25. °) Ebenda pag. 688, lin. 31. Sextus Julius Africanus. Pappus von Alexandria. 449 woraus die Verschiedenartigkeit der Vorzeichen beider Differenzen einleuchtet. Der 22. Satz zu den Berührungen des Apollonius!) stellt die Aufgabe, von drei auf einer gegebenen Geraden gegebenen Punkten aus nach einem gleichfalls gegebenen Kreise Gerade zu ziehen, welche ein diesem Kreise eingeschriebenes Dreieck bilden. Es ist das die Aufgabe, welche im XVIIL S. die Erweiterung erfuhr, daß die drei gegebenen Punkte beliebige Lage in der Kreisebene erhielten, und welche unter anderen von Annibale Giordano aus Ottajano gelöst wurde?). | Das VIII. Buch kündigt sich als solches an, welches verschiedene interessante ınechanische Aufgaben zur Sprache bringe. Ich habe für gut gehalten, erklärt Pappus, die mit Hilfe der Geometrie ge- wonnenen, notwendigsten Theoreme über die Bewegung der schweren Körper, die in den Schriften der Alten vorhanden und die von uns selbst geschickt aufgefunden sind, kürzer und deutlicher niederzu- schreiben und auf eine bessere Weise, als es früher geschehen, zu- sammenzustellen’). Zu diesen geometrisch begründeten mechanischen Lehren gehören die Theorie des Schwerpunktes, der schiefen Ebene, gehört die Aufgabe mit Hilfe von Zahnrädern, die in gewissem gegen- seitigen Verhältnisse der Durchmesser stehen, eine gegebene Last durch gegebene Kraft zu bewegen. Hierher gehört aufs neue die Aufgabe der Einschiebung zweier geometrischen Mittel, welche schon im ll. Buche in anderem Zusammenhange aufgetreten war, und welche jetzt wiederkehrt, weil auf ihr die Vergrößerung eines durch mechanische Vorrichtungen irgendwie in Bewegung zu bringenden Körpers unter Festhaltung seiner Gestalt beruht. Weiter läßt Pappus die Aufgabe folgen den Kreisumfang eines geraden Zylinders zu finden, aus welchem überall Stücke herausgebrochen sind, so daß eine unmittelbare Messung an keiner Stelle stattfinden kann. Ohne bemerkbaren Zusammenhang, wie wir es bei Pappus nicht selten gewohnt wurden, treffen wir alsdann auf Fragen, bei denen es sich um Auffindung gewisser Punkte auf einer Kugel handelt, z. B. des Punktes, der einer gegenüberliegenden Ebene am nächsten liegt, und der Punkte, in welchen eine gegebene Gerade die Kugel durchdringt. Daran schließt sich die Einbeschreibung von sieben einander gleichen regelmäßigen Sechsecken in einen gegebenen Kreis, so daß das eine denselben Mittelpunkt mit dem Kreise hat, die übrigen sechs auf je einer Seite des mittleren aufstehen und die dieser gegenüberliegende ') Pappus (ed. Hultsch) pag. 848. °) Vgl. Chasles, Apergu hist. 328 (deutsch 341) mit Zeitschr. Math. Phys. XXXVL, Histor.-literar. Abtlg. S. 216—217. ®) Pappus (ed. Hultsch) pag. 1028. CANTOoR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 29 450 22. Kapitel. Seite jedesmal als Kreissehne besitzen. Diese Aufgabe dient zur Her- stellung von Zahnrädern, und nun bilden Auszüge aus dem Gewichte- zieher und aus der Mechanik des Heron (8. 369) den Schluß, der vielleicht von fremder Hand dem ursprünglichen VIII. Buche bei- gefügt sein dürfte. Mag man aus dieser schematischen Zeichnung des Gerippes der Sammlung des Pappus, so wie dieselbe auf uns gekommen ist, den Eindruck eines Ganzen oder lose und fast zufällig aneinander ge- reihter Einzelheiten erhalten, mag ein leitender Gedanke dem einen auffindbar, dem anderen unentdeckbar erscheinen, jedenfalls wird, trotz stylistischer Schönheiten, die an manchen Stellen eine geradezu dich- terische Veranlagung des Schreibers enthüllen!), die Achtung vor Pappus dem Mathematiker eine höhere sein als die vor Pappus dem Schriftsteller, und diese relative Wertschätzung wird noch festeren Boden fassen, wenn wir Einzelheiten herausgreifen, deren Entdeckung nicht wohl einem anderen als Pappus selbst anzugehören scheint. An die Spitze stellen wir einen Satz des VII. Buches, der den Körperinhalt eines Umdrehungskörpers als dem Produkte der ge- drehten Figur in den Weg des Schwerpunktes proportional erkennt?), einen Satz, der als @uldinsche Regel seit dem XVII. S. wieder in der Geschichte auftritt. Wir fügen aus dem VIII. Buche einen Satz bei dahin gehend, daß der Schwerpunkt eines Dreiecks zugleich Schwerpunkt eines zweiten sei, dessen Eckpunkte auf den drei Seiten des ersten Drei- ecks so liegen, daß dadurch jene Seiten sämtlich in gleichem Ver- hältnisse geteilt erscheinen?). Wir heben jenen Abschnitt des IV. Buches hervor, der mit der Quadratrix sich beschäftigt). Die Quadratrix wird diesem Abschnitte zufolge außer nach dem Gesetze, welches wir bei der ersten Nennung der Kurve schon kennen gelernt haben, auch noch durch zwei viel verwickeltere Entstehungsarten erzeugt, welche man in folgende Worte fassen kann: Es sei eine Schraubenlinie auf einem geraden Kreis- zylinder beschrieben, dann bilden die Perpendikel, welche von den einzelnen Punkten derselben auf die Achse des Zylinders gefällt ") Z. B. die Einleitung in das V. Buch (ed. Hultsch) pag. 304, welche der Herausgeber mit Recht als kennzeichnend für die Schreibweise des Pappus er- klärt hat. ?) Pappus (ed. Hultsch) pag. 682. °) Ebenda pag. 1034 sqq. *, Dieser Abschnitt (ed. Hultsch) pag. 258 — 264 hat in dem Eislebener Pro- gramm von 1875 durch Gerhardt eine deutsche Übersetzung erhalten. Der Text Gerhardts weicht indessen in wesentlichen Dingen von dem Hultschs ab. Letzterer befindet sich in vollem Einklang mit Chasles, Apergu hist. 31, deutsch 28, dem wir hier vorzugsweise folgen. Sextus Julius Africanus. Pappus von Alexandria. 451 werden, eine Schraubenfläche. Legt man durch eines dieser Perpen- dikel unter passender Neigung gegen die Grundfläche des Zylinders eine Ebene, so schneidet diese Ebene die Schraubenfläche in einer Kurve, deren senkrechte Projektion auf die Grundfläche des Zylinders die Quadratrix ist. Und zweitens: wählt man eine archimedische Spirale zur Basis eines geraden Zylinders und denkt man sich einen Umdrehungskegel, dessen Achse diejenige Seitenlinie des Zylinders ist, welche durch den Anfangspunkt der Spirale geht, so schneidet dieser Kegel die Zylinderfläche in einer Kurve doppelter Krümmung. Die Perpendikel, welche von den verschiedenen Punkten dieser Kurve auf die erwähnte Seitenlinie des Zylinders gefällt werden, bilden die Schraubenfläche, welche Pappus an dieser Stelle plektoidische Oberfläche nennt. Legt man nun durch eine dieser Linien unter passender Neigung eine Ebene, so schneidet diese die Oberfläche in einer Kurve, deren senkrechte Projektion auf die Ebene der Spirale die verlangte Quadratrix sein wird. Welche tiefe Kenntnis krummer Oberflächen mußte nicht vorausgehen, damit diese Erzeugungsarten der Quadratrix erfunden werden konnten! Welchen Weg hat auch in dieser Beziehung die griechische Geometrie von Archytas, der, wie wir uns erinnern (S. 229), gekrümmte Oberflächen zur Würfelver- doppelung benutzte, bis auf Pappus zurückgelegt! Um so bedauer- licher ist es, daß uns die euklidischen Örter auf der Oberfläche fehlen, aus denen wir ermessen könnten, in welcher Periode der größere Teil jenes Weges zurückgelegt worden ist. Pappus geht hier in seiner Betrachtung von Oberflächen und auf denselben hervortretenden Kurven doppelter Krümmung noch weiter. Er läßt eine sphärische Spirale entstehen, indem ein größter Kugel- kreis um seinen Durchmesser mit gleichmäßiger Geschwindigkeit sich dreht, während zugleich ein Punkt mit ebenfalls gleichmäßiger Geschwindigkeit die Peripherie des gedrehten Kreises durchläuft‘), und er findet die Fläche eines durch diese sphärische Spirale be- grenzten Stückes der Kugeloberfläche, eine Komplanation, welche unsere Bewunderung um so lebhafter in Anspruch nimmt, wenn wir daran denken, daß die gesamte Kugelfläche zwar seit Archimed bekannt war, Stücke der Kugeloberfläche aber zu messen, wie z. B. sphärische Dreiecke, damals und noch lange später eine ungelöste Aufgabe darstellte. Sätze aus der Geometrie der Ebene, welche bei Pappus den Leser überraschen, finden sich namentlich in dem VII. Buche, dessen Inhalt ') Pappus (ed. Hultsch) pag. 264 sqq. Vgl. Klügels Mathematisches Wörterbuch Bd. IV, 8. 449 figg. 29° 452 22. Kapitel. von selbst einlud, Erweiterung zu jenen feinen Analysen vorzunehmen, die in den meisten verlorenen Schriften eines Euklid und Apollonius enthalten gewesen sein müssen!). Hier findet sich in den Lemmen zum bestimmten Schnitte des Apollonius die Lehre von der Invo- lution von Punkten, in den Lemmen zu den Berührungen des Apol- lonius die Aufgabe, durch drei in einer Geraden gelegenen Punkte ebensoviele Gerade zu ziehen, welche ein Sehnendreieck in einem ge- gebenen Kreise bilden (S. 448). Hier enthält ein Lemma zu den Porismen des Euklid die Lehre von der Konstanz des anharmonischen Verhältnisses und ein Lemma zu den Örtern auf der Oberfläche eben- desselben den Satz, daß die Entfernungen eines jeden Punktes irgend eines Kegelschnittes vom Brennpunkte und der zu demselben ge- hörigen Leitlinie in konstantem Verhältnisse stehen, was Apollonius vielleicht noch nicht gewußt zu haben scheint (S. 339). Hier ist in den Lemmen zu den Berührungen des Apollonius der Lehre von den Ähnlichkeitspunkten zweier Kreise soweit vorgearbeitet, als wenigstens bekannt ist, daß die Verbindungsgerade der entgegengesetzten End- punkte paralleler Halbmesser zweier sich äußerlich berührender Kreise durch den Berührungspunkt geht und auch der äußere Ähnlichkeits- punkt einer Figur entnommen werden kann?). Hier endlich spricht Pappus zu den Kegelschnitten des Apollonius die Aufgabe aus, welcher, seit Descartes die Aufmerksamkeit der Mathematiker aufs neue auf sie gelenkt, der Name der Aufgabe des Pappus vorzugsweise geblieben ist?). Wenn mehrere gerade Linien der Lage nach in einer Ebene gegeben sind, den geometrischen Ort eines solchen Punktes zu finden, daß, wenn man von ihm Per- pendikel, oder allgemein Linien unter gegebenen Winkeln, nach den gegebenen Geraden zieht, das Produkt gewisser unter ihnen zu dem Produkt aller übrigen in einem konstanten Verhältnisse stehe. Aber nicht die Geschichte der Mechanik und der Geometrie allein kann aus der Sammlung des Pappus ihre merkwürdigen Ergebnisse schöpfen. Auch anderen mathematischen Lehren ist sie eine wenn auch nicht ganz ebenso ergiebige Fundgrube. Betrachten wir z. B. eines der Lemmen zum Verhältnisschnitte und Raumschnitte des Apollonius*). Wir haben (S. 266) im 27. Satze des VI. Buches der euklidischen Elemente die Wahrheit erkannt, das Produkt zweier Teile, in welche man eine gegebene Größe teile, werde ein Maximum, wenn die Teile einander gleich sind. So fest wir an dieser Auffassung des betreffenden Satzes halten, so ist immerhin eine Auffassung dazu er- ", Für das Folgende vgl. namentlich Chasles, Apergu hist. 33—44, deutsch 31—41. ?) Pappus (ed. Hultsch) pag. 840 und 852.: °) Ebenda pag. 678. *, Ebenda pag. 694. Sextus Julius Africanus. Pappus von Alexandria. 453 forderlich. Der Wortlaut des Satzes sagt nicht ausdrücklich, was wir in demselben gefunden haben. Pappus dagegen spricht an der ge- nannten Stelle jene Wahrheit klar’ und durchsichtig aus. Sein Beweis lautet in Buchstaben übertragen folgendermaßen. Wird a in zwei a Teile zerlegt, so ist der eine x kleiner als „ und zwar um y. Der andere Teil ist, wie man erkennt, £ + 2y und das Produkt 2? + 2x2y stets kleiner als &® + 22y + y’ = («&+y)?, oder kleiner als . so lange y von Null verschieden ist. Pappus, wissen wir, hat der Ausziehung der Quadratwurzeln seine Aufmerksamkeit zugewandt. Er hat auch die Aufgabe der Ein- schiebung zweier mittleren Proportionalen zwischen gegebene Größen, die analytisch zur Kubikwurzelausziehung führt, aber von den Griechen stets geometrisch bearbeitet wurde, an zwei verschiedenen Orten im III. und im VIII. Buche verschiedenen Schriftstellern nachbehandelt. Eine solche von ihm durchgesprochene Lösung ist besonders merk- würdig, weil sie falsch ist, und Pappus den Irrtum durch Rechnung nachweist, also den geometrischen Gang zugunsten einer arithmeti- schen Prüfung unterbricht. Man hat gezeigt!), daß jene tatsächlich unrichtige Methode, wenn fortgesetzt angewandt, eine wirkliche nähe- rungsweise richtige Kubikwurzelausziehung liefert, und damit wäre ein ungemein wichtiger Fortschritt griechischer Wissenschaft enthüllt, wenn wahrscheinlich gemacht werden könnte, daß der Erfinder jenes Verfahrens wirklich beabsichtigte, was nachträglich aus seinem Ver- suche gemacht worden ist. Wir können für jetzt nicht daran glauben, weil ein Mann wie Pappus, gelehrt und geometrisch gewandt wie kein zweiter seiner griechischen Zeitgenossen, sonst wohl kaum mit einer gewissen Geringschätzung von jenem Versuche gesprochen haben würde. Zu den Berührungen des Apollonius macht Pappus zwei Be- merkungen, von welchen wir (8. 345) andeutungsweise redeten, ihre eigentliche Erwähnung bis hierher aufsparend, da es mindestens zweifelhaft ist, ob wir hier dem Apollonius bereits Bekanntes, ob einen Zusatz des Pappus vor uns haben. Pappus sagt nämlich, aus drei Elementen, deren jedes beliebig oft gesetzt werden darf, lassen ‘) Pappus (ed. Hultsch) pag. 32sqq. Vgl. Pendlebury, On a method of finding two mean proportionals im Messenger of the mathematies Ser.2, Tom. I, pag. 166 sqq., dann Glaisher in dem Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik V, 244 und beide ergänzend S. Günther, Antike Näherungs- methoden im Lichte moderner Mathematik (aus den Abhandlungen der K. böhm. Gesellschaft der Wissenschaften VI. Folge, 9. Band. Prag 1878) $. 32—41 des Sonderabdruckes. 454 22. Kapitel. sich zehn Ternen und nur sechs Amben bilden‘). Das sind wahre kombinatorische Lehrsätze von einem Mathematiker verwertet. Neben der Ursprungsfrage bleibt noch eirfe zweite zu stellen, die wir nicht zu entscheiden wagen, ob die beiden Sätze als spezielle Fälle, ob als in einer allgemeinen Hauptwahrheit enthalten bekannt waren. Wir neigen der Meinung zu, es sei nur ersteres der Fall gewesen, und Pappus, oder wer nun die Sätze fand, habe durch tatsächliches Bilden der Kombinationsformen sich von ihrer Anzahl überzeugt. Die drei hauptsächlichen Mittelgrößen sind schon mehrfach von uns besprochen. Wir wissen, daß Nikomachus von Gerasa, daß Theon von Smyrna sich mit ihnen beschäftigte, aber keiner von beiden leitete so, wie Pappus in seinem III. Buche es tut?), alle drei durch eine gleichmäßige Erzeugungsweise ab. Zwischen a und c ist Pappus zufolge eine dritte Größe b arithmetisches, geometrisches oder harmonisches Mittel, je nachdem die beiden Differenzen a — b und 5b — ce in dem Verhältnisse a:a oder a:b oder a:c stehen. Wir möchten ferner die Aufmerksamkeit unserer Leser auf die dem III. Buche angehörige Aufgabe lenken: zu einem gegebenen Parallelogramme ein zweites zu finden, so daß die Seiten des zweiten zu denen des ersten in einem gegebenen Längenverhältnisse stehen, während die Flächenräume in einem anderen gleichfalls gegebenen Verhältnisse stehen sollen’). Die Aufgabe ist an sich leicht und eine vollständig bestimmte, aber sie gewinnt an geschichtlicher Trag- weite, wenn wir sie mit jener unbestimmten Aufgabe im Buche des Landbaues vergleichen (S. 391): zwei Rechtecke zu finden, bei welchen die Summe der Seiten in einem, die Flächeninhalte in einem anderen gegebenen Verhältnisse stehen sollen, eine Aufgabe, welche uns noch wiederholt begegnen wird, und deren Ursprung durch das bloße Vor- kommen im heronischen Buche des Landbaues noch keineswegs ge- sichert ist, da gerade dieses Buch spätere Einschiebungen mit großer Wahrscheinlichkeit vermuten läßt. Endlich kommen wir auf die Multiplikationsmethode des Apol- lonius im I. Buche des Pappus zurück und auf eine Bemerkung, welche wir bei unserer ersten Erörterung dieses Verfahrens (S. 346) dazu machten. Jene Bemerkung bezog sich auf das Auftreten «ter Myriaden. Die Allgemeinheit der Darstellung beschränkt sich nicht auf sie. Bei den Zahlenbeispielen, an welchen die Multiplikation mit Hilfe der Wurzelzahlen gelehrt wird, kommen natürlich grie- chischer Gewohnheit gemäß Buchstaben als Vertreter von Zahlen ı) Pappus (ed. Hultsch) pag. 646 und 648. ?) Ebenda pag. 70 und 72. ®) Ebenda pag. 126 sqa. Sextus Julius Africanus. Pappus von Alexandria. 455 vor. Aber neben den zu diesem Zwecke verwandten Buchstaben des Alphabetes erscheinen auch große Buchstaben in der Bedeutung allgemeiner Zahlen. So st «=1,$=2, y=3,d=4 -=5, und von den entsprechenden großen Buchstaben wird angenommen, es si) 4=20, B=3, T=4, 4=5, E=6 und Z sei die Wurzel- zahl von A oder 2. Offenbar ist hier ein ungemeiner Fortschritt enthalten. Es ist nicht bloß von einer gesuchten Größe, einem Hau der Ägypter die Rede; es werden nicht bloß, wie in dem Epantheme des Thymaridas, zwei Gattungen von Größen, gegebene und unbe- kannte unterschieden; es liegt die Möglichkeit vor, so viele allgemeine Größen als es nur große Buchstaben gibt zu unterscheiden, Opera- tionen an ihnen anzudeuten und damit Regeln selbst in ihrer All- gemeinheit auszusprechen, ohne den Leser zu nötigen die Regel erst aus dem besonderen Beispiele zu abstrahieren. Es ist in der Tat eine Buchstabenrechnung. Schon Aristoteles hat (S. 253) eine Kraft, eine Zeit durch einen einfachen Buchstaben bezeichnet. Bezeichnungen durch einfache Buchstaben hat man auch aus Ciceros Briefen nach- zuweisen vermocht?). Aber eine so freie Bewegung mit den Symbolen allgemeiner Größen wie im II. Buche des Pappus ist doch neu. Dem Vorgange des Aristoteles gegenüber ist es nicht erlaubt ohne weiteres zu leugnen, daß Apollonius schon diesen gewaltigen Fortschritt voll- zog. Es ist noch weniger gestattet solches geradezu zu behaupten und anzunehmen weder ein Geometer noch ein Arithmetiker, kein Heron, kein Nikomachus seien in die Fußtapfen des Apollonius ge- treten. Vielleicht ist der Fortschritt in zwei Bewegungen erfolst, wenn man uns diese Ausdrucksweise gestatten will. Apollonius, das wissen wir aus Pappus, hat sein Verfahren geometrisch dargestellt?), d. h. er sprach offenbar, gleich Euklid an manchen Stellen der Elemente, von Linien und Flächen, wo wir von Zahlen und ihren Produkten zu reden gewohnt sind. Auch Euklid bezeichnete solche Zahlenlinien regelmäßig durch einfache Buchstaben. Dieselbe Ge- wohnheit, sollten wir meinen, habe Apollonius gehabt; er habe seine Zahlenlinien durchgängig mit je einem großen Buchstaben benannt. Pappus, vermuten wir dann, habe die Buchstaben beibehalten, die lineare Versinnlichung fallen lassen. So war der Fortschritt vielleicht ein halb unbewußter, aber er war darum doch gemacht, und die Algebra der Zeitgenossen wie der Nachkommen konnte Nutzen davon ziehen. ') Pappus (ed. Hultsch) pag.8. °) Epistolae ad Atticum Lib. II epistola 3. Wenn dagegen römische Juristen vielfach die Gewohnheit hatten, statt einer un- bestimmt gelassenen Zahl decem (X) zu schreiben, z. B. dabo X asses, so ist diese Gewohnheit kaum als eine Spur allgemeiner Größenbezeichnung aufzufassen. ®) TO 02 yowuumov bmo Tod Anolkmviov dedsızraı beiPappus (ed. Hultsch) pag. 8. 456 23. Kapitel. 23. Kapitel. Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. Wir sehen in diesem Kapitel Männer auftreten, deren richtige Würdigung kaum möglich ist, ohne daß wir ein Anlehen bei der Geschichte der Philosophie uns gestatten‘). Nicht als ob wir ge- sonnen wären die Unterschiede deutlich zu machen, welche zwischen dem Neupythagoräismus, von welchem wir in der Einleitung zum 21. Kapitel (S. 428) gesprochen haben, und dem Neuplatonismus, zu welchem wir uns jetzt wenden, obwalten; so tief dürfen wir in das uns fremde Gebiet nicht eindringen; aber die Persönlichkeiten müssen wir wenigstens kennen lernen, welche im Neuplatonismus tonangebend waren, und die vielleicht ein Recht in der Geschichte der Mathematik mit Ehren genannt zu werden nur dadurch ein- .büßten, daß ihre mathematischen Schriften verloren gingen, Schriften, deren arithmetischer Inhalt, sofern wir nach dem Erhaltenen auf das Verlorene schließen dürfen, eine Fortsetzung dessen darstellen würde, was die Neupythagoräer Nikomachus und Theon uns zu entwickeln nötigten. Noch in einem anderen Berührungspunkte treffen die Neu- platoniker, von denen wir besondere mathematische Erinnerung be- sitzen, mit den genannten neupythagoräischen Arithmetikern überein. Wie Gerasa und Smyrna, so gehört die Heimat des Porphyrius, des Jamblichus dem asiatischen Weltteile an, und gehen wir von dem Satze aus, daß sich häufende Zufälligkeiten wahrscheinlich ähnlichen Gründen entstammen und damit aufhören Zufälligkeiten zu sein, so werden wir die Tatsache uns zu bemerken haben, daß vorderasiatische Philosophen, welche der Mathematik sich zuwandten, vorzugsweise Arithmetiker wurden. Eine Begründung dieser Tatsache aber zu geben reichen die heutigen Mittel nicht aus. Kaum anzudeuten wagen wir, daß es heimatliche Einflüsse gewesen sein dürften, die diese be- stimmte Geistesrichtung hervorbrachten, heimatliche Einflüsse, die aber jedenfalls nach Zeit und Ort weiter verfolgbar sein müssen, in eine vielleicht graue Vergangenheit, in weiter östlich liegende Gegenden. Der Verkehr mit diesem Osten, selbst mit dem äußersten Osten, war wenn auch kein lebhafter doch immer vorhanden. Alexandri- nische Handelskarawanen wagten sich nach Indien; aber auch indische und chinesische (Gesandtschaften erschienen bei römischen Kaisern. ') Unsere Hauptquelle: Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer ge- sehichtlichen Entwicklung II. Theil, 2. Abtheilung (2. Auflage) 1868, zitieren wir als Zeller III, 2. Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. 457 Der Hof des Augustus, des Claudius, des Trajan, des Constantin des Großen, des Julianus hat solche Botschafter fremäartigster Gestalt gesehen‘. Im II. S. n. Chr. soll Seythianus magische Schriften aus Indien nach Alexandria gebracht haben, die dort gierig ver- schlungen wurden. In das Ill. S. fällt die Gründung der neuplato- nischen Schule in Alexandria durch Ammonius Sakkas. Ammonius aber war von 232—242 der Lehrer des Plotinus, eines Ägypters, in dem nunmehr die Neigung aus den orientalischen Quellen selbst zu schöpfen so lebhaft erwachte, daß er 39 Jahre alt dem Heere sich anschloß, welches unter Gordian gegen die Perser zu Felde zog. Die selbständige Wirksamkeit des Plotinus entfaltete sich in Rom, wo er etwa 244 als Lehrer auftrat und eines großen Zulaufs sich erfreute, bis er 270 in Öampanien einer lange dauernden Krankheit erlag. Der Lieblingsschüler Plotins erhielt den Auftrag die Schriften des Lehrers zu sammeln und herauszugeben. Es war der Tyrier Malchus, der etwa 232 auf asiatischem Boden geboren zuerst in Athen unter einem Philosophen Longinus, der für uns kein weiteres Interesse besitzt, studierte, dann nach Rom zu Plotinus gelangte und dort den Namen Porphyrius erhielt, unter welchem er uns schon wiederholt vorgekommen ist. Porphyrius erreichte jedenfalls ein hohes Alter, da er selbst von einem Vorfalle aus seinem 68. Lebens- jahre erzählt hat, und somit sicherlich erst nach 300 gestorben ist. Er war außer in Rom, wohin er am Ende seiner Laufbahn nochmals zurückkehrte, auch in Sizilien schriftstellerisch und als Lehrer tätig. Von seinen Schriften haben wir das Leben des Pythagoras sowie den Kommentar zu der Musik des Ptolemäus als Quelle mancher wert- vollen geschichtlichen Angaben kennen gelernt. Die letztere Schrift ihrem eigentlichen wissenschaftlichen Inhalte nach zu besprechen haben wir keine Veranlassung. Wichtiger wären vielleicht für die Geschichte der Sternkunde und ihrer Ausartungen die astrolo&ischen Anklänge, welche bei Porphyrius vorhanden sind, welche von da an unter den Neuplatonikern nicht verhallen, von welchen aber auch schon Ptolemäus, der strenge Forscher, nicht frei war; ihrem Ur- sprunge nachgehend könnte man möglicherweise zu auch anderwärts verwertbaren Ergebnissen gelangen. Porphyrius verfaßte ferner Ein- leitungen zu aristotelischen Schriften. Von Geometrischem, was Porphyrius geschrieben, ist uns nur weniges in des Proklus Kommen- ') Vgl. Reinaud, Relations politiques et commerciales de Pempire Romain avec VAsie centrale im Journal Asiatique, 6. serie, T. I (1863) und eine Notiz von Woepcke in demselben Bande pag..458 mit Berufung auf Wilson, Vishnu Purana. London 1840 in 4°, pag. VIII und IX. 458 23. Kapitel. tare zu dem ersten Buche der euklidischen Elemente erhalten!) und dieses Wenige ist nicht von solcher Bedeutung, daß wir dabei zu ver- weilen hätten. Zwei Schüler des Porphyrius werden als bedeutendste genannt. Der ältere, ein gewisser Anatolius, war seit 270 Bischof von Laodicea. Von ihm haben sich mancherlei mystisch-arıthmetische Bruchstücke erhalten?). Sein Schüler und erst später Schüler des ihnen somit gemeinsamen Lehrers Porphyrius war der zweite, den wir zu nennen haben: Jamblichus. Jamblichus ist aus reicher und angesehener Familie zu Chaleis in Cölesyrien geboren, also Vorderasiate, wie wir oben bemerkten. Er folgte wahrscheinlich in Rom dem Unterrichte des Anatolius und des Porphyrius, als dieser aus Sizilien wieder zurückgekehrt war. Später verlegte Jamblichus seinen Aufenthalt in seine syrische Heimat, wo er selbst schulebildend auftrat. So sehr seine Anhänger ihn ver- ehrten, — den Göttlichen nannte ihn die Schule — so sind doch die Angaben über seine Lebenszeit von Widersprüchen behaftet). An und für sich könnte es ja richtig sein, daß er am Ende des III. S. in Rom zu den Füßen des Porphyrius saß, daß er während der Regierung Constantin des Großen (306—337) wirkte, daß noch Kaiser Julianus Apostata (361— 363) in Briefwechsel mit dem greisen Philosophen stand. Wie aber will man dann begreiflich machen, daß Kaiser Constantin den Sopater, einen Schüler des Jamblichus, der erst nach des Lehrers Tode an den Kaiserhof kam, hinrichten ließ, wie damit wieder in Einklang bringen, daß Kaiser Julianus in einem seiner Briefe von Sopater als einem damals noch lebenden Schüler des Jamblichus redet? Soll man wirklich den Tod des Jamblichus etwa auf 330 setzen, die Briefe des Julian an Jamblichus für untergeschoben erklären? Wir verzichten auf die Entscheidung dieser «Fragen, welche eine große Wichtigkeit für uns nicht besitzen. Daß Jamblichus unzweifelhaft am Anfange des IV. S. lebte, genügt uns. Wie lange Jamblichus im IV. S. seine Tätigkeit fortsetzte, ist uns ziemlich gleichgültig. | !) Die betreffenden Stellen sind mit Hilfe des Namensverzeichnisses der Friedleinschen Proklusausgabe leicht aufzufinden. ?°) In einer Münchener Handschrift sind solche Stücke als von Anatolius herrührend gesammelt. Hei- berg hat sie in den Veröffentlichungen des Congres d’Histoire des sciences (Paris 1900) abdrucken lassen und P. Tannery hat eine französische Über- setzung sowie Schlußbemerkungen folgen lassen, in welcher mit der älteren Ansicht gebrochen ist, als wäre der Lehrer des Jamblichus gar nicht Christ ge- wesen, also von dem Bischof von Laodicea zu unterscheiden. Vgl. auch Borg- horst, De Anatolü fontibus (Berlin 1904). °) Zeller III, 2, 613, Anmerkung 2. Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. 459 Von den Werken des Jamblichus!) kümmern uns vorzugsweise einige Bücher, welche zwar getrennt voneinander herausgegeben worden sind, aber ursprünglich ein einziges Werk von zehn Büchern bildeten und den Gesamttitel: Sammlung der pythagoräischen Lehren, ovvaywyı av nvdayogızöov doyudtov, führten. Das I. Buch enthielt das Leben des Pythagoras, das II. eine Einleitung in die Philosophie, das Ill. eine solche in die Mathematik, das IV. Erläuterungen zu Nikomachus, das V. Physikalisches, das VI. Ethisches, das VII. theologisch -arithmetische Auseinandersetzungen, das VIII. eine Musik, das IX. eine Geometrie, das X. eine Sphärik. Die kleinere Hälfte des Werkes, das I, II, IIL, IV. Buch haben sich erhalten?), die andere Hälfte ist verloren gegangen. Der wesentliche Inhalt des VII. Buches mag allerdings von einem späteren unbe- kannten Verfasser in die erhaltene Schrift Theologumena Arithmeticae hineingearbeitet worden sein). Verloren ist auch ein Werk über Chaldäisches, aus dessen 28. Buche eine Notiz sich erhalten hat, woraus auf den großen Umfang des Werkes ein Schluß gezogen werden kann. An ihm dürfte die Geschichte der Wissenschaften überhaupt, der Mathematik insbesondere, viel eingebüßt haben, und jedenfalls reicht dessen einstmaliges Vorhandensein aus, die Glaub- würdigkeit dessen, was Jamblichus, der sich somit erwiesenermaßen mit den chaldäischen Überlieferungen beschäftigt hatte, über den Ursprung mancher mathematischen Sätze in Babylon berichtet, wesent- lich zu erhöhen. Die sonstigen vielen Schriften, welche Jamblichus mit Recht oder Unrecht beigelegt werden, welche teils ganz ver- loren, teils in Bruchstücken vorhanden sind, haben für uns keine weitere Bedeutung. Von den zehn Büchern pythagoräischer Lehren haben wir das IV., welches schon mehrfach von uns ausgebeutet worden ist, dem wir z. B. das Epanthem des Thymaridas entnahmen, noch nach der Richtung hin zu prüfen, was wohl in den Erläuterungen zur Arith- metik des Nikomachus, die übrigens nichts weniger sind als ein fort- laufender Kommentar zum Texte des zu erklärenden Werkes, erwähnens- wert sein möchte, und als älteren Schriftsteller nicht überweisbar !) Zeller III, 2, 615, Anmerkung 2. ?°) Buch I ist am besten von Kieß- ling, Leipzig 1815, Buch II von ebendemselben, Leipzig 1813, herausgegeben, Buch III ist bei Ansse de Villoison, Anecdota Graeca Bd. II. Venedig 1781 abgedruckt, in unserer Zeit von Festa neu herausgegeben. Buch IV gab Ten- nulius heraus. Arnheim 1668, sowie Pistelli (Leipzig 1894). °) @soAoyov- uva ig KeWduntıxng ed. Fr. Ast. Leipzig 1817. C. von Ian, Musiei seriptores Graeci pag. 212 (Leipzig 1895) neigt sich der Ansicht zu, die Theologumena seien von Jamblichus zusammengestellt. 460 23. Kapitel. dem Jamblichus angehören könnte Da ist freilich das Auszu- zeichnende ungemein dürftig. Der Satz, daß jede Dreieckszahl mit 8 vervielfacht und alsdann noch um die Einheit vermehrt zur Quadrat- _ zahl werde, ist keinesfalls des Jamblichus Eigentum, da derselbe mindestens schon bei Plutarch im I. 8. n. Chr. vorkommt (S. 168). Auch was Jamblichus von Seiten- und Diametralzahlen weiß, kennen wir schon von Theon von Smyrna her. Ihm dagegen gehört viel- leicht der Satz an, daß jede Zahl mit einer der beiden ihr zunächst liegenden gleichartigen (d. h. gerade mit geraden, ungerade mit ungeraden) vervielfacht unter Hinzufügung der Einheit zu dem Produkte ein Quadrat gibt, und zwar ein gerades Quadrat wenn man von ungeraden, ein ungerades wenn man von geraden Faktoren ausging'), ein Satz, der freilich keines weiteren Beweises bedarf, als der sich aus der Identität a(a+2)+1= (a+ 1)? ergibt. Über die vollkommenen Zahlen sagt Jamblichus, nach den vier ersten 6, 28, 496, 8128 folgten auch in der ersten und zweiten Stufe der Myriaden je eine usw. ins Unend- liche immer abwechselnd mit 6 und 8 endigend.?) Jamblichus darf sich wohl auch die Erfindung zuschreiben, welche jede Quadratzahl in ihrer Entstehung als Summe zweier aufeinander folgenden Dreieckszahlen mit dem Bilde einer Rennbahn vergleicht?). Von der Einheit als Schranke durchläuft man alle Zahlen bis zu einem Wendepunkte a, von wo aus auf der anderen Seite wieder durch die sämtlichen Zahlen die Rückkehr zur Einheit als Ziel erfolgt; d. h. 1+2+::+(a— 1))+a+l(a—1)+::+2+1=a?. Daneben weiß Jamblichus auch, dad 1+2+--+(a—1)+a+(a—2)+-.-+2 —=(a— 1)-a eine heteromeke Zahl wird, und stellt auch diese Vor- wärts- und Rückwärtssummierung, bei der freilich beim Zurückgehen ein Sprung von a nach «— 2 erfolgt, und außerdem das Ziel bei 2 und nicht bei 1 ist, an dem Bilde einer Rennbahn dar. Ja er hetzt das Bild einer Rennbahn zu Tode, indem er von 1+2+3+::.+9 +10 +9+--+3+2+1= 100 durch Vervielfachung jeder Zahl mit 10, mit 100 usw. zu 1000, zu 10000 usw. gelangt und die Zahlen 1, 10, 100, 1000 die Einheiten des ersten, des zweiten, des dritten, des vierten Ganges mit den Pythagoräern nennt, woraus hervorgeht, daß den Pythagoräern ein genaues Bewußtsein des deka- dischen Zahlensystems innewohnte, wie es auch aus dem Begriff der ', Jamblichus in Nicomachum (ed. Tennulius) pag. 127, (ed. Pistelli) pag. 90. Vgl. Nesselmann, Algebra der Griechen $S. 236, Anmerkung 70. ”), Jamblichus in Nicomachum (ed. Tennulius) pag. 46, (ed. Pistelli) pag. 33. Vgl. Fr. Hultsch in den Nachrichten der k. Gesellschaft d. Wissensch. zu Göttingen. 1895, Heft 3. °) Für diese und die folgenden Bemerkungen zu Jamblichus vgl. Nesselmann, Algebra der Griechen 8. 237—242. Die Neuplatoniker. Diophantus ‚yon Alexandria. 461 Wurzelzahlen bei Apollonius deutlich hervorgeht. Die Wurzelzahlen selbst, aber nicht Pythmenes, sondern Einheit, uovds, genannt, spielen in einem letzten Satze des Jamblichus eine Rolle. Addiert man drei in der natürlichen Zahlenreihe unmittelbar aufeinander folgende Zahlen, deren größte durch 3 teilbar ist, nimmt die Ziffernsumme der Summe (d. h. bei Jamblichus die Summe der Monaden), von dieser Ziffern- summe abermals die Ziffernsumme usf., so gelangt man endlich zu der letzten Ziffernsumme 6. So erweist sich uns Jamblichus immer- hin als erträglicher, wenn auch nicht als bedeutender Arithmetiker. Bedürfte der negative Teil dieses Ausspruches einer Bestätigung, so ' könnten wir sie in dem Tadel finden, den Jamblichus gegen Euklid sich erlaubt, weil derselbe die Zahl 2 eine Primzahl nenne, während es nach Nikomachus nur ungerade Primzahlen gebe. Das Wort Pythmen, welches bei Jamblichus vermißt wird, findet sich dagegen bei einem anderen christlichen Schriftsteller des Ill. Jahr- hunderts, bei dem Heiligen Hippolytos!), der die Pythmenen zur Neunerprobe und ebenso zur Siebenerprobe benutzt, d. h. die Frage aufwirft, welcher Rest übrig bleibe, wenn man die Summe von Pythmenen durch 9 oder auch durch 7 teile. Eine rechnerische Ver- wertung dieses Verfahrens ist allerdings nicht beabsichtigt, sondern es handelt sich um eine Art Vorbedeutungsarithmetik, die möglicher- weise in Griechenland noch weit vor die Zeit des Hippolytos hinaufreicht. Der Zeit des Jamblichus gehören möglicherweise die arith- metischen Epigramme der griechischen Anthologie an’). Sammlungen kleiner griechischer Gedichte wurden seit dem letzten. Jahrhundert vor Christi Geburt vielfach zusammengestellt. Aber was damals, was später während der Regierungen Trajans, Hadrians ge- sammelt wurde, ist verloren gegangen. Nur die Erinnerung daran ist geblieben, nur was teilweise mit Anlehnung an diese Vorgänger am byzantinischen Hofe zuerst im X. S. von Constantin Kephalas, dann wiederholt in den ersten Jahren des XIV. S. von Maximus Planudes, einem Vielschreiber, welcher uns noch mehrmals als Ver- fasser mathematischer Schriften begegnen wird, zu einer Blumenlese vereinigt worden ist. Einige dieser Gedichte gehören der Geschichte der Mathematik insofern an, als man in ihnen Isopsephien ") P. Tannery, Notice sur des fragments d’Onomatomancie arithmetique (Notices et extraits des Manuserits de la Bibliotheque Nationale 1885, Tome XXXI, 2. Partie). 2?) Die besten Ausgaben der Anthologie von Friedr. Jacobs in 3 Bänden (Leipzig 1813—17) und von Brunck. Die 47 arithmetischen Epi- gramme hat Zirkel in einem Bonner Gymnasialprogramme vom Herbst 1853 mit deutscher Übersetzung und einigen Erläuterungen herausgegeben. Vgl. auch Nesselmann, Algebra der Griechen 8. 477 figg. 462 23. Kapitel. erkannt hat, d. h. sie bestehen aus zwei Distichen, und die Buch- staben aller in je einem Distichon vorkommenden Wörter nach ihrem Zahlenwerte additiv vereinigt geben die gleiche Summe, eine Spielerei, welche an die im ersten nachchristlichen Jahrhunderte in Alexandria geübte Gematrie (S. 125) täuschend erinnert. Wirk- lich ist auch einer der Dichter, welche an Isopsephien sich versuchten, ein gewisser Leonidas von Alexandria, der, wie man aus in seinen Gedichten vorkommenden Persönlichkeiten zu ermitteln gewußt hat, in der Zeit von Kaiser Nero etwa gelebt haben muß!). Dann finden sich in der Anthologie auch eine große Anzahl algebraischer Rätselfragen. Wir haben (S. 285) das sogenannte euklidische Epigramm von den beladenen Tieren kennen gelernt; es steht in der Anthologie. Das Rinderproblem des Archimed (S. 312) steht nicht in derselben, gehört aber seinem Inhalte wie der dichterischen Einkleidung nach gleich- falls hierher, und man wird vielleicht nicht irre gehen, wenn man Inhalt und Form der Epigramme voneinander trennt, letztere erheb- lich später als ersteren entstehen läßt. Für mehrere von den alge- braischen Epigrammen gilt Metrodorus als Verfasser und da dieser nach den einen unter Constantin dem Großen, nach anderen im VI. Jahrhundert gelebt haben soll?), so wählten wir diese Stelle, um von den Epigrammen zu reden. Wir wollen freilich nur zwei der- selben hervorheben, welche eine gewisse Bedeutung zu besitzen scheinen. Wir meinen erstens eine Brunnenaufgabe, wenn dieses Wort den Sinn behalten soll, unter welchem wir es (8. 391) bei Besprechung der Ausmessungen des Heron eingeführt haben: Vier Springbrunnen es gibt. Die Zisterne anfüllet der erste Täglich; der andere braucht zwei Tage dazu, und der dritte Drei, und der vierte gar vier. Welche Zeit nun brauchen zugleich sie? Wir meinen zweitens ein Epigramm, welches seinem Gegenstande nach an die Kronenrechnung des Archimed erinnert, durch die Art aber, wie die gegebenen Größen in ihm mit den Unbekannten verbunden sind, die Anwendung des Epanthems des Thymaridas er- heischt: ') H. Stadtmüller, Zur griechischen Anthologie in der Festschrift zur Einweihung des neuen Gebäudes für das Großherz. Gymnasium in Heidelberg 1894 besonders S. 40—43. Für die Lebenszeit des Leonidas von Alexandria standen uns mündliche Mitteilungen Stadtmüllers zu Gebote. ?) Jacobs, Comment. in Anthologiam Graecam T. XIII, pag. 917. Allerdings beruht nach Tannery (Prolegomena zum II. Bd. seiner Diophantausgabe (1895) pag. XII— XII) die Angabe von Jacobs auf einer Verwechslung von Persönlichkeiten gleichen Namens, und der Zusammensteller der algebraischen Epigramme lebte erst im VA8. u 5 Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. 463 Schmied’ mir die Krone und menge das Gold mit dem Kupfer zusammen, Füg’ auch Zinn noch hinzu samt sorglich bereitetem Eisen. Sechzig der Minen sie hab’ an Gewicht. Zwei Drittel der Krone Wiege das Gold mit dem Kupfer gemengt; drei Viertel dagegen Gold mit dem Zinn im Gemisch; drei Fünftel betrage das Gold noch, Wenn du es fügst zu dem Eisen. Wohlan! nun sage mir pünktlich, Was du an Gold mußt nehmen und Kupfer, zu treffen die Mischung; Wie viel Minen an Zinn; auch nenne die Masse des Eisens, Daß du zu schmieden vermagst von sechzig der Minen die Krone. Mag nun Metrodorus unter Constantin dem Großen im ersten Drittel des IV. S. oder erst im VI. S. gelebt haben, mag im ersteren jetzt allerdings so gut wie ausgeschlossenen Falle ein Mann, dessen Persönlichkeit einem sogleich von uns zu erwähnenden ee: den Inhalt gab, vor Jamblichus gelebt haben, so konnte die strenge Zeitfolge für unsere Darstellung nicht aßbehen sein. Jamblichus ist von den Neuplatonikern nicht zu trennen. Er ist in seinen Schriften durch die Leistungen Diophants — denn dieser ist der Mann, den wir im Auge haben — nicht im geringsten beeinflußt. Er konnte daher ohne Rücksicht auf die Lebenszeit des anderen selbständig behandelt werden. In gleicher Weise ist umgekehrt eine Einwirkung des Jamblichus auf Diophantus von Alexandria!) nicht zu bemerken. Der Name dieses Schriftstellers war selbst dem Zweifel unter- worfen, so lange man in griechischer Sprache nur die Genitivform kannte, welche ebensowohl von einer Endung ng als og sich herleiten konnte. Man berief sich aber auf die arabische Form des Namens, welche mit der hier benutzten übereinstimmt und fand alsdann volle Bestätigung in einer Stelle des Kommentars Theons von Alexandria zum ersten Buche des Almagestes, wo unzweideutig Sıdpavrog steht und unser Algebraiker gemeint sein muß, weil es sich bei Theon?) um einen Satz handelt, der bei Diophant wirklich in dem dort an- gegebenen Wortlaute vorkommt. Der gleichen Form Aısypavrog hat sich auch Johannes von Jerusalem bedient?). Am Ende des VII. S. ") Über Diophant hat Cossali, Origine, trasporto in Italia, primi pro- gressi in essa dell’ algebra I, 56—95. Parma 1797, gehandelt; dann Otto Schulz in der Einleitung und den Anmerkungen zu seiner deutschen Übersetzung des Diophant. Berlin 1822; Nesselmann, Algebra der Griechen S. 243 — 476. Hankel 157—171. T. L. Heath, Diophantos of Alexandria. Cambridge 1885. P. Tannery in der Bibliotheca mathematica 1887 pag. 37—43, 81—88, 103—108 und 1888 pag. 3—6. ?°) Theon d’Alexandrie (ed. Halma) I, 111. °) Vossius, De scientiis mathematicis (Amsterdam 1650) pag. 432 hat die betreffenden Worte abgedruckt und zitiert dafür „pag. 683 edit. Basil.“ Tannery hat sie in seine Diophantausgabe II, 36 in der Form aufgenommen, welche sich im Pariser Kodex 1559 erhalten hat. 464 23. Kapitel. lebte nämlich Johannes von Damaskus, der gleich seinem Vater Sergius als Christ Schatzmeister des Kalifen “AbdAlmelik war. Er zog sich jedoch bald in das Kloster Saba zurück, wo er, wie die einen sagen, 780, nach anderer Meinung 760 gestorben ist!). Das Leben dieses Johannes von Damaskus hat nun sein jerusalemitischer Namensgenosse beschrieben und ihm dabei nachgerühmt, er sei in der Geometrie so bewandert gewesen wie Euklid, in der Arithmetik wie Pythagoras und Diophantus. Für das Leben des Diophantus sind uns zwei weit getrennte Grenzen gegeben. Damit Theon seiner erwähnen konnte, müssen seine Schriften spätestens um 370 vorhanden gewesen sein. Damit er Hypsikles nennen konnte, dessen Definition der Vieleckszahlen er uns aufbewahrt hat (S. 361), muß er später als 180 v. Chr. gelebt haben. So ist ein Zwischenraum von ganzen 550 Jahren gewonnen, in welchem Diophant unterzubringen ist. Die Gründe, weshalb man früher vermutete, Diophant müsse ganz am Ende der überhaupt mög- lichen Zeit gelebt haben, sind teils negative, teils ein positiver. Negativ ließ man sich dadurch bestimmen, daß weder bei Niko- machus, noch bei Theon von Smyrna, noch bei Jamblichus eine Er- wähnung des Diophant oder seiner Lehren aufgefunden worden ist, so nahe dieselbe gerade diesen Schriftstellern gelegen hätte, daß über- haupt eine Einwirkung des Diophant auf griechische Arithmetik nicht nachzuweisen ist, was nur dann begreiflich erscheine, wenn man an- nehme, er habe erst nach den Männern gelebt, welche ihn einigermaßen, wenn auch nicht vollkommen zu verstehen imstande waren. Dazu kommt dann das positive Zeugnis des Abulpharagius, eines syrischen Geschichtsschreibers aus dem XIII. S,, Diophant sei Zeitgenosse des Julianus Apostata gewesen, welcher 361—363 regierte. Der einzige, aber für uns den Ausschlag gebende Gegengrund ist der, daß Michael Psellus in einem Briefe sagt?), Anatolius habe eine Schrift über das ägyptische Rechnen dem Diophant gewidmet, und Anatolius war (8. 458) seit 270 Bischof von Laodicea. Diophant würde danach etwa in die Mitte des III. S. zu setzen sein, und die mangelnde Einwirkung auf Jamblichus wäre daraus zu erklären, daß dieser, wenn er Diophants Schriften kannte, sie nicht ver- stand. Das mehrerwähnte Epigramm enthält alles, was wir von den persönlichen Verhältnissen des Diophantus wissen. ) A. von Kremer, Kulturgeschichte des Örientes II, 402—403 (Wien 1877). °) Tannerys Diophantausgabe II, 37—42, insbesondere pag. 38 lin. 22 bis 25. Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. 465 Hier dies Grabmal deckt Diophantus. Schauet das Wunder! Durch des Entschlafenen Kunst lehret sein Alter der Stein. Knabe zu sein gewährte ihm Gott ein Sechstel des Lebens; Noch ein Zwölftel dazu, sproßt' auf der Wange der Bart; Dazu ein Siebentel noch, da schloß er das Bündnis der Ehe, Nach fünf Jahren entsprang aus der Verbindung ein Sohn. Wehe das Kind, das vielgeliebte, die Hälfte der Jahre Hatt’ es des Vaters erreicht, als es dem Schicksal erlag. Drauf vier Jahre hindurch durch der Größen Betrachtung den Kummer Von sich scheuchend, auch er kam an das irdische Ziel. Wurde Diophant x Jahre alt und starb der Sohn, als er die Hälfte der damaligen Jahre des Vaters erreicht hatte'!), so entspricht das Epigramm der Gleichung: (5 - 15 2. ER + 5) + r + vs + 7 - 5) +4—x oder 32.—196 mit »— 65... Auf die Kindheit fielen als- dann 10. Jahre. Nach weiteren De Jahren (mit 16, J ahren) sproßte der Bart. Nach weiteren 9, Jahren (mit 25 Jahren) folgte die Verheiratung und 5 Jahre später (mit 30, Jahren) die Geburt des Sohnes, der selbst 30, Jahre alt war als er starb und der Vater mit 61, Jahren doppelt so alt war. Endlich überlebte der Vater den Sohn um 4 Jahre und wurde 65, Jahre alt. Wer aber Diophantus von Alexandria war, darüber sagt uns auch das kleine niedlich erfundene Rätselgedicht nicht das mindeste. Es fällt in das Gebiet der durchaus ungestützten Vermutungen, wenn man hat behaupten wollen, Diophant von Alexandria habe in dieser Stadt nur seinen Wohnsitz gehabt und sei selbst gar nicht Grieche gewesen, so wenig wie seine Wissenschaft griechischen Ursprunges sei. Die Mög- lichkeit dieser Annahme ist nicht ausgeschlossen; man kann ihr bei- pflichten ohne in bestimmter Weise Widerlegung zu finden; aber sie ist nicht notwendig. Erinnern wir uns der algebraischen Begriffe, welche wachsend und an Gewicht zunehmend bei Euklid, bei Archimed, bei Heron, bei den Neupythagoräern, bei Pappus uns begegneten, und wir haben nicht nötig die Brücke abzubrechen, welche auf dem Boden ") So die Deutung, welche Heinrich Weber uns brieflich vorschlug, und welche vor der früheren, nach welcher der Sohn halb so alt geworden sein sollte als der Vater im ganzen war, wodurch man Diophants Alter auf 84 Jahre ausrechnete, den Vorzug besitzt, daß die auftretenden Zahlen den gemeldeten Ereignissen besser entsprechen, als wenn z. B. 14 Jahre auf die Kindheit fallen, mit 26 Jahren erst der Bart sproßt usw. CANToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 30 466 23. Kapitel. Alexandrias, den jedenfalls Euklid, Heron und Pappus bewohnten, in fast unmerklicher Steigung, wenn man die Weite der Jahreskluft er- wägt, von den Hauaufgaben des Ahmes zu den Gleichungen des Diophantus hinaufführt. Uns ist Diophant mit seinem in Griechen- land mehrfach vorkommenden Namen wirklicher Grieche, Schüler griechischer Wissenschaft, wenn auch ein solcher, der weit über seine Zeitgenossen hervorragt, Grieche in dem, was er leistet, wie in dem, was er zu leisten nicht vermag. Eines wollen wir dabei keineswegs ausgeschlossen haben, was wir übrigens zu Anfang dieses Kapitels anzudeuten schon Gelegenheit nahmen: daß nämlich die griechische Wissenschaft, wie sie von Alexandria aus nach Westen und nach Osten erobernd vordrang, wovon folgende Abschnitte unseres Bandes Zeugnis ablegen, von den gleichen Eroberungszügen auch neuen Wert an Ideen mit nach Hause brachte, daß die griechische Mathematik als solche nie aufgehört hat sich anzueigneny was sie da oder dort Aneignenswertes fand. Diophant hat ein Werk unter dem Namen Arithmetisches'), coıduntıxd, verfaßt, über dessen Einteilung er sich in der Vorrede folgendermaßen äußert: „Da aber bei der großen Masse der Zahlen der Anfänger nur langsam fortschreitet, und überdies das Erlernte leicht vergißt, so habe ich es für zweckmäßig gehalten, diejenigen Aufgaben, welche sich zu einer näheren Entwicklung eignen und vorzüglich die ersten Elementaraufgaben gehörig zu erklären und dabei von den einfachsten zu den verwickelteren fortzuschreiten. Denn so wird es dem Anfänger faßlich werden, und das Verfahren wird sich in seinem Gedächtnisse einprägen, da die ganze Behandlung der Aufgaben 13 Bücher umfaßt“?). Dreizehn Bücher waren es also, und nur von einem Werke des Diophant ist bei zwei arabischen Schriftstellern, die seiner erwähnen, die Rede?). Dem gegenüber enthalten die griechischen Handschriften, welche sich erhalten habent), nur sechs Bücher (eine einzige enthält den gleichen Text in sieben Bücher abgeteilt), enthalten sie eine besondere Schrift des Diophant über Polygonalzahlen, verweisen ') Die beste ältere Textausgabe ist die von Bachet de M&ziriac von 1621. Dagegen ist ihr Wiederabdruck mit den Anmerkungen von Fermat, Toulouse 1670, vielfach durch Druckfehler entstellt. Eine neue kritische Text- ausgabe hat P. Tannery besorgt, Leipzig 1893. Eine deutsche Übersetzung von OÖ. Schulz erschien Berlin 1822, eine abermalige von G. Wertheim, Leipzig 1890. Wir zitieren nach den Ausgaben von Tannery und Wertheim. ?) Diophant (Tannery) pag. 14, (Wertheim) S.8. ®) Nesselmann, Algebra der Griechen 8. 274, Note 37. *) Die Handschriften sind einzeln aufgezählt bei Nesselmann $. 256, Note 23. Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. 467 sie an einzelnen Stellen auf eine Schrift des Diophant, welche den Namen der Porismen geführt habe. Außerdem berichtet ein unbe- kannter griechischer Scholiast!) in einer in Florenz befindlichen Handschrift von einer Schrift Moriastica, d. h. Teilungsgrößen des Diophant. Ob darunter eine Bruchrechnung verstanden sein soll, oder was sonst damit gemeint ist, ist nicht zu ermitteln. Man hat aus der stylistischen Verschiedenheit zwischen der wesentlich synthetischen Abhandlung über die Polygonalzahlen und den wesentlich analytischen arithmetischen Büchern geschlossen, es müssen hier zwei getrennte Werke vorliegen; man hat vermutlich daraus, daß in den arithmetischen Büchern die Porismen ausdrücklich genannt werden, gefolgert, auch sie müßten eine besondere Schrift gebildet haben. Man hat von anderer Seite weniger auf die Ungleich- artigkeit der Form, als auf den stets arithmetischen Inhalt Gewicht gelegt, und vermutet, es seien die Polygonalzahlen wie die Porismen ursprünglich Bestandteile der 13 Bücher des Diophant gewesen’). Wir neigen uns der ersten Meinung zu, deren wirkliche Gründe nicht vornehm beseitigt oder unberücksichtigt gelassen werden können. Glücklicherweise stimmen die Vertreter beider sich schroff ausschließen- den Ansichten in einer Meinung überein, der wir uns gleichfalls durchaus anschließen, und welche weitaus Wichtigeres betrifft als die Frage der Zusammengehörigkeit oder Nichtzusammengehörigkeit der genannten Stücke. Man hält nämlich allgemein dafür?): 1. daß uns von Diophant viel weniger fehlt, als man gewöhnlich glaubt, wenn man sich an das Zahlenverhältnis von 6:13 hält; 2. daß der Defekt nicht am Ende, sondern in der Mitte des Werkes, und zwar haupt- sächlich zwischen dem I. und II. Buche zu suchen ist; endlich 3. daß diese Verstümmelung des Werkes ziemlich frühe, gewiß aber vor dem XII. oder XIV. S. und bereits in Griechenland stattgefunden hat. Der dritte Satz ist dadurch zur Gewißheit erhoben, daß die älteste der vorhandenen Handschriften, ein Madrider Kodex vom XII. S., den gleichen Text wie die übrigen besitzt, daß ein Kommentar zu den beiden ersten Büchern, welcher etwa um 1300 entstand, ebenfalls für diese zwei Bücher wenigstens den heutigen Wortlaut bestätigt, daß ein deutscher Astronom, der berühmte Regiomontanus, in einem Briefe an seinen Fachgenossen Bianchini in Ferrara vom Monate Februar 1464 erzählt, er habe in Venedig einen griechischen Arith- ') Jamblichus en Nicomachum (ed. Pistelli) pag. 127 lin. 11—13. ?) Vertreter der ersten Meinung sind Reimer und Hankel, der zweiten Cole- brooke und Nesselmann. °) Nesselmann l. c. 3.265 hat die drei Thesen am deutlichsten und zwar in dem Wortlaute ausgesprochen, den wir uns hier aneignen. 30* 468 23. Kapitel. metiker Diophant entdeckt, der aber leider nur aus sechs Büchern bestehe, während deren 13 in der Einleitung versprochen seien!). Die beiden anderen Sätze folgen allerdings nicht mit der gleichen objektiven Gewißheit, sondern mehr für die Überzeugung dessen, der sich genau mit dem Studium. der vorhandenen Teile beschäftigt hat, aus diesen selbst. Man gewinnt das Gefühl, Diophant sei über das, was in den erhaltenen sechs Büchern steht, nieht hinausgekommen, es seien nur gewisse der Zahl nach beschränkte Kunstgriffe gewesen, über welche er verfügte, und mittels deren nicht viel mehr zu leisten war, als wir tatsächlich geleistet sehen. Man kommt so zu der Wahrscheinlichkeit, um nicht zu sagen zu der Gewißheit, daß am Schlusse unmöglich so viel fehlen kann, daß man von einer Erhal- tung nur der sechs oder sieben ersten Bücher zu reden berechtigt wäre. Dazu kommt die vorher angegebene Verschiedenheit, daß eine Handschrift in sieben Bücher teilt, was den anderen zufolge sechs Bücher waren. Dazu kommt der gelungene Nachweis, daß innerhalb der ersten drei Bücher Verschiebungen stattgefunden haben müssen, daß insbesondere eine Ablösung der beiden letzten Aufgaben des II. Buches von dem Vorhergehenden ebenso wie eine Vereinigung derselben mit den ersten Aufgaben des III. Buches durch den Sinn als notwendig erzwungen ist. Dazu kommt endlich eine unbedingt vorhandene Lücke, über deren Ausfüllung ein Zweifel nicht bestehen kann. In der Einleitung ist nämlich, wie wir noch sehen werden, die Auflösung der gemischten quadratischen Gleichung mit einer Unbekannten zugesagt. In den späteren Büchern ist dieselbe als be- kannt vorausgesetzt. Gelehrt muß sie also worden sein, aber die Vorschrift dazu fehlt. Diese bildete jedenfalls einen Teil und einen nicht unbeträchtlichen Teil des Verlorenen, da wir annehmen dürfen und müssen, die Lösung der gemischten quadratischen Aufgaben sei in drei Sonderfällen vorgetragen worden, deren jeder an zahlreichen Beispielen erläutert vielleicht ein ganzes Buch füllen mochte. Der Platz für diese Lösungen war am naturgemäßesten zwischen dem I. und Il. Buche, also dort, wo die große Lücke angenommen zu werden pflegt. Die Aufgaben, welche Diophant behandelt hat, sind von zwei ') Ch. Th. v. Murr, Memorabilia Bibliothecarum publicarum Norimbergen- sium et uniersitatis Altdorfinae 1, 135 (Nürnberg 1786) ist der Wortlaut des Briefes abgedruckt, die einzelne auf Diophant bezügliche Stelle schon bei Doppelmayr, Historische Nachricht von den Nürnbergischen Mathematiecis und Künstlern 8.5, Anmerkung y (Nürnberg 1730). Die letzte Ausgabe von Regio- montans Briefen gab Curtze in den Abhandlungen zur Geschichte der Mathe- matik XII; die betreffende Briefstelle s. S. 256—257. DR Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. 469 wesentlich verschiedenen Gattungen. Es sind algebraisch bestimmte und algebraisch unbestimmte Gleichungen, mit denen er sich be- schäftigte. Auf dem einen Gebiete besteht seine große Bedeutung darin, daß er Bekanntes in neuer Form vortragend ein organisches Ganzes schuf, wo früher, mindestens bei den Schriftstellern, die wir besitzen, nur zersplitterte Teile vorlagen. Auf dem anderen Gebiete stellt er uns den Pfadfinder vor, der abgesehen von einzelnen Vor- gängern, die nur die Vorhalle des Gebäudes betraten, zuerst unter den Griechen, soviel wir wissen, durch das Labyrinth der verwickeltsten Zahlenbedingungen und Beziehungen sich hindurchzuwinden weiß, sei es, daß er dabei nur dem eigenen Genius vertraute, sei es, daß ihm hier wirklich aus der Fremde der Faden der Ariadne gereicht war, der ihn vor Irrgängen sicherte. Wir reden zuerst von Diophants Leistungen in der bestimmten Algebra. Diophant selbst lehrt uns die Reihenfolge einhalten, da er in der schon erwähnten Vorrede gerade über die bestimmten Auf- gaben sich ausläßt und die unbestimmten Aufgaben kaum andeutet. Diophant beginnt mit den Worten: „Ich sehe, mein teuerster Diony- sius, mit welchem Eifer Du die Auflösung arithmetischer Aufgaben zu erlernen wünschest; ich habe daher versucht, das Verfahren wissen- schaftlich darzustellen, indem ich mit der eigentlichen Grundlage des- selben anfange, nämlich mit einer Entwicklung der eigentümlichen Natur und Beschaffenheit der Zahlen. Die Sache scheint vielleicht etwas schwierig, da sie noch gar nicht bekannt ist, und Anfänger haben immer wenig Hoffnung eines glücklichen Fortganges; aber Dein Eifer und meine Darstellung wird Dir alles recht faßlich machen, denn man lernt schnell, wenn Eifer und Unterweisung zusammen- kommt“). Die Worte „da sie noch gar nicht bekannt ist“, &xsudn) uno yvogıudv Eotı, wurden mitunter so verstanden, als behaupte Diophant damit, er trage ganz Neues, in Griechenland nicht Be- kanntes vor. Die neueren Bearbeiter sind übereinstimmend der Mei- nung, der Sinn sei gerade umgekehrt der, daß Diophant die Un- bekanntschaft des Dionysius allein mit den Auflösungen der arith- metischen Aufgaben betone. Ihm zuliebe will er das Verfahren wissenschaftlich darstellen von den Anfängen zu dem Gipfel aufsteigend. Die Richtigkeit dieser Auffassung wird durch die weitere Ein- leitung bestätigt, in welcher algebraische Begriffe der Reihe nach entwickelt sind, welche uns einzeln genommen schon hier und dort ‚») Diophant (Tannery) pag. 2, (Wertheim) 8.1. 470 23. Kapitel. bei griechischen Schriftstellern begegnet sind, und welche auch wohl in ihrer Fortbildung zu Diophants Zeiten schon wesentliche Fort- schritte gemacht haben müssen, sonst wäre die Kürze der Darstellung bei ihrer Einführung unbegreiflich. Quadratzahlen und Kubikzahlen z. B. mit ihren griechischen Namen Ödvvauıg und xvUßog sind uns längst bekannt. Diophant geht darüber hinaus und nennt Quadrato- quadrat (Övvauodvdveuıg), Quadratokubus (dvvaudxzvßog), Kubokubus (zuß6xvßog) das was durch stets wiederholte Vervielfachung mit der Grundzahl entsteht. Eigentlich versteht er unter diesen Namen auch das nicht, was wir ihm folgend ausgesprochen haben. Nicht die zweite bis zur sechsten Potenz irgend einer Zahl, sondern nur diese Potenzen der unbekannten Zahl, um deren Auffindung es sich in der betreffenden Aufgabe handelt, hat Diophant im Sinne. Für sie gelten die abgekürzten Bezeichnungen, welche er weiter er- örtert, und welche aus den Anfangsbuchstaben ö und x bestehen, denen noch rechts oben ein v, der zweite Buchstabe sowohl von Övvauıs als von xVßog, augehängt wird. Was also die moderne Al- gebra durch x*, x*, x*, «°, x° bezeichnet, schreibt Diophant: 0°, x°, 00°, 00 gewissermaßen unter Ersetzung der Potenzen durch ihre Exponenten und dem entsprechend unter Addition der Exponenten, wo es sich um die Multiplikation der Potenzen handelt. Die gesuchte Zahl selbst, welche eine unbekannte Menge von Einheiten enthält, heißt schlechtweg die Zahl, «@oıduög. Diophant bedient sich für sie des Zeichens 5'!), welches man früher für ein finales Sigma hielt; es ist aber wahrscheinlicher gemacht worden?), daß man es mit einem auch sonst vorkommenden sogenannten Kompendium für «o, als Anfangs- buchstaben von «@oı$uog zu tun hat. Dabei ist zu bemerken, daß die unbekannte Einheitsmenge in Diophants Definition zA7dog uorddwv «6oıorov heißt, also unter Anwendung des Wortes des Thymaridas?) (S. 158). Endlich gibt es noch ein ständiges Zeichen für bestimmte Zahlen, welche Einheit uov«g heißen und u? geschrieben werden. Diophant begnügt sich nicht mit den bisher genannten Zahlen- arten. Er bedarf zu seinen Aufgaben auch noch der Brüche, welche jene Benennungen im Nenner führen, algebraische Stammbrüche, wie man sie insgesamt nennen möchte, um nicht von Potenzen mit nega- tiven Exponenten reden zu müssen. Diophant nennt den Stammbruch der Zahl «@oı$uoorov, den der zweiten Potenz Övvauoorov und so fort bis zu dem Stammbruche der sechsten Potenz xvßoxvßoorov. Man ı, Diophant (Tannery) pag. 6 lin. 5. ®, Heath |]. c. pag. 57—67. °) Nesselmann |. ce. S. 291, Anmerkung 54 hat die Stellen gesammelt. Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. 471 hat diese Wörter ganz zweckmäßig mit einfachem Bruche, quadrati- schem Bruche, endlich kubokubischem Bruche übersetzt!). Diophant lehrt hierauf die Multiplikation solcher Potenzen und algebraischer Stammbrüche unter sich in den vielfachsten Veränderungen. Natürlich gibt er dafür lauter einzelne Regeln, z. B. ein quadratoquadratischer Bruch multipliziert mit der Kubokubikzahl gibt das Quadrat. Wir a 1 würden schreiben „,-2°=x?”. Nur der Fall wird allgemein voraus- geschickt, daß eine dieser Potenzgrößen mit dem gleichnamigen Stamm- bruche vervielfacht die bestimmte Zahl als Produkt liefere, d. h. ur. = — 1, und daß, da bestimmte Zahlen bei allen Rechnungen wieder bestimmte Zahlen geben, das Produkt einer bestimmten Zahl und eines allgemeinen Ausdruckes wieder ein Ausdruck derselben Art sein werde. Diophant unterscheidet hinzuzufügende und abzügliche Zahlen. Die Addition nennt er üUn«odıs, die Subtraktion Asiyıs und besitzt für erstere zwar nicht, wohl aber für letztere ein eigenes Abkürzungszeichen, nämlich, wie er selbst sagt, ein verstümmeltes umgekehrtes % in der Gestalt 2. In den Handschriften sieht das Zeichen meistens so aus: A, und ist dahin gedeutet worden?), es sei ein aus A und I gebildetes Kompendium für den Anfang des Wortes Asirpyıg. Diophant rechnet dann mit Differenzen, vervielfacht sie und spricht dabei ohne weiteres die Regel aus: Eine abzügliche Zahl mit einer abzüglichen vervielfacht gibt eine hinzuzufügende, eine abzüg- liche mal einer hinzuzufügenden gibt eine abzügliche?). Daß dabei von positiven und negativen Zahlen als Maße entgegengesetzter Größen keine Rede ist, bedarf wohl kaum besonderer Erwähnung. Nur mit Differenzen weiß Diophant umzugehen, mit solchen Differenzen, die einen wirklichen Zahlenwert besitzen, d. h. deren Subtrahend kleiner ist als der Minuend. Mit solchen aber rechnet er in vollster Ge- wandtheit und schlägt seinem Dionysius vor sich die gleiche Gewandt- heit zu erwerben: „Es ist aber sehr zweckmäßig, ehe man sich an die Auflösung von Aufgaben macht, sich in der Addition, Subtraktion und Multiplikation dieser Ausdrücke zu üben; besonders wie man eine Reihe hinzuzufügender und abzüglicher Ausdrücke mit ungleichen Jahlenfaktoren zu anderen allgemeinen Ausdrücken addiert, die ent- weder bloß hinzuzufügende sind oder aus hinzuzufügenden und ab- züglichen Gliedern bestehen; ferner wie man von einer Reihe hinzu- zufügender und abzüglicher Zahlen andere subtrahiert, die entweder ') Diophant (Tannery) pag. 6, (Wertheim) S.3. ?) Heath. c. pag. 71 bis 73. ®) Aeidıg Eri Asinpıv nohhanhacıachelise morsi dUmagfıv, Aeinpıs ÖE Eni ünagsıv morei Asiypır. 472 23. Kapitel. bloß hinzuzufügende sind, oder auch aus hinzuzufügenden und ab- züglichen Gliedern bestehen“!). Die Subtraktion der größeren Zahl von der kleineren ist aber für Diophant unmöglich, gibt ihm keine Zahl, kann daher als Auflösung irgend einer Aufgabe nicht vor- kommen. Dem entspricht die Tatsache, daß negative Gleichungs- wurzeln bei Diophant nirgends erscheinen, wenn auch die hier er- örterte Begründung nicht ausgesprochen ist. Abgesehen von dem Nichtvorhandensein negativer Zahlen als solcher ist es aber eine hoch entwickelte Buchstabenrechnung, welcher wir uns bei Diophant gegenüber befinden. Es fehlt ihr nicht einmal ein Gleichheitszeichen, indem «er Buchstabe ı als Abkürzung des Wortes ioo: (gleich) benutzt wird. Das hat sich aus erneuter Ver- gleichung der Pariser Handschrift, nach welcher Bachet de Meziriac 1621 einen Abdruck ausführen ließ, ergeben?). Nur in einer aller- dings nicht unbedeutenden Verschiedenheit kann man einen gewissen Gegensatz der diophantischen Schreibweise gegen diejenige, welche seit dem XVI. S. sich allmählich einbürgerte, erkennen. Die moderne Buchstabenrechnung hat es durchgehend mit Symbolen zu tun, welche sich selbst zur Aussprache einer Wahrheit genügen. Diophant rechnet und schreibt mit Abkürzungen, welche mit ausgeschriebenen Wörtern abwechseln und gleich diesen grammatischer Beugung unterworfen sind, wie sie auch unbedenklich durch Partikeln und dergleichen von- einander getrennt werden. Man vergleiche z.B. 0x+30=11r+15 mit dem diophantischen Ss” &o« 7 u A iooı siolv 530% Id uovdor ve und man wird sich des Gegensatzes sofort bewußt werden?). Wie Gleichungen aufgelöst werden, ist in Diophants Einleitung überaus klar und bestimmt gelehrt: „Wenn man nun bei einer Auf- gabe auf eine Gleichung kommt, die zwar aus den nämlichen allge- meinen Ausdrücken besteht, jedoch so daß die Koeffizienten an beiden Seiten ungleich sind, so muß man Gleichartiges von Gleichartigem abziehen, bis ein Glied einem Gliede gleich wird*). Wenn aber auf einer oder auf beiden Seiten abzügliche Größen vorkommen, so muß man diese abzüglichen Größen auf beiden Seiten hinzufügen, bis auf beiden Seiten nur Hinzuzufügendes entsteht. Dann muß man wiederum Gleichartiges von Gleichartigem abziehen, bis auf jeder Seite nur ein Glied übrig bleibt.“ Die Zurückbringung einer Gleichung durch Additionen und Sub- traktionen auf die Form ax" = bx”, wo m und n ganze voneln- ') Diophant: (Tannery) pag. 14, (Wertheim) 8.7. °) Vgl. Rodet im Journal Asiatique, Tieme serie, T. XI (Janvier 1878) pag. 42. °) Vgl. Nessel- mann ].c. S. 300—801. *) Eus & &v sldog Evi zldsı l6ov yErnraı. Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. 473 ander verschiedene Zahlen bedeuten, deren eine auch Null sein kann, ist damit in eine Regel gebracht, so unzweideutig, wie wir nur selten im Altertum Regeln ausgesprochen finden Bemerkenswert ist das Wort zidog für Glied, welches später in lateinischer Übersetzung durch species wiedergegeben den Ursprung des Namens arithmetica speciosa für Buchstabenrechnung gebildet hat. „In der Folge“, sagt Diophant noch weiter, „will ich Dir zeigen, wie man die Aufgabe löset, wenn zuletzt ein zweigliedriger Ausdruck einem eingliedrigen gleich wird.“ Damit beabsichtigte Diophant aber sicherlich nicht in gleicher Allgemeinheit wie bei dem vorigen Falle die Auflösung der Gleichung ax” +bx"=cx’ zu versprechen, sondern es kann sich nur um die gemischten quadratischen Gleichungen handeln. Allerdings treten dabei drei Möglichkeiten auf, indem nach Ausführung der vorbereitenden Operationen, die im obigen mitgeteilt wurden, entweder a +bx = c oder be +c=aa? oder ax +c—=bx als Gleichheit eines zweiglied- rigen Ausdruckes mit einem eingliedrigen erhalten wird, a, b, c selbst- verständlich als positiv gedatht. Das ist die früher erwähnte Zusage der Auflösung gemischtquadratischer Gleichungen, welche im vor- handenen Texte nirgend erfüllt vielfach als erfüllt vorausgesetzt wird, und daher den Beweis des Verlustes jener Auflösung liefert. Über den von Diophant bei der Auflösung einer gemischten quadratischen Gleichung eingeschlagenen Weg gibt die 24. Aufgabe des VI. Buches!) wohl die deutlichste Auskunft. Die dort erhaltene Gleichung heißt in modernen Zeichen geschrieben + 1960? — 3360 — © + 172 = 1962° + \,- Diophant sagt nun wörtlich wie folgt, wobei nur wieder moderne Zeichen statt der griechischen Abkürzungen gebraucht sind: „Man addiere auf beiden Seiten die abzüglichen Größen, ziehe Gleichartiges von Gleichartigem ab und vervielfache alles mit x, so erbält man 3362” +24 —=172x. Diese Gleichung aber läßt sich nicht auflösen, wenn nicht das Quadrat des halben Koeffizienten von x, nachdem man das Produkt der 24 Einheiten in den Koeffizienten von x? davon abgezogen hat, ein Quadrat wird.“ Was uns zuerst auffallend erscheinen mag, ist die Abhängigkeit der Auflösbarkeit der Gleichung von einer Bedingung, welche nicht etwa besagt, es müsse die unter dem Quadratwurzelzeichen erschei- nende Zahl ein Hinzuzufügendes sein, was gleich bei dieser Aufgabe, 86 + Y — 668 in welcher x = 955 Ist, nicht eintreffen würde, sondern welche, ') Diophant (Tannery) pag. 444, (Wertheim) $. 283—290. 474 23. Kapitel. wie einige Überlegung uns zeigt, darauf hinausläuft, daß die Wurzel der Gleichung rational werde. Ersetzen wir nämlich die bestimmten Zahlen durch allgemeine Buchstaben, so ist in der angeführten Auf- gabe von der dritten Gleichungsform a@w?+c—=bx die Rede und als Kennzeichen der Auflösbarkeit ausgesprochen, es müsse (3) — ac ui ein Quadrat sein. Wird aber die Gleichung mit dem Koeffizienten a von x° vervielfacht und durch beiderseitige Subtraktion von abz-+ac — (2) in die Form a?z? — abx + (5) - (2) - ac oder 2 2 (az — 3) — (2) — ac übergeführt, so entsteht b b\? er und Diophant knüpft, wie wir vorhin sagten, die Auflösbarkeit der Gleichung an die Rationalität der Quadratwurzel. Jene andere Be- dingung, deren wir gewärtig sein durften, daß nur Hinzuzufügendes unter dem Wurzelzeichen nach vollzogener Zusammenziehung der dort auftretenden Werte stehen dürfe — abzügliche Zahlen als solche sind, wie wir oben sahen, bei Diophant überhaupt nicht gestattet, also auch nicht unter einem Wurzelzeichen — steckt wohl in der diophan- tischen Bedingung enthalten, aber letztere geht noch bedeutend weiter und schränkt die Anzahl der auflösbaren Gleichungen beträchtlich mehr ein. Woher diese Beschränkung stammt, ist, wenn man weiter nachdenkt, unschwer zu erkennen. Die eigentliche Algebra sieht ab von der geometrischen Bedeutung der vorkommenden Glieder. Sie vereinigt z. B. wie in jener heronischen Aufgabe (S. 404) Flächen und Längen, beide nur als Maßzahlen aufgefaßt, in eine Summe. Dieser allgemeinere Standpunkt gestattet geometrisch undenkbare Fragestellungen, schließt aber zugleich nur geometrisch denkbare Antworten aus. Jede Quadratwurzel aus positiven Werten läßt mit Zirkel und Lineal sich geometrisch herstellen, so gut wie die Diago- nale des Quadrates eine geometrisch genau bestimmte Länge besitzt, aber in Zahlen ist eine Quadratwurzel nur möglich, wenn sie rational ist. Man halte uns nicht die heronische Aufgabe entgegen, auf welche wir eben uns bezogen haben, nicht die geodätischen Beispiele Herons, in welchen Näherungswerte von Quadratwurzeln vielfach benutzt sind, nicht Archimeds Rechnungen in seiner Kreismessung. Heron blieb Feldmesser, auch wo er der algebraischen Anschauung sich nähert, und die Feldmeßwissenschaft begnügt sich mit dem Maße geometri- scher Gebilde, so genau es in Zahlen hergestellt werden kann, während die Gebilde selbst geometrische Größen sind und bleiben. Archimed aber, gleichfalls von geodätischen Zwecken ausgehend, blieb noch I Sn u Ze ae Te a ee a 27e es n Die Neuplatoniker. Diophantus von Alexandria. 475 strenger den (Gesetzen geometrischer Behandlung auch bei seinen Zahlengrößen getreu: er bediente sich niemals angenäherter Gleichungen, sondern sprach Ungleichungen aus, welche er nur immer näher an- einander brachte. Die griechische Algebra, welche für Diophant einen Teil der Arithmetik bildet, kennt dagegen nur Zahlen als solche, Zahlen, die ausgesprochen werden können. Wir haben schon früher (S. 187) hervorgehoben, daß die Beschränkung sogar auf positive ganze Zahlen der griechischen Arithmetik lange eigentümlich war. Nikomachus, Theon von Smyrna, Jamblichus haben uns keine Ver- anlassung gegeben, diese Ansicht zu widerrufen. Brüche kommen bei ihnen nur in der Gestalt von Verhältnissen ganzer Zahlen vor. Auch die Seiten- und Diametralzahlen bei Theon (8.436) waren wesentlich ganze Zahlen, deren Verhältnis nur nach unserem Dafür- halten statt des Verhältnisses 1:2 näherungsweise eintreten konnte. Diophant hielt sich an die Ganzzahligkeit nicht mehr ge- bunden, und das ist ein zwar allmählich vorbereiteter, aber darum nicht minder wichtiger Fortschritt. Dagegen ist ihm das Irrationale immer noch keine Zahl. Kehren wir mit diesem Bewußtsein zu dem diophantischen Ver- fahren bei der Auflösung gemischter quadratischer Gleichungen zurück, so ist uns höchst bemerkenswert die Art, in welcher er die Auf- lösung vorbereitet. Genau so, wie wir es bei Heron kennen gelernt haben, vervielfacht er die Gleichung mit dem Koeffizienten des Quadrates der Unbekannten, statt durch diesen Koeffizienten zu dividieren. Darauf wies uns die bereits besprochene 24. Aufgabe des VI. Buches. Eine Bestätigung besitzen wir in der 45. Aufgabe des IV. Buches!): „Man findet, daß 2x? größer als 6= + 18 sein muß. Um nun hier eine Vergleichung anzustellen, so erhebe ich den halben Koeffizienten von x ins Quadrat und erhalte 9. Nun multiplizieren wir den Koeffizienten von x? mit der bestimmten Zahl 18, gibt 36. Dazu addieren wir 9, gibt 45, und davon ist die Wurzel nicht kleiner als 7. Dazu addieren wir den halben Koeffizienten von x und dividieren durch den Koeffizienten von x°, so finden wir, daß x nicht kleiner sein darf als 5.“ Hier ist freilich eine Ungleichung, keine Gleichung zu behandeln, allein das verändert das anzuwendende Verfahren nur so weit, als hier eine Grenze der betreffenden irrationalen Quadratwurzel ein- gesetzt werden darf, weil unter Annahme der richtigen Zahl statt 13, die Ungleichung 22? > 6x2 + 18 in die Gleichung 22?=- 6x2 +18 +k d. h. in eine Gleichung der zweiten Form übergehen würde, bei !) Diophant (Tannery) pag 304, (Wertheim) S. 187. 476 23. Kapitel. welcher z. B. durch k=2 die Irrationalität verschwände. Diophant geht nun folgendermaßen zu Werke Aus a =bxe+c+k erhält BF ic ‚) =ac+ () + ak, daraus teile aaa “) 2 er (az — Ve+b) +: oder endlich >. ENTER ETEE Noch eine andere Eigentümlichkeit, welche freilich bei der eben betrachteten Ungleichung nicht zu Tage treten kann, weil negative Zahlen als solehe für Diophant nicht existieren, besteht darin, daß nirgends zwei Auflösungen einer quadratischen Gleichung vorkommen, indem die Wurzelgröße sowohl hinzufügend als ab- züglich mit einer anderen Zahl höheren Wertes verbunden ist. Man hat allerdings die Bemerkung gemacht, unter den Beispielen, welche bei Diophant sich vorfinden, sei kein solches, bei welchem eine zweifache Möglichkeit positiver Wurzeln auftrete, weil immer noch gewisse zahlentheoretische Nebenbedingungen zu erfüllen seien, welche sich der Annahme der Wurzel mit negativer Quadratwurzel widersetzen, es sei also ein Zufall, der diese Lücke schuf, und man sei nicht be- rechtigt anzunehmen, Diophant habe wirklich nicht gewußt, daß es Aufgaben mit zwei voneinander verschiedenen Auflösungen gebe!). Es scheint indessen doch, daß man die Behauptung des Nichtwissens rechtfertigen kann. Kommt auch außer der (S. 473) erwähnten nicht auflösbaren Gleichung 3362? + 24 = 172x keine andere von der Gestalt ax? +c=bx bei Diophant, so weit er uns erhalten ist, vor, so trifft man doch bei ihm auf Ungleichungen von der Gestalt aa +cebx, welche je zwei positive Grenz- werte für x liefern, mag man eine in ihnen auftretende Quadrat- wurzel positiv oder negativ wählen. Im V. Buche begegnen wir den 6x 19 ._ 2° + 60 rin Er Diophant folgert aus ihnen = ig A “D beziehungsweise 19 ausdrücklich ausgesprochen ist. Wir haben es hier mit einer andern Schrift des Rhabda zu tun, mit der mehrfach, zuletzt in Gemeinschaft mit dem eben erwähnten Briefe gedruckten Abhandlung über das Fingerrechnen‘), &xpgwsıg tod Öaxtviıxod wEroov. Wir haben gesehen (S. 130), daß bei den griechischen Zeitgenossen des Lustspieldichters Aristophanes etwa um 420 v. Chr. das Fingerrechnen in Übung war. Wir haben keinerlei Grund anzunehmen, es sei jemals ganz in Vergessenheit geraten, aber doch ist die Darstellung des Rhabda die einzige in griechischer Sprache, in welcher förmlich gelehrt wird, was meistens durch münd- liche Überlieferung sich fortgesetzt haben mag. Rhabda schildert aufs ausführlichste, wie man durch Beugung der Finger die einzelnen Zahlen darstellen solle. Die Finger der linken Hand dienen zur Be- zeichnung der Einer und Zehner, die der rechten zur Bezeichnung der Hunderter und Tausender, und zwar ist die Aufeinanderfolge des Stellenwertes, wenn wir so sagen dürfen, von links nach rechts der- art festgehalten, daß der kleine Finger, der Ringfinger und der Mittelfinger der linken Hand für die Einer, Zeigefinger und Daumen der Linken für die Zehner in Bewegung gesetzt werden, Daumen und Zeigefinger der Rechten für die Hunderter, und endlich die drei letzten Finger der Rechten für die Tausender. Wir brauchen viel- griechischen Literatur III, 345 stellt die ungeheuerliche Vermutung auf, Arta- basdes sei vielleicht aus abacista entstanden. ı) Gerhardts Einleitung zu seiner Ausgabe des Rechenbuchs des Maxi- mus Planudes S. XII, Anmerkung. ?°) Notice sur les deux lettres arithmetiques de Nicolas Rhabdas (texte grec et traduetion) par M. Paul Tannery. KExtrait des Notices et extraits des manuscrits de la Bibliotheque nationale etc. Tome | XXXI, 1° Partie. Paris 1886. °) uedodog molırırav Aoyagıcouav. *) Ein Abdruck z. B. in Nicolai Caussini de eloquentia sacra et humana libri XVI. Lib. IX, cap. VIII, pag. 565sq. Cöln 1681. Vgl. auch Rödiger, Ueber die im Orient gebräuchliche Fingersprache für den Ausdruck der Zahlen, im Jahres- bericht der deutsch. morgenländ. Gesellsch. für 1845—46 und H. Stoy, Zur Geschichte des Rechenunterrichtes I. Theil (Jenaer Inaugural-Dissertation von 1876) 8. 36 figg. - Die griechische Mathematik in ihrer Entartung. 515 leicht nicht einmal hervorzuheben, wie sich in dieser Reihenfolge eine Übereinstimmung mit früheren Bemerkungen unserer Einleitung (S. 6—7) zu erkennen gibt. Es können also mittels beider Hände sämtliche Zahlen von 1 bis 9999 bezeichnet werden, vollauf aus- reichend für den gewöhnlichen Gebrauch und in Übereinstimmung mit der Sprachgewohnheit der Griechen, für welche 10000 das äußerste einfache Zahlwort darstellt. | Manuel Moschopulus ist wegen einer Anleitung zur Bil- dung von Quadratzahlen!) zu nennen. Dieser ungemein vielseitig gebildete Gelehrte war Schüler und Freund des Maximus Planudes und stand in schriftlichem Verkehr mit Kaiser Andronikos II. Palae- ologos (1282—1328), wodurch seine Lebenszeit ziemlich genau be- stimmt ist. Manuel Moschopulus hat, sagten wir, die Bildung von Quadratzahlen gelehrt, d. h. er hat gezeigt, wie man magische Quadrate herstelle, wie man die Zahlen von 1 bis zu irgend einer Quadratzahl n? in ebensoviele schachbrettartig geordnete Felder ver- teile, so daß die Summe der Zahlen in jeder Längsreihe, wie in jeder Querreihe und auch in den beiden Diagonalreihen stets dieselbe werde, natürlich "", da die Zahlen ae ee in n gleichsummige Reihen geordnet sind. Wenn wir sagten, Moscho- pulus habe die Herstellung des magischen Quadrates für irgend eine Quadratzahl n? gelehrt, so müssen wir von dieser Behauptung einen Teil wieder zurücknehmen. Nur zwei Hauptfälle sind erhalten, der eines ungeraden » und der eines geradgeraden n, d. h. wenn » von der Form 4m ist. Der dritte noch übrige Fall eines geradungeraden n, d.h. wenn n» von der Form 4m + 2 ist, fehlt in der uns erhaltenen Handschrift, es ist aber kaum zweifelhaft, daß Moschopulus auch ihn in einer verlorenen Schlußbetrachtung behandelt haben wird, wie er es zum voraus angekündigt hat?). Er hat dabei einen Gedanken und ein Wort benutzt, welche in der modernen Mathematik eine bedeut- same Rolle spielen, bei Moschopulus aber zuerst aufgefunden worden sind. Wir meinen den Ausdruck „Herumzählung im Kreise“®), ') 8. Günther, Vermischte Untersuchungen zur Geschichte der mathe- matischen Wissenschaften. Leipzig 1876, Cap IV, Historische Studien über die magischen Quadrate. Der Abdruck des griechischen Textes des Moschopulus nach einer Münchener Handschrift des XV. S. findet sich S. 195—203, dessen Diskussion S. 2083—212. Vielfache kritische Bemerkungen zum Texte von A. Eberhard in der Zeitschrift Hermes XI, 434 figg. Krumbacher S. 546—548. ?) Günther ]. c. pag.197 lin.2—5. °) Günther pag. 198, wo auch in einer Note auf die Wichtigkeit der in diesem Ausdrucke enthaltenen Anschauung auf- merksam gemacht ist. 33* 516 24. Kapitel. ÖsrEo Avaxvakoüvreg, wo ein Kreis eigentlich gar nicht vorhanden ist, sondern an das gedacht werden muß, was man gegenwärtig zyk- lische Anordnung, zyklische Vertauschung und dergleichen zu nennen pflegt. Es will uns recht zweifelhaft erscheinen, ob wirklich Moscho- pulus selbst der Erfinder der Methoden zur Auflösung der nichts weniger als leichten zahlentheoretischen Aufgabe war. Wenn er auf Andringen des Rhabda die Niederschrift vollzog, so ist damit keines- wegs gesagt, daß er Eigenes niederschrieb, und die Gesellschaft, in welcher wir Moschopulus zu nennen hatten, gibt keinenfalls der Ver- mutung Unterstützung, einen besonders geistreichen Erfinder mathe- matischer Dinge hier anzutreffen. Dazu kommt, daß uns ein Anfang fast magischer Quadrate bei Nikomachus (S. 438) begegnet ist, daß jedenfalls im X. S. magische Quadrate eine geheimnisvolle Rolle innerhalb der arabischen Philosophensekte der sogenannten laute- ren Brüder spielten), daß insbesondere die Quadrate mit 9, 16, 25, 36, 64 und 81 Feldern denselben bekannt waren, daß also sicherlich damals schon eine Methode vorhanden gewesen sein muß solche zu bilden. Die Zeit griechischer Mathematik, wir wiederholen es zum letzten Male, und man wird uns am Schlusse dieses Kapitels gern glauben, war vorbei. Wenn im XV. S. die vor dem Ösmanentum fliehenden letzten Byzantiner Handschriften altklassischen Wertes mit sich führten, deren Kenntnis im Abendlande zündend auf die Geister wirkte und jene glänzende Flamme entfachte, bei deren Scheine die Meisterwerke der Renaissance entstanden, so haben die Byzantiner selbst daran nicht mehr noch weniger teil als Insekten, welche wert- vollen Blütenstaub mit sich führen, während sie an dem Orte der Befruchtung sich verkriechen. Wie es aber kam, daß die Griechen ihre durch Jahrhunderte bewährte mathematische Kraft verloren, das ist eine Frage, zu deren Erörterung weitläufigere Auseinandersetzungen nötig wären, als sie hier im Vorübergehen möglich und gestattet sind. Eine Einwirkung politischer Verhältnisse wird ebensosehr an- genommen werden müssen, wie eine weiter und weiter abseits führende Verschiebung des wissenschaftlichen Interesses. Theologie und Jurisprudenz hatten in den Zeiten des Verfalles unserer Wissen- schaft sich vorgedrängt. Die letztere insbesondere war die bevorzugte Wissenschaft der nüchtern Denkenden geworden, und daß dem so war, dazu waren wieder politische Verhältnisse die Veranlassung. Die philosophischen Griechen waren die Untertanen eines fremden ) Dieterieci, Die Propädeutik der Araber im X. Jahrhundert 8. 42 figg. Berlin 1865 und Günther |. ce. S. 192 fleg. Die griechische Mathematik in ihrer Entartung. 517 Reiches geworden, dessen Gepräge sich auch ihnen um so deutlicher aufdrückte, je näher ihnen der Mittelpunkt des Reiches rückte. Die geistige Aufgabe dieses Reiches war eine andere. Ihm war es be- schieden, die Rechtswissenschaft zu begründen. Seine leitenden Ge- danken gab aber ein anderes Volk als die Griechen an, ein Volk, welches der Mathematik gegenüber gerade den höchstens erhaltenden Charakter an den Tag legte, den wir seit den Neuplatonikern deutlicher und deutlicher sich offenbaren sahen: das Volk der Römer. are EEE Ex Be er Br ER, Bo: BR N 25. Kapitel. Älteste Rechenkunst und Feldmessung. Wenn wir die Geschichte der Mathematik, wie sie auf italieni- schem Boden geworden ist, zum Gegenstande unserer Untersuchung machen, so müssen wir fast mehr als bei anderen Schauplätzen menschlicher Gesittung uns hüten Verschiedenartiges durcheinander zu mengen. Der Süden Italiens ist es gewesen, wo die hellenische Bildung des Pythagoräismus ihre Blüte hatte Das geographisch von Italien nicht zu trennende Sizilien hat die mächtige Küstenstadt Syrakus entstehen sehen, und es ist ein halbwegs berechtigter Na- tionalstolz italienischer Gelehrter, wenn sie Pythagoras und Archi- medes ihre Landsleute nennen. Aber freilich mehr als nur halb- berechtigt können wir diese Ansprüche auf den Ruhm der größten Mathematiker des Altertums für die eigene Vergangenheit nicht nennen, weil unserer Auffassung gemäß das Volk und die Sprache vor dem Lande die Zugehörigkeit bestimmt, und deshalb waren uns jene Männer Griechen. Zwischen den von Norden kommenden Kriegern, unter deren Streichen Archimedes verblutete, nachdem er seine Vaterstadt gegen sie lange verteidigt hatte, und denen, die im gleichen Dialekte mit Archimed sprachen und schrieben, muß die Kulturgeschichte einen Gegensatz erkennen lassen. Wir denken diesen Gegensatz recht laut zu betonen, wenn wir in diesem Abschnitte unseres Bandes überhaupt nicht von itälischer, sondern von römi- scher Mathematik reden. Mag ja auf italischem Boden mancherlei an mathematischem Wissen vorhanden gewesen sein noch bevor Rom entstand. Wir leugnen es so wenig, daß wir den Spuren nachzugehen bemüht sein werden. Immer aber soll, was wir finden, unter dem römischen Sammelnamen vereinigt werden. Über die älteste Geschichte der Bevölkerung des Landes von Nordosten her sind die Akten noch keineswegs abgeschlossen, wenn man auch gegenwärtig der Annahme zuneigt, eine altitalische Nation habe sich gebildet in der Ebene des Po, nachdem sie vorher von 522 25. Kapitel. den Hellenen, dann von den Kelten sich getrennt hatte‘). Von dort ging der Zug nach Süden und trieb ältere Bewohner vor sich her, vielleicht verwandt mit den Sikulern, den Einwohnern von Sizilien, deren Name in alten ägyptischen Urkunden zu den bekanntesten ge- hört. Wann diese Ereignisse stattfanden, ob mehr als 1000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, wie aus der Zusammenstellung mit Per- sönlichkeiten des trojanischen Krieges, die vielleicht mehr als eine Sage ist, hervorgehen könnte, darüber schwebt wieder tiefes Dunkel, kaum erhellt seit Auffindung jener alten Totenstadt am Albaner- see?), deren Graburnen unter einer Aschendecke vulkanischen Ur- sprungs sich erhalten haben, über welche Jahrhunderte einen Pflanzen- wuchs hervorriefen, der selbst wieder in einer einen halben Meter mächtigen Peperinschicht eine zerstörende und zugleich schützende Decke fand. Welche Rolle bei den Wanderungen und Niederlassungen auf der apenninischen Halbinsel die Etrusker spielten, welchem Völkerstamme überhaupt diese angehörten, ist ein weiterer Gegen- stand wissenschaftlichen Zweifels, und dieser Zweifel erstreckt sich so weit, daß man nicht einmal darüber einig ist, ob diejenigen Sitten und Gebräuche tatsächlich als etruskisch gelten dürfen, welche römisch-priesterliche Überlieferung uns als etruskisch be- zeichnet hat. Wir können und müssen uns genügen lassen, auf das Vorhanden- sein dieser vielen Rätselfragen von ausgesuchter Schwierigkeit hin- zuweisen, so wichtig deren Lösung gerade für die Geschichte der Mathematik wäre. Den Etruskern nämlich gehören mutmaßlich die Zeichen an, welche als Zahlzeichen den Römern dienten, ihnen wird zugeschrieben, was als praktische Feldmessung der Römer sich erhalten hat. Wir wollen mit den Zahlzeichen unsere Erörterungen be- ginnen. Zahlenbezeichnung, wenn auch nicht durch Zahlzeichen, war es, wenn die Etrusker, wenn ihnen folgend die Römer in dem Heilig- tume der Minerva alljährlich einen Nagel einschlugen, um die Zahl der Jahre vorzustellen?). Zahlzeichen sind diejenigen Charaktere, », H. Nissen, Das Templum, antiquarische Untersuchungen. Berlin 1869. Vgl. besonders Kapitel IV. Italische Stammsagen. ?) De Rossi in den Annal. dell’ Instit. 1867, pag. 36 sqq. °) Livius VII, 3. Vgl. für andere Stellen Friedlein, Die Zahlzeichen und das elementare Rechnen der Griechen und Römer und des christlichen Abendlandes vom 7. bis 13. Jahrhundert. Erlangen 1869, S. 19. Noch andere Analoga wie z.B. einzelne Striche, farbige Steinchen als Zahlenbezeichnung sind mit Beispielen belegt bei Rocco Bombelli, Stude archeologieo-eritiei circa lantica numerazione italica Parte I. Roma 1876, pag. 31. Älteste Rechenkunst und Feldmessung. 523 welche allmählich zu Buchstabenform sich abändernd das bilden, was gegenwärtig als römische Zahlzeichen bekannt ist!). Wie die ganze Schrift der Römer und der Etrusker bei hervorragender Ähnlichkeit es doch auch an wesentlichen Unterschieden nicht fehlen läßt, die eine unmittelbare Ableitung der einen aus der anderen zur Unmög- lichkeit machen, ist seit einem halben Jahrhundert festgestellt. Schon die linksläufige Schrift der Etrusker gegenüber von der rechtsläufigen der Römer deutet darauf hin, daß der Ursprung jener in eine Zeit zu -setzen ist, während deren die Griechen noch nicht durch die Über- gangsperiode einer in der Richtung von Zeile zu Zeile wechselnden Schrift hindurchgegangen waren, wogegen die römische Schrift diese Veränderung bereits voraussetzt. Die Annahme nicht unmittelbarer Ableitung auseinander findet noch Bestätigung darin, daß im römıi- schen Alphabete das altgriechische Koppa als @ erhalten ist, welches die Etrusker nicht kennen, während umgekehrt manche Buchstaben dem tuskischen Alphabet angehören, die dem römischen fehlen. Wann das etruskische Alphabet, welches nach Tacitus?) durch den Korinther Demaratus nach Italien kam, daselbst zur Einführung ge- langte, wissen wir ungefähr. Es wird zwischen 650 und 600 v. Chr. gewesen sein?). Die Trennung des römischen Alphabetes von dem gräkoitalischen Mutterstamme ist nicht zeitlich so bestimmt, doch muß sie jedenfalls eingetreten sein, bevor die Benutzung der Buch- staben als Zahlzeichen den Griechen bekannt war, also (S. 121) vor 500 v. Chr., denn bei den Römern sind niemals nach griechischem Muster die aufeinanderfolgenden Buchstaben des Alphabetes als Zahl- zeichen verwertet worden‘). Und dennoch sehen die ältesten Zahl- zeichen der Römer, sehen die der Etrusker Buchstaben ungemein gleich und ähneln sich untereinander so sehr (vgl. die hinten an- geheftete Tafel), daß die vorhandenen Übereinstimmungen unmöglich als Zufälligkeiten erklärt werden können. Zufällig erscheint vielmehr die Verwandtschaft mit den späteren römischen Zeichen IVXLCM, welche aus der Ähnlichkeit mit Buchstaben durch Volksetymologie sich in diese Buchstabenformen selbst verwandelten, noch ein Zeichen D für 500 zwischen C und M und ein Zeichen q vielleicht aus VI entstanden, für die 6 sich aneignend und © und M mit den Anfangs- Ottfried Müller, Die Etrusker Bd. I, S. 312—320. Breslau 1828. Th. Mommsen, Die unteritalischen Dialekte (besonders S. 19— 34). Leipzig 1850. Math.. Beitr. Kulturl. S. 161 flgg. Friedlein l. c. S.27figg. R. Bom- belli l. ce. pag. 33. °) Tacitus, Anmnales XI, 14. °) A. Riese, Ein Beitrag zur Geschichte der Etrusker. Rhein. Museum für Philologie (1865) XX, 295— 298. ‘) Über andere Benutzung von Buchstaben als Zahlzeichen bei Römern in ver- ‘mutlich recht später Zeit vgl. Friedlein l. c. S. 20—21. 524 25. Kapitel. buchstaben der Wörter centum und mille vergleichend. Der Ursprung der Zeichen für 5, 50, 500 ist, wie ziemlich allgemein zugestanden wird, in der Halbierung der Zeichen für 10, 100, 1000 zu finden, und nur die Entstehung dieser letzteren bleibt strittig., Am glaub- haftesten dürfte die mit Belegung durch reiches inschriftliches Material wahrscheinlich gemachte Vermutung sein!), daß die Decussatio, Verzehnfachung, jeweils durch Hinzutreten einer neuen Kreuzung des vorhandenen Zeichens mittels eines hinzutretenden geraden oder ge- krümmten Striches hervorgebracht worden sei. Neben der alphabetischen Reihenfolge ist auch die Benutzung der Anfangsbuchstaben von Zahlwörtern als Zeichen für die Zahlen begreiflich nächstliegend, und so erscheint die Frage nicht müßig, ob vielleicht die Buchstabenähnlichkeit der tuskischen Zahlzeichen so erklärt werden könne? Es ist bisher den Gelehrten, welche mit etruskischen Studien sich beschäftigt haben, nicht möglich gewesen diese Frage vollgültig zu beantworten, doch neigen sie zur Verneinung derselben. Wie schwierig übrigens die Beantwortung ist, geht schon daraus hervor, daß der Wortlaut der etruskischen Zahlwörter keines- wegs feststeht. Man hat im Jahre 1848 alte etruskische Würfel ge- funden, deren sechs Flächen mit Wörtern beschrieben sind, welche man mach, thu, zal, huth, ki, sa liest”). Man hat allseitig diese Wörter für die Namen der sechs ersten Zahlen gehalten, aber man ist uneinig darüber, welche Zahl jedes einzelne Wort bedeute?). Sei nun der Ursprung der tuskisch-römischen Zeichen welcher er wolle, eines tritt bei beiden Völkern hervor, was als hochbedeutsam hervorgehoben werden muß: die subtraktive Bedeutung eines Zeichens kleineren Wertes, sofern es vor einem Zeichen höheren Wertes, also bei den Etruskern rechts, bei den Römern links von demselben auftritt, wie IV’ =4 IX=8, IX=9, XL = 40, XC = 90, CD = 400, wovon das Zeichen für 8 schon zu den Seltenheiten ge- hört*). Die subtraktive Schreibung kann sehr wohl den Zweck der !) Zangemeister in den Monatsberichten der Berliner Akademie vom 10. November 1887. *) Bullettino dell’ Instituto di correspondenza archeologica. Roma 1848, pag. 60, 74. ®°) Vgl. Zeitschr. Mathem. Phys. XXI, Histor.-literar. Abtlg. S. 55, wo die Ansichten von Isaac Taylor denen der italienischen Ge- lehrten gegenübergestellt sind. Vgl. auch C. Pauli, Die etruskischen Zahl- wörter in den Etruskischen Forschungen und Studien von Deecke und Pauli, 3. Heft (Stuttgart 1882), wo die zehn ersten Zahlwörter heißen: 1 = sa, 2 = zal, 3—thu, 4—=huth, 5= mach, 6=ki, 7= men, 8 = cezp, 9 = semp, 10 = nurth. *, Die subtraktiven Ziffern sollen bei den Etruskern häufiger als bei den Römern zur Anwendung gekommen sein. Corssen, Ueber die Sprachen der Etrusker I, 39—41 (Leipzig 1874) gibt XIIIXX = 27, MI 47, auch das zweimal subtra- hierende fi XI =50—10—2=38 als etruskisch an. Älteste Rechenkunst und Feldmessung. 525 Raumersparung gehabt haben. Darum ist IIX statt VIII möglich, IIIX statt VII unmöglich!). Ein sprachliches Subtrahieren haben wir (S. 11) auch bei der Bildung der Zahlwörter anderer Völker in Erwägung ziehen dürfen, nirgend aber als bei den Etruskern und Römern findet sich die Subtraktion in den Zeichen versinnlicht, und es gehört zu den weiteren Eigentümlichkeiten, daß Zeichen und Sprache bei den Römern sich nicht decken. Schriftlich ist die Sub- traktion nur bis X, nicht bei den späteren Zehnern in Gebrauch, wie sich auch leicht verstehen läßt, weil z. B. IXXX dem Zweifel Raum gäbe, ob 29 (XXX weniger I) oder 11 (XX weniger IX) gemeint sei. Deutlichkeitsgründe waren es auch, welche dafür den Ausschlag gaben, daß auf Schwertklingen VIII statt IX geschrieben wurde, weil dieses, je nach der Seite, von welcher man die Klinge betrachtete, mit XI ver- wechselt werden konnte?). Dagegen wird sprachlich die Eins wie die Zwei nie von Zehn, sondern nur von den Zehnern: Zwanzig bis 100 abgezogen. Wir fügen hinzu, daß die Römer gleichfalls allein unter allen Völkern subtraktiver Ausdrücke auch bei Datierungen ihrer Monatstage sich bedienten. Was die schriftliche Darstellung von Zahlen über Tausend be- trifft, so ist zu verschiedenen Zeiten wahrscheinlich verschiedentlich verfahren worden. Eine Übereinstimmung in der Auffassung der einzelnen Stellen ist indessen nicht vorhanden’), nur die vertausend- fachende Wirkung eines über Zahlzeichen hinweggezogenen Hori- zontalstriches z. BB XXX = 30000, C = 100000, M = 1000 000 scheint außer Zweifel. Wenden wir uns zu den Zahlen unterhalb der Einheit, zu den Brüchen, so stehen wir hier vor einem ausgesprochenen Duo- dezimalsystem. Wir haben es mit einem ähnlichen Gedanken zu tun, wie bei dem Sexagesimalsystem der Babylonier und der grie- chischen Astronomen. Nur daß dort der jedesmalige Zähler seiner- seits angeschrieben wurde, als wenn er als ganze Zahl vorhanden wäre, und der Nenner durch Stellung oder durch ein eigentümliches dem Zähler anhaftendes Zeichen, Strichelchen oder dergleichen sich kund gab; bei den Römern sind dagegen für alle Zwölftel von En bis 11 3 E Zu 75 besondere Bruchzeichen und Bruchnamen vorhanden. Die Ähnlichkeit beider Systeme zeigt sich beispielsweise in Ausdrücken ) Th. Mommsen, Zahl- und Bruchzeichen. Hermes XXII, 596—614, ins- besondere 8. 603—605 über die subtraktive Bezeichnung. °) Th. Mommsen l.c. °®) Math. Beitr. Kulturl. S. 162—165. Th. H. Martin in den Annali di mate- matica (1863) V, 295—297. Friedlein |. ce. 8. 28—31. 526 ; 25. Kapitel. wie anderthalb Zwölftel. Unseren Begriffen nach ist das weit um- ständlicher gesprochen, als wenn wir ein Achtel sagen; dem Römer ist offenbar dieses Umständlichere das Einfachere und Faßlichere, ’ N i | s nr . r 1 \ weil er eben ein Zeichen für -;, sowie für die Hälfte von 15 besitzt, 12? ein solches für = dagegen nicht hat!). Auch der Grieche würde nur von sieben Sechzigsteln und von 30 zweiten Sechzigsteln reden, wenn er nicht neben und vor den Sexagesimalbrüchen die Stamm- brüche besäße, die dem Römer fehlen. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen den Sexagesimalbrüchen und den römischen Duodezimal- brüchen dürfte darin gefunden werden, daß beide von einer ganz bestimmten Teilung hergenommen sind, also ursprünglich benannte Zahlen waren, bis allmählich der Bruchgedanke über den des kleinen Bogenteiles der Babylonier, des kleinen Gewichtsteiles der Römer die Oberhand gewann. Wie alt freilich die Bruchzeichen bei den Römern gewesen sein mögen, ist nicht genau zu ermitteln. Etrus- kische Inschriften?) von mutmaßlich hohem Alter enthalten das Zeichen = n. Andererseits läßt ein Ausspruch von Varro die Deutung zu, als sei die kleinste Brucheinheit von 255 As in der Zeit vor den punischen Kriegen entstanden?). Die Frage, wie man zu dem Systeme fortgesetzter Zwölfteilung gekommen sei, läßt sich, gleich vielen ähnlichen Fragen, leichter stellen : als beantworten. Möglicherweise ist an die von der Natur gegebene, auf den gegen- seitigen Stellungen von Sonne und Mond am Himmel beruhende Zwölfteilung des Jahres in Monate als Ursprung zu denken. Wenn auch Romulus in erster Linie ein Jahr von zehn Monaten einsetzte, so sind doch zwölf Monate von der Sagengeschichte mit dem Namen des Königs Numa oder des älteren Tarquinius in Verbindung gebracht, also vielleicht älter als die römischen Gewichte. Es erscheint zweckmäßig hier anzuknüpfen, was man über das gewöhnliche Rechnen der Römer weiß mit Ausschluß eines denselben vielleicht bekannten wissenschaftlichen Rechnens, von welchem unter Boethius die Rede sein muß. Das gewöhnliche Rechnen wird wohl auf dreierlei Art geübt worden sein: als Finger- !) Auch noch Volusius Maecianus, der in der Mitte des II. S. n. Chr. lebte (vgl. Mommsen in den Abhandlungen der Sächsischen Gesellschaft der 1 | I? Wissensch. III, 281—285. 1853), setzt in seinen Zeichen Fee 2, Vgl. Corssen l.c. °) Varro, De re rustica I, 10: Habet iugerum scriptula COLXXXVIII quantum as antiqwus noster ante bellum Punicum pendebat. Älteste Rechenkunst und Feldmessung. 5927 rechnen, als Rechnen auf einem Rechenbrett, als Rechnen unter Be- nutzung vorhandener Tabellen. Das Fingerrechnen hat die älteste Überlieferung für sich, indem nach Plinius!) schon König Numa Zahlendarstellung mittels der Finger kannte. Er ließ nämlich ein Standbild des doppelt- beantlitzten Janus errichten, dessen Finger die Zahl 355 als Zahl der Jahrestage andeuteten. Ein späterer römischer Schriftsteller, Macrobius?), weiß von derselben Sitte den Janus mit gekrümmten Fingern abzubilden, nur nennt er nicht König Numa als Urheber und gibt die dargestellte Zahl der Jahrestage zu 365 an, offenbar dem späteren römischen Jahre diese Zahl entnehmend, ohne daß ein. altes Bildwerk ihm vor Augen gewesen wäre. Martianus Capella?) läßt die als Göttin auftretende Arithmetik die Zahl 717 mittels der Finger darstellen. Neben diesen Angaben ganz bestimmter durch Fingerbeagung angedeuteter Zahlen kann man noch viele Stellen römischer Schriftsteller aus den verschiedensten Zeiten anführen, welche das Fingerrechnen im allgemeinen bestätigen. Die rechte Hand, sagt Plautus‘), bringt die Rechnung zusammen. Mit Wort und Fingern läßt Suetonius®) die Goldstücke abzählen. Bei Quin- tilian®) ist von einer Abweichung von der Rechnung durch unsichere oder unschickliche Bewegung der Finger die Rede, Firmicus Mater- nus”) erinnert daran, daß Anfänger im Rechnen die Finger zu Hilfe nehmen und ähnlich bei anderen®). Wir führen nur eine Stelle noch besonders an, weil sie die fortschreitende Reihenfolge von links nach rechts bestätigt, welche wir zuletzt noch bei Nikolaus Rhabda (8. 514) als Regel kennen gelernt haben. Juvenal”) läßt nämlich den mehr als Hundertjährigen die Zahl seiner Jahre schon an der rechten Hand zur Darstellung bringen. Eine ausführliche Beschreibung, wie man Zahlen durch Fingerbewegungen kenntlich mache, von Beda Venera- bılis, dem schottischen Mönche aus dem VII. und VIII. S., gehört bereits der Literatur des Mittelalters an, und wird uns im 38. Kapitel beschäftigen. Vielleicht mit jener mittelalterlichen Verbreitung des Finger- ı) Plinius, Histor. natur. XXXIV, 16. ?°) Macrobius, Conviv. Saturn. I, 9. ®) Martianus Capella, Satura VII init. *) Plautus, Miles gloriosus Act. II sc. 3: Dextera digitis rationem computat. °) Suetonius, Claudius XXI... ut oblatos aureos voce digitisque numeraret. °) Quintilian I: & digi- torum solum incerto aut indecoro gestu a computatione dissentit. °) Firmicus Maternus I, 5, 14 Vides ut primos discentes computos digitos tarda agitatione deflectant? °) Eine Zusammenstellung, bei welcher auch die Kirchenväter be- rücksichtigt sind, bei Rocco Bombelli l. c. pag. 101—107. °) Juvenalis, Sat. X, v. 248 suos jam dextra computat annos. 528 25. Kapitel. rechnens, vielleicht aber auch schon mit römischen Gewohnheiten sind Spuren in Verbindung zu setzen, welche bis auf den heutigen Tag sich erhalten haben. In der Walachei') bedient man sich der Finger, um das Produkt zweier einziffriger Zahlen, die größer als 5 sind, zu finden. Die Finger jeder der beiden Hände erhalten vom Daumen zum Kleinenfinger aufsteigend die Werte 6 bis 10. Hat man nun zwei Zahlen, z. B. 8 mal 9 zu multiplizieren, so streckt man den Achterfinger (Mittelfinger) der einen und den Neunerfinger (Ringfinger) der anderen Hand vor. Die nach dem Kleinenfinger hin übrigen Finger beider Hände (2 Finger und 1 Finger) multiphi- ziert man miteinander und hat damit die Einer (2-1 = 2) des Pro- duktes.. Die von den Daumen aus vorhandenen Finger mit Ein- schluß der ausgestreckten Finger (3 Finger und 4 Finger) addiert man und hat damit die Zehner (3 +4=[1) des Produktes (3-9=12). Die Richtigkeit dieser komplementären Multipli- kation ist einleuchtend. Heißen «a und b die zu vervielfältigenden Zahlen, so sind 10 —a und 10 —b die noch übrigen Finger zum Kleinenfinger hin, «—5 und b—5 die Finger vom Daumen an. Die Regel läßt also (10 —a)- (10 -—b) +10 (a —5 +b—5) — 100 — 10a — 105 + ab + 10a + 105 — 100 = ab bilden. Der Zweck, der erreicht wird, besteht darin, daß hauptsächlich nur der Anfang des Einmaleins bis zu 4 mal 4 auswendig behalten werden muß und die Erlernung der Abteilung, die mit 6 mal 6 beginnt, erspart bleibt. Wenn wir nun die Mutmaßung wagen, es sei hier römisches Fingerrechnen zu verfolgen, so veranlassen uns dazu die eigentüm- lichen Tatsachen, daß die römischen Zahlzeichen VI, VII, VII, oder IIX, VIII oder IX sehr leicht zur Beachtung der Ergänzungs- zahlen, die hier benutzt sind, führen konnten; daß ein ganz ähn- liches Verfahren auch bei französischen Bauern gefunden worden ist; daß wir im Mittelalter ähnlichen Regeln begegnen werden, die im 40. Kapitel zu besprechen sind; daß auch ein komplementäres Divisionsverfahren unsere Aufmerksamkeit mehrfach in Anspruch nehmen wird, für welches ein anderer Ursprung als ein römischer zunächst nicht zu Gebote steht. Wir sagen zunächst, denn es wäre immerhin möglich, daß auch die komplementären Rechnungsverfahren bis nach Griechenland verfolgt werden müßten, wenn die nötigen Voraussetzungen, wir meinen griechische Lehrbücher der Rechen- kunst, vorhanden wären. Wir erinnern an jenes dem Nikomachus »), D. Pick in Hoffmanns Zeitschr. für math. und naturw. Unterricht V, 57 (1874). et) P a en ri nn iet a Ari ann aan nee i Älteste Rechenkunst und Feldmessung. 529 zugeschriebene Verfahren die Quadrate von Zahlen zu finden (S. 433), welches zwar mit der komplementären Multiplikation sich nicht deekt, aber eine entschiedene Familienähnlichkeit zu derselben nicht verkennen läßt. Nächst dem Fingerrechnen war bei den Römern das Rechnen auf dem Rechenbrett üblich und bildete einen Gegenstand des elementaren Unterrichtes.. Auch dafür ist eine ganze Anzahl von Stellen gesammelt worden!), welche meistens auf einen mit Staub überdeckten Abacus Bezug nehmen, auf welchem man alsdann geo- metrische Figuren aller Art entwerfen konnte, welche man aber auch imstande war durch Ziehen gerader Striche in Kolumnen abzu- teilen, welche mit Steinchen, caleuli, belegt zum Rechnen dienten. Die sogenannte Pariser Gemme, wahrscheinlich etruskische Arbeit, zeigt einen Rechner, der in der Linken eine mit Zahlzeichen ko- lumnenförmig (allerdings ohne abteilenden Strich) bedeckte Tafel hält?), während er mit der Rechten Steinchen auf einen Tisch lest. Neben diesem somit für römische Übung gesicherten Kolumnen- abacus gab es aber auch einen Abacus mit Einschnitten und in diesen Einschnitten verschiebbaren Knöpfehen. Vier solcher Vorrichtungen ?) haben sich bis in die neuere Zeit erhalten, darunter wenigstens eine, deren altertümlicher Ursprung von dem Beschreiber ganz besonders hervorgehoben worden ist?). Eine solche römische Rechentafel, eigens zum Rechnen, nicht zu mehrfachem Gebrauche hergerichtet, war von Metall und hatte acht längere und acht kürzere Einschnitte, je einen von jenen mit einem von diesen in gerader Linie. In den Einschnitten waren be- wegliche Stifte mit Knöpfen, in einem der längeren fünf Stück, in den übrigen vier, in den kürzeren je einer. Jeder längere Einschnitt war oben, also nach der Seite, wo der kürzere Einschnitt ihn fort- setzte, mit einer Überschrift versehen. Der &ebrauch der Rechen- tafel ergibt sich von selbst. Sie wurde mit zu dem Rechner senk- rechten Einschnitten auf eine beliebige Unterlage aufgestellt, zu welchem Zwecke unten an der Tafel Füßchen angebracht waren. Dem Rechner am nächsten waren, wie wir schon andeuteten, die längeren Einschnitte; die kürzeren waren weiter von ihm entfernt. Die Marken in den längeren Einschnitten bedeuteten einzelne Ein- heiten ihrer Klasse; die in den kürzeren Einschnitten galten fünf ) Rocco Bombelli 1. ec. pag. 116 sqq. °) Zangemeister, Monats- berichte der Berliner Akademie vom 10. November 1887. Die Tafel ist auf S. 11 des Sonderabzuges abgedruckt. °) Deren Beschreibung bei Becker- Marquart, Handbuch der römischen Alterthümer V, 100. *) Claude du Mo- linet, Le cabinet de la bibliotheque de Ste. Gemeviöve. Paris 1692, pag. 25. CAnToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 34 530 25. Kapitel. solcher Einheiten. Nur der erste kürzere Einschnitt von rechts bildete dabei eine Ausnahme, indem dessen einzelne Marke sechs Ein- heiten bedeutete. Dieser äußerste Einschnitt (sofern man die beiden Einschnitte, den längeren und den kürzeren, nur als Abteilungen eines einzigen in der Mitte unterbrochenen Einschnittes betrachtet) war nämlich mit © bezeichnet und enthielt die Unzen, deren 12 auf eine Aß gingen. Die übrigen für die Asse bestimmten Einschnitte trugen in nach links dekadisch aufsteigender Reihenfolge die Bezeich- nungen I, X, C usf. bis zu IXI oder einer Million. Der erste Einschnitt von rechts aus konnte danach zur Angabe von 11 Unzen noch dienen, wenn man die ursprünglich so weit als möglich von- einander getrennten Knöpfehen der beiden Abteilungen sämtlich gegen die Mitte des Brettes vorschob, wo die schriftlichen Bezeich- nungen standen, und so einander näherte. An diesem Orte erhielten sie den Zählwert von fünf einzelnen Unzen und einer Sechsunzen- marke. Kamen dann noch weitere Unzen hinzu, so ersetzte man ihrer 12 durch eine gegen die Mitte vorgeschobene Marke der nächsten Linie, d. h. der Einheiten der Asse. In den folgenden sieben Einschnitten konnte man durch ähnliches Verfahren bis zu je neun Einheiten in jeder Klasse von den Einern bis zu Millionen von Assen darstellen. So zeigten drei verschobene Knöpfe in einem längeren Einschnitte und der einzelne in dem zugehörigen kürzeren Einschnitte gleichfalls nach der Mitte des Abacus fortgerückt die Zahl 8 in der entsprechen- den Klasse an. Neben den Einschnitten der Unzen waren noch drei kleinere Einschnitte, die beiden oberen mit je einer Marke, die unterste mit zwei Marken versehen. Die Bedeutung dieser Ein- schnitte war den beigeschriebenen Zeichen zufolge von oben nach unten die halbe Unze semunecia, die viertel Unze sieiliquus, die drittel Unze duella. Das alles ergibt sich aus der Betrachtung der Rechen- tafel selbst mit Ausnahme dessen, was wir über die nötige Ver- schiebung der Knöpfchen bemerkt haben, und wofür wir eine alter- tümliche Quelle anzugeben allerdings nicht imstande sind. Es mub eben der Natur der Sache nach so oder umgekehrt verfahren worden sein, und da scheint uns, daß die Übersicht wesentlich er- leiehtert ist, wenn die wirklich zu zählenden Knöpfchen in der Mitte des Brettes vereinigt waren, dicht bei den Zeichen, die den Wert des einzelnen Knöpfchens angaben, daß also, wo die Nützlichkeit den Ausschlag geben durfte, nicht leicht eine andere Wahl getroffen worden sein wird, als die wir andeuteten. Auf diesem Rechenbrette konnten, wie auf jedem ähnlichen Apparate mit festen Marken, Additionen und Subtraktionen leicht vollzogen werden. Wollte man multiplizieren oder dividieren, so war Ex ae "nie ” Snake Ale ae nn Älteste Rechenkunst und Feldmessung. 531 es nötig die Zahlen, an welchen jene Operationen vorgenommen werden sollten, besonders, etwa schriftlich, anzumerken, und der Abacus vermittelte nur die Vereinigung der Teilprodukte, beziehungsweise die Subtraktionen der aus den Teilquotienten entstandenen Zahlen. Dabei war ein Kopfrechnen mit Benutzung des Einmaleins nicht zu umgehen, und bei diesem konnte vielleicht die beschriebene Fingermultiplikation Anwendung finden. Wir wissen, daß römische Knaben in ihren Schulen im Kopfrechnen geübt wurden, daß dem Vorübergehenden die einförmigen Töne des 2 mal 2 sınd 4, bis bina quatuor, welches die Knaben gemeinsam herzusingen (decantare) hatten, entgegenzudringen pflegten, daß damit noch andere Mißtöne sich häufig genug vereinigten, das Klatschen der Rute oder der Peitsche und das Heulen der in solcher Weise Unterrichteten. Kamen freilich Multiplikationen hoher Zahlen, oder gar solche von Brüchen vor, so nutzte dem ungeübten Rechner nicht Rechen- brett noch gewöhnliches Einmaleins, er mußte die Produkte von einem tabellarisch geordneten Rechenknechte hernehmen, und das ist es, was wir weiter oben ein Rechnen unter Benutzung vor- handener Tabellen genannt haben. Ein solcher Rechenknecht hat sich erhalten, dessen freilich sehr später Verfasser überdies nicht auf italischem Boden lebte. Gleichwohl wird ein Zweifel darein nicht gesetzt werden können, daß es Römisches und nur Römisches ist, was hier vorliegt, mag auch darüber gestritten werden können, ob ältere Musterwerke bloß benutzt oder geradezu abgeschrieben sind. Wir meinen den Öalculus des Vietorius!), eines Schrift- stellers, der mitunter aber wahrscheinlich unrichtig auch Vietorinus genannt wird. Seine Persönlichkeit bestimmt sich dahin, daß er aus Aquitanien stammte und im Jahre 457 n. Chr. eine sogenannte Oster- rechnung, d. h. eine Anleitung zur Auffindung des richtigen Oster- datums verfaßte. Vor oder nach diesem canon paschalis, das eine ist ebensogut möglich als das andere, richtete der als eifriger und gewissenhafter Rechner von seinen Kommentatoren gerühmte Vietorius diese Tabellen her, aus welchen Vervielfältigungen sowohl ganzer als gebrochener Zahlen in großer Ausdehnung entnommen werden können. Mathematischer Wert ist den Tabellen selbstverständlich nicht bei- zulegen. Wir müssen nur bemerken, daß auf ihnen eigentümliche Bruchzeichen sich befinden, verschieden von denen der älteren Schrift- steller, dagegen sich forterbend durch das ganze Mittelalter. ') Vgl. Christ in den Sitzungsberichten der Münchener Akademie 1863, S. 100—152. Dann Friedlein in der Zeitschr. Math. Phys. XVI, 42—79 (1871) und im Bullettino Boncompagni 1871, pag. 443—463, wo der, wie es scheint, zu- verlässigste Text aus einer Vatikanhandschrift abgedruckt ist. 34* 532 25. Kapitel. Bevor wir das Rechnen der Römer verlassen, fordert die eigen- tümliche Anwendung eines gewissen Zahlwortes bei ihnen ein Wort der Besprechung: sexcenti = sechshundert, welches in der Bedeutung unendlich viele bei Schriftstellern fast jedes Zeitalters, soweit sie sich erhalten haben, erstmalig aber bei Plautus um 200 v. Chr. vor- kommt. Wir nehmen keinen Anstand bei einer vor langer Zeit ge- äußerten Vermutung!) zu verharren, dieses sexcenti sei das chal- däische ner. Wenn (8.45) Chaldäer 139 v. Chr. aus Rom vertrieben wurden, so darf man ihren damals erworbenen schädlichen Einfluß für alt genug halten, daß etwa sechzig Jahre früher ein von ihnen oftmals unbestimmt gebrauchtes Zahlwort sich in weiteren Kreisen einbürgerte. Wir leiteten diese Erörterungen, welche uns, wie man sieht, chronologisch aber nicht mathematisch sehr weit geführt haben, mit der Behauptung ein, wie die Zahlzeichen der Römer, so werde auch deren praktische Feldmessung auf etruskische Ursprünge zurück- geführt, sei nun die Überlieferung eine berechtigte oder nicht. Wir wenden uns zu diesem zweiten Gegenstande, welcher ebenfalls eine weitläufigere Erörterung fordert. Der älteste uns bekannte römische Schriftsteller, welcher mit nicht mißzuverstehenden Worten es ausspricht, die Art, wie die Be- grenzungen festgestellt werden, rühre von den Etruskern her?), ist Varro etwa 50 bis 80 Jahre vor dem Anfange der christlichen Zeit- rechnung, und von ihm aus begegnen wir dieser Überlieferung durch Jahrhunderte. Die Begrenzungen, von denen die Rede ist, sind sehr allgemeiner Natur. Demselben Grundgedanken gehorchend finden sie sich überall, wo es um gesetzliche räumliche Absonderung sich handeln kann, bei der Anlage der Stadt wie des Lagers, bei der Vermessung des an- gebauten Landes, bei dem Grundrisse des bürgerlichen Hauses wie des Hauses, als dessen Eigentümer eine Gottheit gilt. Diese letztere, der Tempel, führt sogar den Namen nach dem Abschneiden (r&uveıv) aus dem umgebenden Grund und Boden, und ein templum ist bis zu einem gewissen Grade jedes Grundeigentum®). Wenn auch der Be- griff des Templum in der römischen Religion und allen mit ihr zu- sammenhängenden Verrichtungen eine maßgebende Rolle spielt, er hat sich gleichwohl so wenig aus dem des Heiligen, Gottgeweihten !) Mathem. Beiträge Kulturl. S. 362. °) Limitum prima origo, sicut Varro descripsit, a disciplina Etrusca. Römische Feldmesser I, 27. [Unter dem Zitate „Römische Feldmesser‘ verstehen wir die Schriften der Römischen Feldmesser herausgegeben und erläutert von F. Blume, K. Lachmann und A. Rudorff. Berlin 1848 und 1852.] °) Nissen, Das Templum S. 7, 8, 10, 55 und häufiger. DE ac Ya ee ea ana ie Kan Älteste Rechenkunst und Feldmessung. 533 entwickelt, daß er sich mit diesem nicht einmal deckt. Eines der höchsten Heiligtümer in Rom, das der Vesta, war sogar kein Tem- plum. Die städtische Anlage dagegen gehört unter den genannten Begriff. Die italische Stadt nämlich entsteht nicht gleich der mo- dernen und mittelalterlichen im langsamen Verlaufe der Zeiten von einzelnen Häusern zum Dorf, vom Dorfe zur Stadt anwachsend. Sie wird auf einmal geschaffen durch eine einzige politisch-religiöse Hand- lung. Sie weiß ihren Gründer, ihr Gründungsjahr, oftmals ihren Gründungstag zu nennen, den man dann alljährlich als städtisches Fest feiert. Die Bedingung, welche nun solcher Absteckung von Grenzen die Gesetzmäßigkeit verleiht, besteht darin!), daß der Gesichtskreis durch zwei senkrecht zueinander stehende Gerade in vier Teile ge- schnitten werde, und daß die Geraden ein für allemal die Richtungen für die Seiten der rechteckigen Einzelgebilde abgeben, mögen Häuser oder Feldstücke, Zimmer oder Tempelräume diese Einzelgebilde sein. Die beiden Richtungen werden überdies nicht willkürlich angenommen, sondern sollen mit den Verbindunglinien der einander gegenüber- liegenden Haupthimmelsgegenden übereinstimmen. | Wir erinnern uns, daß eine derartige Orientierung religiösen Zwecken dienender Baulichkeiten uns auch an anderen Orten be- merklich wurde, daß wir (8. 15) zum voraus ankündigten, wir würden in der häufig vorkommenden Tatsache selbst keinen Grund erkennen, eine Übertragung von einem Volke zum anderen mit Notwendigkeit annehmen zu müssen. Wir finden es angemessen zusätzlich hier zu bemerken, daß eine solche Übertragung für die altitalischen Orien- tierungen weniger als irgend sonstwo anzunehmen sein wird. Jeden- falls hat hier und nur hier der Orientierungsgedanke eine Ent- wicklung genommen wie sonst nirgend, hat er die Errichtung fast jedes Gebäudes, fast jeder Verbindung von Gebäuden in so folge- richtiger Weise, wie wir es schon andeuteten, beeinflußt. Nicht bloß ein einzelner Tempel, die römischen Gesetzen unterworfene Welt war nach einem einzigen rechtwinkligen Koordinatensysteme geordnet?), und wir werden auf diesen Gedanken noch zurückzu- greifen haben. Die Abszissenachse des gemeinsamen Systems war die Ostwest- linie, dessen Ordinatenachse die Südnordlinie oder Mittagslinie. ‘) Agrimensoren S. 65 flgg. ®) Nissen, Das Templum 8. 165: „Seit Augustus war der Culturkreis des Mittelmeeres zu einem einzigen politischen Ganzen geschlossen worden; das Templum, welches einst auf den palatinischen Hügel beschränkt gewesen war, hatte sich ausgedehnt in immer weiteren Kreisen und anjetzt war das letzte und grösste Templum constituirt worden.“ 534 25. Kapitel. Allerdings zeigen die Trümmer von Tempeln, von Städteanlagen und dergleichen, welche man genauer auf ihre Lage zu prüfen noch nicht gar lange begonnen hat, nicht ganz unerhebliche Abweichungen von der wahren astronomischen Mittagslinie. Es ist für unsere Zwecke durchaus gleichgültig, ob diese Verschiedenheiten unabsichtlich, ob sie absichtlich entstanden sind; ob sie, wie man früher annahm, aus einem ungeschickten Verfahren derer hervorgingen, welche die Richtungen bestimmten, oder ob, wie eine jedenfalls geistreiche und genaue Prüfung verdienende Vermutung es will’), die Richtung nach dem Punkte des Sonnenaufgangs am Gründungstage des betreffenden Tempels in der Abszissenachse festgehalten werden sollte, einem Tage, der selbst keineswegs willkürlich angenommen wurde, sondern der jedesmalige Hauptfeiertag derjenigen Gottheit sein mußte, welcher das Heiligtum geweiht werden sollte. Wir haben für die Grundrichtungen uns der ganz modernen Namen der Koordinatenachsen bedient. Den Römern hießen dieselben Decimanus und Cardo, offenbar sehr altertümliche Namen, wie man gewiß mit Recht schon daraus gefolgert hat, daß als Abkürzung für Cardo stets ein K benutzt worden ist, ein Buchstabe, der der römischen Schrift im übrigen schon frühzeitig abhanden kam. Die Bedeutung von Decimanus dürfen wir heute wohl nur als unbekannt be- zeichnen?). Wie die antike Ableitung des Wortes Decimanus von einem selbst mehr als zweifelhaften duocere, zweiteilen, weil der Raum überhaupt in zwei Abteilungen zerfällt worden sei, sprachlich ganz und gar unhaltbar ist, so ruht eine moderne Ableitung, welche Decimanus einfach aus decem entstanden wissen will, sachlich auf gar schwachen Füßen. Die Italiker, sagt man, bedienten sich von uralters her eines Dezimalsystems.. Der Zehnte macht daher die Reihe voll, und die Linie, welche eine Flächeneinheit begrenzt, er- hielt passend von ihm den Namen, gerade wie diejenige, welche die Flächeneinheit halbiert, die fünfte heißt. Wir vermögen diese Schlüsse als genügend nicht anzuerkennen. Zuerst würde man uns nachweisen müssen, daß die begrenzte Flächeneinheit wenigstens nach einer Richtung die Seitenlänge 10 hatte, und dann müßte man uns noch erklären, wie neben dem Worte via quintana für eine Querstraße auch die Wortverbindung decimana quintaria entstehen konnte, bevor wir jene Deutung als gesichert anerkennen. Um so zweifelloser ist Cardo, die Angel, um welche das Weltall sich dreht, die Weltachse. !) Diese Theorie ist von Nissen in seinem mehrerwähnten Werke über das Templum aufgestellt. ?°) Vgl. Agrimensoren 8. 66 mit Nissen, Das Tem- plum S. 12 und 27. Älteste Rechenkunst und Feldmessung. 535 Jedenfalls zog bei irgend einer Gründung der Augur') zuerst einen Decimanus, dann senkrecht zu ihm einen Cardo, und somit sind es zwei praktische Tätigkeiten, welche er von Anfang an aus- zuüben verpflichtet und folglich auch befähigt sein mußte: die Ost- westlinie zu bestimmen und zu einer gegebenen Geraden auf dem Felde eine Senkrechte zu ziehen. Für die Bestimmung der Ostwestlinie sind drei verschiedene Methoden durch Hyginus, einen Feldmesser etwa aus dem Jahre 100 n. Chr., beschrieben. Die erste Methode?) richtete ein zum Visieren geeignetes Instrument, von welchem wir noch zu reden haben, nach dem Punkte des Horizontes, wo wirklich die Sonne aufging. Diese Richtung wurde als ÖOstwestlinie, die zu ihr senkrechte als Cardo bestimmt, und, fügte der Beschreiber im stolzen Gefühle seiner Über- legenheit hinzu, um Mittag stimmte diese Mittagslinie nicht mit der Wirklichkeit überein. Die zweite Methode?) befestigte auf geebneter Grundlage einen senkrechten Stift als Schattennehmer, sciotherum, und beschrieb um denselben als Mittelpunkt einen Kreis, dessen Halbmesser kleiner als die größte Schattenlänge des Stiftes gewählt werden mußte. Sowohl des Morgens als des Nachmittags mußte der Schatten einmal so lang werden, daß sein Endpunkt genau in diesen Kreisumfang eintraf, und die beiden Punkte, in welchen solches statt- fand, hatte man zu beobachten und anzumerken, endlich zu verbinden. Die Verbindungsgerade war der gewünschte Decimanus. Die dritte Methode‘) machte von drei ungleichen Schattenlängen Gebrauch, welche in kurz aufeinander folgenden Zeitpunkten, aber sämtlich vormittags, auf der Grundebene des Sciotherums verzeichnet worden waren. Die letzte Methode, unter deren Vorzügen wir nur den einen hervorheben wollen, daß sie unabhängig davon war, ob die Sonne in einem gewissen Momente unbewölkt am Himmel stand und die vorausbestimmte Schattenlänge wirklich liefern konnte oder nicht, setzt Kenntnisse der Stereometrie in einem Maße voraus, daß wir ihre Entstehung nur bei einem Schriftsteller vermuten dürfen, dessen ') Der Name Augur wird (nach Nissen l.c. S.5, Anmerkung 1) von J. Schmidt mit aio, auctor, autumari, sdysoh«cı in Verbindung gebracht. ?) Hygini gromatiei de limitibus constituendis in Römische Feldmesser I, 170. °®, Hyginus, Römische Feldmesser I, 188—189. *) Ebenda 189—191. Vgl. Agrimensoren 8. 68—69. Über diese Methode hat schon Cristini geschrieben, von welchem 1605 in Turin ein Druckwerk herauskam: Methodus inveniendae meridianae lineae ex tribus umbris, simul cum paraphrasi in similem methodum conseriptum ab Hygino Augusto Liberto. Vgl. Carteggio inedito di Ticone Brahe, Giovanni Keplero ete. con Giovanni Antonio Magini pubblicato ed illustrato da Antonio Favaro. Bologna 1886, pag. 296, 302 und 304, Note 1. 536 25. Kapitel. wissenschaftliche Bildung eine weit höhere war, als Römer sie unserer persönlichen Überzeugung nach je besaßen. Wir meinen, es müsse eine griechische Methode aus der Zeit entwickelter Stereometrie sein, wenn es auch nicht möglich gewesen ist, sie bei irgend einem der uns erhaltenen griechischen Astronomen aufzufinden. Die von uns als zweite bezeichnete Methode dürfte, wenn auch nicht der ältesten Zeit, doch einem erheblich früheren Zeitalter als dem des Hyginus angehören. Ebendieselbe beschreibt nämlich auch Vitruvius!) um das Jahr 15 v. Chr. Andererseits kann sie in Rom nicht früher als frühestens 250 v. Chr. etwa bekannt gewesen sein, wie daraus hervorgeht, daß sie den Gebrauch einer Art von Sonnen- uhr als bekannt annimmt, während eine solche nach einer Angabe im Jahre 293, nach einer anderen gar erst 263 erstmalig in Rom aufgerichtet wurde?). | So bleibt uns als ältestes italisches Verfahren kein anderes übrig als jenes dem Gedanken nach einfachste Hinschauen nach der Gegend, wo die Sonne zuerst sichtbar wurde, ein Verfahren welches bei aller Unzuverlässigkeit doch eine erträgliche Orientierung liefern kann, wenn es zu einer Jahreszeit vorgenommen wurde, welche nicht gar zu entfernt von der Tagundnachtgleiche lag?). Ihm war nur ein Apparat unentbehrlich, der womöglich zwei Zwecken zu dienen hatte: eine Richtung einzuvisieren, eine andere Richtung senkrecht zur ersteren auf dem Felde zu bestimmen; von einem solchen altitalischen Instrumente sprechen uns aber die Be- richterstatter unter dem Namen Groma. Auch dieses Wort ist nach Ursprung und Bedeutung keineswegs über jeden Zweifel erhaben‘). Die alte Annahme, groma komme von dem griechischen yv&ouwv her, ist unhaltbar, weil nicht bloß die beiden unter diesen Namen be- kannten Dinge verschieden sind, sondern auch der griechische Gnomon, die Sonnenuhr, mit dem Namen in römische Schriftsteller Eingang fand. Dagegen ist nicht ausgeschlossen, daß beiden Wörtern ein und dasselbe Stammwort zugrunde liege, ein Stammwort, welches italisch geschrieben vielleicht gnorma hieß, und ein Senkrechtes im allgemeinen bedeutet haben mag, wie früher yvouwov. Diese gnorma konnte sowohl .in norma als in groma übergehen. Als aber die Römer viel später den Gnomon der Griechen herübernahmen, mochte die Ableitung der Groma längst aus dem Bewußtsein geschwunden ge- wesen sein, so daß es möglich wurde, daß beide Bezeichnungen, ' 4 Vitruvius Lib. I, Kap. 6, $ 6. °) Agrimensoren $S. 71. ?°) Roms Ge- burtstag wurde durch das Parilienfest am 21. April begangen. Nissen, Das Templum $, 166. *) Vgl. Agrimensoren $. 72flgg. mit Hultschs Rezension in Fleckeisen und Masius, Jahrbücher der Philol. Älteste Rechenkunst und Feldmessung. 537 ursprünglich verwandt, jetzt unbedenklich zur Benennung zweier ver- schiedener Vorrichtungen gebraucht wurden, nachdem der Heimats- schein des älteren Wortes, wenn wir so sagen dürfen, verloren ge- gangen war... Gegen diese im allgemeinen sehr annehmbare Auf- fassung läßt sich, soviel wir sehen, nur der eine nicht unbedenkliche Einwand erheben, daß alsdann der Name, welchen die Groma (oder auch cruma, wie es sich wohl findet) bei den Etruskern, welche eines gleichen Instrumentes sich bedienten, besaß, besessen haben muß, spurlos verloren gegangen wäre, ein etwas mißlicher Umstand gegenüber von den verschiedenen älteren und jüngeren Namen, die sich erhalten haben. Solche jüngere Namen sind machinula und stella, und wenn von groma der Name der Feldmesser, gromatici, sich hergeleitet hat, eine Art amtlicher Personen, die in ältester wie in jüngster Zeit eine festgegliederte Genossenschaft, fast eine Zunft, bildeten, wenn Groma selbst auch den Platz in der Mitte der Hauptstraße eines Lagers oder einer Stadt bezeichnete, wo bei der Gründung das Instrument aufgestellt worden war, so läßt die Variante stella uns erkennen, welcherlei Gestalt jenes Instrument gehabt haben muß. Es war der Stern, welcher zu if Herons Zeiten bereits durch die Dioptra über- holt noch immer bei einzelnen in Gebrauch war (8. 382). Was aber aus diesem Namen geschlossen werden konnte, erhielt zuerst > Bestätigung in der Abbildung einer Groma (Fig.80), die beilvrea auf dem Grabsteine eines römischen Feldmessers aufgefunden worden ist !), und wurde vollends sichergestellt, als eine wirklicheGroma an den Tag kam). DieGroma war ein Winkelkreuz, gebildet durch zwei in horizontaler Ebene sich schneidende Lineale und aufgestellt auf einem mit Eisen beschlagenen Fußgestelle, dem ferramentum. An den Enden der Lineale herabhängende Bleisenkel, vier an der Zahl, wenn auch die Abbildung auf dem Grabsteine nur noch deren zwei erkennen läßt, verbürgten die wagrechte Aufstellung. (0) Fig. 80. ı) Gazzera hat die betreffende Grabschrift 1854 mit 33 anderen im XIV. Bande der II. Serie der Abhandlungen der Turiner Akademie veröffent- licht. Cavedoni lenkte dann im Bullettino archeologico napoletano, nuova seria, anno 1°, die Aufmerksamkeit auf den 11. Stein mit der Abbildung der Groma. Vgl. Giov. Rossi, Groma e squadro 1877, pag. 43 und Figura 3. *), Eine Lichtdruckabbildung der bei Limesgrabungen in Bayern ansLicht gebrachten Groma findet sich in einem Aufsatze von H. Schöne (Jahrbuch des archäolog. Instituts XVI, 1901) und daraus abgedruckt bei Wilh. Schmidt, Über die Gestalt der Groma der römischen Feldmesser. Bibliotheca Mathematica 3. Folge IV, 234—237 (1903). 538 26. Kapitel. Mittels dieses Kreuzes ließen in der Tat die beiden Handlungen sich vollziehen, die wir den Auguren bei Absteckung des Templum zuweisen mußten: es ließ sich das eine Lineal in die Richtung nach dem Aufgange der Sonne bringen, und das andere Lineal zeigte dann von selbst die dazu senkrechte Richtung an. Decimanus und Cardo konnten abgesteckt werden. Noch eine weitere feldmesserische Ver- richtung haben wir uns als uralt auf italischem Boden zu denken: die Abmessung von bestimmten Strecken in gegebener Richtung, denn die Ländereien waren in lauter gleiche Rechtecke abgeteilt, deren Seiten ursprünglich wohl von gleicher Länge gewesen sein werden, in späterer Zeit im Verhältnisse von 1 zu 2 standen!). Die Vereinigung der Groma mit der Meßstange genügte als- dann bereits zur Auflösung praktisch nicht unwichtiger Aufgaben, z. B. der Aufgabe: die Breite eines Flusses von einem Ufer aus zu messen ohne den Fluß zu überschreiten, eine Aufgabe, für welche ein bestimmter Name, fluminis varatio, bekannt ist. Bei einem allerdings vermutlich ziemlich späten Schriftsteller hat sich eine Methode zur Lösung dieser Aufgabe erhalten?), die wohl mit Recht eine altitalische genannt und in Vergleich zu ganz ähnlichen Verfahrungsweisen gebracht worden ist, zu welchen nordamerika- nische Naturvölker unbeeinflußt von europäischer Wissenschaft sich aufzuschwingen vermocht haben. Das Verfahren ist nämlich, wenn auch zutreffend, über die Maßen schwerfällig., Es zeichnet die nicht unmittelbar zugängliche Länge selbst auf das Feld mittels kon- gruenter Dreiecke und läßt sie in dieser getreuen Wiederholung messen, statt daß Berechnung einträte aus Verhältnissen von Seiten ähnlicher Dreiecke. Mit diesen Bemerkungen haben wir aber keinenfalls zu wenig der altitalischen Geometrie zugewiesen, welche somit als eine nur dem täglischen Bedürfnisse gewidmete eines wissenschaftlichen An- striches entbehrende sich kennzeichnet. 26. Kapitel. Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. Was ist bei den Römern im Laufe der Jahrhunderte aus alt- italischer Rechenkunst, aus altitalischer Feldmessung geworden? Er- Stellen dafür vgl. Agrimensoren Anmerkung 260. *°) Römische Feld- messer I, 285—286. Vgl. Agrimensoren S. 108, Günthers Rezension dieses Buches in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung, 21. März 1876 und Narrative of the travels and adventures of Monsieur Violet etc. by Capt. Marryat. Cbapter IX (Tauchnitz-Edition, pag. 64—65). Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 539 scheint es doch unmöglich, daß eine Stadt, die als weltbeherrschender Mittelpunkt bedeutende Männer aus allen Provinzen des großen Reiches anzuziehen wußte, nicht auch von solchen zum Wohnort gewählt worden sein soll, welche der Mathematik sich befleißigten. Wenn wir nur in Erinnerung bringen, was uns beiläufig begegnete: in Rom hat im Jahre 98 n. Chr. Menelaus Beobachtungen angestellt (S. 412), in Rom hat um 244 Plotinus seine vielbesuchte Schule er- öffnet (S. 457), in welcher gewiß auch nach damaligem Geschmacke modernisierte altgriechische Arithmetik einen Gegenstand der Lehre bildete. So mögen zu verschiedenen Zeitpunkten in Rom Persönlich- keiten gelebt und gewirkt haben, die um Mathematik sich kümmerten — Spuren davon werden sich deutlich erkennen lassen — aber sie waren beinahe verstohlenerweise Mathematiker. Was wir (8. 517) schon angedeutet haben, ist jetzt nur stärker zu betonen. Die ganze geistige Anlage des römischen Volkes war nach anderen Gebieten gerichtet als der Mathematik, und das Wort Ciceros, die Geometrie sei bei den Griechen in höchsten Ehren gestanden, deshalb sei nichts glänzender als ihre Mathematiker, bei den Römern aber sei das Maß jener Kunst durch den Nutzen des Rechnens und Ausmessens be- grenzt'), hat fast für alle Zeiten Gültigkeit. Nur eine kurze Spanne bildet vielleicht eine Ausnahme und gab Anlaß zu Anfängen einer eigenen mathematischen Literatur, die aber bald ausartete, so daß nur Übersetzungen oder handwerksmäßige Vorschriften neben bei- läufigen Andeutungen das Material liefern, aus welchem wir Be- lehrung ziehen. Jene Ausnahmsperiode eröffnete sich, während ein Mann an der Spitze des römischen Staates sich befand, der selbst mathematischen Sinn besaß und als Schriftsteller in unserem Fache aufgetreten ist: Julius Cäsar. Er hat ein Buch de astris verfaßt?), welches in der Mitte des I. S.n. Chr. dem älteren Plinius vielfach als Quelle für das XVIII. Buch seiner Naturgeschichte gedient hat, und welchem um das Jahr 400 Maerobius das Beiwort eines nicht ohne Gelehrsamkeit verfaßten Werkes beilegte. Dasselbe hängt, wie man anzunehmen berechtigt ist, mit einer Aufgabe zusammen, welche Cäsar sich als seiner würdig gestellt hatte, mit der Aufgabe der Kalenderver- besserung. Das römische Jahr?), der Sage nach von König Romulus zu 304 Tagen angenommen, wurde durch Numa auf 355 Tage verlängert, ») Cicero, Tuseul. Quaest. Lib. I, Cap. 2, $5. ?) Agrimensoren S. 78 flgg. ®) Ludw. Ideler, Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie. Berlin 1826, Bd. II, S. 67 flgg., 119—124 und 130—132. 540 26. Kapitel. womit jenes Janusdenkmal zusammenhängt, dessen gekrümmte Finger eben diese Zahl darstellten. Der noch immer mangelhaften Jahres- länge wurde im Jahre 304 der Stadt durch die Decemvirn, wie es scheint, mittels eines Schaltmonates nachgeholfen, der alle zwei Jahre abwechselnd mit 22 und mit 23 Tagen eingeschoben wurde. Jetzt war das Jahr wieder zu lang, und zwar nahezu um einen Tag, denn 4.355222 +33 = 1465 —4- 366, - Es mußte also von Zeit zu Zeit ein Schaltmonat weggelassen werden, erst regellos, dann im 24jährigen Schaltzyklus. So trat allmählich eine heillose Unordnung ein, so zwar, daß die Chronologie hinter dem wirklichen Jahre um volle 85 Tage zurückblieb. Cäsar war eben siegreich aus dem alexan- drinischen Feldzuge zurückgekehrt, welcher die Jahre 48 und 47 in Anspruch nahm, als er beraten von Sosigenes die chronologische Frage ins reine brachte, so daß die Vermutung nahe liegt, Sosi- genes, der von Simplicius ein Ägypter, von Plinius ein Peripatetiker genannt wird!), sei selbst Alexandriner gewesen, und habe noch aus den Schätzen der alexandrinischen Gelehrsamkeit schöpfend von der Kalenderverbesserung aus dem Jahre 238 unter König Ptolemäus Euergetes I. gewußt, deren wir (8. 329) gedacht haben. Jedenfalls war Cäsars Einrichtung die gleiche, welche damals in Alexandria getroffen worden war. Das Jahr 46 war das letzte Jahr der Kon- fusion, ein Name, welcher ihm geblieben ist. Die 55 fehlenden Tage wurden in ihm eingeschaltet, und nun sollte jedes Jahr aus 365 Tagen bestehen, und zur Ergänzung alle vier Jahre zwischen dem 23. und 24. Februar oder römisch gesprochen zwischen dem dies septimus und sextus ante Calendas Martis ein Tag als bissextus eingeschaltet werden, woraus der Name des bissextilen Jahres für das Schaltjahr entstand. Noch ein zweiter großer Gedanke war in Cäsars Geiste erwacht oder erweckt worden, der einer Vermessung des ganzen römi- schen Reiches, wie sie unserer früheren Bemerkung ($. 533) ge- mäß schon insofern nötig war, als das ganze Reich ein Templum sein mußte, ein wohlorientiertes Eigentum mit gleichmäßig gerichteten, gleichmäßig abgesteckten Grenzen. Auch für diesen Gedanken war Cäsar schriftstellerisch dätig, wenn man einer Aussage trauen darf, welche den Ursprung römischer Feldmeßkunst mit einem Briefe Cäsars in Verbindung setzt”). Doch leider ist von diesem Briefe so wenig wie von der astronomischen Schrift ein eigentlicher Überrest ı) Über Sosigenes vgl. den von Baehr verfaßten Artikel in Paulys Real- enzyklopädie. ?) Nunc ad epistolam Juli Caesaris veniamus quod ad hwius artis originem pertinet. Römische Feldmesser I, 395. na ne Aline nahme ZumElä nun u ui ai au Dan u Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 541 auf uns gekommen. War der Gedanke der Reichsvermessung durch andere in Cäsar angeregt worden, so müssen offenbar auch hier Alexandriner mit im Spiele gewesen sein. Wenigstens waren es Männer mit durchaus griechisch klingenden Namen, welchen ver- schiedenen Quellen nach Cäsar die Ausführung seines Gedankens an- zuvertrauen gedachte oder schon übertragen hatte, als er am 15. März 44 v. Chr. unter Mörderhand verblutete. Augustus ließ das Werk nicht unerfüllt!). Keinen Geringeren als M. Vipsanius Agrippa betraute er mit der Leitung des ganzen Unternehmens, und unter diesem scheint ein Oberwegemeister Balbus tätig gewesen zu sein, der eine wie der andere vielleicht nur mit ihrem Namen bei der Angelegenheit beteiligt, um dem Unternehmen wenigstens einen römischen Anstrich zu verleihen, wenn es von Römern nicht ins Werk gesetzt werden konnte Fühlte man auch, daß Griechen allein fähig waren das Gewünschte zu leisten, so trug man doch wohl eine gewisse Scheu sie den Ruhm ihrer Leistung davontragen zu lassen, und so ist von der Reichsvermessung bald des Augustus, bald des Agrippa, bald des Balbus die Rede, welche die Zeit von 37 bis 20 v. Chr. im ganzen in Anspruch genommen haben dürfte. Gehörte, wie wir (8. 366) sahen, ein Heron Metricus zu den tatsächlich an der Arbeit Beschäftigten, was nicht ganz zweifel- los ist, und haben wir, was ebensowenig zweifellos ist, in Heron Metricus unseren Heron von Alexandria zu erkennen, so muß man zugestehen, daß der richtige Mann an den richtigen Platz ge- stellt war. Ergebnis der Reichsvermessung war die verbürgtermaßen einst vorhandene große Landkarte, welche den Namen des Agrippa führte, und welche in einer besonders dazu aufgebauten Säulenhalle „der Welt die Welt als Schauspiel darbot“?); Ergebnis die geographi- schen Kommentarien des Agrippa, auf welche ganze Bücher aus der Naturgeschichte des Plinius sich stützen. Die gleiche Zeit ungefähr dürfen wir zuversichtlich als diejenige betrachten, während welcher die mathematischen Schriften den Römern einigermaßen bekannt wurden, deren die griechischen Feld- messer sich bei ihren Arbeiten bedienten, und deren Wert auch für den Nichtsachverständigen aus der Trefflichkeit dieser Arbeiten sich erschließen ließ. Was das aber für Schriften waren, ist keinem Zweifel unterworfen. Es war vor allen der „Heron“, das feldmesse- ') Die letzte Schrift über die große Reichsvermessung ist die Breslauer Habilitationsschrift von J. Partsch, Die Darstellung Europas in dem geogra- phischen Werke des Agrippa, 1875. Ältere Literatur vgl. Agrimensoren 8. 82—84. °) Plinius, Histor. natural. II, 2: Orbem terrarum orbi spectandum propositurus erat. 542 26. Kapitel. rische Handbuch des Alexandriners, welches so auf italischem Boden Eingang fand. Es war aus ihm ebensowohl die Feldmeßkunst als die Feldmeßwissenschaft zu erlernen, wenn wir diese beiden unter- scheidenden Namen weiter gebrauchen, um durch den ersteren die eigentlichen praktischen Arbeiten auf dem Felde, durch den zweiten die daran anknüpfenden Rechnungen zu bezeichnen, welche letztere wir auch wohl rechnende Geometrie nennen (S. 406). Jetzt ver- drängte die vollkommenere Dioptra die altertümliche Groma, jetzt bürgerten sich Regeln zur Ausrechnung der Felder ein, während man bisher vielleicht jede derartige Regel entbehrte, ohne sie zu vermissen, weil das ausgemessene Land in gleichmäßigen Rechtecken von be- kannter Größe bestehend einer Flächenberechnung nicht bedurfte, nicht ausgemessenes Land aber seinen Besitzer nicht leicht änderte; wenig- stens wurden nur über Besitzstücke mit geradlinigen, zueinander senk- rechten Grenzen Flurkarten öffentlichen Glaubens angefertigt. Um die Zeit, zu welcher unter dem Einflusse des Machthabers die Veränderung römischen Geschmackes stattfand, welche nur zu wenig nachhaltig sich erwies, als daß sie der Mathematik zu Fort- schritten hätte verhelfen können, schrieb Marcus Terentius Varro, der Freund des Cicero, des Pompejus, in späterer Zeit des Üäsar, dessen Leben nach der wahrscheinlichsten Annahme die Jahre 116 bis 27 v. Chr. erfüllte. In politischen Kreisen spielte er trotz seiner Beziehungen eine nur selten und wenig hervorragende Rolle. Desto bedeutender war die literarische Tätigkeit, der er sich hingab. Er gebot über fast unerschöpfliches Arbeitsmaterial, da er nicht nur Be- sitzer der großartigsten Privatbibliothek war, sondern auch von Cäsar einer Öffentlichen Büchersammlung vorgesetzt wurde. Wie er aber dieses Material zu benutzen verstand, beweist seine eigene Äußerung!'), nach welcher er am Ende seiner siebziger Jahre 490 Bücher ge- schrieben hatte, und so kann man wohl dem Urteile des Terentianus Maurus, eines Grammatikers aus den Zeiten der Kaiser Nerva und Trajan, beistimmen, der Varro den Gelehrtesten aller Gegenden nannte. Die erhaltenen Schriften des Varro beziehen sich auf Landwirtschaft und auf Grammatik und nehmen unter den Arbeiten auf diesen beiden Gebieten einen ehrenvollen Rang ein. Um so mehr bedauern wir den Verlust gerade der Werke, welche uns wichtig sein würden’). ) Aul. Gellius, Noctes Atticae III, 10, 17: M. Varro ibi (in primo libro- rum qui inscribuntur Hebdomades vel De imaginibus) addit se quoque jam duo- decimam annorum hebdomadem ingressum esse et ad eum diem septuaginta hebdo- madas librorum conseripsisse. ®) Gast. Boissier, Etude sur la vie et les ouvrages de M. T. Varron. Paris 1861. Über die wissenschaftlichen Schriften, welche zu dem letzten zu gehören scheinen, was Varro schrieb, vgl. pag. 327 Da 2 0 a km ie > Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 543 Verloren ist eine Schrift über Vermessungen, mensuralia; verloren ist ein Buch Geometrie, in welchem, nach dem Bericht des Cassiodor, die Gestalt der Erde als eirund angegeben war, ein insoweit ver- dienstlicher Gedanke, als damit in origineller Weise unter Beibehal- tung der runden Körpergestalt der Erde ihre Abweichung von der Kugelform gemutmaßt wurde; verloren ist allem Anscheine nach ein arithmetisches Werk Varros, Atticus sive de numeris, welches Ver- tranius Maurus, der eine Biographie des Varro geschrieben hat, noch im Jahre 1564 in Rom gesehen haben will!); verloren ist auch ein: Werk aus neun Büchern bestehend, de disciplinis, in welchem, wie man annimmt, enzyklopädisch über die einzelnen Wissenschaften ge- handelt war, und welches somit das Urbild für viele ähnliche Sammel- werke abgab, die uns noch begegnen werden, aber selten mehr liefern als einzelne fast nur zufällig verwertbare Notizen. Die Reihenfolge der neun Wissenschaften bei Varro war: 1. Grammatik, 2. Dialektik, 3. Rhetorik, 4. Geometrie, 5. Arithmetik, 6. Astrologie, 7. Musik, 8. Medizin, 9. Architektur, und es ist zweifelhaft, ob nicht die oben erwähnte Geometrie als das hier genannte 4. Buch zu betrachten ist. Würde sich eine bei Plinius vorkommende Notiz?) auf das 8. Buch beziehen, so hätte Varro dieses Werk in seinem 83. Lebensjahre ver- faßt. Als ganz originell ist übrigens auch bei ihm die Zusammen- stellung nicht anzusehen, da die griechische Wissenschaft schon den Begriff der freien Künste ausgebildet hatte, der jetzt in wechselnder Zahl (meistens 7 artes liberales anführend) und in wechselnder Wahl der Gegenstände die ganze Folgezeit bis durch das Mittelalter hin- durch beherrscht. Ob freilich Varro, der römisch gesinnte Römer, seine Abhängigkeit von griechischen Mustern nicht teilweise zu ver- bergen suchte, wird schwerlich mehr zu ermitteln sein. Wir kamen zu dem Gedanken an diese Möglichkeit von der Erwägung ausgehend, daß es Varro vorzugsweise ist, der die Feldmeßkunde der Römer auf etruskische Anfänge zurückgeführt hat. Der nächste römische Schriftsteller, welchem tiefer gehende mathe- matische Kenntnisse nicht bloß in allgemeiner Weise zuzutrauen sind, sondern aus dessen Schriften wir Belege dafür zu schöpfen vermögen, ist Vitruvius, der Verfasser von 10 Büchern über Architektur, die vermutlich im Jahre 14 v. Chr. vollendet wurden und dem Augustus zugeeignet sind. Das ist alles, was über die Persönlichkeit des Vitru- vius mit Sicherheit gesagt werden kann. Sogar sein Beiname Vitru- bis 331. Siehe auch Teuffel, Geschichte der römischen Literatur (III. Auf- lage) S. 288. ') Vossius, De scientüs mathematicis pag. 39 (Amsterdam 1650). °) Plinius, Histor. natural. XXIX, 18, 65. | 544 26. Kapitel. vius Pollio schwebt einigermaßen in der Luft, indem der Verfasser eines Auszuges aus der vitruvischen Architektur, welcher uns den- selben überliefert hat, eine selbst rätselhafte Persönlichkeit von ganz unbekanntem Zeitalter ist, der nur aus sprachlichen Gründen meistens für dem Zeitalter des Vitruvius ziemlich nahestehend und dem ent- sprechend glaubwürdig gehalten wird. In den Schriften des Vitru- vius, sagten wir, stecken mancherlei Belege jenes mathematischen Wissens. In einem Werke über Architektur findet sich an und für sich an den verschiedensten Stellen Veranlassung ein solches Wissen an den Tag zu legen, um wieviel mehr bei Vitruvius, dessen schrift- stellerische Eigentümlichkeit es genannt werden kann, daß er mit fast possierlicher Geschwätzigkeit Bemerkungen beizufügen und Ge- schichtehen zu erzählen liebt, die zu dem behandelten Gegenstande nur in entferntester Beziehung stehen, oft aber uns erwünschte Mit- teilungen enthalten. Überall verrät sich dabei Vitruvius als das, als was wir ihn zu finden erwarten mußten, als Schüler der Griechen, wenn auch als einen solchen, der es mitunter wagt von der Ansicht des Lehrers sich zu entfernen. Wir nennen als der Mathematik an- gehörig!) eine Auseinandersetzung über die Größenverhältnisse der einzelnen Körperteile des Menschen; einen Abriß der arithmetischen Harmonielehre nach Aristoxenus; eine Schilderung dessen, was nach Vitruvs Geschmack die drei größten mathematischen Entdeckungen waren: die Irrationalität der Diagonale eines Quadrates, das pythago- räische Dreieck aus den Seiten 3, 4, 5 und die archimedische Kronen- rechnung. Wir nennen Beschreibungen von feldmesserischen Appa- raten verschiedener Art und Anweisungen sich derselben zu bedienen. Da ist der Gnomon mit der Bestimmung der Mittagslinie aus zwei Beobachtungen gleicher Schattenlängen am Vor- und Nachmittage. Da sind Nivellierungen mittels der Dioptra und ein Wegemesser. Bei der Beschreibung des letzteren ist gelegentlich der Umfang eines 1 1 Rades von 4,- Fuß Durchmesser zu 12, Fuß angegeben, was ein Verhältnis der Peripherie zum Durchmesser von 3:1 bezeugt?). Wir nennen Berechnungen des Kalibers von Wurfmaschinen aus dem Ge- wichte der Massen, welche sie zu schleudern bestimmt waren, wobei 1) Vitruvius II, 1; V, 4; VII, 6; IX, 1, 2, 3, 8; X, 14, 16, 17, 21. Vgl. Agrimensoren $. 157 und 86—89. ?°) In älteren Ausgaben des Vitruvius war der N 1 1 Durchmesser des Rades zu 4 Fuß angegeben, was einem ml ttmbz entspräche. Die letzte von V. Rose veranstaltete Ausgabe hat die in unserem Texte angegebene Zahl 1 als beglaubigte Lesart. Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 545 Brüche in Menge vorkommen, allerdings nur ziemlich angenäherte Werte hervorbringend, so daß von der Rechenkunst des Vitruvius auch hierdurch uns keine übermäßig hohe Meinung erweckt wird?). Wir haben endlich zu dem (8. 367) zugesagten Nachweise der Ab- hängigkeit des Vitruvius von Heron überzugehen, eine Abhängigkeit, welche auch die Nivellierungsmethoden in hohem Grade wahrschein- lich machten. Wir glauben es dem Auffinder der betreffenden Be- weisstellen schuldig zu sein, seine Schlußfolgerungen im Wortlaute ?) zu wiederholen, indem wir nur zur Bequemlichkeit unserer Leser die Stellen aus Vitruvius in deutscher Übersetzung geben und voraus- schicken, daß Vitruvius sich meistens nur auf die Griechen, Graeci, als seine Gewährsmänner bezieht, ohne Aristoteles und Archimedes bestimmt zu nennen, wo sie sicherlich als Quelle dienten: „Vitruv®) schreibt: Ist das kurze Ende (lingula) eines eisernen Hebels unter eine Last gebracht, und drückt man dessen langes Ende (caput) nicht nach abwärts, sondern hebt es vielmehr aufwärts, so be- sitzt das auf den Boden der Erde sich stützende kurze Ende diese als Last, die Ecke der Last aber dient dem Drucke. So wird zwar nicht so leicht wie beim Abwärtsdrücken, sondern ihm entgegen- gesetzt immerhin das Gewicht der Last in die Höhe geschafft. Die entsprechende Stelle bei Heron*) lautet: Nehmen wir zuerst an, er (der Hebel) sei dem Erdboden parallel. Der Hebel sei die Linie «&ß und die durch ihn zu bewegende Last, nämlich y, bei dem Punkte «, die bewegende Kraft bei dem Punkte £ (Fig. 81)... | Wenn wir nun das bei ß befind- A liche Hebelende heben..., dann 6 beschreibt der Punkt ß einen I IB Kreis um den Mittelpunkt ö Fig. 81. (d ist die Kante des Körpers 7, gegen welche der Hebel drückt°)), und der Punkt « um denselben Mittelpunkt einen kleinen Kreis. Wenn sich nun die Linie B6 zu d« verhält wie die Last » zur Kraft bei ß, so hält die Last » der Kraft & das Gleichgewicht. Ist das Verhältnis B0: d« größer als das der Last zur Kraft, so hat die Kraft das Übergewicht über die Last, weil zwei Kreise um denselben Mittelpunkt vorhanden sind und ') Hultsch, Die Bruchzeichen des Vitruvius in Fleckeisen und Masius, Jahrbücher der Philol. ®) Edm. Hoppe, Ein Beitrag zur Zeitbestimmung Herons von Alexandria S. 4—5 (Hamburg 1902). °) Vitruvius (ed. V. Rose) X, 3, 3 pag. 250. °) Heron (ed. L. Nix) II, 114 Z. 30flgg. °) Bei Hoppe steht irriger- weise g statt d; übrigens ist der ganze eingeklammerte Satz eine Erläuterung Hoppes und bei Heron nicht vorhanden. CANToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 35 546 26. Kapitel. die Last sich am Bogen des kleineren Kreises und die bewegende Kraft sich am Bogen des größeren Kreises befindet usw. Zunächst ist zu bemerken, daß beide denselben Fehler machen, nämlich diesen einarmigen Hebel als zweiarmigen zu behandeln. Sollte die Heronsche Darstellung richtig werden, müssen die Radien der beiden Kreise «ß und «Ö sein, « der gemeinsame Mittelpunkt. Wäh- rend man aber bei Heron sehr wohl den Grund des Fehlers einsieht, ist bei Vitruv gar nicht abzusehen, wie er auf die Verwechslung ge- kommen sein sollte, wenn er sie nicht eben aus den auch an dieser Stelle angerufenen „Graeci“, d. h. Heron, abgeschrieben hat. Heron hat nämlich vorher die Wellräder beschrieben und da die Gesetze mit Hilfe der Kreisbogen abgeleitet, so führt er auch beim Hebel die Erklärung auf die Welle zurück. Nun hat er die Beobachtung. ge- macht, daß, wenn unter dem zu hebenden Steine » das Erdreich weich ist, das Ende « unter dem Steine in dem sandigen Erdboden einen Kreisbogen zu beschreiben scheint, während an der Kante Ö scheinbar der Ruhepunkt ist. Diese Beobachtung ist irrig, denn der Stein y wird nur gehoben, wenn das Ende « schließlich in dem Erd- reich doch einen Stützpunkt findet; bis dies geschieht, ist in der Tat das Zusammendrücken der Erde durch « die Wirkung eines zwei- armigen Hebels, dagegen sobald die Last 7 gehoben wird, arbeitet der Hebel als ein einarmiger. Der Fehler bei Heron ist also ver- ständlich, der bei Vitruv ist unerklärlich. Noch an einer anderen Stelle!) drückt sich Vitruv sehr zwei- deutig aus, so daß es mir zweifelhaft ist, ob er Heron verstanden hat. Vitruv beschreibt nach Heron den Windebaum, vergißt zu er- wähnen, was bei Heron?) ausführlich beschrieben ist, daß der Baum in seinem Unterstützungslager drehbar sein muß, dann sagt er am Schlusse: eine einzige Aufstellung des Windebaums gewährt den Nutzen, daß er durch Neigung die Last soweit man will nach vorn oder nach rechts oder links zur Seite niederlassen kann. Wenn diese „Neigung“ (proclinare) erfolgt, ehe die Last an den Kopf des Winde- baums gezogen ist, so ist die Vitruvsche Vorrichtung unmöglich, denn beim Heben der Last würde diese sofort nach der Seite hin- pendeln, wohin der Balken geneigt ist, und gegen die Mauer oder den Wagen, auf welchen sie gehoben werden soll, schlagen. Heron hat das natürlich gewußt, er schreibt?): Hierauf ziehen wir die Seile (der Winden) an, entweder mit den Händen, oder mit sonst einem Werkzeug, und die Last hebt sich alsdann. Wenn man nun einen ı) Vitruvius (ed. V. Rose) X, 2 pag. 246. ?°) Heron (ed. L. Nix) II, 202. ®, Ebenda II, 204. Ä Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 547 Stein auf eine Mauer oder an einen beliebigen Ort bringen will, so löst man das Seil!) an einem der festen Stützpunkte, welche den Stützbalken, an dem die Rollen befestigt sind, halten und zwar auf der entgegengesetzten Seite als die, nach welcher man den Stein bringen will, und der Balken neigt sich nach jener Seite, dann läßt man das Seil mit der Rolle langsam herab bis zu dem Orte, wo man den Stein einsetzen will. Wenn man aber den Stützbalken, an welchem die Rolle befestigt ist, nicht soviel neigen kann, um die gehobene Last an den beabsichtigten Ort gelangen zu lassen, so bringen wir Walzen darunter an, auf denen wir sie laufen lassen, oder treiben sie mittels Hebels so weit, bis wir sie an die beabsich- tigte Stelle bringen. | Ich habe die Heronsche Beschreibung so ausführlich hier ange- geben, damit sich jeder überzeugen kann, daß wir es mit der Arbeit eines „Erfinders“ oder doch jemandes, der die Werkzeuge genau be- obachtet hat, zu tun haben. Es mag sein, daß Vitruv auch meint, man solle erst die Last heben und dann den Balken neigen, gesagt hat er es aber nicht, und seine Leser konnten sehr wohl die umge- kehrte Ordnung herauslesen. Die ungenaue Beschreibung macht den Eindruck, als ob Vitruv die Maschine nicht gesehen hätte, sondern nach einer literarischen (unverstandenen) Vorlage gearbeitet habe. Das ist typisch für das Verhältnis Vitruvs zu den von ihm genannten Graeci, d. h. Heron. Und es kann meiner Meinung nach kein Zweifel bestehen, wie das Abhängigkeitsverhältnis zu denken ist.“ Wir wissen dieser Auseinandersetzung nichts hinzuzufügen. Höch- stens möchten wir deren letzte Worte dahin ergänzen, daß wer die Verwandtschaft zwischen Vitruvius und Herons Mechanik zugibt, nur annehmen kann, Vitruvius habe die Mechanik benutzt und deren An- gaben abgekürzt. Daß Heron die undeutliche Schilderung des Vitru- vius zu jener klaren Darstellung in der Mechanik erweitert haben könnte, ist uns wenigstens undenkbar, und somit scheint uns die zeit- liche Reihenfolge: Heron früher als Vitruvius gesichert. Wer da- gegen die erwähnte Verwandtschaft leugnet oder auf gemeinsame Abhängigkeit von einem unbekannten älteren Schriftsteller deutet, wird zunächst als untere Lebensgrenze Herons festzuhalten haben, daß er vor Menelaus von Alexandria gesetzt werden muß. L. Junius Moderatus Columella?) aus Gades (Cadix) war Militärtribun der VI. gepanzerten Legion und lebte als solcher längere Zeit in Syrien. Von dort heimgekehrt widmete er sich mit begeisterter ') Der Windebaum wurde durch drei oder vier Seile aufrechtgestellt. ?) Agrimensoren 9. 89—93. 35* 548 26. Kapitel. Anhänglichkeit der Landwirtschaft, welche er in zwei Werken nach- einander verherrlichte. Von der ersteren kürzeren Ausarbeitung ist nur ein Bruchstück erhalten, die zweite ausführliche Schrift ist da- gegen vollständig auf uns gekommen. Die XlI Bücher De re rustica, wahrscheinlich 62 n. Chr. geschrieben, sind eine fast unerschöpfliche Fundgrube reichster Art für alle Gebiete, welche zur Landwirtschaft irgendwie in Beziehung gesetzt werden können, da der begabte und gelehrte Verfasser seinen Gegenstand in weitestem Umfange behan- delt. Freilich ist damit für ihn die Unbequemlichkeit entstanden, daß man, wie er selbst klagt, über alle möglichen Dinge Auskunft von ihm begehre. Er hilft sich so gut er kann. Er zieht be- freundete Fachmänner verschiedener Gattung zu Rate, und so gesteht er auch zu, daß das 2. Kapitel des V. Buches, in welchem er Feld- messung lehrt, kein Erzeugnis seines eigenen Geistes seit). Für Voll- ständigkeit oder Unvollständigkeit, sowie für die Richtigkeit der ge- gebenen Vorschriften sind diejenigen verantwortlich, welche ihm hier mit ihrer Erfahrung beigestanden haben. Zuerst macht Columella seinen Leser mit den unentbehrlichsten Ackermaßen bekannt, dann löst er neun geometrische Aufgaben je an einem bestimmten Zahlenbeispiele. Allgemeine Vorschriften, wie bei anderen Zahlenangaben zu verfahren sei, gibt er nicht; diese soll der Leser sich selbst aus der Musterrechnung entnehmen?). Schon an dieser Eigentümlichkeit wird man den Schüler des Heron von Alexandria vermuten, und die Vermutung wird zur Gewißheit, wenn man die Aufgaben des Columella selbst ansieht. Es sind sämtlich Aufgaben, welche mit solchen in Herons Vermessungslehre oder in den Heronischen Sammlungen oder in beiden übereinstimmen, wenn wir von der einzigen Verschiedenheit absehen, daß Columellas Zahlenwerte für die Länge einzelner Strecken dort nicht auftreten. Wir erinnern uns, daß Heron in der Sammlung, welche die Über- schrift Geometrie führt, die Fläche des Sechsecks nach zwei Methoden berechnet. Zuerst läßt er das Quadrat der Sechsecksseite 13 mal nehmen und dann durch 5 teilen; anders, heißt es hierauf, in einem anderen Buche, wo die Vorschrift gegeben sei 2 und -{ des Seiten- 3 10 quadrats 6fach anzusetzen; als Beispiel dient das Sechseck von der Seite 30. Vergleichen wir damit Columellas 9. Aufgabe, so erkennen wir in der Rechnung der Fläche des Sechsecks von der Seite 30 durch die Zahlen 900, 300, 90 und der Summe 390 dieser beiden 1) Ne dubites id opus geometrorum magis esse quam rusticorum, desque veniam, si quid in eo fuerit erratum, cwius seientiam mihi non vindico. ?) Cwius- que generis species subiciemus, quibus quasi formulis utemur. Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 549 letzten hindurch zum 6fachen derselben Summe mit 2340 genau den Gang und die Zahlen Herons. Heronische Formeln bieten nun auch die anderen Aufgaben Era so die 4. Aufgabe, welche das Be Dreieck als — „und .. ; des Seitenquadrats berechnet, die 8. Aufgabe, welche die Fläche eines Kreisabschnittes, der kleiner ist als der Halbkreis, aus der Sehne s und der Höhe h des Abschnittes s ur h E 5 ) nach der Formel : :h + --—- findet usw. Auch die von uns als nicht ei hehe een Heron müsse vor Menelaus gesetzt werden, erleidet höchstens eine Verschiebung um wenige Jahrzehnte, wenn wir Heron gegenwärtig vor das Jahr 62 n. Chr. hinaufzurücken Veranlassung finden. Etwa gleichaltrig mit Columella war M. Fabius Quintilianus, dessen Lebenszeit ungefähr von 35—95 angesetzt wird. Er ver- faßte XII Bücher Vorschriften für Redner, und es ist ein glücklicher Zufall zu nennen, daß im I. Buche dieses Werkes eine Stelle von mathematischer Wichtigkeit sich vorfindet, welche wir um ihrer nach verschiedenen Seiten wirkenden Bedeutung willen in wörtlicher Übersetzung folgen lassen‘): „Wer wird einem Rechner nicht ver- trauen, wenn er vorbringt, der Raum, der innerhalb gewisser Linien enthalten sei, müsse der gleiche sein, sofern jene Umfassungslinien dasselbe Maß besitzen? Doch ist dieses falsch, denn es kommt sehr viel darauf an, von welcher Gestalt jene Umfassung ist, und von den Geometern ist Tadel gegen solche Geschichtsschreiber er- hoben worden, welche da glaubten, die Größe von Inseln werde zur Genüge durch die Dauer der Umschiffung gekennzeichnet. Je voll- kommener eine Gestalt ist, um so mehr Raum schließt sie ein. Stellt daher jene Umfassungslinie einen Kreis dar, welches die voll- kommenste der Gestalten der Ebene ist, so schließt sie mehr Raum ein, als wenn sie bei gleicher Küstenstrecke ein Quadrat bildete. Das Quadrat hinwiederum schließt mehr Raum ein als das Dreieck, das gleichseitige Dreieck mehr als das ungleichseitige. Doch dieses andere mag vielleicht zu dunkel sich erweisen; verfolgen wir dagegen einen auch dem Ungeübten sehr leichten Versuch. Es wird nicht wohl irgend jemandem unbekannt sein, daß das Maß des Jucharts?) 240 Fuß in die Länge beträgt, während es nach der Breite um die Hälfte sich öffnet; was also ie Umfang ist, und wieviel Feld er in sich schließt. ist bequem zusammenzubringen. Aber 180 Fuß an ") Quintilianus, Institutiones oratoriae (ed. Halm, Leipzig 1868) le a 39—45 (pag. 62). *) jugerum ist das römische Doppelfeldmaß, welches z. B. Varro definiert hat: Jugerum dietum iumetis duobus actibus quadratis. 550 26. Kapitel. jeder Seite bilden dieselbe Ausdehnung der Grenzen, dagegen weit mehr von den vier Linien eingeschlossenen Flächenraum. Wer wider- willig ist das auszurechnen, kann dasselbe an kleineren Zahlen lernen. Je 10 Fuß ins Quadrat sind 40 Fuß ringsum, inwendig 100 Fuß. Sind je 15 Fuß seitlich, je 5 in der Fronte, so wird man bei gleichem Umfange von dem, was eingeschlossen ist, den vierten Teil ab- ziehen müssen. Wenn aber 19füßige Seiten nur um je 1 Fuß von- einander abstehen, so werden sie nicht mehr Quadratfuße in sich fassen, als die Zahl, nach welcher die Länge wird gezogen worden sein. Die Umfassungslinie aber wird von derselben Ausdehnung sein wie die, welche 100 Quadratfuß enthält. Was man also von der Quadratgestalt abzieht, das geht auch von der Menge zugrunde. Es kann folglich auch das erreicht werden, daß mit einem größeren Umfange eine geringere Menge Feldes eingeschlossen sei. So in der Ebene, denn daß bei Hügeln und Tälern die Bodenfläche eine größere ist als die der darüber befindlichen Himmelsdecke, liegt auch für den Unerfahrenen zutage“ Wir haben diese Stelle wiederholt früher beigezogen. Wir haben (S. 173) mit ihr belegt, daß irrige Meinungen fast zäher festgehalten werden als richtige. Wir möchten beinahe entschuldigend ergänzen, daß Römer, deren Felder, wie wir gesehen haben, tatsächlich gleiche Gestalten besaßen, leichter dem gerügten Irrglauben verfallen konnten. Durften sie doch beinahe dem Beispiele, durch welches Quintilian sie eines Besseren belehren wollte, entgegenhalten, solche Felder von 150 Fuß ins Quadrat kämen nicht vor. Zweitens ist, wie uns scheint, durch die Sätze über den Flächenraum der verschiedenen, weniger vollkommnen und voll- kommneren, Figuren der Beweis geliefert (5. 357), daß Zenodorus, welchen man für den Erfinder jener Sätze hält, vor Quintilian gelebt haben muß, wodurch mindestens eine untere Lebensgrenze für den- selben gewonnen wird, die weit höher hinaufreicht als das Zeitalter des Pappus. Drittens endlich ist uns Quintilian ein Beispiel fast heimlicher Beschäftigung mit mathematischen Dingen, wie wir sie oben (8. 539) angekündigt haben, er weiß, daß er von seinen Lesern nicht verstanden werden wird, daß er mit seinem Wissen vereinzelt dasteht, aber er kann es doch nicht unterlassen wenigstens nebenbei Sätze zu erwähnen, die für ihn Interesse besitzen. Dem Geburts- wie dem Todesjahre nach wieder nahe bei Quin- tilian wird Sextus Julius Frontinus!) von 40—103 angesetzt. Er gehörte dem Staatsdienste an, während Vespasianus, Titus, Do- mitianus, Nerva und Trajanus als Kaiser aufeinander folgten. Unter 1) Agrimensoren 8. 93 figg. Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 551 Domitianus’ Regierung scheint er mit Vorschriften über die Feld- meßkunst erstmalig als Schriftsteller aufgetreten zu sein. Kriegs- wissenschaftliche Schriften folgten rasch. Ein uns einzig vollständig und unverfälscht durch fremde Zutaten erhaltenes Werk in zwei Büchern über Wasserleitungen'), unter Nerva: begonnen, unter Trajan etwa im Jahre 98 beendigt, bildet den Schluß seiner schriftstelle- rischen Tätigkeit. Für die Geschichte der Mathematik bietet es kaum etwas mit Ausnahme von ziemlich zahlreichen Berechnungen von Umfängen von Wasserleitungsröhren aus ihren Durchmessern, bei welchen die Verhältniszahl x = = benutzt ist, soweit die römischen Duodezimalbrüche, mit denen allein operiert ist, es gestatten die Verhältniszahl zu erkennen. Wenn Frontinus in der Vorrede zu dieser Schrift sagt: nachdem Kaiser Nerva ihn dem sämtlichen Wasserwesen vorgesetzt habe, schreibe er dies Büchlein um sich selbst über seine Pflichten klar zu werden, es könne dann möglicher- weise auch seinen Nachfolgern im Amte sich nützlich erweisen; was er dagegen früher geschrieben, habe sich stets auf Dinge bezogen, mit welchen er durch lange Übung vertraut war, und sei daher der Hauptsache nach mit Rücksicht auf die Belehrung seiner Nachfolger entstanden, so sind diese Bemerkungen reichlich dazu angetan uns den Verlust des feldmesserischen Werkes bedauern zu lassen. Wir wissen nur aus einer Randbemerkung”?) eines Schreibers vermutlich zu Anfang des XI. S., daß dieser ein Buch des Frontinus gekannt hat, in welchem Flächeninhalte von Vierecken berechnet wurden. Wir wissen ferner von einzelnen Stellen aus jenem feldmesserischen Werke und von der fast wörtlichen Wiederkehr solcher Stellen in einem berühmten Buche aus dem Anfange des XIII. S.?), welche die Vermutung erweckt, gewisse dort beschriebene und, wie der Ver- fasser sich ausdrückt, alten Weisen zu verdankende feldmesserische Operationen möchten, wiewohl in den Fragmenten des Frontinus selbst fehlend, ursprünglich von ihm beschrieben worden sein. Die uns erhaltenen Bruchstücke des Frontinus finden sich ver- einigt mit anderen für die Geschichte der Mathematik hochwichtigen Fragmenten in einer Sammelhandschrift, welche von 1566—1604 ım Besitze von Johannes Arcerius in Gröningen war und deshalb von t) Vgl. über dieses Werk ‘eine kleine Druckschrift des New Yorker Wasser- bauingenieurs Clemens Herschel, Frontinus and his two books on the water supply of the city of Rome, die den Inhalt einer von ihrem Verfasser am 2. Fe- bruar 1894 in der Cornell-Universität gehaltenen Vorlesung wiedergibt. ”) Agri- mensoren $. 94 und Anmerkung 186. °) Agrimensoren $. 179 flgg. über Frontinus und Leonardo von Pisa. 552 26. Kapitel. dem nachfolgenden Eigentümer Petrus Sceriverius in einer Beschrei- bung aus dem Jahre 1607 den Namen der arcerianischen Hand- schrift erhielt, als welche sie heute noch bekannt ist!). Sie ist eine der ältesten größeren Handschriften, welche man überhaupt besitzt, und nach dem Urteile der Fachgelehrten nicht später als im VII, vielleicht schon im VI. S. niedergeschrieben. Man nimmt an, es seien um das Jahr 450 aus älteren Schriften, sämtlich auf Gebietseinteilung, Agrargesetzgebung und dergleichen bezüglich, amt- liche Auszüge veranstaltet worden als rechtswissenschaftlich-statisti- sches Nachschlagebuch für Verwaltungsbeamte des römischen Kaiser- reichs, und eine wieder um ein oder anderthalb Jahrhundert jüngere Abschrift dieser Sammlung sei als Codex Arcerianus auf uns ge- kommen, die sauber und schön geschriebene Arbeit eines vielleicht als Beamter sehr brauchbaren Mannes, der aber von Feldmessung wenig oder gar nichts verstand und daher zu den Fehlern, welche bereits in seiner Vorlage vorhanden gewesen sein mögen, noch weitere nicht seltene eigene Versehen und Schreibfehler hinzufügte. Man sieht, daß es insofern keine sehr reine Quelle ist, aus welcher wir genötigt sind unser Wissen zu schöpfen. Es steht keineswegs fest, daß die ver- schiedenen Bruchstücke gerade von den Schriftstellern herrühren, welchen sie zugeschrieben sind; es steht keineswegs fest, wie die Namen, welche mitunter in mehrfachen Schreibformen vorkommen, wirklich gelautet haben; es steht keineswegs fest, wann die Träger dieser Namen gelebt haben, ob, wie man aus ihrer Vereinigung und aus manchen anderen Umständen schließen möchte, sie alle etwa der Zeit von 50 bis 150 angehören, d. h. dem Jahrhunderte, in dessen Mitte Kaiser Trajan lebte, unter welchem, wie wir uns wiederholt erinnern wollen, Menelaus von Alexandria in Rom seinen Aufenthalt aufgeschlagen hatte, oder ob man für sie zum Teil wesentlich späterer Datierungen bis um das Jahr 400 sich bedienen muß. Inmitten dieser Zweifel begnügen wir uns die Namen der Feld- messer Frontinus, Hyginus, Balbus, Nipsus, Epaphroditus, Vitruvius Rufus, die als Verfasser kleinerer oder größerer Bruch- stücke?) genannt sind, anzugeben, ferner kurz zu berichten, was man ') Über den Oodex Arcerianus der Wolfenbüttler Bibliothek vgl. Agrimen- soren S. 95. ?) Die Bruchstücke des Epaphroditus und Vitruvius Rufus vgl. Agrimensoren und Un nowveau texte des traites d’arpentage et de geometrie d’Epa- phroditus et de Vitrwvius Rufus public d’apres le Ms. Latin 13084 de la Biblio- theque Royale de Munich par Vietor Mortet avee une introduction de Paul Tannery. Notices et Extraits etc. T. XXXV, 2° Partie (Paris 1896); alle übrigen s. Römische Feldmesser I. Übersetzungen wichtiger Teile bei E. Stoeber, Die römischen Grundvermessungen. München 1877. Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 553 von den Persönlichkeiten des Hyginus und des Balbus weiß, und schließlich ein Gesamtbild der in jenen Bruchstücken enthaltenen mathematischen Kenntnisse zu geben, ohne eine genauere Zeitbestim- mung daran zu knüpfen als diejenige, daß alles vorhanden war, als der Schreiber des Codex Arcerianus es zu Papier brachte. Der Name Hyginus tritt mehrfach in der römischen Literatur auf. Hyginus, ein Zeitgenosse des Augustus, hat ein astronomisches Werk verfaßt. Ein Militärschriftsteller Hyginus hat über die Anlage von Lagern mutmaßlich zwischen 240 und 267 gehandelt!). Von beiden verschieden ist der Feldmesser Hyginus, der unter Trajan lebte und ein größeres feldmesserisches Werk wahrscheinlich im Jahre 103, im Zwischenraume zwischen den beiden dacischen Kriegen verfaßte?). Auch der Name Balbus tritt mehrfach auf. Wir haben einen Öberwegemeister Balbus aus der Zeit des Augustus zu nennen ge- habt, dem die Aufsicht über die große Reichsvermessung übertragen war. Der Balbus, von welchem uns Bruchstücke überliefert sind, ge- hört der trajanischen Zeit an?). Er begleitete den Kaiser auf seinem dacischen Feldzuge, und nach errungenem Siege, mithin 103 oder wenn der zweite Feldzug gemeint war spätestens 117, nach Hause zurückkehrend, richtete er eine feldmesserische Schrift an einen Gelsus, welcher nicht genau bekannt ist, aber den Worten des Balbus gemäß eine erste Autorität des Ingenieurfaches gewesen sein muß. Die anderen Namen Marcus Junius Nipsus, Epaphroditus, Vitruvius Rufus sind außer in Verbindung mit den ihnen zuge- schriebenen Bruchstücken nicht näher bekannt. Den erstgenannten, wahrscheinlich einen griechischen Freigelassenen eines Römers aus dem Hause der Junier, hat man gewichtige Gründe nicht später als in das II. S. zu setzen. Um jene Zeit dürfte nämlich das Geschlecht der Junier erloschen sein, um jene Zeit wurde es auch Sitte vier, fünf, sogar sechs Namen nacheinander zu führen, während Marcus Junius Nipsus wie in guter alter Zeit nur Pränomen, Nomen und Cognomen erkennen läßt. Fassen wir sämtliche Schriftsteller des Codex Arcerianus zu- sammen, so läßt sich unschwer bestätigen, was wir schon vorher behaupten durften: auch diese Feldmesser sind als Schüler des Heron von Alexandria anzusehen, daneben vielleicht noch anderer grie- ') H. Droysen im Rhein. Museum für Philologie (1875) XXX, 469. ?) Lachmann in Römische Feldmesser II, 139 und Hultsch, Seriptores metro- logier II, Prolegomena pag. 6. °) Römische Feldmesser I, 91, 93 und II, 146 flgg. (Mommsen). 554 | 26. Kapitel. chischer Schriftsteller; auch sie bedienten sich des andern Buches von Herons Geometrie, sei es im Originale, sei es in einer latei- nischen Übersetzung, deren Vorhandensein freilich nur daraus er- schlossen ist, daß es unwahrscheinlich gefunden wird, daß Feldmesser untergeordneten Geistes imstande gewesen sein sollten den Urtext zu verstehen. Andrerseits könnte freilich die Art, wie der Text dieser Feldmesser mit dem Herons in Übereinstimmung tritt, eine Überein- stimmung, die mitunter einem Gegensatz ähnelt, zur Vermutung führen, sie hätten ein in fremder Sprache geschriebenes Buch miß- verstanden, oder aber, wenn sie selbst griechischen Stammes waren, sie hätten sich in der ihnen fremden lateinischen Sprache nur mangel- haft auszudrücken gewußt. Es lassen sich bei ihnen allen ähnlich wie bei Heron gewisse Hauptabschnitte erkennen, von welchen freilich bei dem einen Schrift- steller der eine, bei dem anderen der andere bevorzugt wird: sie werden gebildet durch Maßbestimmungen, durch geometrische De- finitionen, durch praktisch feldmesserische Vorschriften, durch rech- nende Geometrie, wozu noch bei Epaphroditus und Vitruvius Rufus, für welche gemeinschaftlich ein größeres Bruchstück durch den Schreiber des Codex Arcerianus beansprucht ist, ein Abschnitt über Vieleckszahlen und Pyramidalzahlen kommt, wohl einen anderen Ur- sprung verratend als Heron, in dessen Schriften, wenigstens soweit (die uns erhaltenen Sammlungen Aufschluß geben, derartiges nicht vorkam. Maßbestimmungen und Definitionen waren für jeden notwendig, ‘der ohne Geometer zu sein Geometrisches lesen wollte oder mußte. Sie hier zu treffen kann uns daher nicht in Erstaunen setzen, und wir bemerken nur, weil gerade die Gelegenheit sich bietet, daß Pa- rallellinien durch löneae ordinatae übersetzt sind!), das Wort, welches viele Jahrhunderte später für die einer bestimmten Richtung parallelen Geraden (ÖOrdinaten) in Anwendung blieb und uns als einem schon bei den Griechen insbesondere bei Apollonius (S. 337) vorkommenden Ausdrucke nachgebildet erscheint. Dem Charakter des Verwaltungs- handbuches gemäß, welchem es nicht auf die Auffindung von Ent- fernungen, nicht einmal auf die Ausmessung von Grundstücken, sondern auf die Rechtsverhältnisse schon ausgemessener Felder und etwa auf die Berechnung ihres Rauminhaltes aus gegebenen Aus- dehnungen zum Zwecke von Versteuerung und dergleichen ankam, sind die Stücke über das, was wir Feldmeßkunst nennen, am kärg- lichsten vertreten, und wir wissen aus dem Vorhandenen kaum mehr, ') Agrimensoren S$. 98. Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 555 als daß Entsprechendes aus der Feder eines Frontinus, eines Balbus, eines Üelsus einstmals vorhanden gewesen sein muß. Schon um dieser wichtigen Gemeinsamkeit des Inhaltes willen und wegen des vereinigten Vorkommens der Bruchstücke in dem mehrgenannten Codex Arcerianus wollen wir für die Verfasser derselben uns eines häufig benutzten Sammelnamens bedienen und sie die Agrimen- soren nennen. Die Schüler des Heron erkennen wir in ihnen ferner an einer ziemlichen Anzahl von Wörtern, die als genaue Übersetzungen er- scheinen!). Die Scheitellinie insbesondere heißt, wie wir uns erinnern, bei Heron xogvpr, bei den Agrimensoren vertex oder coraustus, letz- teres eine offenbare Verstümmelung von xogvorog (sc. yocuun)”). Wird in einem Dreiecke eine Senkrechte aus der Spitze auf die Grundlinie gefällt, und trifft sie dieselbe zwischen ihren Endpunkten, so bildet sie einen Abschnitt, der bei Heron dxorourj, bei den Agri- mensoren praecisura heißt. Trifft die Senkrechte jenseits des End- punktes auf die Grundlinie, so entsteht eine Überragung, bei Heron &xßAndeioe, bei den Agrimensoren eiectura. Wenn die Aufgabe ge- stellt ıst, leitet Heron die Auflösung mitunter durch die Worte zoisı ovr@g, die Agrimensoren durch sic quaeres ein, häufig abgekürzt in S. Q., wiewohl man auch versucht hat S. @. als Abkürzung von se- quitur zu deuten?) und sich darauf stützt, daß in einem dem IX. oder X. S. angehörenden Münchner Manuskripte dieses Wort an Stelle des S. Q. mannigfach abgekürzt erscheint. Wenn Heron das rechtwinklige Dreieck ög0oy@&vıov, die dem rechten Winkel gegenüberliegende Seite vxortelvovoe, einen Schenkel des rechten Winkels x&0etos, den Flächen- inhalt Zuße«dov, die Ausmessung nach Fußen xodıoudg nennt, so schreibt ein Agrimensor fast die gleichen Wörter nur mit lateinischen Buch- staben, so daß sie bei ihm hortogonium, hypotenusa, chatetus, embadum, podismus lauten. Gleichwie bei Heron findet sich die Berechnung der Fläche des Dreiecks aus seinen drei Seiten. Aufgaben über Dreiecke, in welchen eine Höhe gezogen ist, sind geradezu wörtlich aus Herons Geometrie übersetzt. Wie bei Heron sind rationale rechtwinklige Dreiecke an- gegeben, ausgehend von ungeraden sowie von geraden Zahlen. Die heronische Berechnung des gleichseitigen Dreiecks findet sich zwar nicht vollständig, aber doch ist dessen Einwirkung unverkennbar. ') Genauere Beweisführung des hier Behaupteten in unseren „Agrimen- soren“. ?) Diese Ableitung wurde 1840 durch Gottfried Hermann gegeben. Vgl. Zeitschr. Math. Phys. XX. Histor.-Kter. Abtlg S. 68. °) Tannery in einer Fußnote zu Un nouveau texte d’arpentage ete. Notices et extraits XXXV, 2° Partie, pag. 532 (pag. 26 des Sonderabdrucks). 556 26. Kapitel. Das gleichseitige Dreieck von der Seite 30 habe, heißt es nämlich, als Quadrat der Seite 900, als Quadrat der halben Seite 225, als Höhe 26 und darin liegt eingeschlossen, daß nach der Ansicht des Verfassers 26 = Y900 — 225 — V675 = 15Y3 sei, also Y3 — r wie bei Heron. Wir bedürfen wohl nicht einer noch genaueren Be- weisführung für die Abhängigkeit der Agrimensoren von Heron von Alexandria und wollen vielmehr auf einige Dinge aufmerksam machen, welche in unserem Heron nicht ermittelbar, doch ohne Zweifel griechi- schen Ursprungs gewesen sein müssen. Unter dem Namen Nipsus ist die Aufgabe überliefert, aus der Fläche A und der Hypotenuse h eines rechtwinkligen Dreiecks die Katheten e, und «, zu finden. Die Auflösung wendet die Formeln «+%=VM+AN, a —@%=YVh?—AN an. Dabei ist dem Schreiber das Versehen begegnet bei dem Satze „der Podismus der Hypotenuse beträgt 25 Fuß“ das wichtigere Wort Hypotenuse zu ver- gessen und nur zu schreiben „der Podismus beträgt 25 Fuß“. Wir werden uns diesen interessanten Schreibfehler zu merken haben, welcher uns im 39. Kapitel dienen wird, im Codex Arcerianus die Quelle eines Werkes aus dem X. S. zu erkennen. In dem als von Epaphroditus und Vitruvius Rufus herrührend bezeichneten Bruchstücke ist der Durchmesser des in ein recht- winkliges Dreieck beschriebenen Kreises als der Rest berechnet, welcher bei Abziehung der Hypotenuse von der Summe der beiden Katheten übrig bleibt. Ebenda wird die Oberfläche von Bergen nach einer Näherungs- methode berechnet, welche derjenigen nahe verwandt ist, von der (5. 489) unter dem Namen des Patrikius die Rede war, welche aber, da sie, wie wir dort bemerkten, fast wahrscheinlicher uralt ist, zur Datierung des Epaphroditus nichts beitragen kann, auch wenn wir genau wüßten, welcher Patrikius in der betreffenden Stelle gemeint ist. Die Berechnung erfolgt, indem das arithmetische Mittel von drei, ein andermal von zwei Kreisperipherien als durchschnittlicher Umfang des Berges das eine Mal mit dessen Höhe, das andere Mal mit der halben Summe zweier an Abhängen von verschiedener Steilheit zu messenden Höhen vervielfacht wird. Wieder in einer anderen Aufgabe ist mit Hilfe eines massiven gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks, längs dessen Hypotenuse man bei horizontaler Lage der einen Kathete den Gipfel eines Baumes einvisiert, eine der vertikalen Höhe des Baumes gleiche Entfernung von seinem Fuße bestimmt, die alsdann abgemessen werden kann Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 5957 und somit eine Höhenmessung liefert!), welche von der Benutzung des Schattens absieht; eine Methode, welche sowohl an sich be- merkenswert ist, als auch dadurch, daß sie durch die in einem Zwischensatze hervorgehobene Ausschließung der Schattenbeobachtung bestätigt, daß die Höhenmessung aus dem Schatten, das Verfahren also, welches man bis auf Thales zurückzuführen liebt, die Regel bildete. Am merkwürdigsten sind einige Paragraphe des gleichen Frag- mentes, welche mit arithmetischen Sätzen sich beschäftigen, und zwar merkwürdig nach zwei Richtungen: erstlich dadurch, daß sie er- kennen lassen, was einzelne in Rom aus offenbar griechischer Quelle einmal gewußt haben, zweitens dadurch, daß sie bezeugen, wie spätestens zur Zeit der Abfassung der Sammlung, welche uns als Quelle dient, die Dinge bereits mißverstanden wurden. Wir haben (5. 361) bei Hypsikles um 180 v. Chr. die Definition der rten mecks- zahl kennen gelent as m =1+m—- DD) +@m—-3) +:-- +(1+@r—D (m — 2). Wir haben (S. 486) bei Diophant um 300 n. Chr. vielleicht allerdings aus früherer Quelle die beiden 1 (m — 2) 2r — 1) + 2]? — (m — 4)? 27 8 (m — 2) Gleichungen auftreten sehen 9% A Re ” ur Ua + |. Diese beiden Formeln nun, welche bei bekannter Ordnung m einmal die Vieleckszahl aus ihrem oberen Index r, das andere Mal jenen Index r aus der rten Vieleckszahl ableitet, kommen in unserem Fragmente vor, zwar nicht wie bei Diophant als in Worte gekleidete allgemeine Formeln, aber in ihrer Anwendung auf die Vieleckszahlen aufeinanderfolgender Ordnung von der Dreieckszahl bis zur Zwölfeckszahl, mit zwei Rechenfehlern, wo es um Fünf- und Sechseckszahlen sich handelt. undr =- Ba 2% ” Dort wäre nämlich richtig p5 = een „m=> N während die irrigerweise statt der Subtraktionen in den betreffenden Zählern 2 . vorgenommenen Additionen die falschen Formeln p5 = a r 4r? + 2r Ne 2 Ps hervorbrachten, nach welchen gerechnet ist. Es ist gewiß berechtigt, daraus den Schluß zu ziehen?), daß dabei die allgemeinen Wortformeln den Ausgangspunkt bildeten, denn es ist unendlich viel wahrscheinlicher, daß zwei Fehler mangelhafter Sub- stitution vorkommen, als daß bei der Einzelbetrachtung der aufein- ander folgenden Vieleckszahlen zwei in Rechenfehler ausartende ") ut sine umbras solis et lunae mensuris (Agrimensoren $. 215, lin. 8—9). ?) Agrimensoren 9. 126. 558 26. Kapitel. Schreibfehler just bei niedrigem Werte von m sich hätten ein- schleichen sollen. In der Tat sind in der Münchner Handschrift die richtigen Formeln an dieser Stelle benutzt.') Auch eine merkwürdige Formel für Pyramidalzahlen läßt aus den Einzelfällen sich erkennen, deren Ableitung freilich nirgend ge- geben ist, aber nachträglich sich leicht erraten läßt, ohne irgend Kenntnisse in Anspruch zu nehmen, welche nicht bei den Griechen sich nachweisen ließen. Nennt man die Summe der r ersten mecks- zahlen die rte meckige Pyramidalzahl und schreibt dafür P,., so ist die Definitionsgleichung P, = pn + 2, +..:+ Mm. Nun nehmen wir an, es sei ausgehend von dem bekannten Satze | — P—(e+P) (a—P) die Umformung vorgenommen worden: [(m-— 2) (?r—1) + 2]? — (m — 4)? 8(m — 2) ee Aar— y +? m — 9 mer - HT m —H] S(m — ?2) ee DE Hr + an gr 8 (m — 2) ER ei 2 Setzt man die entsprechenden Werte in alle Vieleckszahlen von Dn bis p). ein, so erhält man ut Arte, Aber spätestens zu Archimeds Zeiten " 313—314) war bekannt 1424. 4,229 und ER RL u el m — 4 wenn auch letzteres noch nicht in der kurzen Form, deren wir uns bedienen. Diese Werte liefern pr _m-2 rc +Der+D) ma re+N) u 6 2 2 beziehungsweise r 1 m — 2 m— 2 m — 4 2" .2r? ne ne, 3r| 6 2 ' 2(m — 2) 9„ BEN m—2 m — 4 ze —_ [- = x yi— ET 1 -- “ > . y — - > r| u ® 1 + [2p4 + »] und dieser PER Formel bedient sich der römische Schriftsteller. Ja er kennt sogar die Summierung der r ersten Kubik- ) Un nowveau texte d’arpentage ete. Notices et Extraits XXXV, 2° Partie, pag. 540—541 (pag. 34—35 des Sonderabdrucks). Die Blütezeit der römischen Geometrie. Die Agrimensoren. 559... zahlen: P+2+.. 4 (UF). Auch hier ist die Auf- findung des Weges, auf; welchem ein Grieche zu dieser Formel ge- langen konnte, mag er nun geheißen und gelebt haben wie und wann er wolle, nicht allzuschwierig. Nikomachus, sagten wir (S. 432), habe um 100 n. Chr. die Beziehung zwischen den Kubikzahlen und auf- einanderfolgenden ungeraden Zahlen erkannt, welche dahin sich aus- spricht, die erste Kubikzahl sei gleich der ersten ungeraden Zahl, die zweite gleich der Summe der zwei darauf folgenden ungeraden Zahlen, die dritte gleich der Summe der darauf wieder folgenden drei ungeraden Zahlen usw. Über sämtliche + erste Kubikzahlen ausgedehnt liefert das als deren Gesamtsumme die Summe der 1+2-+:-+r d.h. der A nn: aufeinanderfolgenden ungeraden Zahlen von der 1 anfangend. Die alten Pythagoräer wußten aber schon (S. 160), daß diese das Quadrat ihrer Anzahl bilden. Die Gesamtsumme ist mithin 1 +2? +... + — (er 2), und genau so rechnet unser Schriftsteller'). „Diese arıthmetischen Kenntnisse: eine Darstellung der Vielecks- zahl aus ihrer Seite, der Seite aus der Vieleckszahl, der Pyramidal- zahl aus Vieleckszahl und Seite, endlich die Summierung der aufein- anderfolgenden Kubikzahlen einem griechischen Schriftsteller auch ohne Beweis entnommen zu haben, würde schon ein gewisses mathe- matisches Verdienst der Männer voraussetzen, welche es verständnis- voll unternahmen die interessanten Formeln aufzubewahren. Ob wir aber dem Epaphroditus und Vitruvius Rufus das Beiwort des Ver- ständnisses zuerkennen dürfen? Eine Figur, welche in den Text hinein- geraten ist, läßt daran gerechte Zweifel entstehen. Figuren finden sich auch bei griechischen Arithmetikern, wie wir wissen, zur Versinnlichung der Vieleckszahlen, ja diese Zahlen selbst haben von Anfang an ihre Namen von dieser Versinnlichung her bekommen, und so wird die Quelle unserer Römer mit an Ge- wißheit streifender Wahrscheinlichkeit die Figuren des regelmäßigen Fünfecks, Sechsecks, ... Zwölfecks enthalten haben, welche neben den Formeln übernommen werden durften, wenn nicht mußten. Aber bei der Ausrechnung der Achteckszahl ist nicht bloß das regel- ı Herr P. Tannery hat bemerkt, daß diese Formel, von der es lange- zeit unbeachtet geblieben war, daß sie den Alten bekannt gewesen, doch im XVII. S. der Aufmerksamkeit Pascals nicht entging, sonst könnte er zu Anfang seines Aufsatzes Potestatum numericarum summa nicht gesagt haben: Datis ab unitate quotcumque numeris continuis invenire summam quadratorum eorum tra- diderunt veteres; imo etiam et summam cuborum eorumdem. Oewvres de Pascal. Paris 1872. Vol. III, pag. 303. 560 26. Kapitel. \ mäßige Achteck, es ist auch in einen Kreis eingezeichnet die Figur zweier sich symmetrisch durchsetzender Quadrate vorhanden, die wir früher um einige vom Kreismittelpunkte gezogene Hilfslinien ver- mehrt und mit einer Buchstabenbezeichnung einiger Punkte ver- sehen kennen gelernt haben (Fig. 66). Diese Figur ist unter keinen Umständen arithmetischen Charakters. Sie kann sich nur auf die geometrische Entstehung des regelmäßigen Achtecks aus dem Qua- drate beziehen, und ihr Vorkommen bei Epaphroditus gewährt unseren früher (S. 401) ausgesprochenen Vermutungen über die Anwendung jener Figur eine nicht geringfügige Unterstützung. Wer aber die beiden Figuren, das arithmetische und das geometrische Achteck, wenn wir so sagen dürfen, um unsere Meinung in recht scharfe sprachliche Gegensätze zu kleiden, nebeneinander abbildete, der be- wies damit, daß er die arithmetische Figur nicht verstand, daß er glaubte beidemal mit geometrischen Dingen zu tun zu haben. Wir fürchten, es waren jene kömer, welche dem Mißverständnisse unter- lagen, und sollten Epaphroditus und Vitruvius, oder wenigstens einer derselben, an der Vermengung dieser Dinge unschuldig sein — die Ver- mutung liegt ja nahe, daß von jenen beiden Männern der eine eine geometrische, der ers eine arithmetische Schrift verfaßte, aus welchen nur ein Auszug vorliegt, dessen Blätter einigermaßen durch- einandergekommen sind — so hat jedenfalls der Schreiber des Codex Arcerianus unter dem Banne der vermengenden Verwechslung gestanden. Läßt sich doch schon zum voraus, und ohne des uns triftig erscheinenden Beweisgrundes der beiden Achtecke sich zu be- dienen, die Behauptung aussprechen, Arithmetisches als solches habe in der Sammlung eines Verwaltungsbeamten keinen Platz gefunden. Es konnte sich dort überhaupt nur einschleichen, wenn man wähnte, es handle sich um Geometrisches, also nicht um Vieleckszahlen, sondern um den Flächeninhalt regelmäßiger Vielecke, und bei den Pyramidalzahlen, bei den Kubikzahlen, welche dort vorkommen, mag der Schreiber sich wohl gar nichts gedacht haben. Diese Behaup- tungen finden auch ihre Bestätigung in den vielen bei den arithme- tischen Sätzen auftretenden Schreibfehlern. Fassen wir also das bisher Gewonnene zusammen, so wird das Ergebnis sich gestalten wie folgt: Die Römer sind, wenn sie auch eine uralte Feldmeßkunst besaßen und des Rechnens zum täglichen Ge- brauche nicht entbehren konnten, zur Mathematik schlecht genug veranlagt gewesen. Ein bis anderthalb Jahrhunderte lang, von Cäsar bis nach Trajan etwa, war eine verhältnismäßige Blütezeit römischer Geometrie und vielleicht auch römischer Arithmetik, beide auf grie- chische Quellen zurückgehend, unter welchen sich jedenfalls Schriften Die spätere mathematische Literatur der Römer. 561 des Heron von Alexandria befanden. Allmählich jedoch verschwand sogar das Verständnis des damals ins Lateinische Übersetzten. 27. Kapitel. Die spätere mathematische Literatur der Römer. Die Behauptung, daß die Römer in den Zeiten Cäsars bis Tra- jans auch arithmetischer und damit bei den Griechen schon enge ver- bundener algebraischer Leistungen bis zu einem gewissen Grade fähig waren, ist außer aus dem Bruchstücke des Codex Arcerianus, welches wir zu diesem Zwecke verwandt haben, auch aus den Rechtsquellen zu bestätigen. Zinszahlungen, also auch Zinsberechnungen sind bei den Römern ungemein alt!), so daß von anderen Erleichterungen über- bürdeter Schuldner abgesehen schon im Jahre 342 v. Chr. die freilich nicht eingehaltene Lex Genucia gegen jede Zinsverleihung Gesetzes- kraft gewann. Noch zu Ciceros Zeit war 48 Prozent nichts Un- erhörtes, wenn auch eigentlich nicht gestattet. In der Kaiserzeit galt ein Zinsfuß von 12, später von 6 Prozent als gesetzlich. Dichter- stellen, besonders bei Horaz, beweisen, daß das Zinsrechnen zu den täglich notwendigen und darum immer geübten Kenntnissen gehörte?). Auch eine entsprechende Verminderung für vorzeitigen Genuß eines erst später zu erlangenden Besitzes, das sogenannte Interusurium oder die Repräsentation, wie der Römer sagte, ist alt, wenn auch die Größe der Verminderung und die Regeln, nach welchen sie ab- geschätzt wurde, weit entfernt davon sind, im klaren zu sein. Ulpian, der am Ende des I. und Anfang des III. S. n. Chr. lebte, stellte bereits Berechnungen ähnlicher Art unter Voraussetzung einer wahrscheinlichen Lebensdauer an?), allerdings wieder ohne daß wir eine Ahnung haben, wie jene wahrscheinliche Lebensdauer ge- wonnen wurde. Zu anderen Rechnungsaufgaben gab das Erbrecht der Römer, gaben die vielfach ungemein verzwickten letztwilligen Verfügungen Anlaß, die geradezu Regel bei ihnen waren. Im Jahre 40 v. Chr. stellte die Lex Falcidia fest, daß dem eigentlichen Erben mindestens ein Viertel des hinterlassenen Vermögens verbleiben mußte. Waren also Vermächtnisse im Gesamtbetrage von mehr als Dreiviertel des ') Gustav Billeter, Geschichte des Zinsfußes im griechisch -römischen Altertum bis auf Justinian. Leipzig 1898. °) Hultsch im Jahrbuch für klas- sische Philologie 1889. 8. 335—343. °) Ad legem Falcidiam XXXV, 2, 68 CANToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 36 562 27. Kapitel. Vermögens testamentarisch verheißen, so mußten diese mittels einer Gesellschaftsrechnung herabgemindert werden, so daß die sogenannte faleidische Quart nicht angegriffen wurde. Ein für die Geschichte der Mathematik in seiner Eigentümlich- keit, welche eine Übertragung von einem Werke zum andern sichert, höchst bedeutsamer Fall ist der eines Erblassers, der seine Witwe in schwangerem Zustande hinterläßt und Bestimmungen für die beiden Möglichkeiten getroffen hat, daß sie einem Knaben oder einem Mäd- chen das Leben schenkt, während der tatsächlich eintretende Fall, daß Zwillinge, und zwar Zwillinge von verschiedenem Geschlechte, geboren werden, nicht vorgesehen war. Ein daran sich knüpfender Rechtsstreit ist durch Salvianus Julianus!), einen Juristen, der unter den Kaisern Hadrian und. Antoninus Pius wirkte, berichtet; ein zweiter verwandter Fall kommt bei Cäcilius Africanus?), ein dritter bei Julius Paulus’), einem glänzenden Juristen des III. S., vor, der unter Kaiser Alexander Severus der römischen Rechtswissen- schaft zur Zierde gereichte. Die älteste Entscheidung des Julianus lautet folgendermaßen: „Wenn der Erblasser so schrieb: Wenn mir . . . = . .. ein Sohn geboren wird, so soll dieser auf „- meines Vermögens, meine Frau aber auf die übrigen Teile Erbe sein; wird mir aber 3 . 1 eur eine Tochter geboren werden, so soll diese auf „-, auf das Übrige aber meine Frau Erbe sein, und ihm nun ein Sohn und eine Tochter geboren wurden, so muß man das Ganze in 7 Teile teilen, so daß von diesen der Sohn 4, die Frau 2 und die Tochter 1 Teil erhält. Denn auf diese Weise wird nach dem Willen des Erblassers der Sohn noch einmal soviel erhalten als die Frau, und die Frau noch einmal soviel als die Tochter. Denn obgleich nach den Bestim- mungen des Rechtes ein solches Testament umgestoßen werden sollte, so verfiel man doch aus rein vernünftigen Gründen auf die genannte Entscheidung, da ja nach dem Willen des Erblassers immer die Frau etwas erhalten soll*), mag ihm ein Sohn oder eine Tochter geboren werden. Auch Juventius Celsus stimmt hiermit vollkommen überein.“ Dieser letztere Jurist, auf welchen Julianus sich bezieht, der die Aufgabe also jedenfalls kannte, lebte unter Trajan um das Jahr 100 n. Chr., war also sicherlich ein Zeitgenosse jenes Öelsus, !) Lex 13 principio. Digestorum lib. XXVII, tit. 2. 2) Lex 47, $ 1. Digestorum lib. XXVII, tit. 5. ®) Lex 81 prineipio. Digestorum lib. XXVIU, tit. 5. ‘) Wäre nämlich das Testament umgestoßen und somit als nicht vor- handen zu betrachten, so würden nach römischem Rechte die Kinder allein ge- erbt haben, die Witwe aber leer ausgegangen sein. Die spätere mathematische Literatur der Römer. 563° an welchen, wie wir uns erinnern, Balbus sein feldmesserisches Werk gerichtet hatte. Unmöglich erscheint es daher nicht, daß diese beiden Persönlichkeiten mit Namen Celsus in eine verschwimmen müßten, daß der gelehrte Jurist Celsus auch Ingenieur gewesen, auch in der Geometrie als Schriftsteller aufgetreten wäre, daß von ihm auch jene 'Erbteilungsaufgabe herrührte, welche ebensogut in einem mathe- matischen Buche als in einer Sammlung von Rechtsfällen einen Platz einnehmen konnte. Zeitgenosse des Julianus um die Mitte des II. S. war ein Schrift- steller, der uns gleichfalls für das unter den Antoninen noch vor- handene Interesse an arithmetischen Dingen Bürge ist. Appuleius, geboren zu Madaura, einer blühenden Kolonie an der Grenze Numi- diens gegen Gätulien hin, machte seine Studien vornehmlich zu Athen, begab sich aber alsdann zu weiterer Ausbildung auf größere Reisen. Von schönschriftstellerischer Seite ist er als Verfasser eines witzigen Romans bekannt. Aber auch als mathematischer Schrift- steller ist er aufgetreten. Cassiodor!) im zweiten Drittel des VL, Isidor von Sevilla?) am Anfang des VII. 5. bezeugen ausdrücklich, die Arithmetik des Nikomachus sei erstmalig durch Appuleius, dann zum zweiten Male durch Boethius ins Lateinische übertragen worden. Unmittelbare Überreste der Bearbeitung durch Appuleius sind nicht erhalten, so daß ein Urteil darüber nicht gefällt werden kann, in- wieweit die Behauptung, Appuleius habe auch Rechenbeispiele in größerer Anzahl gelehrt, nur auf einem Mißverständnisse beruht, indem die betreffenden Gewährsmänner seine Arithmetik gleichfalls nur vom Hörensagen kannten und aus dem Titel ihre falschen Schlüsse zogen, oder aber Wahrheit ist. Im XV. und XVI. S. wurde mit Sicherheit an die Wahrheit geglaubt. Ein Rechenbuch, algo- rıthmus linealis genannt, aus jener Zeit, der Erlanger Universitäts- bibliothek angehörig, beginnt ausdrücklich mit den Worten: „Um die vielen Irrtümer der Kaufleute und die Schwierigkeiten des andern Teiles der Arithmetik zu vermeiden, ist bei Appuleius, dem in allen Wissenschaften hocherfahrenen Manne, eine andere Anschauung dieser Kunst erfunden, welche ebenso viel berühmter als leichter und den Geisteskräften eines jeden angepaßter ist als die erste; bei uns heißt sie Rechnung auf den Linien“). Ein 1540 in Paris anonym er- schienenes Rechenlehrbuch sagt: „Die ganze Kraft dieser Disziplin ruht in den Beispielen der Addition und Subtraktion; wer das ganze ") Cassiodor, Opera (ed. Garet). Venedig 1729, Bd. II, pag. 555, col. 2, lin. 14 v.u. 2?)Isidor Hispalensis, Origines Lib. II, Cap. 2. °) Fried- lein, Zahlzeichen und elementares Rechnen usw. S. 48. 36* 564 27. Kapitel. Kapitel vollauf kennen lernen will, der lese den Appuleius, welcher zuerst den Römern diese Dinge beleuchtete“. Es hält so be- stimmten Äußerungen gegenüber schwer, des Glaubens sich zu er- wehren, daß, wer so sprach, die Schrift des Appuleius selbst vor Augen gehabt habe. Nicht minder schwer freilich fällt die Annahme, Appuleius habe die Arithmetik des Nikomachus, die wir im Originale wie in der Bearbeitung des Boethius zur Genüge kennen, so selbst- ständig oder unter Zuziehung anderer Quellenschriften behandelt, daß er Rechenbeispiele einfügen konnte. Oder sollen wir annehmen, Nikomachus habe neben der Arithmetik ein ganz verschollenes Rechenbuch verfaßt? Auf dieses beziehe sich der Ausspruch Lueians: Du rechnest wie Nikomachus? Dieses habe Appuleius übersetzt, und das Mißverständnis rühre von Cassiodor und dem ihn ausschreiben- den Isidor her, welche die Übersetzungen zweier verschiedener Werke des Nikomachus ins Lateinische vermengten? Wir fühlen wohl, wie viele Gründe sich auch dieser Annahme entgegentürmen, wollten aber keinesfalls versäumen, jede der verschiedenen Möglichkeiten jene Äußerungen später Zeit zu erklären anzuführen. Unterstützend für unsere Annahme ist jene Berufung des Nikomachus auf eine von ihm verfaßte Einleitung in die Geometrie (8. 432). Es ist uns wenig- stens gar nicht undenkbar, daß diese einen wesentlich rechnenden Charakter hatte. War doch seit Herons rechnender Geometrie gerade eine diese Vorkenntnisse umfassende Einleitung Bedürfnis geworden, während zu einer wahrhaft geometrischen Einleitung in die Geometrie Anlaß kaum vorhanden war. | Auch auf geometrischem Gebiete ist die wenn nicht selbst- schöpferische doch an Übertragungen griechischer Schriftsteller sich übende Tätigkeit der Römer keineswegs mit den Zeiten Trajans ab- geschlossen. Neben den im Codex Arcerianus vereinigten, wie wir sahen, um die Mitte des V. 8. schon zusammengestellten vielleicht zum Teil später als Trajan, sogar später als Diophant zu datierenden Stücken ist uns ein sehr bedeutsames Fragment aus dem IV.S. er- halten, welches zeigt, daß nicht bloß der „Heron“ der Praktiker, sondern auch der „Euklid“ der Theoretiker der römischen Sprache mächtige Liebhaber besaß. Dieses Fragment”), auf welches zuerst 1820 hingewiesen worden ist, und welches seitdem unausgesetzt die !) Math. Beitr. Kulturl. Anmerkung 351. ?) Vgl. die von Niebuhr 1820 in Rom herausgegebenen Bruchstücke der Reden Ciceros für Fonteius und Ra- birius pag. 20. Blume, Iter Italicum I, 263. Keil auf pag. XI der Vorrede zu seiner Ausgabe des Probus, Reifferscheid, Sitzungsber. d. philol. Abtlg. der Wiener Akademie XLIX, 59. Mommsen, Abhdlg. der Berliner Akademie 1868, S. 153, 156, 158. ek re Die spätere mathematische Literatur der Römer. 565 Aufmerksamkeit philologischer Forscher in Spannung erhielt, gehört der unteren Schrift eines Palimpsestes an, der in der Kapitelbibliothek zu Verona früher unter der Nummer 38, jetzt unter der Nummer 40 aufbewahrt wird. Die jüngere dem IX. S. angehörende Schrift enthält einen Teil der „Moralischen Betrachtungen zum Buch Hiob“ vom Papst Gregor dem Großen (7 604). Die darunter erkennbare ältere Schrift stammt nach dem Dafürhalten aller neueren Sachkundigen unter Beachtung aller Merkmale der Schrift wie der Sprache, welche zur Entscheidung beitragen können, aus dem IV. S. Kaum mit bloßem Auge erkennbar, gab sie mühevollster Entzifferung ihren Inhalt kund. Es sind Bruchstücke des Vergilius, des Livius und Geometrisches, welche im IX. S. würdig schienen theologisch-mora- lischen Betrachtungen den Platz zu räumen. Das geometrische Frag- ment!) gibt sich selbst als dem XIV. und XV. Buche des Euklid entstammend an. Seine Numerierung ist aber keineswegs mit der gebräuchlichen gleichlaufend. Als XIV., als XV. Buch der eukli- dischen Elemente bezeichnet man bekanntlich (S. 358 und 501) jene von mindestens zwei verschiedenen Schriftstellern herrührenden stereo- metrischen Abhandlungen, welche, man weiß nicht recht wie und wann, an die dreizehn Bücher der Elemente angehängt worden sind. Diesen Abhandlungen gleicht das lateinische Bruchstück nicht im geringsten. Ohne Satz für Satz und Figur für Figur mit dem grie- chischen Euklidtexte zur Deckung gebracht werden zu können, ist es doch unter allen Umständen den echt euklidischen mit Stereo- metrie sich beschäftigenden Büchern, dem XI. und XIII. Buche unserer griechischen Texte entnommen. Es ist entweder Auszug, oder Übersetzung eines Auszuges, jedenfalls Arbeitsexemplar des Un- bekannten, von welchem es herrührt, wie der Entzifferer mit großem Scharfsinne aus der Tatsache geschlossen hat, daß einzelne Wörter durchstrichen und durch anders lautende Synonyma ersetzt sind. Das kann selbstverständlich nur auf den Schriftsteller, beziehungsweise den Übersetzer selbst zurückgeführt werden, und zwar in einer Zeit, in welcher seine Arbeit noch in Vorbereitung, noch nicht abge- schlossen war. Die andere Seite unserer zum Schlusse des vorigen Kapitels aus- gesprochenen Behauptung, daß das Verständnis der aus Griechenland überkommenen mathematischen Kenntnisse der Römer mehr und t) Der Entzifferer, Prof. W. Studemund, hat längst eine Herausgabe zu- gesagt. Er ist leider gestorben, ohne seine Zusage erfüllt zu haben. Unser Bericht entstammt den mündlichen Mitteilungen, welche er so freundlich war, unter Vorzeigung seines vorbereiteten Materials uns zu machen, und deren Ver- öffentlichung er uns gestattet hat. 566 27. Kapitel. mehr schwand, findet gleichfalls Bestätigung, wenn wir die Magerkeit uns betrachten, zu welcher im Laufe der Jahrhunderte die römische Mathematik zusammenschrumpfte. Theodosius Maerobius, ein vielleicht aus Afrika stammender Schriftsteller, von welchem uns Kommentare erhalten sind!), die um 400 entstanden sein dürften, und in welchen hier und da zerstreut auch einige mathematische Erläuterungen vorkommen, ist noch bei weitem der dürftigste nicht. Wir denken auch nicht an den kurz vor oder nach 457 entstandenen Caleulus des Vietorius, dessen Notwendigkeit wir oben (S. 531) eingesehen haben, begründet in der Schwierigkeit mit den römischen Duodezimalbrüchen Rechnungen auszuführen. Wir denken zunächst an Martianus Mineus Felix Capella. Er war in der ersten Hälfte des V.S. in Karthago ge- boren und stieg bis zur Würde eines römischen Prokonsuls empor. Er hat uns ein aus neun Büchern bestehendes enzyklopädisches Werk, welches den Gesamtnamen Satira führt, hinterlassen?), dessen Ent- stehung etwa auf das Jahr 470 fällt. Die beiden ersten Bücher führen den besonderen Titel der Vermählungsfeier der Philologie mit Merkur und stellen ein kleines Ganzes dar, eine Art von philoso- phischem und allegorischem Romane, der als Einleitung dient. Zur Vermählung erscheinen alsdann die sieben Jungfrauen, welche Merkur zu Gesellschafterinnen seiner jungen Frau bestimmt, nämlich die sieben Wissenschaften, welche, um den Ausspruch Quintilianus’ zu benutzen, den Kreis der freien Lehre ausmachen?). Es sind dieselben freien Künste, in derselben Reihenfolge, wie wir sie durch Varros Werk kennen, dessen Einteilung uns wenigstens erhalten blieb (S. 543). Jede Wissenschaft bringt ihr Symbol mit. Nach der Grammatik, der Dialektik und der Rhetorik tritt die Geometrie auf. Sie hat den mit blauem Sande bestreuten Abacus in Händen), auf welchen also dies- mal die Figuren gezeichnet werden sollen, mit welchen die Geometrie sich abgibt. Freilich eine sonderbare Geometrie, deren räumlicher Hauptbestandteil in geographischen Begriffen, in einer Aufzählung historisch interessanter Orte, deren Gründer zugleich genannt werden, aufgeht. Dann kommen Definitionen von Linien, Figuren, Körpern, dann die notwendigsten Forderungen, alles nach Euklid und unter Benutzung der griechischen Benennungen. Sind aber die Vorberei- tungen erst soweit getroffen, daß die Göttin auf dem Abacus eine gerade Linie zieht und die Frage stellt: Wie läßt sich über einer ge- ') Macrobius, Opera (ed. v. Jan), Quedlinburg und Leipzig 1848—52. 2) Martiani Capellae De nuptiüis philologiae et Mercurii de septem artibus libera- libus kibri IX (ed. Ulr. Kopp). Frankfurt a. M. 1836. °) Quintilianus |], 10, 1. *) Hyalini pulweris respersione coloratam mensulam. RE ET RE ER Die spätere mathematische Literatur der Römer. 567 gebenen Strecke ein gleichseitiges Dreieck errichten, da erkennen sofort die in dichtem Haufen sie umstehenden Philosophen, sie wolle den ersten Satz der euklidischen Elemente bilden, brechen in lautes Klatschen und Hochrufen auf Euklid aus...') und das VI. Buch und mit ihm die Geometrie ist zu Ende. Von Feldmessung, von rechnender Geometrie, mit einem Worte von Heronischem ist in keiner Weise die Rede Im VII. Buche macht die Arithmetik ihre Aufwartung mit ihren Fingern die Zahl 717 darstellend, durch welche sie den Gott der Götter begrüßt. Wir haben dieses Zeugnis für die auch damals bekannte Fingerrechnung (S. 527) anrufen dürfen. Wir fügen hinzu, daß Pallas auf die Frage der Philosophie, was jene Zahl zu bedeuten habe? erwidert: die Arithmetik grüße Jupiter mit seinem eigenen Namen. Diese Stelle ist, jedenfalls richtig dahin erklärt worden, Jupiter sei der Anfang der Dinge und 7 deyıj stelle durch den Zahlenwert der Buchstaben 8 + 1 + 100 + 600 + 8 die Zahl 717 vor. Auch Pythagoras ist bei den der Vermählung wegen ver- sammelten Gästen und tritt nun näher hinzu, er, der bisher bei den Zeichnungen auf dem Abacus als Zuschauer gestanden hatte. Der kundige Leser ist durch die symbolische Begrüßung, durch das per- sönliche Auftreten des Pythagoras zur Genüge auf das vorbereitet, was er im VII. Buche nun entwickelt finden wird: eine wesentlich pythagoräische Arithmetik nach dem Muster des Nikomachus, wie sie den Römern, wenn nicht schon seit Appuleius, jedenfalls seit Plotinus unter ihnen gelebt hatte, geläufiger geworden war, wie sie jetzt in einer Zeit, während welcher mancher von den tonangebenden vornehmsten Römern zu den Füßen des Proklus in den Vorlesungs- räumen von Athen gesessen hatte, gewiß auf Verständnis zählen durfte Wir sind mit der Bemerkung, daß diese Erwartung nicht getäuscht wird, einer genaueren Berichterstattung über das VII. Buch überhoben. Wir machen nur auf die negativ eigentümliche Er- scheinung aufmerksam, daß der vieleckigen Zahlen, die bei Niko- machus eine so wichtige Rolle spielen, kaum gedacht ist. Wohl heißt es, die Ebene habe verschiedene Gestaltungen, nach welchen die Zahlen geordnet werden können?), aber nach einer arithmetisch vernünftigen Ausführung dieses Gedankens fahndet man vergeblich. Es kann unsere Aufgabe nicht sein zu erörtern, wie viel oder wie wenig im VIII. Buche der Astronomie, im IX. Buche der Musik in den Mund gelegt wird. Wir sind von der Mühe befreit die Geschichte ) Quo dieto cum plures philosophi, qui undiquesecus constipato agmine con- sistebant, primum KEuclidis theorema formare eam velle cognoscerent, confestim acclamare Euchdi plaudereque coeperunt. ?°) Ipsa autem planities varias formas habet, numeris ad similitudinem figurarum ordinatis. 568 27. Kapitel. ‚auch dieser Wissenschaften zu verfolgen, und ohne irgendwelchen Zwang der Durchforschung wird man die schwülstigen und zugleich langweiligen Auseinandersetzungen des Martianus Capella sich lieber schenken. In die Blütezeit des eben besprochenen Schriftstellers etwa auf 475 fällt die @eburt eines anderen Mannes, zu welchem wir uns nun zu wenden haben, Magnus Aurelius Cassiodorius Senator!). Er war im südlichen Italien in Bruttien geboren, unweit von Seyl- lacium, an einer von Naturschönheiten so reich erfüllten Stelle, daß er sie später von allen aussuchte, sein Leben dort zu beschließen. Noch in sehr jugendlichem Alter von kaum 20 Jahren trat er in den Staatsdienst, frühestens im Herbst 500°), zu einer Zeit, wo Theo- dorich eben den gotischen Staat ‚in Italien gegründet hatte, und zu diesem Fürsten trat Cassiodorius in die Stellung eines Geheim- schreibers, äußerlich genommen Theodorichs Dolmetscher, in Wirk- lichkeit sein einflußreicher Ratgeber. Die vielseitigen, wenn auch nicht überall tiefen Kenntnisse des Ministers — als solchen dürfen wir ihn vielleicht bezeichnen — machten ihn dem Könige unent- behrlich, sowohl in den Geschäften der Regierung, als in den ver- schiedensten Privatbeziehungen, und erst der Tod Theodorichs 526 löste das Band, welches Gewohnheit und gegenseitige Zuneigung um beide Männer geschlungen hatte. Auch unter den Nachfolgern Theo- dorichs blieb Cassiodorius, so verhaßt ihm Persönlichkeiten und einzelne Handlungen oft sein mochten, der gotischen Sache getreu, um von dem Staatsbaue seines königlichen Freundes zu retten, was noch zu retten war. Man besitzt Staatsschriften von 538, die Cassıio- dorius unterzeichnet hat. Am Hofe erlebte er noch den Ausbruch des Krieges gegen die Byzantiner, und erst 540 etwa, nachdem Ra- venna schon in Belisars Händen war, zog Cassiodorius sich in das von ihm selbst gestiftete Kloster in seiner Heimat zurück, dort eine reiche literarische Tätigkeit zu entfalten. Cassiodorius war einer der ersten, welche dem Beispiele folgend, das Benedikt von Nursia in seinem 529 zu Monte Casino bei Neapel gestifteten Kloster so ı) A. Thorbecke, Cassiodorus Senator. (Heidelberger Lyceumsprogramm von 1867.) V. Mortet, Notes sur le texte des Institutiones de Cassiodore in der Revue de Philologie, de Litterature et d’ Histoire ancienne XXIV (1900) pag. 103 bis 118 und 272— 281, XXVIl (1903) pag. 67—78 und 139—150. Die Lesart Cassiodorius hat Usener, Anecdoton Holderi (Festschrift zur 32. Philologen- versammlung. Wiesbaden 1877), 8.16, wie wir glauben, sichergestellt. ?) Nach Usener |. ce. S. 70 datiert sich der erste bekannte Brief des Cassiodorius von 501. Dafür, daß Cassiodorius damals noch am Anfange der zwanziger Jahre ge- standen haben muß, vgl. Thorbecke 8. 7—10, Usener S. 4. Die spätere mathematische Literatur der Römer. 569 segensreich aufstellte, dem klösterlichen Leben einen anderen Inhalt als den der bloßen Zurückgezogenheit und Beschaulichkeit gaben. Eine Bibliothek entstand, lernende und forschende Tätigkeit entfaltete sich. Ein stärkerer Gegensatz als der gegen die Kulturentwicklung im byzantinischen Reiche ist kaum denkbar. Dort befinden Religion und Wissenschaft sich in fast fortwährendem Kampfe, bei welchem die weltliche Macht meist auf Seite der Kirche steht (S. 503). Hier ist das Kloster, also eine Gründung religiösen, wenn nicht kirch- lichen Ursprunges, Stätte der Wissenschaft und bleibt es, so lange die Regel des heiligen Benedikt allein die Ordensbrüder beherrscht. Das Theologische stand naturgemäß obenan, aber auch die weltlichen Wissenschaften, als nützliche Vorbereitungsschule zu Höherem, wurden keineswegs vernachlässigt. Tag und Nacht wurden von emsigen Händen in schönen Zügen Schriften von mitunter zweifelhaftem mit- unter wirklichem Werte zu Pergament gebracht. Preist doch Cas- siodor im 30. Kapitel seines Buches De institutione divinarum literarum das Bücherabschreiben als die verdienstlichste körperliche Arbeit in begeisterten Worten, hat er doch Lampen eigener Art für die Nacht- arbeit erfunden, Sonnen- und Wasseruhren aufgestellt, um Zeit und Tätigkeit zu ordnen. Daß er aber im Fleiße sich von keinem seiner Untergeordneten übertreffen ließ, beweist neben anderen Schriften eine Abhandlung über Orthographie, welche er bereits 93 Jahre alt noch verfaßt hat. Es ist anzunehmen, daß dies seine letzte Arbeit war und daß er um 570 gestorben ist. Cassiodorius hat 12 Bücher Briefe’) hinterlassen, aus welchen auch für die Geschichte der Mathe- matik unterschiedliche Notizen gewonnen worden sind. Teils sind es unveränderte Abschriften früherer staatlicher oder privater Schreiben, welche Cassiodor für Theodorich zu fertigen hatte, teils neue Redaktionen solcher Schreiben, in wenig angenehmer Weise durch Schwulst und Überladung ausgezeichnet, welche dem VI. S. im allgemeinen, welche aber vorzugsweise unserem Schriftsteller eigen- tümlich sind. Von seinen übrigen Werken nennen wir eine kurzgefaßte Enzy- klopädie, De artibus ac disciplinis liberalium literarum, welche in ähn- lichen 7 Abteilungen, wie wir sie bei Martianus Capella teilweise zu schildern hatten, die Wissenschaften behandelt. Die Einteilung in 7 Wissenschaften war für Cassiodorius geradezu verführerisch. Er besaß eine im letzten Grunde mutmaßlich den Ausläufern des Neuplatonismus entstammende Verehrung für heilige Zahlen?). Er hatte die Zwölfzahl der Bücher seiner Briefe nur um der zahlreichen !) Variarum (epistolarum) libri XII. ?) Thorbeckel. c. 8. 52. TO 27. Kapitel. Vergleichspunkte willen gewählt; er witterte, wie sein Psalmenkom- mentar beweist, hinter der Ordnungszahl eines jeden Psalmen tiefere Beziehungen; so war ıhm die Zahl der 7 Wissenschaften Symbol der Ewigkeit. Die Reihenfolge hat Cassiodorius gegen Varro und Martianus Capella geändert. Ihm folgen jetzt Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie aufeinander. Ein weiterer einigermaßen wesentlicher Unterschied gegen Martianus Capella besteht darin, daß bei diesem die griechischen Wortformen teilweise sogar in griechischen Schriftzügen vorherrschen, während Cassiodorius hier mit mitunter recht ungeschiekten Übersetzungen als lateinischer Sprachreiniger auftritt. Er beabsichtigt nicht das Aus- führliche dieser Wissenschaften zu lehren. Er will vielmehr die Schriftsteller der Griechen und Römer bezeichnen, bei welchen man sich mit den einleitenden Kenntnissen versehen ausführlicher unter- richten könne!). So ist es gewissermaßen entschuldigt, wenn Arith- metik und Geometrie, auf die wir wieder allein unser Augenmerk richten, noch mehr zu einer bloßen Sammlung von Definitionen ge- worden sind. Eine solche Definition wollen wir besonders hervor- heben: Magnitudines rationales et irrationales sunt, rationales quarum mensuram Scire possumus; vrrationales vero, quarum mensurae quantıtas cognita non habetur, d. h. Größen sind rational oder irrational, rational wenn ihr Maß erkannt werden kann, irrational wenn ihre Messungs- größe nicht erkannt werden kann. Es will scheinen, als ob hier zum ersten Male die Kunstausdrücke rational und irrational im Gegen- satze zueinander gebraucht worden wären, deren Erfinder mithin Cassiodorius gewesen sein dürfte”). Seinem Versprechen getreu emp- fiehlt er Pythagoras, Nikomachus und die Übersetzer des letzteren Appuleius und Boethius, aus deren Schriften, wie man sage — ut aiunt — man sich mit den klarsten Anschauungen durchdringen könne, eine Ausdrucksweise, welche in Zweifel setzt, ob er selbst diese Schriften kannte und somit dem, was wir über eine mögliche Vermengung verschiedener durch Appuleius und Boethius übersetzten Schriften (S. 564) andeuteten, nicht im Wege steht. Dem Abschnitte über Geometrie fügt er bei, in dieser Wissenschaft seien bei den Griechen Euklid, Apollonius, Archimed und andere annehmbare Schrift- steller aufgetreten, von welchen Euklid durch denselben großartigen Mann Boethius in die römische Sprache übertragen worden sei, ex quibus Euclidem translatum in Romanam linguam idem vir magnificus 1) Nec illud quoque tacebimus quibus auctoribus tam Graecis quam Latinıs, quae dieimus, exposita elaruerunt: ut qui studiose legere voluerit, quibusdam com- pendiis introductus, lucidius Majorum dieta percipiat. ®) V. Mortet in der Revue de Philologie etc. XXIV, 280. Die spätere mathematische Literatur der Römer. 571 Boethius dedit. Allerdings haben einige gute Handschriften nicht translatum sondern adlatum, wonach Boethius weniger eine Über- setzung als eine Bearbeitung des Huklid geliefert haben würde, aber dem steht wieder gegenüber, daß in einem Briefe!) an Boethius die Worte vorkommen: Translationibus twis .... geometricus Euchdes audi- untur Ausoniüs, dem steht besonders der in der Enzyklopädie un- mittelbar nachfolgende Schlußsatz des Cassiodorius gegenüber: Qui si diligenti cura relegatur ete., d. h. man solle die Euklidübersetzung wieder und wieder lesen. Für die Musik wird auf die Griechen Euklid, Ptolemäus und so weiter, in lateinischer Sprache auf Appu- leius von Madaura verwiesen. Aus dem astronomischen Abschnitt endlich erwähnen wir der Empfehlung der Schriften von Ptolemäus. Der Name des Boethius kommt in diesen beiden letzten Abschnitten nicht vor, einer lateinischen Übersetzung des Ptolemäus ist überhaupt nicht gedacht. Wir verweilen etwas länger, als der Gegenstand und die enzy- klopädische Behandlung desselben es eigentlich verdienen, bei Üassio- dorius und seiner Wissenschaftslehre, um zugleich ein Bild mönchi- schen gelehrten Treibens zu entwerfen, wie es von diesem Zeitpunkte an uns jeden Augenblick wieder begegnen wird. Diesem Bilde würde ein nicht unwesentlicher Strich fehlen, und uns zugleich die Gelegen- heit entgehen, hier schon eines regelmäßigen Arbeitsstoffes mittel- alterlicher Gelehrten zu gedenken, wenn wir nicht noch über einen ganz kurzen Aufsatz redeten, der unter den Werken des Cassiodorius abgedruckt worden ist. Wir’ meinen einen Oomputus paschalis vom Jahre 562. Man hat Einsprache dagegen erhoben, daß diese Österrechnung von Üassiodor herrühren könne. In der Vorrede zur Abhandlung über Orthographie, welche Cassiodorius, wie wir schon sagten, mit 93 Jahren schrieb, sind die Schriften desselben aufgezählt, und unter diesen ist kein Computus enthalten. Sollte derselbe daher später geschrieben sein, etwa im 94. Lebensjahre, so müßte durch Rück- wärtsrechnung Cassiodor im Jahre 500 bei seiner ersten Anstellung mindestens 32 Jahre alt gewesen sein im Widerspruch gegen die früher angeführte wohlbegründete Annahme, er habe damals am An- fange der zwanziger Jahre gestanden. Diesen Widerspruch zu heben und zugleich den Computus für Cassiodor zu retten hat man die Vermutung ausgesprochen, dieses Schriftstück sei bereits mehrere Jahre vor der Abhandlung über ÖOrthographie entstanden und um seiner geringfügigen Ausdehnung willen in dem genannten Verzeich- ") Cassiodorius, Varia I, 45. 572 27. Kapitel. nisse eigener Schriften ausgelassen worden. Sei dem nun, wie da wolle, sicher ist, daß im Jahre 562 ein Computus paschalis mög- licherweise durch Cassiodor verfaßt wurde, wie wir auch schon (8. 531) gelegentlich gesehen haben, daß Victorius von Aquitanien 457 eine solche Anleitung zur Auffindung des richtigen Ostertages schrieb). Solche theologisch-chronologische Abhandlungen waren wesent- lich durch das auf dem Concilium von Nicäa, 325, ergangene Verbot der mit den Juden gleichzeitigen Feier des Osterfestes her- vorgerufen worden. Das Passahfest, d. h. das Fest der Verschonung, womit die Verschonung von den Plagen in Ägypten gemeint war, fand bei den Juden stets vom 14. bis zum 21. des Monats Nisan statt, und zwar wurde dieser Monat dem Mondjahre der jüdischen Zeitrechnung gemäß immer so durch periodisch eingeschobene Schalt- monate bestimmt, daß der 14. auf die Frühlingstagundnachtgleiche fiel. Das christliche Osterfest mit seiner ganz anderen Bedeutung war zunächst auf dem althergebrachten Datum des 14. Nisan ver- blieben. Erst das nicäanische Konzil faßte, wie gesagt, diese Zeit- bestimmung als ketzerisch auf, und man verfolgte die, welche bei den alten Ostertagen blieben, als Quatuordecimani oder Tessareskai- dekasiten. Ostern solle von den strenggläubigen Bekennern der christ- lichen Religion stets am Sonntage nach dem ersten Vollmonde seit der Frühlingstagundnachtgleiche gefeiert werden, niemals an diesem Tage selbst, auch nicht wenn der Vollmond auf die Frühlingstag- undnachtgleiche und diese auf einen Sonntag fiel; dann mußte der folgende Sonntag als Ostersonntag gewählt werden, damit das Zu- sammentreffen mit dem Passahfest unter allen Umständen vermieden blieb. Es kam also darauf an, den Tag der Frühlingstagundnacht- gleiche im Sonnenjahre, den des nächsten Vollmondes im Mondjahre genau zu kennen, beziehungsweise eine Ausgleichung zwischen dem Sonnen- und Mondjahre zu treffen, welche auf gewissen Zyklen be- ruhte, in welchen beide Jahresgattungen genau enthalten waren. Das nicäanische Konzil nahm an: 19 Sonnenjahre seien genau 235 Monds- monate. Damit war ein Irrtum verbunden, da nach strenger Rech- nung zu den 235 Mondsmonaten noch etwa 12: Stunden hinzuzufügen sind. Die Notwendigkeit anderer genauerer Zyklen wurde eingesehen, und nach Auffindung solcher Gleichungen zwischen Sonnen- und Mondzeit die Berechnung des Östertages für jedes Jahr vorzunehmen, die sogenannte goldene Zahl, die Epakte zu finden?), zu finden ob !) Über den Computus des Vietorius vgl. L. Ideler, Handbuch der mathe- matischen und technischen Chronologie II, 275—284. ?2) Ebenda II, 239 und u Dr a1 tn Taie Sa Marne. Die spätere mathematische Literatur der Römer. 573 das Jahr Schaltjahr sei oder nicht und dergleichen, das ist der alge- braisch ziemlich dürftige Inhalt derjenigen Schriften, welche sämtlich den gleichen Titel des Computus paschalis führen. Unter den von Cassiodorius zum genaueren Studium empfohlenen Schriftstellern ist uns wiederholt der Name des Boethius erschienen. Anicius Manlius Severinus Boethius!) stammte aus einer der reichsten und berühmtesten Patrizierfamilien Roms, deren Mitglieder längst gewohnt waren, hohe Staatsstellen zu bekleiden, aber auch den Wechsel der Schicksale durch fürstliche Ungnade zu empfinden. Er war zwischen 480 und 482 etwa geboren?) und verlor kurz da- rauf seinen Vater, so daß seine Erziehung von Fremden geleitet werden mußte. Wahrscheinlich und zum Glück für die geistige Ausbildung des begabten Jünglings wurde er der Sorge des Patriziers Symmachus?) anvertraut, der vollständig geeignet war Vaterstelle an ihm zu vertreten. Später wurden aus den Beziehungen beider enge Familienbande, indem Boethius die Tochter des Symmachus heiratete. Boethius war schon Lehrer in dem Alter, wo andere zu lernen pflegen*). König Theodorich forderte in einem selbstverständ- lich durch Cassiodor geschriebenen und in dessen Briefsammlung uns aufbewahrten Briefe ihn auf, auch für den Burgunderkönig Gundobad eine Wasser- und Sonnenuhr zu besorgen. Im Jahre 507 entbrannte Krieg zwischen Theodorich und Gundobad. Jener ein freundliches Verhältnis beider voraussetzende Brief kann demnach nur vor oder kurz nach diesem Kriege geschrieben sein’), vor 507 oder etwa um 510, wahrscheinlicher in der zuletzt genannten Zeit. Wir werden aus jenem Briefe, den wir schon (8. 571) anführten, nachher noch ent- nehmen, welche schriftstellerische Tätigkeit als Übersetzer aus dem Griechischen Boethius damals schon entfaltet hatte. Fürs erste ist er uns ein Zeugnis für das Ansehen, in welchem Boethius bei dem Könige stand, und dieses ebenso wie das des Symmachus wuchs be- ständig. Allein mit der steigenden Bedeutung des Boethius stieg auch sein eifriges Bemühen die Freiheit und das Ansehen des römischen Senates wieder herzustellen, wodurch er den Höflingen, die schon häufiger. F. J. Brockmann, System der Chronologie (Stuttgart 1883), Kap. IV. Die christliche Österrechnung. ) Usener, Anecdoton Holderi pag. 3”—66. Ältere Quellen sind benutzt in Math. Beitr. Kulturl. 8. 176—230. Samuel Brandt, Entstehungszeit und zeitliche Folge der Werke von Boethius im Philologus LXII, 141—154 und 234 bis 275. 2) Usener pag.40. °) Über Symmachus vgl. Usener pag. 17—37. *) Ennodius sagt von ihm: Boethius patrieius, in quo vix discendi annos respieis et intelligis peritiam sufficere iam docendi. °) Usener pag. 39. Brandt. ce. 146—147 mit Berufung auf Mommsens Ausgabe des Cassiodor. 574 27. Kapitel. lange neidisch auf ihn waren, Gelegenheit gab ihn beim Könige zu verdächtigen. Untergeschobene Briefe mußten die Ansicht begründen helfen, als habe Boethius aus Ehrgeiz sich zum Verrate verleiten lassen. Schuldig befunden, weil man ihn schuldig wollte, wurde er seines Vermögens beraubt, seiner Würden entsetzt und wahrschein- lich nach Pavia, dem damaligen Tieinum, verwiesen. Dort wurde er wenigstens nach längerer Gefangenschaft enthauptet, vermutlich 524, der Kirchensage nach am 23. Oktober, welcher zu Pavia, Brescia und an anderen Orten wohl schon seit dem VIII. S. als Tag des heiligen Boethius gefeiert wurde Symmachus konnte seinem Schmerze über den gewaltsamen Tod seines Schwiegersohnes nicht gebieten. Seine Äußerungen darüber, denen es an berechtigter Schärfe nicht gefehlt haben mag, wurden dem Könige hinterbracht, der sie ebenso ahndete wie das angenommene Verbrechen dessen, dem die Klagen des Sym- machus galten. Symmachus wurde in Fesseln nach Ravenna gebracht und im Gefängnisse getötet. Auch dafür gibt die Sage einen be- stimmten Tag, den 8. Mai. Theodorich folgte seinen Opfern, deren Geister sein zerrüttetes Nervensystem ihm unaufhörlich vor die Augen zauberte, noch 526 nach. Wie viel theologische Streitigkeiten zwischen dem formell rechtgläubigen Boethius und dem arianischen Hofe Theo- dorichs zu der Entwicklung beigetragen haben mögen, ist unklar. Daß Boethius die ihm eine Zeitlang abgesprochenen theologischen Schriften wirklich verfaßt hat, dürfte nach Auffindung eines Zeug- nisses des Cassiodor nicht länger zweifelhaft erscheinen'). Ein Wider- spruch gegen das Werk „über die Tröstungen der Philosophie“, welches Boethius im Gefängnisse zu seiner eigenen Geistesberuhigung ver- faßte, ist nur scheinbar, keinesfalls so groß, um Boethius nicht als möglichen Verfasser auch der theologischen Abhandlungen erkennen zu lassen. Die Geistesrichtung des Boethius, der an griechischen Schriftstellern sich durchweg gebildet hatte, war, trotz formaler Strenggläubigkeit im Christentum, eine dem Heidnischen nicht ab- geneigte, und überdies lehnt sich jenes Werk der Tröstungen an griechische Vorbilder an, an Schriften von Aristoteles verquickt mit spätplatonischen Kommentatoren. War doch fast die ganze schrift- stellerische Tätigkeit des Boethius gerade diesen Männern gewidmet. Sind es doch wesentlich Übersetzungen von und Erläuterungen zu aristotelischen Schriften und deren Kommentatoren, welche Boethius zum großen Manne machten, während daneben auch seine Lebens- ) Usener pag. 48—59 über die theologischen Schriften des Boethius, namentlich auch über deren scheinbaren Widerspruch gegen die Bücher De consolatione. ae Sa er 2 NEE EEEUR OUERRCHERHERERER Die spätere mathematische Literatur der Römer. 575 schicksale ihm den Strahlenkranz des unschuldig Verfolgten ver- liehen. Man muß sich ganz im allgemeinen wohl davor hüten bei Boethius viele eigene Gedanken zu suchen, oder aus der Hochschätzung der Zeitgenossen und der Nachkommen eine zu große Meinung von der Bedeutung des Mannes sich zu machen, dessen Übersetzungs- arbeiten selbst nicht auf die Höhe ihrer Aufgabe gelangt sind, und der darum noch lange kein Riese war, wenn er Zwerge überragte. Die Regel der Kombinationen zu je zweien aus beliebig vielen Ele- menten, man soll die Hälfte des Produktes der Elementenzahl in ihre um 1 verminderte Anzahl nehmen, wird Boethius vermutlich, wie vieles sonst, aus Ammonius (S. 501) entlehnt haben. Er hat sie im fünften Buche seiner Oommentaria in Porphyrium sowie in seinem Kategorienkommentare ausgesprochen'). Uns interessieren namentlich diejenigen Übersetzungen, welche Boethius, wie wir gesehen haben, in seinem 28. Lebensjahre etwa schon vollendet haben muß. In jenem Briefe des Theodorich an Boethius?) heißt es: „In Deinen Übertragungen wird die Musik des Pythagoras, die Astronomie des Ptolemäus lateinisch gelesen. Niko- machus der Arithmetiker, der Geometer Euklid werden von den Auso- niern gehört. Plato der Forscher göttlicher Dinge, Aristoteles der Logiker streiten in der Sprache des Quirinals. Auch Archimed den Mechaniker hast Du lateinisch den Sikulern zurückgegeben, und welche Wissenschaften und Künste auch das fruchtbare Griechenland durch irgendwelche Männer erzeugte, Rom empfing sie in vater- ländischer Sprache durch Deine einzige Vermittlung.“ Vorzugsweise Wichtigkeit besitzen für uns von diesen Übersetzungen die der Arith- metik und Geometrie; daneben kann die der Musik, der Astronomie, der Mechanik uns gelegentliche Notizen liefern, die sich vielleicht wertvoll erweisen. Der Musik haben wir uns (8.165) als Quelle bedienen dürfen. Von den mechanischen Schriften nach Archimed ist uns freilich außerhalb der hier angeführten Briefstelle keinerlei Erwähnung be- kannt. Was die Astronomie und Musik betrifft, die Boethius lateinisch schrieb, so erinnern wir daran, daß von ihnen in der Enzyklopädie des Cassiodorius keine Rede ist. Doch ist für die Astronomie wenig- stens mehr als ein späteres Zeugnis vorhanden. Wir werden später sehen, daß Gerbert in einem vermutlich im Sommer 983 in Bobbio ı) Heiberg im Philologus XLII, 475—476. Brandt l. c. 148 und pri- vate Mitteilungen über die Benutzung des Ammonius durch Boethius. Die Stelle findet sich in der Baseler Folioausgabe der Werke des Boethius von 1570 auf pag. 104 und 105. ?) Cassiodorius, Varia I, 45. 576 27. Kapitel. geschriebenen Briefe seine Freude darüber kundgibt, daß er acht Bücher gefunden habe: Boethius über Astronomie, über Geometrie und anderes nicht weniger Bewundernswertes'). In mittelalterlichen Handschriftenverzeichnissen wird gleichfalls die Astronomie des Boethius genannt?), und noch 1515 war die Astronomie nach aller Wahr- scheinlichkeit vorhanden, wenigstens beruft sich ein in jenem Jahre zu Augsburg gedrucktes Buch auf deren Benutzung’). Möglicher- weise ist bei jener Berufung ein 1503 in Paris gedruckter von Faber Stapulensis herausgegebener Band gemeint, der den ausführlichen Titel®) führt: „Boetius Sev. Epitome compendiosaque introductio in libros arithmeticos Sev. Boetij: adjecto familiari commentaria dilucidata. Praxis numerandi. Introductio in Geometriam. Liber de quadratura eireuli. Liber de cubicatione sphere. Perspectiva introductio. In- super Astronomicon.“ Wenn dem aber so wäre, so stünde die Mei- nung auch das Astronomicon müsse von Boethius verfaßt gewesen sein, freilich auf recht schwachen Füßen. Dafür daß Boethius eine Arithmetik und eine Geometrie schrieb, ist das unabwendbarste Zeichen vor allen Dingen die Enzyklopädie des Cassiodorius. Dieser konnte nicht auf beide Werke und am be- stimmtesten auf die Geometrie verweisen, wenn sie nicht vorhanden waren. Die Ausflucht, mit welcher man wohl gegen die ältere Brief- stelle Mißtrauen zu erregen gesucht hat, Cassiodorius habe Schriften, die schon verfaßt waren, aber auch solche genannt, welche noch zu erwarten waren, hat keine Wirksamkeit für die Zeit, als Öassiodorius ins Kloster zurückgezogen seine Enzyklopädie schrieb. Boethius war damals längst tot. Von ihm ließ sich nichts mehr erwarten. Von einem „vermeintlichen“ Faktum°) kann aber bei so ausdrücklicher Verweisung desjenigen, der sich genauer unterrichten wollte, auf die genannten Bücher unmöglich die Rede sein. Ein gewissenhafter, pünktlicher Lehrer — und pünktlich war Cassiodorius durchaus — verweist nicht auf Schriften, die er nur von Hörensagen kennt, ge- schweige denn von deren Vorhandensein er kaum weiß, ohne ein- schränkende Bemerkung. Wir würden daher allenfalls begreifen können, wenn man nach den Worten Cassiodors bezweifeln wollte, daß Boethius wirklich die Arithmetik des Nikomachus übersetzt habe; \) Reperimus octo volumina Boethii de astrologia praeclarissima quoque figurarum geometriae aliaque non minus admiranda. ?) Brandtl.c. 236 Note 3 unter Berufung auf Schepss (Festschrift für W.v. Christ 8. 113). °) M. Curtze in dem Bullettino Boncompagni 1868, pag. 140. *) Wir verdanken die Kenntnis des Titels H. Karl Bopp, welcher ihn einem antiquarischen Kataloge entnahm. ®) Weißenborn, Die Boetiusfrage im Supplementheft zur Histor.-literar. Abtlg. der Zeitschr. Math. Phys. XXIV, S. 190. BE Eh En Each nad a a ne E e Die spätere mathematische Literatur der Römer. HATT an das Vorhandensein der Übersetzung der euklidischen Geometrie ist ihm gegenüber jeder Zweifel unstatthaft. Andere Zeugnisse kommen dazu. Für die Arithmetik gilt als sicherstes Zeugnis, daß nach Briefen, welche zwischen Gerbert und Otto III. gegen 994 ge- wechselt wurden, ersterer dem letzteren ein Exemplar der Arithmetik des Boethius zugeschickt hat. Für die Geometrie wird der vor- erwähnte Brief Gerberts von 983 angerufen, während andere die Be- rechtigung in Abrede stellen, den Namen des Boethius, der als Ver- fasser der Astronomie bezeichnet ist, auch auf die Geometrie zu be- ziehen. Ferner beruft man sich auch für beide Werke noch auf ein der Zeit nach früheres Zeugnis. Der Bibliothekar Regimbertus auf Reichenau hat nämlich 821 einen Katalog der damals unter seiner Obhut vorhandenen Handschriften hinterlassen, und darin ist von Boethius die Arithmetik in zwei Büchern, die Geometrie in drei Büchern genannt!), wogegen freilich abermals der Einwand erhoben worden ist, nur für die Arithmetik sei Boethius als Verfasser gemeint, nicht auch für die Geometrie. Man findet endlich in einem um 1025 geschriebenen Briefe die Worte?): Boethius sagt in seinem geome- trischen Werke, in Geometrico dieit Boethius, um welche man sich nicht herumdeuten kann. Zu diesen verschiedenen mittelbaren Zeugnissen kommt noch, daß eine ganze Anzahl von Handschriften sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat, in welchen den Titeln nach die Arithmetik, die Musik, die Geometrie des Boethius aufgezeichnet sind. Die älteste Handschrift der Arithmetik soll dem IX. bis X. S. entstammen), die älteste Handschrift der Musik dem IX. 8.*), endlich die älteste Hand- schrift der Geometrie dem IX. S.°). Diese Tatsachen fassen sich also dahin zusammen, daß jedenfalls Boethius über die vier genannten Wissensgebiete nach griechischen Mustern sich verbreitet hat, und daß noch erhaltene Handschriften der drei ersten Werke mit Ausschluß der den Schluß bildenden !) Agrimensoren, Anmerkung 245. ?) Une Correspondance d’ecolätres du XI. Siecle in den Notices et Extraits XXXVI, 525 lin. 2 (pag. 43 des Sonder- abdrucks). ®) Boetius (ed. Friedlein) Leipzig 1867, pag. 2: codex r. #) Boetius (ed. Friedlein) pag. 175: codex g. 5) G. Schepss, Zu Boethius (in den Commentationes Woelfflinianae. Leipzig 1891) pag. 279 nennt drei Pariser Codices, deren ältester dem IX. S. angehört, während die beiden anderen im X.S. entstanden sein müssen. In ihnen wird ausdrücklich das Ganze als Eigen- tum des Boethius in Anspruch genommen. Dem XI. S. entstammt die Erlanger Handschrift. Boetius (ed. Friedlein) pag. 372: codex e. Friedlein gibt ferner dem codex n = cod. Vatican. 3123 ein höheres Alter, indem er ihn in das X. S. setzt, aber Usener (pag. 47) rückt nach eigener Anschauung diesen Kodex herunter in das XL.—XIL S. CAnToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 37 578 27. Kapitel. Astronomie um das Jahr 900 vorhanden gewesen sind und damals für von Boethius verfaßt galten. In der Einleitung zur Arithmetik bestätigt Boethius gleichfalls, was wir aus anderen Quellen erfahren haben, daß er über die vier verwandten Gegenstände schreiben wolle. Er bezieht sich in dem Widmungsschreiben an Symmachus darauf, daß er von den vier mathematischen Wissenschaften die Arithmetik, welche die erste sei, vollendet habe!), und wenn auch die Stelle, in welcher die Reihen- folge, Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie angedeutet ist, weil die Menge an und für sich betrachtet in der Arithmetik, die Menge bezogen auf andere in der Musik, die unbewegte Größe in der Geo- metrie, die bewegte in der Astronomie behandelt werde, sowie eine andere, in welcher noch näher erklärt wird, weshalb von der Arith- metik ausgegangen werden solle, nur freie Übersetzungen aus dem Nikomachus sind?), so kann auch darauf für die Absicht des Boethius Bezug genommen werden. Er hätte jene Stellen der Einleitung, wenn sie nicht seine eigenen Pläne ausdrückten, unzweifelhaft bei- seite gelassen, denn gerade hier hat sich Boethius mit größter Un- abhängigkeit seines Stoffes bedient. Bei dieser Gelegenheit findet sich z. B. zum ersten Male das Wort quadruvium benutzt, um den Kreuzweg der viergeteilten mathematischen Wissenschaften zu be- zeichnen, welche von Cassiodorius mit anderem Bilde die vier Pforten der Wissenschaft genannt wurden?),. Wir bemerken, daß das von Boethius gewählte Wort als Gemeingut sich forterbte, daß dem Quadruvium noch das Trivium zugesellt wurde, um die (Gesamt- heit der sieben freien Künste in ihren beiden großen Gruppen zu benennen. In der Musik hat alsdann Boethius den einmal einge- schlagenen Weg weiter für den richtigen erklärt. Er gibt nämlich wiederholt den Unterschied der vier Wissenschaften und ihre Reihen- folge in gleicher Weise an, wie er es nach Nikomachus getan hatte*). Eine Widmung ist der Musik nicht vorausgeschickt. Die Geometrie dagegen beginnt mit der Anrede „mein Patricius“, mi " Patrici, was ohne jede Schwierigkeit auf den Rhetor Patricius ge- deutet werden kann, welchem Boethius auch ein anderes Werk, seinen Kommentar zu Ciceros Topik, mit derselben am Anfang des zweiten !) Cum igitur quattuor matheseos disciplinarum de arithmetica, quae est prima, perscriberem, tu tantum dignus eo munere videbare. ?) Darauf hat Th. H. Martin aufmerksam gemacht: Les signes numeraux et Varithmetique chez les peuples de l’antiquite et du moyen-age. Annali de matematiche V. Roma 1864, Cap. XIII, pag. 44 der Separatausgabe. °) Cassiodorius, Varia I, 45: Tu artem praedictam ex disciplinis nobilibus natam per quadrifarias Mathesis ianuas introisti. *) Boetius (ed. Friedlein) Musica Lib. I, Cap. 3, pag. 228—229. Die spätere mathematische Literatur der Römer. 579 Buches vorkommenden Anrede mi Patrici gewidmet hat!). In der Geometrie ist sodann von der Arithmetik des gleichen Verfassers die Rede?). Wieder in. der Geometrie ist von der Arithmetik und der Musik gesagt, daß dort gewisse Dinge zur Genüge besprochen seien.?). Auf die Arithmetik wird für den Satz verwiesen, daß die Einheit keine Zahl sei, sondern Quelle und Ursprung der Zahlen.*) Das sind lauter Kennzeichen, daß die Geometrie von Boethius her- rührt, oder daß wer sie verfaßte für Boethius gehalten sein wollte. Dieser Satz mag mit Recht dem Leser auffallen. Wir bemerken deshalb einschaltend, auch um die Tragweite der folgenden Unter- suchung zum voraus erkennen zu lassen, daß gegen die Echtheit der Arithmetik und Musik, wie sie uns handschriftlich als von Boethius herrührend überliefert sind, ein Zweifel nie erhoben worden ist, daß dagegen die Geometrie, deren Echtheit oder Unechtheit eine geschicht- liche Bedeutung ersten Ranges besitzt, von weitaus den meisten für untergeschoben gehalten wird°). Wir müssen nun den Inhalt sowohl der Arithmetik als der Geo- metrie prüfen, welcher uns erst die Berechtigung geben soll, die Frage zu einigem Abschlusse zu bringen. Die Arithmetik ist das, was sie nach der Erklärung des Cassiodorius, was sie aber auch nach den eigenen Worten des Boethius®) sein soll, eine Bearbeitung der Arith- metik des Nikomachus, wobei bald Weitläufigeres zusammengezogen, bald Dinge, die rascher durchlaufen dem Verständnis einen allzuengen Zugang boten, einigermaßen erweitert wurden. Man wird daher bei Boethius die auffälligssten Dinge wiederfinden, welche aus dem griechischen Texte uns schon bekannt sind, Sätze dagegen, die mathematisch von Wichtigkeit sind, nicht selten vermissen. Die Einmaleinstabelle fehlt so wenig”), wie die figurierten Zahlen, deren hier ausgesprochener Name numeri figurati®), die wörtliche Über- setzung von doıduol oynuaroygaptevres, seit Boethius immer allge- meiner in Gebrauch gekommen ist. Wir bemerken fast überflüssiger- weise, daß sich Boethius auch der Ausdrücke numeri primi und t) Diese Lösung der früher vorhandenen Schwierigkeit, die Widmung der Geometrie zu verstehen, rührt von S. Brandt l. c. 234 Note 1 her. ?) Boe- tius (ed. Friedlein) pag. 390, 3—5. °) Ebenda pag. 396, 3—6. °) Ebenda pag. 397, 20—398, 1. °) So namentlich von Friedlein, von Weißenborn: Die Boetiusfrage in dem Supplementheft zur Histor.-literar. Abtlg. der Zeitschr. Math. Phys. XXIV (1879) und: Zur Boetiusfrage, Österprogramm 1880 des Eisenacher Realgymnasiums.. Am kräftigsten und vollständigsten hat Heiberg die Gründe gegen die Echtheit der Geometrie zusammengestellt in der Zeit- schrift Philologus XLII, 507—519. 6%) Boetius (ed. Friedlein) pag. 4, 30 bis 5, 4. ”) Ebenda pag. 53. ®) Ebenda pag. 101 in der Überschrift von Arith- metica U, 17. 37* 580 27. Kapitel. numeri. compositi bedient. Die Proportionenlehre ist ausführlich ge- lehrt, und damit ist vielleicht die Sage in Verbindung zu bringen, welche übrigens wohl auch auf Wahrheit beruhen kann, Boethius habe im Gefängnisse zu seiner Unterhaltung ein Zahlenkampf ge- nanntes Spiel ausgedacht, welches wesentlich auf Anwendung von Zahlenverhältnissen beruht!),,. Bemerkenswert erscheint dem gegen- über, daß unter den weggebliebenen Dingen jener Satz des Niko- machus enthalten ist, der von der Entstehung der Kubikzahlen aus der Summe ungerader Zahlen handelt, und ebenso der Satz, daß die neckszahl von der Seite r und die Dreieckszahl von der Seite r — 1 zusammen die n + leckszahl von der Seite r bilden (8. 432). Wir sehen an solchen Dingen bewahrheitet, was wir ankündigten, sehen bestätigt, was wir weiter oben (S. 575) behauptet hatten. Es ist kein ebenbürtiger Bearbeiter, der sich an den griechischen Zahlen- theoretiker gewagt hat. Gerade den feinsten arithmetischen Dingen ist er aus dem Wege gegangen. Sein Griechisch reichte aus zur Übersetzung, seine Mathematik nicht, und wenn den Namen Boethius bis in das späte Mittelalter hin ein gewisser Nimbus umgibt, so ist dieser Glanz zum Teil der allgemeinen Dunkelheit zuzuschreiben, zum Teil Wiederstrahl der Märtyrerkrone, mit welcher, wie wir schon sahen, die Kirche ihn bedacht hat. Wir wenden uns zur Geometrie des Boethius, wie sie von den Handschriften uns überliefert ist. Zwar sind und waren die Hand- schriften weder in bezug auf die Anzahl der Bücher noch auf den Text durchweg übereinstimmend. Es gibt und gab Geometrien des Boethius in fünf Büchern?), in vier Büchern®), in drei Büchern®), in zwei Büchern. Indessen sind diese verschiedenen Gestaltungen wesentlich auf deren zwei zurückzuführen, von denen sich eine aus 5, eine aus 2 Büchern zusammensetzt. Jene längere wird kaum von irgend jemand für die echte Geometrie des Boethius gehalten werden können. Ihre beiden ersten Bücher sind zwar in alte Druckausgaben des Boethius zu einem Buche vereinigt als Geometrie aufgenommen, aber sie ent- halten ein buntes Allerlei, worunter nicht zum wenigsten Auszüge aus der Arithmetik des Boethius, die noch obendrein in Unordnung ge- raten sind. Die beiden folgenden Bücher enthalten eine Boethius zu- geschriebene Übersetzung aus den 4 ersten Büchern des Euklid. Im fünften Buche, welches im Drucke noch nicht herausgegeben ist, zeigt ) R. Peiper in den Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik III, 167—227 (1880). *) Math. Beitr. Kulturl., Anmerkung 399. °) Friedleins Münchner Kodex m aus dem XI.—XI. S. *) Z.B. das alte Exemplar, welches im Reichenauer Bibliothekskatalog von 821 beschrieben ist. Die spätere mathematische Literatur der Römer. 581 sich neuerdings ein Allerlei, aus welchem sich ein sehr interessantes, den Begleitstücken in keiner Weise ähnelndes Fragment Altercatio duorum geometricorum hervorhebt, ein katechetisches Zwiegespräch, dessen Ursprung. in tiefstes Dunkel gehüllt ist. Das Ganze — wir meinen die fünf hier geschilderten Bücher — hat die Benennung als Pseudoboethius!) erhalten, um sie von den zwei Büchern zu unterscheiden, und von dieser Geometrie in zwei Büchern allein ist die Rede, wenn Untersuchungen über Echtheit oder Gefälschtsein der Geometrie des Boethius angestellt werden. Die älteste Handschrift dieser Geometrie ist die Erlanger aus dem XI. >. Wir wollen jetzt an die Schilderung dieser Geometrie herantreten und in die Schilderung verweben, was für die Echtheit angeführt worden ist, damit unseren Lesern die Möglichkeit einer Meinungs- verschiedenheit begreiflich werde. Die zwei Bücher der Geometrie leiden nun allerdings auch an einer Buntheit, welche auffallen muß, und welche keineswegs mit dem übereinstimmt, was ein moderner Bearbeiter des Euklid liefern würde. Sind wir aber berechtigt, dem Ähnliches zu erwarten? Wir glauben nicht. Griechische Arithmetik war, wie wir gesehen haben, den Römern nicht gerade neu. Griechi- scher Geometrie in irgend gegliederter Aufeinanderfolge, euklidischer Strenge der Beweise sind wir noch nicht begegnet. Auch jene Be- arbeitung der Stereometrie in dem Veroneser Palimpseste (S. 565) schließt sich vermutlich nur an ein Exzerpt des Euklid, nicht an den wirklichen Euklid an, und ein Exzerpt muß Boethius vor sich gehabt haben, denn wie wollte er sonst die gesamten Elemente in zwei, drei, vier, fünf Bücher fassen, wenn wir die Gliederung zulassen wollen, welche die meisten Bücher der Geometrie des Boethius an- gibt? Es kann also die Geometrie des Boethius zu der des Euklid gewiß nicht in dem gleichen Verhältnisse gestanden haben, wie die Arithmetik desselben zu der des Nikomachus. Auch Boethius selbst in der Einleitung zur Geometrie gestattet uns keineswegs solche Ansprüche zu erheben: „Da ich, mein Patricius, auf Dein Ansuchen, da Du von den Geometern wohl die meiste Übung besitzest, auf mich genommen habe, das, was von Euklid über die Figuren der geometrischen Kunst dunkel vorgetragen wurde, auseinanderzusetzen und für einen leichteren Eingang zuzubereiten, so glaube ich zuerst den Begriff des Messens erläutern zu müssen“?). Die Figuren geo- metrischer Kunst, das ist es, was Boethius auseinandersetzen will, ı) Tannery, Notes sur la Pseudo-Geometrie de Boece in der Bibliotheca Mathematica. 3. Folge I, 39—50 (1900. 2?) Boetius (ed. Friedlein) pag. 373, 21—24. 582 27. Kapitel. und über die Figuren der Geometrie handelte, was Gerbert ge- meinschaftlich mit der Astronomie des Boethius in Bobbio fand (S. 575), und was gerade durch diese Benennung die Urheberschaft des Boethius näher legt. Wenn dann Cassiodorius, der noch weniger Mathematiker war als Boethius, daraus entnimmt, es sei eine Über- setzung des Euklid gewesen, die jener verfaßte, wenn ein Abschreiber in der Überschrift sagt: „Es beginnt die Geometrie des Euklid von Boethius einleuchtender ins Lateinische übersetzt“), eine Überschrift, die schon ihrem Wortlaute nach nicht von Boethius herrührt, wie überhaupt auf eine Überschrift niemals ein größeres Gewicht zu legen ist als nach der Richtung, daß sie die Ansicht der Zeit der Abschrift uns kundgibt; so ist Boethius uns an beidem unschuldig. Er wollte nur die Figuren geometrischer Kunst auseinandersetzen. Er tat es, indem er nach Definitionen den Inhalt des I. Buches der Elemente und weniges aus dem Ill. und IV. Buche aussprach ?), ohne daß der geringste Beweis die Wahrheit des Ausgesprochenen be- stätigte.e Dann sagt er”), er wolle das bisher wörtlich aus Euklid Übersetzte teilweise wiederholen, um in der Beleuchtung einzelner Beispiele dem Leser Freude zu bereiten. Wesentlich aus dieser Stelle ist der Schluß gezogen worden*), die Vorlage des Boethius sei selbst schon ein recht dürftiger griechischer Auszug aus den Elementen ge- wesen, und dieser Meinung schließen wir uns an. Was alsdann Boethius als seine Zusätze liefert, ist freilich eigentümlicher Art. Es ist die Auflösung der drei Aufgaben: über einer gegebenen Strecke ein gleichseitiges Dreieck zu beschreiben; von einem gegebenen Punkte aus eine Gerade von gegebener Länge zu ziehen; von einer größeren Strecke eine kleinere abzuschneiden. Das sind die drei ersten Sätze des I. Buches der Elemente, und der Text stimmt fast wörtlich mit dem Euklidischen überein. Welcher wirklichen Euklid- ausgabe Boethius diese Stücke entnahm, das können wir nicht ent- scheiden. Die Annahme?°), es sei die Theonsche Ausgabe gewesen, und Boethius habe der Euklid nur für den Erfinder der Sätze, Theon dagegen für den der Beweise gehalten, die um so unbedenk- licher zu entnehmen seien, hat jedoch viel für sich. Jedenfalls hat er ohne weiteres sein genannt, was nur aus einer anderen Quelle stammte, als das unmittelbar vorher Übersetzte, eine Unbefangenheit, welche bei Boethius fast als schriftstellerische Eigentümlichkeit gelten kann, wie sein Werk über die Tröstungen beweist®). An !) Tneipit geometria Euclidis a Boetio in latinum lueidius translata (ed. Friedlein, pag. 373). ?°) Eine genauere Vergleichung bei Weißenborn |. ce. S. 196 und 204. ®) Boetius (ed. Friedlein) pag. 389, 18—23. *) Von H. Th. Martin. °) Weißenborn|].c.S.206flgg. °) Usener. c. pag. 51—52. Bi u Bleu Ed ae Die spätere mathematische Literatur der Römer. 583 die drei Aufgaben schließt sich nun die merkwürdige Stelle an): „Doch es ist Zeit zur Mitteilung der geometrischen Tafel über- zugehen, welche von Architas, einem nicht gemeinen Schriftsteller dieser Wissenschaft für Latium zurecht gemacht wurde, wenn ich zuerst wieviele Gattungen von Winkeln und Linien es gebe voraus- geschickt und weniges über Flächen und Grenzen gesagt haben werde“ Er erfüllt letzteres Versprechen wieder durch einige De- finitionen und kommt dann zu der berühmt gewordenen Stelle vom Abacus. Fingerzahlen, digiti, wurden nach ihm von den Alten alle Zahlen unterhalb, der ersten Grenze, limes, d. h. bis 9 genannt?). Gelenkzahlen, articuli, heißen die Zahlen, welche in der Ordnung der Zehner und so fort ins Unendliche sich befinden. Zusammen- gesetzte Zahlen sind alle zwischen der ersten Grenzzahl 10 und der zweiten Grenzzahl 20 gelegenen und die übrigen der Reihe nach mit Ausnahme der Grenzzahlen selbst. Diese nebst den Fingerzahlen heißen nichtzusammengesetzt, incompositi?). Er fährt dann fort: „Männer von alter Einsicht, welche der pythagoräischen Schule angehören, und als Forscher über platonische Weisheit mit merkwürdigen Spekulationen sich beschäftigen, haben den Gipfelpunkt der ganzen Philosophie in die Eigenschaften der Zahlen gesetzt. In der Tat, wer wird die Masse des musikalischen Einklangs verstehen, wenn er glaubt, sie hingen nicht mit Zahlen zusammen? Wer wird unbekannt mit der Natur der Zahlen die aus Sternen zusammengesetzten Sternbilder der Himmelsfeste erkennen oder den Aufgang und Untergang der Thierzeichen erfassen? Was endlich soll ich von der Arithmetik und Geometrie sagen, die selbst nicht in nichtnennenswerter Gestalt erscheinen, so wie die Eigen- schaften der Zahlen verloren gehen? Doch davon ist in der Arith- methik und in der Musik zur Genüge die Rede gewesen, kehren wir daher zu dem zurück, was jetzt zur Sprache kommen soll. Die Pythagoräer haben sich, um bei Multiplikationen, Divisionen und Messungen nicht in Irrtümer zu verfallen (wie sie in allen Dingen voller Feinheiten und Einfälle waren) einer gewissen gezeichneten Figur bedient, welche sie ihrem Lehrer zu Ehren die pythagoräische Tafel, mensa Pythagorea, nannten, weil die ersten Lehren in den so dargestellten Dingen von jenem Meister ausgegangen waren. Von den Späteren wurde die Figur Abacus genannt. Sie beabsichtigten ) Boetius (ed. Friedlein) pag. 393, 6—10. ?°) Die Engländer nennen in ihren Lehrbüchern der Rechenkunst heute noch die Einer digits. °) Boetius (ed. Friedlein) pag. 395, 3—16. 584 | 27. Kapitel. damit das, was tiefsinnig erdacht worden war, leichter zur all- gemeinen Kenntnis zu bringen, wenn man es gewissermaßen vor Augen sähe und gaben der Figur die hier folgende merkwürdige Gestalt“). Wir haben diese ganze Stelle wörtlich aufgenommen, um jeden Zweifel verschwinden zu lassen, wie Boethius, der sich hier wieder- holt auf seine früheren Schriften bezieht, über den Ursprung der von ihm gezeichneten Figur denkt: es ist eine pythagoräische Erfin- dung, aber freilich keine altpythagoräische, denn sonst würde nicht der Forschungen über platonische Weisheit jener Angehörigen der pythagoräischen Schule gedacht sein können. Also Neuplatoniker oder vielleicht Neupythagoräer haben nach der Ansicht unseres Schriftstellers die Figur gebildet, welche zuerst Tafel des Pythagoras, dann Abacus genannt wurde Sie wurde Abacus genannt, unter- schied sich mithin von dem früher als solcher vorhandenen Rechen- brette, und der Unterschied liegt in der Art der Benutzung. Kolumnen, feste oder gezeichnete, hatten zwar auch die alten und ältesten Rechenbretter, aber deren Ausfüllung beim Rechnen erfolgte mittels Marken, deren jede die Einheit der betreffenden der Kolumne oder der Kolumnenabteilung angehörenden Rangordnung bezeichnete. Jetzt war eine wesentliche Änderung eingetreten. „Man hatte Apices (Kegelchen?) oder Charaktere von verschiedener Gestalt“ ?). Jede dieser Marken war mit einer Bezeichnung versehen, welche ihr den Wert einer der neun Fingerzahlen beilegte, und diese Be- zeichnung wird nun im fortlaufenden Texte genau so abgebildet wie es auf dem vorher gezeichneten Abacus der Fall war. Damit ist also widerspruchslos bewiesen, daß die Zeichen gleichen Alters und gleichen Ursprunges wie der sie umgebende Text sind, und nicht erst nachträglich auf die vorher von derartigen Zeichen freigewesene Tafel eingeschmuggelt werden konnten. Wohl aber wäre es mög- lich, daß es sich so mit gewissen eigentümlichen Wörtern ver- hielte, die nicht im Texte, sondern einzig und allein auf der Figur sich finden. Wir würden der ganzen Untersuchung einen selbst für die Wichtigkeit, welche ihr innewohnt, unverhältnismäßig großen Raum widmen müssen, wenn wir fortführen wörtlich zu übersetzen oder gar zu erläutern. Wir wollen nur kurz berichten, daß Regeln der Multiplikation und der Division nachfolgen, jene breiter und deut- ı) Boetius (ed. Friedlein) pag. 395, 25—396, 16. ?) Ebenda pag. 397, 2—3. Die spätere mathematische Literatur der Römer. 585 licher angelegt, diese dunkler, wie der Verfasser selbst fühlt, wenn er sagt: „Ist es irgendwie dunkel gehalten, so müssen wir dem fleißigen Leser die Einübung überlassen“'). Bei der Multiplikation konmen die Einzelfälle zur Sprache, welches Produkt also entstehe, wenn Zehner mit Hunderten, mit Tausenden usw. vervielfacht werden. Bei der Division erscheint die komplementäre Divisionsmethode, von der ankündigend (S. 528) die Rede war. Das Komplement, die Differentia des Boethius, ist die Zahl, um welche ein Divisor kleiner ist als die nächste nichtzusammengesetzte Zahl, letzteres Wort in dem oben definierten Sinne genommen. Der Divisor 16 z. B. hat bis zu 20 die Differenz 4, der Divisor 78 bis zu 80 die Differenz 2, der Divisor 625 hätte bis zur nächsten nichtzusammengesetzten Zahl 700 die Differenz 77. Nun wird mit dem vergrößerten Divisor divi- diert, und jedesmal dem Reste das Produkt des Quotienten in die Differenz ergänzend wieder beigefügt, bis man fertig ist. Man wird leicht erkennen, daß diese Methode, wenn auch mehr Teildivisionen als die gewöhnliche erfordernd, weit zuverlässiger ist, weil hier, wo mit einer einfachen Zahl die Teildivision vorgenommen wird, niemals der Fall eintreten kann, daß irrtümlich ein zu großer Quotient an- gesetzt würde. Eine etwas abgeänderte Anordnung der komplemen- tären Division tritt ein, wenn der Divisor aus Hundertern und Einern besteht. Man soll alsdann die Einer des Divisors zunächst unberücksichtigt lassen, dagegen auch vom Dividenden eine Einheit höchster Ordnung beiseite lassen, damit nachträglich das Produkt des Quotienten in die Einer des Divisors bis zu jener Einheit ergänzt und die Ergänzung dem erstgewonnenen Divisionsreste beigefügt werde. Fragen wir nun wiederholt, woher diese Dinge stammen mögen, so sollte man vermuten, wir würden in erster Linie die auf den Apices befindlichen Zahlzeichen über ihren Ursprung befragen. Wir werden diese Frage jedoch erst im 33. Kapitel stellen. Jetzt be- merken wir, daß die Apices selbst ungemein an die Pythmenes oder Stammzahlen des Apollonius erinnern, und das Multiplizieren der ver- schiedenen Rangordnungen an die von jenem gegebenen Einzelvor- schriften (5.347—348). Ein Fortschritt ist ja in der Benutzung der Apices unbedingt enthalten, aber doch ein solcher, den wir späteren Alexandrinern zutrauen dürfen. Ob das Divisionsverfahren Erfindung eines Römers war? Wir wissen es nicht, wenn auch unser Gefühl sich dagegen sträubt, einen römischen Geist als so erfinderisch in mathematischen Dingen annehmen zu sollen. Wir können nur wieder- ') Boetius (ed. Friedlein) pag. 400, 28—30. 586 27. Kapitel. holt auf die Dinge hinweisen, welche wir zur komplementären Multi- plikation (8. 528) in Beziehung gesetzt haben, daß subtraktive Zeichen entschieden römisch sind, daß von Nikomachus mutmaßlich Rechnungsvorteile gelehrt wurden, welche dem komplementären Ver- fahren ähneln. Boethius selbst, beziehungsweise der unter dem Namen des Boethius Schreibende, scheint alles einer und derselben Vorlage entnommen zu haben, einem lateinisch schreibenden Architas. Auch von diesem soll erst weiter unten die Rede sein, wenn wir die Geometrie des Boethius zu Ende besprochen haben. Jetzt nämlich, nachdem das Rechnen d. h. Multiplizieren und Dividieren gelehrt worden, kommt der Verfasser zum zweiten Buche und in ihm zur rechnenden Geometrie, zu welcher der Abschnitt vom Abacus eine Einleitung bildete, vielleicht nach dem entfernten Muster des Nikomachus (S. 564). Wir finden uns auf völlig be- kanntem Boden. Wir haben die Geometrie der römischen Feld- messer vor uns, in einigen Dingen wieder etwas tiefer gesunken und von den wenigst genauen heronischen Vorschriften Gebrauch machend. So z. B. finden wir die Flächenberechnung des gleichseitigen Drei- 17 ecks') durch die nicht verstandene Formel a’ — 5a”. Wir finden Gebrauch gemacht von der schlechten Annäherung zur Fläche eines unregelmäßigen Vierecks?) durch Bildung des Produktes der arith- metischen Mittel von je zwei einander gegenüberliegenden Seiten. Auch die Vieleckszahlen als Vielecksflächenräume kommen hier vor. Bei dem Achtecke ist nur die aus zwei Quadraten verschränkte Figur gezeichnet. Bei dem Fünfeck und Sechseck sind falsche Formeln angewandt. Dagegen ist hier die deutliche Spur der all- gemeinen Formel für die rte meckszahl vorhanden, welche wir bei Epaphroditus (S. 557) nur mutmaßten?). Die Vorlage für dieses zweite Buch scheint im allgemeinen Frontinus verfaßt zu haben‘). Als Ausnahme wohl ist der Satz vom Durchmesser des Innenkreises des rechtwinkligen Dreiecks (S. 556) dem Architas zugeschrieben, nachdem er vorher durch Euklid hinzuerfunden worden sei?°). Auf eben diesen Architas bezieht sich Boethius noch einmal zum Schlusse des zweiten Buches, um nach den Regeln der rechnen- den Geometrie die Bruchrechnung zu erörtern. Die ganze Stelle gehört samt der Tabelle, welche ihr beigefügt ist, noch immer zu dem Dunkelsten, was man besitzt. Nur eins ist einleuchtend: warum nämlich gerade am Schlusse der Geometrie diese Lehre vorgetragen ) Boetius (ed. Friedlein) pag. 404, 14—405, 10. ?*) Ebenda pag. 417, 16—28. °) Ebenda pag. 423, 1—7. *) Ebenda pag. 402, 27—403, 2 und 428, 16—19. °) Ebenda pag. 412, 20—413, 9. Die spätere mathematische Literatur der Römer. 587 wird). Das geschieht und muß geschehen, weil nunmehr die Astro- nomie folgte, in welcher Bruchrechnungen in größter Menge not- wendig wurden. Wie der Abacus zwischen den beiden Büchern der Geometrie den Übergang von der eigentlichen theoretischen Geo- metrie zur Feldmeßwissenschaft bildete, so bildet jetzt die Bruch- rechnung den weiteren Übergang zu den uns verloren gegangenen Büchern der Astronomie. Es zeigt sich somit, daß die Geometrie des Boethius nach vorwärts und rückwärts Beziehungen zu den drei anderen mathematischen Schriften desselben Verfassers darbietet. Es ist daher nur eine einzige Wahl gestellt: entweder die ganze (Geometrie des Boethius mit dem Inhalte, über welchen wir berichtet haben, ist echt oder aber sie ist das Werk eines Fälschers, der mit vollbewußter Absicht den Anschein sich gab, als sei er Boethius. Man hat diese letztere Meinung zu verteidigen gewußt?) und sich dabei auf Einzelheiten gestützt. Man hat nämlich zu zeigen gesucht, daß die Redeweise der Arithmetik zu der der Geometrie in Widerspruch stehe, daß somit wenn erstere von Boethius herrühre, letztere nur untergeschoben sein könne. Solche Widersprüche sind, wir geben es zu, vorhanden, aber sie sind ganz von der gleichen Natur wie derjenige, welchen wir (S. 435) bei Theon von Smyrna nachzuweisen imstande waren, der sich in einem und demselben Werke nicht scheut die Einheit keine Zahl zu nennen und als Zahl zu benutzen. Will man Boethius dessen für unfähig halten, so muß man seine geistige Bedeutung zu einer Höhe hinaufschrauben, auf welche er nach unserer wiederholt ausgesprochenen Überzeugung nie gelangte. Wir geben ferner zu bedenken, daß man zur Mößglich- keit einer Fälschung, die spätestens im XI. S. vollzogen worden sein mußte — denn aus dieser Zeit rühren unsere ältesten Handschriften, welche die Stelle vom Abacus enthalten, her — anzunehmen ge- zwungen ist, daß damals bereits die echte Geometrie des Boethius verloren gegangen war, trotz der übertriebenen Wertschätzung, die man dem Manne zu zollen nie aufgehört hatte, oder daß man falls solches nicht stattfand Wahrscheinlichkeitsgründe dafür geltend zu machen hätte, warum nur Abschriften der gefälschten Geometrie und daneben keine der echten sich erhielten. Wir denken nicht daran, ferner unserer früher lange festgehal- tenen Meinung von der Echtheit der Geometrie des Boethius anzu- haften, nachdem die gewiegtesten Kenner des Mittelalters, die am ‘) Math. Beitr. Kulturl. S. 228—229. °) Zuletzt und am scharfsinnigsten Weißenborn in der schon wiederholt angeführten Abhandlung „Die Boetius- frage“, 588 27. Kapitel. meisten damit vertraut sein müssen, was man jener Zeit an Fälschungen zumuten darf, die entgegengesetzte Meinung als einzig mögliche hingestellt haben!), aber eines dürfen wir betonen: das Schlußergebnis ist und bleibt, daß der Verfasser der sogenannten Geometrie des Boethius, der Fälscher, wie man ihn unter dieser Voraussetzung zu nennen hat, wesentlich feldmesserische Quellen be- nutzt haben muß, daß er auf dem Boden griechischer Bildung steht, und somit, wenn auch unter Herabrückung der Zeit, in welcher seine Schrift entstanden ist, für die Geschichte späterer römischer Mathe- matik Verwendung finden darf. Gehen wir nach dieser Zwischenbemerkung noch einmal und mit vermehrter Sicherheit zum I. Buche der Geometrie des Boethius zurück, und zwar zu der Stelle, wo die Übersetzung des Auszuges aus den Elementen des Euklid aufhört. Die letzten Sätze, die aus- gesprochen sind, lauten?): „Um einen gegebenen Kreis ein gleich- seitiges und gleichwinkliges Fünfeck zu zeichnen lehren die Geo- meter. In einen gegebenen Kreis ein Fünfeck zu zeichnen, welches gleichseitig und gleichwinklig sei, ist nicht unpassend.“ Die Fort- setzung wagen wir nicht zu übersetzen. Sie begründet die unmittel- bar hervorgehende Behauptung mittels gewisser auf das Verhältnis von Zahlen herauskommenden Rücksichten, aus denen wir einen guten Sinn nicht mit Sicherheit zu entnehmen vermögen. Gleichwohl ist an der Echtheit der floskelhaften Begründung nicht zu zweifeln, da sie sich wortgetreu in 28 darauf hin untersuchten Handschriften, die in anderen Punkten Unterschiede gegeneinander zeigen, wieder- findet?). Dagegen hat keine dieser Handschriften eine Figur damit verbunden, während die älteren Druckausgaben der Geometrie des Boethius, wir wissen nicht aus welcher Quelle®), ein in den Kreis eingezeichnetes regelmäßiges Fünfeck mit seinen sämtlichen fünf Diagonalen beigegeben haben. Zumeist aus dieser nichts weniger als authentischen Figur hat man einen Sinn jener dunkeln Worte abgeleitet, als wenn neben dem gewöhnlichen Fünfeck das Stern- fünfeck beschrieben werden sollte°), welches Boethius danach ge- !) Wir verweisen für ihre Begründung wiederholt auf Heiberg im Philo- logus XLIII, 507—519. ?®) Boetius (ed. Friedlein) pag. 389, 8—16: COireum datum circulum quinquangulum aequilaterum et aequiangulum designare geometres praecipiunt. Intra datum circulum quwinquangulum, quod est aequilaterum atque aeqwiangulum designare non disconvenit. Nam omnia, quaecunque erint, nume- rorum rabtione sua constant et proportionabiliter alii ex alüis constituuntur ceircum- ferentiae aequalitate multiplicationibus swis quidem excedentes atque alternatim portionibus swis terminum facientes. °) Boncompagni im Bullettino Boncom- pagni 1873, 341 — 356. ‘) Etwa aus einem griechischen Euklid IV, 11? 5), Chasles, Apergu hist. 477, deutsch 545—546. Die spätere mathematische Literatur der Römer. 589 kannt haben würde. Wir sind gegenwärtig nicht geneigt diese Mei- nung aufrecht zu halten. Nicht als ob es uns unmöglich schiene, daß Boethius das schon alte Sternfünfeck gekannt hätte, aber wir trauen ihm so wenig Geometrie zu, daß er wohl nicht aus eigenen Gedanken das Pentagramm mit dem regelmäßigen Sehnenfünfeck in Verbindung brachte und bei Euklid konnte er entschieden keine Anregung dazu erhalten, weder in dem Auszuge noch in dem vermeintlichen Kom- mentare des Theon. Dort fand er höchstens, daß die Winkel eines aus zwei Diagonalen und einer Fünfecksseite gebildeten Dreiecks sich wie 1:2:2 verhalten, und das soll möglicherweise in den dunkeln Worten ausgesprochen sein. Wir kommen ferner auf ein Anderes zurück, wovon erst an- deutungsweise die Rede war. Architas, ein nicht gemeiner Schrift- steller dieser Wissenschaft, hat nach dem sogenannten Boethius die geometrische Tafel, d. h. den Kolumnenabacus mit seinen Kegelchen, für Latium zurecht gemacht. Wer war dieser Architas, welcher in dem Zwischenstücke zwischen dem I. und II. Buche und in dem I. Buche der Geometrie, im ganzen an fünf Stellen!) genannt ist: für die geometrische Tafel und für die Bruchrechnung; für den Satz vom Durchmesser des Innenkreises des rechtwinkligen Dreiecks und für die Bildung rationaler Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks von der geraden Zahl ausgehend, also für die Methode, welche sonst Platon zugeschrieben wird; endlich für eine falsche Berechnung der Fläche eines Dreiecks als doppeltes Quadrat seiner Höhe? Auch hier stehen zwei Meinungen einander gegenüber. Die einen halten Archi- tas für den alten tarentiner Pythagoräer, auf welchen die Überliefe- rung gar vieles mit Recht und mit Unrecht zurückgeführt habe, und welcher auch in der Arithmetik und in der Musik des Boethius mehr- fach vorkam, so daß Boethius oder der seinwollende Boethius ihn anzuführen Gründe hatte. Die anderen meinen Architas, der lateinisch schrieb, der nach der Stelle vom Kreisdurchmesser später als Euklid gelebt habe, könne nicht der Tarentiner sein. Es sei vielmehr ein römischer Schriftsteller, ein Feldmesser oder dergleichen gewesen, der alsdann sicherlich vor Verfassung der Geometrie, in welcher er ge- nannt ist, aber unbestimmt wann gelebt haben muß. Mit dieser Annahme ist die Geschichte der Mathematik bei den Römern um einen Namen reicher, um den Architas Latinus, aber die Schriften des Mannes bleiben auch denen, die an ihn glauben, unbekannt. Wir selbst zählten früher zu den letzteren, sind aber durch eine neuere Entdeckung zur entgegengesetzten Meinung bekehrt worden. ') Boetius (ed. Friedlein) pag. 393,7; 408,14; 412, 20; 413, 22; 425, 23. 590 27. Kapitel. Man hat nämlich bemerkt'), daß der so auffallende Ausdruck non sordidus auctor, der von Architas gebraucht wird, von Horatius in seiner Ode auf Archytas von Tarent angewandt wurde”), daß mithin nur eine Erinnerung an diesen bekannten Vers in jenem Ausdrucke zu finden ist, und diese ist undenkbar, wenn nicht die Persönlichkeit, von der die Rede ist, die gleiche wäre. Die Schwierigkeit, daß Architas nach Euklid gesetzt wird, löst sich durch die seit der Zeit des Kaisers Tiberius (S. 261) übliche Verwechslung des Maäathematikers Euklid mit Euklides von Megara, der ein älterer Zeitgenosse des Archytas von Tarent wirklich war. Ob endlich die platonische Formel für rationale rechtwinklige Dreiecke nicht wirklich ursprünglich dem Archytas angehörte, ist eine Frage, deren Verneinung nicht durch zwingende Gründe gefordert wird. Wenn wir also gegenwärtig an- nehmen, ein Architas Latinus als Persönlichkeit sei aus der Geschichte zu streichen, wenn die Meinung, Boethius habe lateinisch zugestutzte Schriften des Tarentiners vor sich gehabt, als er die Worte Latio accommodatam?) gebrauchte, daran strandet, daß nie und nirgend die leiseste Spur einer solchen Bearbeitung nachzuweisen ist, so bleibt die fortgesetzte Berufung auf Architas für uns diejenige Klippe, von der aus wir am leichtesten zur Fälschungstheorie gelangen. Wir haben nun von einigen bekannten Schriften völlig unbe- kannter Verfasser zu reden. Der älteste von ihnen wird vermutlich derjenige sein, den wir anderwärts den Anonymus von ÜÖhartres genannt haben‘), den man auch wohl für Julius Frontinus gehalten hat. Bei ihm tritt die Dreiecksberechnung aus den drei Seiten nach der sogenannten heronischen Formel auf, bei ihm die Formel für rationale Seiten rechtwinkliger Dreiecke, bei ihm der Satz vom Innen- kreise des rechtwinkligen Dreiecks, bei ihm die Berechnung der Kugeloberfläche gleich der vierfachen Fläche des größten Kreises, bei ihm das Verhältnis 22:7 des Kreisumfangs zum Durchmesser, kurzum richtige Dinge, welche den Verfasser wohl noch mehr als die bei ihm gerühmte Latinität in die Blütezeit römischer Feldmeßwissen- schaft hinaufrücken, während der Römer an den als Flächenformeln benutzten Formeln für Vieleckszahlen mitten zwischen geometrischen Betrachtungen kenntlich bleibt. | Ein anderes Stück, in demselben Sammelbande in Chartres ent- halten, aber wohl nicht von dem Anonymus verfaßt’), hat eine !) Allman, Greek Geometry from Thales to Euclid pag. 110. °) Horatius, Lib. I, Ode 28: iudice te non sordidus auetor naturae verique. °) Boetius (ed. Friedlein) pag. 393, 8, *) Agrimensoren $. 132. Vgl. Chasles, Apergu hist. 457—459, deutsch 517 flgg. °) Das hat Weißenborn. c. 8. 223 gegen uns, mit Berufung auf Chasles, den wir hierin mißverstanden hatten, mit Recht betont. re ee en Fe Be a5 7 En an un Sen Sn in un Die spätere mathematische Literatur der Römer. 591 Abhandlung über das Abacusrechnen zum Inhalte, welche der des Boethius sehr ähnlich ist, aber noch weniger als die Geometrie des Anonymus sich datierungsfähig erweist. Eine andere geometrische des Namens ihres Verfassers ent- behrende Schrift ist diejenige, welche die Überschrift führt: Von der Ausmessung der Jucharte, de iugeribus metiundis. Sie ist in der sogenannten Gudianischen Handschrift der Wolfenbüttler Biblio- thek enthalten, mithin im IX. bis X. S. jedenfalls vorhanden ge- wesen). Mehr wissen wir nicht zu sagen. Der Verfasser, zu seiner Zeit vielleicht als großer Mathematiker anerkannt, hat unverstandene Bruchstücke aus den verschiedensten Vorlagen vereinigt, alte Mängel getreu übernehmend, neue hinzufügend. Wir haben nicht nötig auf dieses bunte Allerlei einzugehen, nur das wollen wir uns bemerken, daß die Vierecksfläche als Produkt der arithmetischen Mittel gegen- überstehender Seiten erhalten wird, daß sogar der Kreis quadratisch gedacht ist, indem dessen Fläche sich aus der Vervielfältigung des vierten Teiles des Umfanges mit sich selbst bildet. Es ist ja nicht schwer, in den laienhaften Gedanken sich zurückzuversetzen, welcher den Kreis als krummliniges Viereck mit den vier Quadranten als Seiten auffaßte und weiter annahm, die Fläche verändere sich nicht, wenn nur die Seitenlängen dieselben bleiben (S. 549), man habe also nur eben jene Kreisquadranten als Gerade rechtwinklig aneinander zu setzen, um die Quadratur des Kreises zu vollziehen. Mathematisch : ; 9 2rr\2 gesprochen lief dieses Verfahren vermöge (=) = ser af m —4 hinaus, oder darauf den Kreisdurchmesser dem vierten Teile des Kreis- umfanges gleich zu setzen. Gerade dieses so ungenaue Verhältnis zwischen Kreisumfang und Durchmesser wird uns nötigen der das- selbe enthaltenden Schrift noch einmal zu gedenken, wenn wir mit den mittelalterlichen Schriftstellern uns beschäftigen, zu welchen dieser weise Anonymus jedenfalls hinüberführt, vielleicht gehört. Für jetzt verlassen wir den europäischen Boden. Wir müssen unter allen Umständen zusehen, was in der Heimat älterer Kultur, in Asien, aus der Mathematik geworden ist, und daß wir gerade diesen Augenblick dazu wählen, jene Umschau zu halten, hat seinen voll- wichtigen Grund. Wir haben in diesem Kapitel immer deutlicher den Untergang geometrischen Verständnisses bei römischen Schrift- stellern verfolgt. Wir haben zu unserem Erstaunen daneben die Überbleibsel einer entwickelteren Rechenkunst erscheinen sehen, ver- bunden mit Zahlzeichen, aus welchen, wie wir jetzt verraten wollen, die gegenwärtig in Europa gebräuchlichen als bloße Umformungen ") Agrimensoren 9. 135—138. 592 27. Kapitel. sich herleiten lassen. Wir haben die Vermutung durchblicken lassen, jene Rechnungsweisen könnten vielleicht griechischen Ursprunges sein. Nach Griechenland, nach dem geistigen Mittelpunkte griechischer Mathematik in Alexandria würden wir daher versuchen müssen auch jene Zeichen rückwärts zu verfolgen, wenn nicht laute Einsprache zu gewärtigen wäre. Die Anfechter der Echtheit der Geometrie des Boethius sind zu diesem von beiden Seiten hartnäckig geführten Streite eigentlich nur durch die Abacusstelle vermocht. Sie können und wollen, von ihrer Fälschungstheorie aus, derselben kein höheres Alter als etwa bis in das X., frühestens IX. S. verstatten. Sie leiten alsdann die Zahlzeichen und deren Benutzung auf dem Kolumnenabacus aus dem Oriente her: von den Indern erdacht, durch Araber verbreitet sollen die Zeichen in Europa sich eingebürgert haben. Dieser Möglichkeit gegenüber müssen wir die Heimat der Null, durch deren Vorhandensein das Ziffernrechnen sich wesentlich vom Kolumnenrechnen, auch von dem mit Apices, unterscheidet, aufsuchen. Wir begeben uns zu diesem Zwecke nach Indien. 28. Kapitel. Einleitendes. Elementare Rechenkunst. Zu einer selbst möglicherweise aus zweierlei Völkern, deren eines die krausen Haare der Australneger besaß, gemischten Urein- wohnerschaft des heutigen Dekkans wanderte vielleicht 1400 Jahre v. Chr. der Stamm der Arier ein, die niedriger stehenden Besitzer des Landes teils vertreibend, teils unterjochend!). In der späteren Kasteneinteilung des indischen Volkes sind die Nachkommen der alten Besiegten als die dienende, verachtete Kaste der Cüdras übrig geblieben, deren Berührung schon befleckte, und die streng ausge- schlossen waren von den Segnungen einer Bildung, deren Träger freilich zumeist in den beiden oberen Kasten der Brähmanas und Kshattriyas, der Priester und Krieger, zu suchen sind, während sie kaum noch auf die Vaicyas, den bürgerlichen Kern des Volkes sich erstreckte. Die Sprache der Arier, der Trefflichen nach der späteren Bedeutung des Namens, ist dieselbe, welche man Sanskrit zu nennen pflegt. Sie wurde die herrschende Sprache von ganz Vorderindien, vermochte aber in dieser Ausdehnung sich nicht zu erhalten. Das Sanskrit verblieb nur als Gelehrtensprache in den Priesterschulen der Brahmanen, während es als Volkssprache ausstarb, beziehungsweise durch Töchtersprachen verdrängt wurde. Zwei Momente mögen bei dieser Verdrängung wirksam gewesen sein. Einmal die Seltenheit schriftlicher Überlieferung, welche soweit ging, daß Fremde, welche nur kurze Zeit im Lande verweilten, an den Mangel jeder schriftlichen Aufzeichnung glauben durften, zweitens die jene Seltenheit selbst wohl verschuldende mehr und mehr hervor- tretende Zentralisation der Gelehrsamkeit bei den Brahmanen. % Für die allgemeinen Verhältnisse waren unsere Quellen der Artikel „Indien“ von Benfey in Ersch und Grubers Encyklopädie 1840. Reinaud, Memoire sur UInde in den Memoires de V’_Academie des Inscriptions et Belles- lettres XVII, 2. Paris 1849. Albr. Weber, Vorlesungen über indische Lite- raturgeschichte. 2. Auflage. Berlin 1876. Herr E. Windisch unterstützte uns bei der Drucklegung der ersten Auflage wesentlich durch Ratschläge für die ‚Rechtschreibung indischer Namen und Wörter. 38* 596 28. Kapitel. Das Volk lebte unter einem heftigen Drucke, welchem die Ein- führung einer neuen Religion entsprang, des Buddhismus, etwa seit der Mitte des VI. S.v. Chr. Rasch um sich greifend nach müh- seligen Anfängen wurde der Buddhismus durch den König Acoka am Beginn des III. S. zur Staatsreligion erhoben, und diese herr- schende Stellung besaß er auch noch zur Zeit des Königs Kanishka um 50 v. Chr., eines zweiten indischen Fürsten von in der Erinne- rung der Nachkommen sich fast sagenhaft mehrendem Ruhme Um die Zeit von Christi Geburt etwa gelang es dem Brahmanismus in den Ländern westlich vom Ganges wieder die Oberhand zu gewinnen, während der Buddhismus weiter nach Osten siegreich fortschritt, be- ziehungsweise sich dort erhielt. Der Buddhismus war ebenso schreibselig wie der alte Brahmanis- mus der schriftlichen Arbeit abgeneigt. Eine reiche buddhistische Literatur hatte sich erzeugt, aber der neu erwachende Brahmanismus vertilgte schonungslos, wessen er nur habhaft werden konnte, und das bot eine neue Veranlassung, die Sanskritsprache in Indien selbst zur Unverständlichkeit zu bringen. Sie behielt nur noch das Wesen und den Charakter einer heiligen Sprache, als solche allen höheren Zwecken dienstbar. Religion und Wissenschaft waren an sie geknüpft, und auch was wir von der Mathematik der Inder wissen, ist wesent- lieh aus Sanskrittexten geschöpft, wenn nicht aus Schriftstellern anderer Völker erschlossen. Ein Verkehr Indiens mit dem Westen wie mit dem Osten ist nämlich für fast alle Zeiten von den ältesten an gesichert. Sind es insbesondere sprachliche Gründe, welche für die allerältesten Zeiten den Ausschlag geben müssen, so treten bestimmte Überlieferungen seit dem IV. S. v. Chr. bestätigend hinzu. Nach dem Alexanderzuge entstanden dicht an den Grenzen Indiens griechische Königreiche, welche Verbindungen mit dem Mutterlande ununterbrochen aufrecht erhielten, und mittels deren herüber und hinüber auch Wissenschaft und wissenschaftliche Berufstätigkeit in Austausch treten mußten. Kanishka, den wir vorher erwähnten, schloß ein Bündnis mit dem Triumvirn Marcus Antonius, und von seinen Truppen befanden sich unter den Geschlagenen bei Aktium. Indische Gesandtschaften er- schienen, wie wir in dem griechischer Entwicklung gewidmeten Ab- schnitte (S. 456) zu erwägen gaben, an dem Kaiserhofe in Rom wie später in Byzanz. Augustus, Claudius und Trajan, Constantinus und Julian durften die aus dem fernen Osten kommenden Botschafter begrüßen. Und keineswegs weniger gesichert ist der Verkehr zwischen Indien und der Ostküste Ägyptens über das indische Meer hin. In den beiden Jahrhunderten, welche zwischen der Regierung Trajans # W Hi nz a er va 25 N N Sr g. " Einleitendes. Elementare Rechenkunst. 597 und dem Jahre 300 liegen, scheint insbesondere der Handel auf dieser durch Passatwinde begünstigten Wasserstraße stetig an Ausdehnung gewonnen zu haben, so daß eine Schwierigkeit die Art und Weise der Übertragung zu erklären keineswegs besteht für den Fall, daß indische Bildungselemente in griechischen, griechische in indischen Werken sich nachweisen ließen. Beides ist aber der Fall. Philosophie und Theologie der alexandrinischen Neuplatoniker und Gnostiker haben indische Gedanken sich angeeignet. Daß auch umgekehrt indische Literatur vielfach von griechischen Quellen zeuge, ist eine Tatsache, welche gegenwärtig wohl von keinem Sanskrito- logen mehr in schroffe Abrede gestellt wird. Nur über den Grad der Beeinflussung, stellenweise über die Richtung derselben findet ein Zwiespalt statt, da ja an und für sich betrachtet Dinge, die an zwei Orten gefunden werden, falls man an ein selbständiges doppeltes Auftreten aus diesem oder jenem Grunde zu glauben nicht geneigt ist, eben so leicht von dem östlichen Fundorte nach dem westlichen gelangt sein können als umgekehrt. Wir werden nunmehr prüfen müssen, welcherlei mathematisches Wissen bei den Indern sich nachweisen läßt, und wie sich dasselbe zur griechischen Wissenschaft verhält. Eins schicken wir voraus: die Form indischer Wissenschaft darf uns, wenn sie von der griechischen noch soweit abweicht, nicht als Beweis der Selbständigkeit derer gelten, die sich ihrer bedienten. Ein arabischer Schriftsteller, Albirüni, hat am Anfange des XI. 8. die Erfahrung gemacht, daß Auszüge aus Euklid und Ptolemäus, welche er indischen Gelehrten mitteilte, von diesen sofort in Verse so dunkeln Verständnisses umgesetzt wurden, daß er kaum mehr wiedererkannte, was er selbst sie gelehrt hatte!). Nicht viel anders scheint das Ver- hältnis der indischen Heilkünstler des Mittelalters zu Hippokrates aufzufassen ?). Wir haben von dunkeln Versen gesprochen. Es ist das eine besondere Eigentümlichkeit indischer Gelehrten, daß sie wissenschaft- liche Werke in Versen zu verfassen liebten. Es hängt das offenbar mit der brahmanischen Neigung zusammen dem Gedächtnisse zu ver- trauen und Aufzeichnungen zu vermeiden. Nicht unwichtige Folgen ergeben sich aber daraus. Einmal ist die indische Prosodie eine auf sehr feste Regeln gegründete, so daß Irrtümer in einem alten Texte unter Umständen außer aus dem Sinne auch aus holperndem Vers- maße erkannt werden können. Zweitens aber hat, wie wir schon ') Reinaud, Memoire sur U’Inde pag. 334, Anmerkung 2. °) E. Haas in der Zeitschr. der deutschen morgenländischen Gesellsch. XXXI, 647—666. 598 28. Kapitel. sagten, die Versform häufig Dunkelheit erzeugt und so die Nötigung zu ausführlichen Erklärungen der für die Schüler fast unverständ- lichen Schriften mit sich getragen, Erklärungen, die selbst dazu dienen den älteren Text in unzweifelhafter Reinheit zu bewahren, weil sie fortlaufende Kommentare bilden, Wort für Wort des Textes wieder- holen, zur Sache selbst aber meistens recht wenig bieten, indem sie sich mit bloßen Umschreibungen zu begnügen pflegen. Die indische Prosodie, sagten wir, sei auf sehr feste Regeln ge- gründet. In der Tat besitzt sie Versmaße sehr verschiedener Natur, von denen wir zwei nennen müssen, das Sloka- und das Ärya- Metrum. Letzteres diente den Mathematikern seit Aryabhatta, dessen Zeitalter wir gleich angeben werden, ausschließlich. Früher soll man des Sloka-Metrums sich bedient haben, und dieser Umstand ist zur Datierung eines arithmetischen Bruchstückes benutzt worden, welches im Mai 1881 in Bakhshäli, in dem nordwestlichsten Indien, in der Erde vergraben aufgefunden worden ist. Es wird angenommen, das Rechenbuch von Bakhshäli!), wie wir es nennen wollen, sei im dritten oder vierten nachchristlichen Jahrhundert verfaßt, wenn auch die aufgefundene Niederschrift auf Birkenrinde erst zwischen den Jahren 700 und 900 entstanden sein dürfte. Von dem Inhalte des Rechenbuches von Bakhshäli reden wir am Anfange des 29. Kapitels. Eigentlich mathematische Schriftsteller scheint es nach der gegen- wärtigen Kenntnis, die wir von der Sanskritliteratur besitzen, in Indien nicht gegeben zu haben. Astronomie und Astrologie fanden dagegen ihre berufsmäßigen Vertreter, und da diese genötigt waren mathe- matische Vorkenntnisse vorauszusetzen, so entwickelten sie das, was ihnen unentbehrlich war, in Einleitungskapiteln oder in gelegentlichen Abschweifungen. So hielten es wenigstens die drei vorwiegend mathe- matischen Astronomen, deren Werke wir besitzen. Äryabhatta geboren 476 n. Chr. in Pätaliputra am oberen Gangeslaufe schrieb ein Werk Aryabhättiyam betitelt, dessen dritter Abschnitt der Mathematik gewidmet ist?). Brahmagupta geboren 598 schrieb „das verbesserte System des Brahma“, Brähma-sphuta-siddhänta, aus welchem das 12. und 18. Kapitel der Mathematik angehören. Bhäskara Acärya, d. h. Bhäskara der Gelehrte, schrieb „die Krönung des Systems“ Siddhäntaciromani, dessen zwei für uns wichtige Kapitel mit besonderer Überschrift Lilävati (die Reizende) ') The Bakshali Manuscript von Rudolf Hoernle im Indian Antiquary XVII, 33—48 und 275—279 (Bombay 1888). ?) Eine Übersetzung von L. Rodet im Journal Asiatique von 1879. (Serie 7, T. XIIL) - Einleitendes. Elementare Rechenkunst. 599 und Vijaganita (W urzelrechnung) genannt sind!). Bhäskara ist 1114 geboren. | Die Geburtsdaten dieser drei Schriftsteller sind vollständig sicher, da sie aus eigenen Angaben der betreffenden Männer, welche in ihren Werken aufgefunden worden sind, hergestellt werden konnten?). Wir fügen den hinzu, daß andere Astronomen oder Mathematiker, welche wir noch nennen werden, insgesamt viel jüngeren Datums als Ary- abhatta sind, daß ein astronomisches Werk, von dem wir sogleich reden wollen, auch nicht älter als frühestens aus dem IV. oder V. 8. nachchristlicher Zeitrechnung ist. Wir meinen den Sürya Siddhänta oder das Wissen der Sonne?), indem Sürya (die Sonne) ihre Siddhänta (Erkenntnis, Wissenschaft, System) dem Asura Maya d. h. dem Dämon Maya offenbart, der es niederschreibt. Wer dieser dämonische Schriftsteller selbst sei, wann er gelebt hat, ist nur durch eine ziemlich kühne Vermutung erschließbar. In dem Werke selbst kommen nämlich unzweifelhaft griechische Ausdrücke vor, welche in der indischen Ver- kleidung leicht erkannt worden sind. Wenn Kendra die. Entfernung eines Planeten von einem Störungsmittelpunkte bedeutet, so ist das eben das griechische 7) &x x&vroov, wenn liptä oder liptikä die Winkel- minute heißt, so ist das Asmrdov das Geschabte, der Bruchteil, Ab- leitungen, die trotz der Stammverwandtschaft indischer und griechi- scher Sprache angenommen werden müssen, indem für kendra und liptä eine unmittelbar indische Herkunft nicht zu ermitteln ist. Dazu kommt, daß einzelne Lehren des Sürya Siddhänta griechisches Ge- präge tragen. Die Ostwestlinie für einen Punkt wird mittels der zwei Schattenbeobachtungen gleicher Länge am Vormittage und am Nachmittage gewonnen, welche wir bei Vitruviuss und Hyginus (8. 535—536) kennzeichnen mußten. Anderes scheint auf den ptole- mäischen Almagest hinzuweisen. Gerade diese Annahme vereinigt sich sodann mit einer höchst merkwürdigen Tatsache: daß nämlich ägyptische Könige aus der Ptolemäerfamilie in indischen Inschriften als Tura- maya vorkommen mit eigentümlicher Verketzerung des Namens. Man ") Die mathematischen Kapitel von Brahmagupta und von Bhäskara sind in einer englischen Übersetzung vorhanden, welche wir als Colebrooke zitieren: Algebra with arithmetic and mensuration from the Sanscrit of Brahmegupta and Bhascara translated by H. Th. Colebrooke. London 1817. ®) Bhaü Daji, On the age and authenticity of the works of Varähamihira, Brahmegupta, Bhat- totpala and Bhaskarächärya in dem Journal of the Asiatic society 1865 (New Series I, pag. 292—418). 3) Herausgegeben mit englischer Übersetzung von Burgess und Anmerkungen von Whitney in dem Journal of the American Oriental Society Vol. VI (New Haven 1860). 600 28. Kapitel. hat deshalb vermutet'), auch der Astronom Ptolemäus sei zu einem Turamaya geworden, der volkstümlich sich weiter in einen Asura Maya verketzerte. Zu einer solchen sagenhaften Personenveränderung bedarf es einiger Zeit und so kann der Sürya Siddhänta nicht allzu- rasch nach Ptolemäus’ Leben d. h. nach dem II. S. n. Chr. verfaßt sein. Andererseits hat Varähamihira von dem Sürya Siddhänta Gebrauch gemacht und dessen Blütezeit fällt nach der Aussage eines noch späteren Astronomen Bhatta Utpala nach 505, dessen Tod einem anderen Berichterstatter Amaräja zufolge auf 587. Beide Daten vereint lassen uns im Varähamihira einen jüngeren Zeitgenossen von Aryabhatta finden, und der Sürya Siddhänta muß dem entsprechend zwischen Ptolemäus und Varähamihiras Lebzeiten d. i. etwa im IV. oder V. 8. entstanden sein. Varähamihira?) gibt übrigens den Ursprung mancher seiner Kenntnisse mit ehrlicherer Gewissenhaftigkeit an, als es sonst bei Indern der Fall zu sein pflegt. Er bezieht sich für die Namen der Sternbilder, welche er benutzt, geradezu auf den Yavanecgvaräcärya, d. h. auf den ionischen oder griechischen Meister, indem die Yavana sicherlich Griechen bedeuten. Bei ihm und anderen Astronomen und Astrologen ist sodann von Romaka Pura, d. h. von Rom und von Yavana Pura, d. h. der Stadt der Ionier nämlich von Alexandria die Rede, lauter Momente, welche den alexandrinisch-indischen Be- ziehungen entstammen und die Abhängigkeit indischer Astronomie auch von alexandrinischem Wissen bestätigen, wie andernteils ein Zu- sammenhang ältester indischer Sternkunde mit Babylon (S. 39) nicht abzuweisen sein dürfte. Wir haben außerordentlich wenig für uns Brauchbares dem Sürya Siddhänta entnehmen können, eigentlich nichts weiter, als daß ein griechischer Einfluß auf indische Wissenschaft damals schon, - mithin vor Aryabhatta feststeht. Wir haben daneben einige weitere Namen indischer Astronomen kennen gelernt. Wir lassen hier andere folgen. Von einiger Bedeutung dürften Öridhara und Padmanäbha gewesen sein. Beide sind bei Bhäskara erwähnt, bei Brahmagupta noch nicht, haben daher vermutlich in der Zwischenzeit zwischen diesen beiden gelebt. Es kommt dazu Paramädicvara, der Kom- mentator Aryabhattas, welcher später als Bhäskara gelebt hat, welchen er kennt. Ferner kommen Bhäskaras Kommentatoren hinzu, wie Gangädhara, der 1420 lebte, Süryadäsa um 1540, Ganeca um !) Albr. Weber, Zur Geschichte der indischen Astrologie in den Indischen Studien II, 243. ?°) The Panchasiddhäntikä of Varäha Mihira ed. by G. Thi- baut and Mahämahopädhyäya Sudhäkara Dvivedi. Benares 1889. Ei Einleitendes. Elementare Rechenkunst. 601 1545, Ranganätha um 1640, Räma Krishna vielleicht um dieselbe Zeit, jedenfalls nicht viel älter, und andere. Sie alle lassen uns rat- los in der wichtigsten Frage, welche wir ihnen so gern vorlegen würden, in der Frage: Und was war vor Äryabhatta? Sollen die Inder mit mathematischen Kenntnissen erst zu einer Zeit vertraut geworden sein, welche später liegt als diejenige, in welcher die Nachblüte alexandrinischer Wissenschaft unter Pappus und Diophant bereits zu Grabe getragen war? Es genügt, die ge- stellte Frage von der Höhe der allgemeinen Bildungsstufe aus, welche das Volk der Inder erreicht hat, sich wiederholt zu vergegenwärtigen, um zur Verneinung zu gelangen. Aber worin die älteren Kenntnisse bestanden haben, davon wissen wir ungemein wenig. "Sogar wo uns in nicht-mathematischen Schriften Aufgaben berichtet werden, deren Altertum kaum bezweifelbar ist, zwingt die Jugend des Berichtes zum Eingeständnis, daß die Methoden der Auflösung jener Aufgaben möglicherweise um viele Jahrhunderte später entstanden oder ein- geführt sein können als die Aufgaben selbst. Wir haben in Rom es gesehen, daß die Festlegung der Ostwestlinie, eine altertümliche Aufgabe, ein geradezu priesterliches Geschäft, bald so, bald so vor- genommen wurde; wir haben durch einen günstigen Zufall, das Be- streben eines Schriftstellers Hyginus nach Vollständigkeit, von drei Methoden offenbar aus verschiedenen Zeiten stammend Kenntnis ge- wonnen; wir haben eine Datierung der drei Methoden versucht, ver- suchen können. Wie aber, wenn Hyginus uns nur das jüngste Ver- fahren mitgeteilt hätte, wenn Vitruvius ganz darüber schwiege, würden wir die berichtete Methode als die der ältesten Zeiten aner- kennen müssen? Vergegenwärtigen wir uns nun noch die schon be- rührte Fähigkeit der Inder, Fremdländisches rasch in die einheimische Form zu gießen, so kommen wir notgedrungen zu der Überzeugung, es werde ın vielen Fällen nur spät Eingeführtes oder mindestens durch Einführungen wesentlich Verändertes sein, wovon uns berichtet wird, soweit wir auch in Aufsuchung mathematischen Stoffes zu greifen geneigt sind. Daraus folgt aber die Unmöglichkeit eine chronologische Über- sicht der indischen Mathematik zu geben, und wir werden in jeder Beziehung uns besser stehen, wenn wir versuchen eine Gruppenein- teilung des indischen mathematischen Wissens nach dem Inhalte vor- zunehmen. Es wird dabei in ein helleres Lieht treten, was als Leit- faden durch diesen ganzen Abschnitt benutzt werden kann: ein ge- wisser Gegensatz zwischen griechischer und indischer Denkungsart und schöpferischer Kraft. Die Griechen waren das vorzugsweise geometrische Volk, 602 28. Kapitel. sie waren es in solchem Maße, daß wir den einengenden Zusatz: des Altertums uns füglıch erlassen dürfen. An den Indern werden wir die vorzugsweise rechnerische Begabung zu bewundern haben. Bei ihnen ist dem entsprechend mutmaßlich die Heimat einer staunen- erregenden Entwicklung der Rechenkunst zu suchen. Und umge- kehrt tritt uns mit der einzigen Ausnahme einer selbst auf Rechnung gegründeten Trigonometrie wenige vorläufig rätselhafte indische Geo- metrie gegenüber, deren Spuren wir nicht mit Leichtigkeit nach Alexandria zurückverfolgen könnten. Mit der Algebra endlich wird sich uns ein Gebiet eröffnen, das beiden Begabungen zugänglich war. Die Griechen gingen von einer geometrisch eingekleideten Algebra aus, welche sie bis zur Auflösung unreiner quadratischer Gleichungen fortführten, nur allmählich des geometrischen Gewandes sich entäußernd. Spuren griechischer Algebra müssen mit griechi- scher Geometrie nach Indien gedrungen sein und werden sich dort nachweisen lassen. Aber entweder stieß die griechische Algebra in Indien auf eine einheimische oder vielleicht aus Babylon frühzeitig eingedrungene Schwesterwissenschaft, mit der sie sich vereinigte, oder sie entwickelte sich dort rechnerisch, also recht eigentlich algebraisch bis zu einer Höhe, die sie in Griechenland niemals zu erreichen vermocht hat. Bei der nunmehr zu beginnenden Besprechung indischer Rechen- kunst tritt uns vor allem das Zifferrechnen gegenüber, welches nach vielfach verbreiteter Überlieferung indischen Ursprungs ist. Ein arabischer Schriftsteller des X. S., Mas’üdi, erzählt!), unter Brahmas, des ersten indischen Königs, Regierung habe die Wissenschaft ihre größten Fortschritte gemacht. Man habe damals in den Tempeln Himmelskugeln abgebildet; die Regeln der Astrologie, des Einflusses der Sterne auf Menschen und Tiere seien festgestellt worden; die vereinigten Gelehrten verfaßten den Sindhind (d. h. den Siddhänta), das Buch der Zeit der Zeiten; astronomische Tafeln wurden zusammen- gestellt; endlich erfand man die neun Zeichen, mit welchen die Inder rechnen. In diesem Berichte spukt offenbar indischer Nationalstolz, welcher den Sürya Sıddhänta wie alles was mit Sternkunde in engerer oder weiterer Verbindung steht als einheimisch betrachtet wissen und darum in ein graues Altertum hinaufrücken will. Noch deutlicher zeigt sich die gleiche Eigenschaft in der Fortsetzung des Berichtes, der Mas’üdi von indischer Seite zugetragen wurde, so daß er nur als Sprachrohr uns erscheint. Die Inder, heißt es nämlich weiter, hätten nach Äryabhatta einen Almagest verfaßt, aus welchem Ptole- ') Reinaud, Memoire sur UInde pag. 324. er RE a a - Einleitendes. Elementare Rechenkunst. 603 mäus sein Werk gleichen Titels entnommen habe, eine Umkehrung der Tatsachen, die ihresgleichen sucht. Gegenwärtig haben wir es indessen mit den Ziffern zu tun, und da scheint gegen das, was man Mas’üdi erzählt hat, kein Widerspruch sich zu erheben. Ähnlich lauten auch andere Berichte. So heißt es in einer um 950 an der Nordküste von Afrika entstandenen rabbinischen Abhandlung‘): die Inder haben neun Zeichen erfunden um die Einheiten anzuschreiben. Weitere Bestätigung finden wir bei dem Byzantiner Maximus Pla- nudes, dessen bezügliche Äußerungen ($. 511) mitgeteilt worden sind, in welchen auch der Erfindung der Null besonders gedacht ist. Ob freilich die Null gleichen Alters ist mit den anderen Zahl- zeichen, diese Frage möchte eher zu verneinen als zu bejahen sein. Es scheint fast nachweisbar, daß die ältere indische Zahlenschreibung der Null noch entbehrte, welche erst später hinzuerfunden wurde. Das erste bekannte Vorkommen der Null in einer Urkunde ist erst aus dem Jahre 738 bekannt). Wir wollen nicht versäumen hier in Erinnerung zu bringen, daß in Babylon ein Stellungswert von Zahl- zeichen bestand, und daß in einer verhältnismäßig späten Zeit (3. 31), welche aber immer noch ein Jahrtausend vor der urkundlich nach- gewiesenen indischen Null liegt, dort ein Zeichen vorhanden war, welches eine Lücke ausfüllen sollte. Die Insel Ceylon hat ihre Kultur von Indien her erhalten, sei es schon im V. 8. v. Chr., sei es im III. S., als König Acoka den Buddhismus auch dorthin über das Meer trug. Auf Ceylon wurde aber im Gegensatze zum Festlande, wo ein Fortschritt wenigstens in manchen Jahrhunderten mit größter Deutlichkeit hervortritt, die Bildung vollständig stationär, und eine am Anfange des XIX. Jahr- hunderts noch auf Ceylon bei den Gelehrten übliche Zahlenschreibart kann sehr wohl ältesten indischen Ursprungs sein’). Während das Volk sich der gewöhnlichen europäischen Ziffern bedient, welche mit den Kolonisten der letzten Jahrhunderte eingewandert in der ver- änderten Gestalt, welche sie durch diese erhalten hatten, sich unweit der alten Heimat wie fremd neu einbürgerten, haben die Gelehrten ") Es ist ein Kommentar von Abu Sahl ben Tamim in hebräischer Sprache zu der bekannten kabbalistischen Schrift Sepher Yecira und handschrift- lich in Paris vorhanden. Reinaud, Memoire sur ’Inde pag. 565. °) E. Clive Bayley, On the genealogy of modern numerals in dem Journal of the royal asiatic society. New series XIV, 335—376 (1882) und XV, 1—72 (1883). Über die Urkunde von 738 vgl. XV, 27. °) Die Untersuchungen des dänischen Ge- lehrten Rask über diesen Gegenstand stammen aus dem Jahre 1821. Vgl. Brockhaus, Zur Geschichte des indischen Zahlensystems in der Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes IV, 74—83. 604 28. Kapitel. folgendes Verfahren aufbewahrt. Sie besitzen neun Zeichen für die verschiedenen Einer, ebensoviele für die Zehner, ein Zeichen für Hundert, eins für Tausend und schreiben mittels dieser 20 Zeichen sämtliche Zahlen von 1 bis 9999, indem die Hunderter und Tausender dadurch ausgedrückt werden, daß man die Anzahl derselben verviel- fachend den Zeichen für 100 und 1000 vorsetzt. So schreibt man z. B. 7248 mit sechs Zeichen, nämlich 7, 1000, 2, 100, 40, 8. Vier Zeichen nämlich 7000, 200, 40, 8 würden genügen, wenn man auch für die einzelnen Hunderter und für die einzelnen Tausender wie für die Zehner besondere Zeichen, im ganzen demnach 36 Zeichen be- säße, und das wird auch den allergelehrtesten Einwohnern nach- gerühmt. Das ist freilich ein Verfahren, welches dem, was man indische Rechenkunst zu nennen pflegt, weit weniger gleicht, als z. B. altägyptischer hieratischer Zahlenbezeichnung. Eine Ähnlichkeit gibt sich nur darin zu erkennen, daß jene sin- ghalesischen Zeieffen nichts anderes sein sollen als abgekürzte Zahl- wörter. Auch die alten indischen Ziffern, d. h. die Zeichen von eins bis neun, wie sie ursprünglich aussahen und nicht wie sie in der späteren indischen Schrift sich verändert haben, sollen nichts anderes gewesen sein als die Anfangsbuchstaben der betreffenden neun Zahl- wörter, wobei wohl zu beachten ist, daß im Sanskrit eine Ver- schiedenheit der neun Anfänge obwaltet, wie sie in anderen indo-. germanischen Sprachen nicht stattfindet, so daß in diesen ein einfacher Anfangsbuchstabe nicht genügen würde, das Zahlwort unzweideutig zu bestimmen. Man denke nur an die deutschen Zahlwörter sechs und sieben; an die lateinischen sex und septem, aber auch an quatuor und guinque; an die griechischen &8 und &äxtd. Allerdings wechselten im Laufe der Jahrhunderte auch die Buchstaben ihre Formen, und es scheint!), als ob Buchstaben des II. S. n. Chr. vorzüglich zur Ziffernbildung gedient hätten. Aus ihnen leiten sich am unge- zwungensten die Zeichen ab, welche für uns (8. 584) Apices heißen, welche auch bei den Westarabern uns noch begegnen werden. (Siehe die lithographierte Tafel am Ende des Bandes.) Freilich ist diese Meinung nicht die allgemeine, und wir dürfen nicht verschweigen, daß andere Forscher von hoher Glaubwürdigkeit?) nicht viel von jener Buchstabenableitung halten. Die Apices seien allerdings indischen Ursprungs, stammten aber von nichtalphabetischen Zahlzeichen aus Höhleninschriften des II. S. n. Chr. Für uns geht mithin als ge- ') So hat Woepcke im Journal Asiatique von 1863, pag. 75 bemerkt. *) Burnell, Elements of South-Indian Palaeography. Mangalore 1874, pag. 47 bis 48. rn ehe nal ae nn en Einleitendes. Elementare Rechenkunst. 605 sichert hervor, was beiden widersprechenden Annahmen gemein- schaftlich ist: daß im II. S. Zahlzeichen, gleichviel welcher ursprüng- lichen Entstehung, in Indien vorhanden waren, und von da nach Alexandria gekommen sein können, welche zur Ableitung der Apices vollkommen genügen. Die Inder bedienten sich sehr verschiedener Bezeichnungsarten der Zahlen, von denen wir reden müssen. Eine solche wird von Äryabhatta berichtet, der sich ihrer im ersten Kapitel, und nur im ersten Kapitel des Aryabhattiyam bediente‘). Zu deren Verständnis, wie überhaupt für das Folgende sind wir genötigt, weniges über das Alphabet der Sanskritgrammatik einzuschalten. Es besteht aus 25 Konsonanten in fünf Abteilungen, deren jede als ein Varga bezeichnet zu werden pflegt. Es sind das die Kehl- laute, die Gaumenlaute, die Zungenlaute, die Zahnlaute, die Lippen- laute. Die fünf Buchstaben, aus welchen jeder Varga besteht, sind der harte und der weiche, jeder von beiden ohne und mit Aspiration sich unmittelbar folgend, und der Nasenlaut, Unterschiede, die dem europäischen Ohre fast unmerklich sind, insbesondere was die Nasen- laute betrifft, da wir den Lippennasenlaut allerdings als m zu unter- scheiden wissen, die Nasenlaute der vier ersten Vargas dagegen sämt- lich als » hören. Nach den 25 Konsonanten kommen vier Halb- vokale y, r, I, v. Als 30. bis 32. Buchstabe erscheinen drei Zischlaute, das Gaumen-c, das Zungen-sh, das Zahn-s. Als 35. Buchstabe wird das h gezählt. Dazu treten 14 Vokale und Diphthongen gleichfalls von unseren europäischen Gewohnheiten weit abweichend. Vokale sind nämlich a, i, u, ri, li, ein jeder in kurzer und in gedehnter Aus- sprache vorhanden. Diphthonge sind e, ai, o, au. Von diesen Buch- staben werden die Vokale und Diphthongen nur dann durch den anderen Lauten gleichberechtigte Zeichen geschrieben, wenn sie für sich allein eine Silbe ausmachen, also in der Regel nur am Anfange eines Wortes oder gar einer Zeile. Folgt hingegen der Vokal auf. einen Konsonanten, so wird er durch kleinere Nebenzeichen aus- gedrückt, welche über oder unter dem Konsonanten angebracht werden, etwa wie in den semitischen Sprachen... Das kurze a bedarf jedoch keines Zeichens, indem es ein für allemal inhäriert, d. h. indem jeder der Buchstaben von k bis h, wenn kein anderer Vokal ihm folgt, er aber der letzte Konsonant einer Silbe ist, als mit kurzem a behaftet ausgesprochen wird. Stehen zwischen zwei Vokalen, die einem oder auch zwei Wörtern angehören können, mehrere Konsonanten, so werden ') Lassen in der Zeitschr. f. d. Kunde des Morgenlandes II, 419—427. Rodet, Legons de calcul d’Aryabhatta (Journal Asiatique 1879) pag. 8. 606 28. Kapitel. diese in zusammengesetzter Form geschrieben, indem Teile eines jeden einzelnen Konsonanten zu einem oft sehr fremdartig aussehenden Buchstaben vereinigt werden. Aryabhatta gibt nun den Konsonanten durch ihre fünf Vargas hindurch die Zahlenwerte 1 bis 25. Ihm ist alo k=1, kh=2, griech m = 25. Die Halbvokale, die Zischlaute und das h bedeuten die hier sich anschließenden Zehner, also y = 30, r — 40, ...„A= 100. Diese Bedeutungen finden statt, wenn der betreffende Buchstabe mit nachfolgendem kurzen oder langen a verbunden aus- gesprochen wird. Die weiteren Vokale des Alphabets, ohne Rücksicht auf Länge und Kürze, und dann noch die vier Diphthonge verviel- fachen den Konsonanten, welchem sie angehängt sind, mit aufeinander- folgenden Potenzen von 100. S8o ist also ga=3, gi = 300, gu = 30000, ge ist eine 3 mit 10 Nullen, gau eine 3 mit 16 Nullen. Zwei verbundene Konsonanten sind als mit demselben Vokale begabt anzusehen, und ihr Wert ist zu addieren. So ist kve z. B. aufzulösen in k+vw=1-100 + 60 : 100 = 6100. Die Ähnlichkeit mit dem Systeme der singhalesischen Gelehrten ist nicht zu verkennen. Die Vokale und Diphthonge stellen hier die Zeichen für Einheiten höheren Ranges vor, welche durch voraus- gehende Konsonanten gewissermaßen als Koeffizienten vervielfacht werden. Positionsarithmetik dagegen ist diese Bezeichnung. nicht, und wenn wir bei unserer Schilderung von Nullen sprachen, so ge- schah dieses, um uns unseren Lesern in kürzester Form verständlich zu machen, nicht aber weil die Methode selbst es verlangte. Es wäre übrigens falsch, wenn man die Folgerung ziehen wollte, Aryabhatta habe überhaupt die Positionsarithmetik nicht gekannt. Das Gegenteil geht vielmehr, wie wir sehen werden, aus seinen im zweiten Kapitel des Aryabhattiyam enthaltenen Vorschriften für die Ausziehung der Quadrat- und Kubikwurzeln hervor'). Positionsarithmetik ist auch die Grundlage zweier anderer Systeme. Das eine soll den Mathematikern des südlichen Indiens an- gehören, ein Erfinder wird jedoch nicht angegeben’). Die einzelnen Ziffern werden hier durch Buchstaben ausgedrückt, und zwar jede einzelne nach Belieben durch verschiedene Buchstaben. Die Ziffern 1 bis 9 entsprechen nämlich der Reihe nach erstens den neun ersten Konsonanten, also dem Varga der Kehllaute und den vier ersten. Gaumenlauten; zweitens dem 11. bis 19. Konsonanten, also dem Varga der Zungenlaute und den vier ersten, Zahnlauten; drittens den vier Halbvokalen, den drei Zischlauten, dem h und einem in Südindien !), Rodet l.c. pag. 19. ?) Math. Beitr. Kulturl. S. 68. Einleitendes. Elementare Rechenkunst. 607 noch vorkommenden konsonantischen /Ir. Der Varga der Lippenlaute bedeutet die Ziffern 1 bis 5. Endlich die noch übrigen Buchstaben, nämlich der Nasenton der G@aumenlaute und der Zahnlaute, sowie alle initiale Vokale und Diphthonge sind Nullen. Völlig bedeutungs- los dagegen sind durch Nebenzeichen geschriebene oder inhärierende Vokale und Diphthonge, ebenso wie die zuerst auszusprechenden Teile zusammengesetzter Konsonanten, deren letzter allein als wert- gebend in Geltung tritt. Die so geschriebenen Zahlen werden alsdann gemäß der hier wirklich vorkommenden Nullen nach den Regeln des Stellungswertes gelesen. Die Möglichkeit, eine und dieselbe Zahl nach dieser Methode auf verschiedene Weise darzustellen, ist eine fast un- begrenzte und gewährt durch den Sinn der jedesmal gewählten Worte nicht bloß eine wahre Gedächtnishilfe, sondern auch die Benutzbar- keit im fortlaufenden Versmaß unter Einhaltung der strengen Regeln indischer Prosodie. Noch geeigneter zu solcher Benutzung in Versen erscheint die zweite hier zu erwähnende Methode einer symbolischen Positions- arıthmetik!), die ziemlich weite Verbreitung erlangt hat, da sie bei den Indern, wie in Tibet, wie bei den Eingeborenen der Insel Java vorkommt. Es werden dabei für die Einer und auch für manche zweiziffrige Zahlen gewisse symbolische Wörter gewählt, welche als- dann mit Positionswert zusammengesetzt werden. Die Reihenfolge ist die der Sprache in den Zahlen unter Hundert, nicht die der Schrift. Das Zahlenschreiben befolgt, wie wir wissen, das Gesetz der Größen- folge. Die Sprache ist nicht immer so folgerichtig, und so läßt sie im Sanskrit wie im Deutschen, wie im Arabischen, in dem Gebiete unterhalb von Hundert das kleinere Element dem größeren voraus- gehen z. B. dreiundsiebzig, trisaptati. Ebenso macht es diese sym- bolische Bezeichnung, welche wir um dieser Eigentümlichkeit willen lieber eine Aussprache der Zahlen mit Stellungswert, als eine Schreib- weise nennen möchten. So heißt abdhi (der Ozean, deren es vier gibt) die Zahl 4, särya (die Sonne mit ihren zwölf Wohnungen) die Zahl 12, agvin (die beiden Söhne des Sürya) die Zahl 2 und abdhisüryägvinas in seiner Zusammensetzung 2124. Da mehr als ein Wort für jede einzelne Zahl zur Verfügung steht, für 4 z. B. auch krita (die erste der vier Weltperioden), außerdem die mehrziffrigen Zahlen auch nach verschiedenen Gruppen geteilt werden können (z.B 2124 = 2-12-4=2:.1:24=2:.1-2-4) so ist hier die Kombinationsfähigkeit eine gleichfalls außerordentliche, und die Ein- ı) Nouveau Journal Asiatigque XVI, 12, 25 und 34—40, sowie Journal Asiatique 6. serie, I, 284—290 und 446. 608 28. Kapitel. fügung in das Versmaß ist damit so erleichtert, daß man es begreif- lich findet, daß Astronomen wie Brahmagupta mit Vorliebe gerade der symbolischen Zahlenbenennung in ihren didaktischen Gedichten sich bedienten. Ein derartiges bewußtes Spielen mit den Begriffen der Stellungs- arithmetik mit Einschluß der Null erklärt sich am leichtesten in der Heimat dieser Begriffe, für welche uns Indien gilt und gelten darf, selbst wenn es sich um eine zweite Heimat handelt, wir meinen, wenn beide Begriffe, was große Wahrscheinlichkeit besitzt, in Babylon geboren waren und noch wenig ausgebildet nach Indien einwanderten. Als mit der Stellungsarithmetik in offenbarem Zusammenhange stoßen wir in Indien auf eine Reihe eigentümlicher Zahlennamen, wie keine andere Sprache der Erde sie besitzt, die westlicher als Indien sich entwickelte. Bei den Griechen waren Namen für 1, 10, 100, 1000, 10000 vorhanden, aus denen die der höheren Einheiten sich zu- sammensetzten. Bei den Römern war die Anzahl selbständiger Namen noch beschränkter, da 10000 bereits zur Zusammensetzung nötigte. Das Gleiche findet, wie wir vorausschiekend bemerken, im Arabischen statt. Das Sanskrit besitzt dagegen von 100 Millionen an die Ge- wohnheit durch Beifügung des Wortes mahä (groß) eine Verzehn- fachung vorzunehmen, z. B. arbuda = 100 Millionen, mahärbuda — 1000 Millionen; padma = 10000 Millionen, mahäpadma = 100 000 Millionen usw., aber sonstige wirkliche multiplikative Zusammen- setzungen wie decem millia, £xerovraxıguvdgıoı kommen nicht vor, und die eigentümlich gebildeten Wörter erstrecken sich!) bis zur Bezeichnung der 1 mit 20 Nullen akshauhini und der 1 mit 21 Nullen mahäkshauhini. Es ist mit Recht bemerkt worden, daß diese Aus- sprechbarkeit jeder einzelnen Rangordnung deren Gleichberechtigung ganz anders zu Bewußtsein bringe, als die griechischen und römı- schen Zusammenfassungen in Tetraden und Triaden es gestatten, daß hier eine Wurzel der Stellungsarithmetik zutage trete?). Aber freilich müßte man, um ein vollgültiges Urteil fällen zu können, genau wissen, wie alt jene Sanskritwörter sind, wie alt dann wiederum die Kenntnis der Null, und beides wissen wir nicht. Was die Wörter betrifft, so erstreckt sich Zweifel über ihre Anzahl wie über ihren Klang, da Bhäskara z. B. in der Lilävati ganz andere Zahlwörter als die obigen angibt, die sich bis zur 1 mit 17 Nullen erstrecken, und auch andere Formen noch berichtet werden?). Noch zweifelhafter stehen wir der ı) Pihan, Expose des signes de numeration usites chez les peuples orientaux anciens et modernes. Paris 1860, pag. 59. ?) Woepcke im Journal Asiatique für 1863, pag. 443, Anmerkung 1. °\ Colebrooke pag. 4, Note 4 und Albr. a a ae re ee EN at Einleitendes. Elementare Rechenkunst. 609 zweiten Frage gegenüber, wann die Null erfunden worden sei. In Indien selbst haben wir keinen Beleg für das Vorhandensein der Null, der höher hinaufreichte als der Sürya Siddhänta. Fremde Quellen reichen gleichfalls nicht sehr viel höher hinauf, da eine babylonische Null nicht vor dem dritten vorchristlichen Jahrhundert bekannt ist (8. 31) und die Zeit ihres Eindringens in Indien, vorausgesetzt daß wir nicht an selbständige Nacherfindung zu denken hätten, nun gar in tiefstem Dunkel liegt. Eine negative Erscheinung läßt uns an viel älterem Vorkommen überhaupt zweifeln. Wenn die indischen Zahlzeichen es waren, wie wir annehmen, die um das II. S. n. Chr. durch indisch-alexandrinischen Verkehr nach Westen drangen, um dort zu Apices zu werden, so ist undenkbar, daß die Null und mit ihr die Positionsarithmetik nicht auch zugleich herübergekommen wären, falls sie vorhanden waren. Das Kolumnenrechnen mit den Apictes setzt alsdann notwendig voraus, daß in Indien selbst die Null erst nach dem II. S. landläufiger Besitz war. Ist aber dieser Schluß richtig, dann ist es auch wahr, daß die der frühesten religiösen Literatur, den sogenannten vedischen Schriften bereits angehörenden hohen Zahlwörter älter als Null und Stellungswert sind und vielleicht wenn nicht zu deren Erfindung so doch zu deren leichter Einbürge- rung hinüberleiteten. Gesichert freilich, und damit schließen wir diese Bemerkungen, ist nur das Vorkommen der Null etwa seit 400 .n. Chr. Eine äthiopische Inschrift aus dem II. oder III. S. n. Chr., in welcher man die Zahlen 6383 und 11103 erkannt haben will!), ist zu un- deutlich, um als sicheres Beweismittel für ein so altes Vorkommen der Null gelten zu können. Wie die Inder rechneten, bevor das Stellensystem ihnen bekannt war, würde in mancher Beziehung sich als von geschichtlicher Bedeutung erweisen können. Leider befinden wir uns hier im dichtesten Dunkel. Nicht die leiseste Andeutung ist zu unserer Kenntnis gelangt, daß bei den Indern vor Zeiten ein Finger- rechnen oder ein instrumentales Rechnen stattgefunden hätte. Sollen wir daraus den Schluß ziehen, daß ähnliche Hilfsmittel dem Inder fremd waren? daß die Inder vielmehr, unterstützt durch die bequemen Zahlennamen, und ihrer Natur nach zu in sich gekehrtem, von der Außenwelt abgewandtem Grübeln geneigt, wesentlich Kopfreehnen übten, welches naturgemäß sich nicht zu verändern brauchte, als die dem gesprochenen Worte abgelauschte Positionsarithmetik erfunden Weber, Vedische Angaben über Zeittheilung und hohe Zahlen in der Zeitschr. der deutsch. morgenländ. Gesellsch. XV, 132—140. ') Corpus Inseriptionum Graecarum II, 5108. | CAnToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 39 610 28. Kapitel. ward? Das ist nicht unmöglich und findet vielleicht Unterstützung in gewissen Verfahren, von welchen wir noch zu reden haben, und welche an das Zahlengedächtnis ziemlich hohe Anforderungen stellen. Es ist aber auch ein Anderes möglich, worauf wir weiter oben be- reits einmal hingewiesen haben. Unvollkommeneres kann bis zur Vergessenheit durch Vollkommeneres verdrängt werden, und bei den Indern fand vielleicht diese Verdrängung bezüglich der Rechnungs- verfahren statt, so zähe die Überlieferung auch die Aufgaben fest- gehalten haben mag, deren Ausführung verlangt wurde. Das Rechnen der Inder seit Einführung des Stellen- wertes ist teils aus indischen Werken selbst bekannt, teils und zwar hauptsächlich aus dem Rechenbuche des Maximus Planudes, welches ausdrücklicher Angabe des Verfassers gemäß nach indischen Quellen bearbeitet ist. Wir kommen jetzt auf die Dinge zu reden, an welchen wir bei unserer ersten Besprechung jenes Werkes (8. 511) rascher vorübergehen durften. Wir heben in erster Linie die Ausführung der Subtraktion hervor, welche unter der Voraussetzung, daß eine Stelle des Subtrahenden einen höheren Wert als die entsprechende Stelle des Minuenden besitzt, nach zwei Regeln gelehrt wird. Man borgt entweder die zur Ergänzung des Minuenden notwendigen 10 Einheiten des betreffenden Ranges von der nächsthöheren Stelle, “oder man gleicht die Vergrößerung des Minuenden dadurch aus, daß man auch den Subtrahenden, und zwar in der nächsthöheren Stelle um 1 vergrößert. Um also 821 — 348 zu finden sagt man entweder: 8 von 11 läßt 3, 4 von 11 läßt 7, 3 von 7 läßt 4, also Rest 473 oder aber: 8 von 11 läßt 3, 5 von 12 läßt 7, 4 von 8 läßt 4 mit demselben Ergebnis wie vorher. Die Multiplikation wird in sehr unterschiedenen Verfahren gelehrt. Wir erwähnen nur beiläufig der Zerlegung des Multipli- kators in Faktoren, mit welchen nacheinander multipliziert wird, der Auffassung des Multiplikators als Summe aber auch als Differenz von Zahlen, die eine im Verhältnisse leichtere Vervielfältigung zu- lassen, Methoden also, welche dem Kopfrechnen vorzugsweise dienen. Beim schriftlichen Rechnen ist darauf Rücksicht genommen, daß der Inder vielfach mit einem Griffel auf einer mit Sand bestreuten Tafel rechnete und rechnet, daß also das Weglöschen einer Zahl und ıhr Ersetzen durch eine andere nicht dem ganzen Exempel ein unrein- liches, häßliches Aussehen verschafft. Die einzelnen Teilprodukte können demzufolge beginnend mit der höchsten Stelle des Multipli- kandus, über welche das erste und hauptsächlichste Teilprodukt ge- schrieben wird, gebildet werden. Jedes hinzutretende folgende Teil- produkt vereinigt sich mit dem schon dastehenden Ergebnis zu einem Einleitendes. Elementare Rechenkunst. 611 neuen, dessen Ziffern an die Stelle der rasch verwischten früheren Ziffern treten, bis schließlich das Produkt über dem Multiplikandus, oder gar statt dessen erscheint, da man auch wohl so weit geht, die Ziffern des Multiplikandus selbst wegzulöschen, sobald jede derselben so weit in Betracht gezogen wurde, als es für das Gesamtergebnis notwendig ist. Eine die nachträgliche Kontrolle nicht zur Unmög- lichkeit machende Multiplikation wurde wahrscheinlich gerade so ausgeführt, wie wir noch heute in Europa verfahren. Meistens jedoch wurden dabei alle Zwischenoperationen dem Gedächtnisse überlassen. Das gab dasjenige Verfahren, welches Tatstha (es bleibt stehen) oder Vajräbhyäsa (blitzbildend d. h. zickzackförmig) genannt wurde®). An einem Beispiele mit allgemeinen Buchstabensymbolen erläutert sich dieses Verfahren wie folgt. Es ist (a, +10 -.a, +100.a,--)>x(b, +10-.b5, +100:.b,+-- -) — ayb, + 10Cayd, + a,d,) + 10a. + ad, + ab) +: *-. Nach dem so zutage tretenden Gesetze verschaffte man sich jede Rangziffer sogleich vollständig genau und mit Zurechnung dessen, was von früheren Ziffern hinzutreten mußte, also ohne irgend weitere Verbesserung nötig zu machen. Eine andere Methode möchten wir das gerade Gegenteil der eben geschilderten nennen, insofern sie dem Gedächtnisse auch gar nichts außer dem gewöhnlichen Einmaleins zumutet. Die Vorbereitung besteht in der Herstellung einer schach- brettartigen Figur”), deren einzelne Felder durch gleichlaufende von rechts oben nach links unten geneigte Diagonalen nochmals in je zwei Dreiecke abgeteilt sind, in welche dann die Einer beziehungs- weise Zehner jedes Einzelproduktes zu stehen kommen. Die Addi- tionen erfolgen nach den durch jene Diagonalen gebildeten schräg- liegenden Kolumnen. Die Multiplikation 12 > 735 = 8820 sieht mit- hin folgendermaßen aus: 3,8 2 0 Bei der Addition, der Subtraktion und der Multiplikation findet die sogenannte Neunerprobe statt, welche in dem zahlentheore- tischen Satze begründet ist, daß die Ziffernsumme einer Zahl durch 9 geteilt den gleichen Rest wie die Zahl selbst liefert. Wir sind ihr neben der Siebenerprobe bei einem Griechen des III. 8. be- ') Colebrooke pag. 6, Note 1 und pag. 171, Note 5. ?) Ebenda pag. T, Note 1. 89* 612 28. Kapitel. gegnet (S. 461), wir kommen im 35. und im 37. Kapitel auf beide zurück. Die Division ist wenigstens in den uns überkommenen Quellen sehr stiefmütterlich behandelt. Bei dem Abziehen der den einzelnen Quotientenziffern entsprechenden Teilprodukte wird vom Wegwischen vorhandener Ziffern, vom Ersetzen derselben durch andere Gebrauch gemacht. Am wichtigsten erscheint die freilich nur negative also nicht unzweifelhaft feststehende durch neue Entdeckungen möglicher- weise umzuwerfende Tatsache, daß noch keine Spur eines Verfahrens angetroffen worden ist, welches den komplementären Operationen der Römer zu vergleichen wäre. Ist schon an und für sich zu vermuten, daß das Rechnen mit ganzen Zahlen historisch weit hinaufreiche, so ist es sagenmäßig, und zwar an sehr großen Zahlen geübt, bis in die Jugendzeit des Reformators der indischen Religion zurückzuverfolgen. Der Lalita- vistara, dessen Abfassungszeit freilich durchaus unbekannt ist, be- schäftigt sich mit der Jugend des Bodhisattva. Er bewirbt sich bei Dandapäni um dessen Tochter Gopä, deren Hand ihm aber nur unter der Bedingung zugesagt wird, daß er einer Prüfung in den wich- tigsten Künsten sich unterziehe. Die Schrift, der Ringkampf, das Bogenschießen, der Sprung, die Schwimmkunst, der Wettlauf, vor allem aber die Rechenkunst liefert den Inhalt dieser von dem Jüng- linge mit glänzendem Erfolge bestandenen Prüfung. In der Arith- metik erweist er sich sogar geschickter als der weise Arjuna und gibt Zahlennamen an bis zu tallakshana d. i. eine 1 mit 53 Nullen. Das sei aber nur ein System, und über dieses System gehen noch fünf oder sechs andere hinaus, deren Namen er gleichfalls angibt. Jetzt fragt man ihn, ob er die Zahl der ersten Elementar- teilchen berechnen könne, welche aneinandergelest die Länge eines Yöjana erfüllen, und er berechnet die Zahl mittels folgender Verhältniszahlen: 7 Elementarteilchen geben ein sehr feines Stäub- chen, 7 davon ein feines Stäubchen, 7 davon ein vom Winde auf- gewirbeltes Stäubchen, 7 davon ein Stäubchen von der Fußspur des Hasen, 7 davon ein Stäubchen von der Fußspur des Widders, 7 davon ein Stäubehen von der Fußspur des Stieres, deren 7 auf einen Mohnsamen gehen; 7 Mohnsamen geben einen Senfsamen, 7 Senfsamen ein Gerstenkorn, 7 Gerstenkörner ein Fingergelenk; 12 von diesen bilden eine Spanne, 2 Spannen eine Elle, 4 Ellen einen Bogen, 1000 Bögen einen Kroca, deren endlich 4 auf einen Yöjana gehen. Letzterer besteht also in unserer modernen Schreibweise aus 7!°. 32 . 12000 Elementarteilchen, d. h. aus 108470495616000 solchen Teilchen. Wenn nun auch die im Lalita- Höhere Rechenkunst. Algebra. 613 vistara angegebene Zahl von dieser richtigen abweicht, so hat doch nachgewiesen werden können!), daß eine Entstehung der falschen Zahl aus der richtigen wahrscheinlich sei, und es ist auch die stoff- liche Verwandtschaft der Aufgabe zur Sandrechnung des Archimed gebührend hervorgehoben worden. Wäre also gesichert, was freilich nicht der Fall ist, daß der Lalitavistara vor 300 v. Chr. entstand, so bekäme damit die (S. 322) angedeutete weitere Annahme Wahr- scheinlichkeit, Archimed sei mit seiner Aufgabe als einer schon älteren bekannt geworden, die er dann aber immerhin nicht un- wesentlich veränderte. Nächst den ganzen Zahlen kommen Brüche in den Rechnungen vor. Wir begegnen bei den Indern Brüchen mit beliebigen ganz- zahligen Zählern und Nennern. Die Schreibweise besteht darin, daß der Zähler über dem Nenner steht, ohne daß sich ein horizontaler Bruchstrich dazwischen befände Bei dem Rechnen mit Brüchen kommt es hauptsächlich auf die Einführung eines gemeinsamen Nenners an, bei dessen Auffindung mancherlei Vorteile zur Übung kommen. Natürlich fällt die Notwendigkeit der Zurückführung auf gemeinsamen Nenner bei den Sexagesimalbrüchen weg, welche vorzugsweise den indischen Astronomen gedient haben und ihnen wohl nicht minder als den Griechen unmittelbar aus der babylonischen Heimat zugeflossen sein dürften, so daß ein gräko-indischer Einfluß hier nicht notwendig anzunehmen ist. 29. Kapitel. Höhere Rechenkunst. Algebra. Wir'haben im vorigen Kapitel uns mit dem Inhalte des gewöhn- lichsten, allgemeinst bekannten Rechnens der Inder beschäftigt. Wenn wir zu ihren höheren Kenntnissen uns wenden, haben wir zuerst das (5.598) gegebene Versprechen einzulösen und von dem Rechen- buche von Bakhshäli zu reden. Leider ist es in jeder Beziehung Bruchstück. Es fehlen, man weiß nicht wieviele, aber vermutlich zahlreiche Rindentafeln am Anfang wie am Ende, auch einige solche in der Mitte, und die vorhandenen Tafeln sind auch nichts weniger als wohlerhalten, so daß nur Mangelhaftes mitzuteilen ist, ein so glänzendes Zeugnis es auch für den Ordner des Fundes bildet, daß es ihm überhaupt gelang, einen gewissen Zusammenhang herzu- stellen. Der Name des Verfassers fehlt. Die Aufgaben sind Text- ) Woepcke im Journal Asiatique für 1863, pag. 260—266. 614 29. Kapitel. aufgaben. Das Zahlenrechnen ist bei ihrer Behandlung als bekannt vorausgesetzt. Brüche werden so geschrieben, daß der Zähler über dem Nenner ohne trennenden Bruchstrich steht, wie es auch bei anderen, späteren Schriftstellern (s. oben) der Fall blieb. Ganze Zahlen werden als Brüche mit dem Nenner 1 geschrieben. Bei ge- mischten Zahlen tritt die ganze Zahl als solche über den Bruch, also 1 1 . . * [2 . —1,.. Die Zahlen, welche zu einer Operation vereinigt werden, 3 sind meistens durch gerade Linien eingerahmt; dann folgt das unserem Gleichheitszeichen entsprechende Wort phalam oder abgekürzt pha und dann das Ergebnis. | Beim Addieren steht yuta, abgekürzt yu, hinter den Summanden Z. BD. i Iyu pha 12 heißt +12. Beim Subtrahieren steht das Subtraktionszeichen hinter dem Subtrahenden, und zwar in Gestalt eines Kreuzes +. Es ist als alte Form von ka gedeutet worden, der Abkürzung von kanita = ver- mindert. Multiplikation wird nicht bezeichnet. Das Nebeneinanderstehen von Zahlen zeigt an, daß ihr Produkt gemeint ist; z. B. > 32 | pha 20 heißt x — 20. Be. 1 1 1 1 9 Ferner heißt | 1 1 1 |, die Zahl 1—-- oder -,- solle dreimal 3+ 34 3+ als Faktor auftreten und = hervorbringen. Die Division fordert das dem Divisor nachgesetzte Wort bhaga — Teil abgekürzt bhäd. Die Einheit heißt immer rüäpa, die unbekannte Zahl sunya, und letztere wird durch einen ziemlich starken Punkt . bezeichnet. Das gehört zum Merkwürdigsten im ganzen Rechenbuche. Sunya bedeutet nämlich wörtlich leer und wird auch für die gleichfalls durch einen Punkt dargestellte Null gesagt. Der der doppelten Anwendung von Wort und Zeichen zugrunde liegende Gedanke ist offenbar richtig in folgendem erkannt worden!): Eine Stelle muß ein für allemal leer bleiben, wenn ihre Ausfüllung nicht vorhanden ist; sie muß also auch zunächst leer bleiben, wenn und so lange ihre Ausfüllung noch unbekannt ist, so lange es sich noch um eine Lücke handelt. Wir ı) Hoernle im Indian Antiquary XVII, pag. 35. Höhere Rechenkunst, Algebra. 615 gebrauchen dieses Wort absichtlich um auch hier an die Lücken- zeiger der Babylonier zu erinnern. Die Auflösungen der gestellten Aufgaben len mitunter durch Zurückführung auf die Einheit. Wir führen ein Beispiel an!). B gibt 2mal so viel als A, © 3 mal so viel als B, D 4 mal so viel als C; sie geben zusammen 132; was gab A? Man setze 1 (rüpa) für die Unbekannte (sunya), Nun ist A=1, B=2,0=6, D-— 24, ihre Summe =33. Durch diese angenommene Summe 33 wird die wirkliche Summe 132 dividiert; der Quotient 4 läßt er- kennen, was A gab. Man könnte die Behandlung auch als durch falschen Ansatz vermittelt bezeichnen, ebenso den falschen Ansatz im Rechenbuche des Ahmes ($. 79) eine Zurückführung auf die Einheit nennen. Ein Einfluß altägyptischer Methoden ist in Indien nicht viel weniger möglich als der babylonische, wenn er auch nicht ‚mit gleicher Sicherheit behauptet werden will. Arithmetische Reihen und deren Summierung sind bekannt. Ein Reisender?) legt am ersten Tage 2 Wegeinheiten zurück, jeden folgen- den Tag 3 mehr. Ein zweiter Reisender legt am ersten Tage 3 Weg- einheiten zurück, jeden folgenden Tag 2 mehr. Wann treffen sie zu- gleich an einem Punkte ein? Seien a,, d, für den ersten, a,, d, für den zweiten Reisenden Anfangsgeschwindigkeit und tägliche‘ Vermeh- rung derselben, x die Zahl der Tage bis zur Begegnung. Die Forde- rung der Aufgabe lautet: | at td)tr ta te— Da) = + +d)+ + m +@— Di, oder Ba +@-14], -12,+@-1)4]5, woraus sofort x = ae et vorhergegangene Herleitung ausgesprochene Regel des Rechenbuches es vorzuschreiben. Neben bestimmten Aufgaben sind unbestimmte vorhanden. Wir führen’ wieder ein Beispiel an?). Man sucht eine Zahl, welche um 5 vermehrt oder um 7 vermindert jeweils ein Quadrat gebe. Au +5=y’ und «—-T=2 fl 2=VP —- ?=(y—z)\(y-+2). Für y—z und y+2z werden nun irgend zwei Faktoren des Pro- duktes 12 gesetzt, . B y—-z=2 und y+z= = —=6. Daraus + 1 folgt); und so scheint auch die ohne folgt y=4, 2=2, «=1l, wie es im Rechenbuche eieh Andeutung der vollzogenen Röchhäng aüch herauskommt. ') Hoernle im Indian Antiquary XVII, pag. 45. ®), Ebenda pag. 42. ®) Ebenda pag. 44. 616 29. Kapitel. Wir wenden uns nun zu dem höheren arithmetischen Wissen derjenigen Schriftsteller, deren Namen und Zeitalter wir genau zu bestimmen imstande waren. Etwas höher steht schon das Erheben einer Zahl zur zweiten und dritten Potenz, sowie die Ausziehung von Quadrat- und Kubikwurzeln. Den Indern gehörte freilich Potenz- erhebung und Wurzelausziehung noch zu den elementaren Opera- tionen, deren sie demzufolge 6 zählten, shadvidham die sechs Rech- nungsverfahren!). Die zugrunde liegenden Formeln waren, wie nicht anders zu erwarten steht, die der Binomialentwicklungen (a+b®?=a?+2ab+B, (a+b®?—= a? +3ab +3ab? +3, Aryabhatta weiß schon von den zwei-, beziehungsweise dreistelligen Abschnitten zu reden, in welche man die Zahlen zum Zwecke der beiden Wurzelausziehungen zu teilen habe?), was uns gestattete zu behaupten (S. 606), er müsse die eigentliche Stellungsarithmetik ge- kannt haben. Wurzel überhaupt, auch in der Bedeutung der Wurzel‘ einer Pflanze, heißt miüla oder pada; varga bedeutet eine Reihe gleicher Gegenstände, dann ein Quadrat im geometrischen wie im arithmetischen Sinne des Wortes; ghana ist ein Körper; und durch Zusammensetzung dieser Ausdrücke gewann man die Namen Quadrat- wurzel, varga müla, und Kubikwurzel, ghana müla?). Ist nach unserem Dafürhalten die Erfindung der Null eine baby- lonische, die Vertiefung des Begriffes eine indische, so ist das Rechnen mit der Null schon zu Brahmaguptas Zeit Gegenstand besonderer Vorschriften gewesen‘). Null geteilt durch Null ist nichts. Zahlen geteilt durch Null geben Brüche mit Null als Nenner. Das sind freilich dürftige Bestimmungen, mit welchen nicht viel zu machen ist. Ganz anders weiß Bhäskara Bescheid, wenn er sagt: Diese Größe, nämlich der Bruch, dessen Nenner Null ist, läßt keine Änderung zu, mag auch vieles hinzugesetzt oder weggenommen werden. Findet doch gleichermaßen in der unendlichen und unveränderlichen Gottheit kein Wechsel statt zur Zeit wo Welten zerstört oder ge- schaffen werden, wenn auch zahlreiche Ordnungen von Wesen auf- genommen oder hervorgebracht werden’). Der Kommentator Krishna erläutert den Gegenstand mit den Worten: Je mehr der Divisor ver- mindert wird, um so mehr wird der Quotient vergrößert. Wird der Divisor aufs äußerste vermindert, so vergrößert sich der Quotient ') Vgl. L. Rodet in der Abhandlung: L’algebre d’Al- Khärizmi et les methodes indienne et greceque. Journal Asiatique. Tieme serie XI, 21 (1878). ?) L. Rodet, Lecons de calcul d’Aryabhata pag. 9 und 18 figg. ®) Cole- brooke pag. 9, Note 3 und pag. 12, Note 1. *) Ebenda pag. 339—340. °) Ebenda pag. 138. a Ba an nn anne eine ma nn nn Höhere Rechenkunst. Algebra. 617 aufs äußerste. Aber so lange er noch angegeben werden kann, er sei so und so groß, ist er nicht aufs äußerste vergrößert; denn man kann alsdann eine noch größere Zahl angeben. Der Quotient ist also von unbestimmbarer Größe und wird mit Recht unendlich ge- nannt!). Es ist auffallend genug, daß bei so verständiger Auffassung Bhäskara an anderer Stelle?) das Rechnen mit der Null in haar- sträubender Weise mißbraucht und daß auch seine Erklärer nichts dabei zu erinnern wissen. Eine Zahl soll nämlich aus folgenden An- gaben gefunden werden: Ihr Quotient durch Null vermehrt um die Zahl selbst und vermindert um 9 wird zum Quadrat erhoben, alsdann die Wurzel dieses Quadrates hinzugefügt und die Summe mit Null vervielfacht, so soll 90 herauskommen. Die Rechnung ist folgende: x Br x x? & \ ot+#-9 Ist immer noch —, das Quadrat —. Dazu 5 addiert gibt = = - und nach Vervielfältigung mit der Null A +2=%W, woraus =) folgt! Wir sind mit diesem Beispiele schon zur Algebra der Inder übergegangen, welche trotz des wenig bestechenden Einganges, den wir gewählt haben, sich uns in überraschender Entfaltung vorstellen wird. Doch bevor wir uns mit ihr beschäftigen, haben wir zu be- merken, daß die Inder Rechnungsaufgaben mitunter auch in nicht algebraischer Weise lösten, und daß für einzelne Regeln besondere Namen üblich waren, teils auf das Verfahren, teils aber auch weit weniger folgerichtig auf den Inhalt der Aufgaben sich beziehend. Unter den ersteren nennen wir die Umkehrung, vilöma kriyd, bei welcher die Reihenfolge der Operationen, welche vorzunehmen waren um zur gegebenen Zahl zu gelangen, geradezu umgekehrt wird. Aryabhatta gibt in der 28. Strophe seines mathematischen Kapitels?) die Regel in seiner lakonischen Weise: „Multiplikationen werden Divisionen, Divisionen werden Multiplikationen; was Gewinn war wird Verlust, was Verlust Gewinn; Umkehrung.“ Um dieser Kürze die poetisch anmutende Form gegenüberzustellen, welche Bhäskara namentlich in dem Lilävati überschriebenen Kapitel anzuwenden liebt, lassen wir ein Beispiel aus diesem Kapitel folgen*): „Schönes Mäd- chen mit den glitzernden Augen sage mir, so du die richtige Methode der Umkehrung verstehst, welches ist die Zahl, die mit 3 ver- vielfacht, sodann um e des Produktes vermehrt, durch 7 geteilt, um | A i ; . = des Quotienten vermindert, mit sich selbst vervielfacht, um 52 ver- ') Colebrooke pag. 137, Note 2. ?) Ebenda pag. 213. °) L. Rodet, Lecons de calcul d’Aryabhata pag. 14 und 37—38. #) Colebrooke pag. 21. 618 29. Kapitel. mindert, durch Ausziehung der Quadratwurzel, Addition von 8 und Division durch 10 die Zahl 2 hervorbringt.“ Die Rechnung nimmt hier den Gang 4 (2:10 — 8)? +52 196, V196 = 14 und 14:15.:7.2:3= 28 als Anfangszahl. Eine zweite Regel ist das Verfahren mit der angenommenen Zahl, ishta karman; es ist genau dasselbe Verfahren, welches wir (S. 76 und 79) als Methode des falschen Ansatzes bei den Ägyptern kennen gelernt haben, mit dem einzigen Unterschiede, daß jetzt als bewußte Methode auftritt, was ehedem fast instinktiv geübt wurde. So sollen!) 68 erhalten werden, indem man eine Zahl verfünffacht, = des Produktes abzieht, den Rest durch 10 dividiert und I " und % r der ursprünglichen Zahl addiert. Im Rechenbuche von Bakhshäli wäre versuchsweise 1 für die ursprüngliche Zahl gesetzt worden, Bhäskara wählt versuchsweise 5 und erhält so 15, 10, 1 und 3 3 3 a Se El Sei Man muß also mit z in 68 dividieren und den Quotient 16 mit 3 multiplizieren um die Zahl 48 zu finden. Der Kommentator Ganeca bemerkt dazu ganz richtig, daß bei dieser Methode nur Multiplika- tionen, Divisionen und Additionen oder Subtraktionen von Bruch- teilen der Ergebnisse vorkommen dürfen. Die Regeldetri kommt bei Aryabhatta vor?), dann in mehreren Regeln direkten und indirekten Ansatzes zerspaltet und zur Regel mit mehreren Verhältnissen erweitert bei Brahmagupta, bei Gridhara, bei Bhäskara. Wir geben wieder einige Beispiele. „Eine weiße Ameise bewegt sich in einem Tage um die Länge von 8 Gersten- körnern weniger -— eines solchen vorwärts; sie kriecht in 3 Tagen 1 1. Pr 5 . . 0 . um ,, Finger zurück; in welcher Zeit wird sie unter diesen Ver- hältnissen ein Yöjana weit vorrücken“?)? Die Verhältniszahlen sind 8 Gerstenkörner = 1 Finger, 24 Finger = 1 Elle, 4 Ellen = 1 Stab, 8000 Stab = 1 Yöjana und so findet man 98042553 Tage. Die Aufgabe: „Eine 16jährige Sklavin kostet 32 Nishkas, was wird eine 20jährige kosten“*)? wird nach umgekehrter Proportion behandelt, weil „der Wert lebender Geschöpfe (Sklaven und Vieh) sich nach deren Alter regelt“. Das ältere ist das billigere. 1) Colebrooke pag. 23. ®) L. Rodet, Lecons de calcul d’Aryabhata pag. 14 und 37. °) Colebrooke pag. 283, Note 2. *) Ebenda pag. 34. a a un ls nl a deisin en nn Höhere Rechenkunst. Algebra. 619 Von den Regeln, deren Name an die behandelten Gegenstände erinnert, nennen wir die Zinsrechnung, bei welcher ebensowohl die Anrechnung von Zinseszinsen!) als der Zinsfuß von 5 Prozent monatlich?) auffallen mag. ; Wir nennen ferner die Mischungsrechnung von Eßwaren?), wo um eine gegebene Summe etwa Reis und Bohnen im Verhältnisse von 2 zu 1 Maßteilen gekauft werden will, während der Preis dieser Gegenstände einzeln bekannt ist. Dem Gedanken nach können wir eben dazu auch die Aufgaben rechnen, welche wir Brunnenauf- gaben genannt haben (8. 391), die aber bei den Indern keinen ähn- lichen Namen führen®). | Hierher sind auch die Aufgaben über Reihen zu zählen?). Aryabhatta, Brahmagupta und Bhäskara lehren die Summierung der arithmetischen Reihe sowie .auch der von 1 an aufeinander folgenden Quadratzahlen und Kubikzahlen. Mit geometrischen Progressionen hat Bhäskara, hat auch Prithüdaka, ein Erklärer des Brahmagupta, sich beschäftigt‘). Die Ergebnisse gehen in keiner Beziehung über diejenigen hinaus, welche wir bei den Griechen teils genau nach- weisen konnten, teils voraussetzen mußten, weil wir sie bei Epa- phroditus in offenbar erst nachgeahmter Form wiederfanden, während kein Zweifel obwalten kann, daß schon Epaphroditus mehr als ein Jahrhundert früher als Äryabhatta gelebt haben muß. Eine besondere Gruppe von Aufgaben bilden endlich die Ver- setzungen. Wenn man nicht als älteste Spur derselben bei den Indern die 24 Namen gelten lassen will, welche den Abbildungen des Vischnu je nach der Ordnung, gemäß welcher er in seinen vier Händen die Keule, die Scheibe, die Lotosblume und die Muschel hält, bei- gelegt wurden‘), so muß man jedenfalls jene Kapitel der indischen Prosodie hierher rechnen°®), in welchen die verschiedenen Möglich- keiten gezählt werden, welche bei Versen von gegebener Silbenmenge in bezug auf Länge und Kürze der einzelnen Silben auftreten, eine Aufgabe, welche auf Versetzungen teilweise untereinander gleicher Elemente führt. Formeln der Kombinatorik ohne Beweise zusammen- gestellt finden sich bei Bhäskara?). Dort ist die Zahl der Kombi- nationen ohne Wiederholung zu bestimmter Klasse angegeben, dort ) L. Rodet, Lecons de calcul d’Aryabhata pag. 14 und 36—37. ?) Cole- brooke pag. 39. ?°) Ebenda pag. 43. *) Ebenda pag. 42 und 282, Note 1. °) L. Rodet, Lecgons de calcul d’Aryabhata pag. 12—13 und 32—36. Cole- brooke pag. 290 figg. und 51 flgg. 6%) Ebenda pag. 55 und 291, Note. ”) Ebenda pag. 124, Note 1. °) Albr. Weber, Ueber die Metrik der Inder. Indische Studien VIII, besonders 8. 326—328 und 425 flieg. °) Colebrooke pag. 49 und 123—127. 620 29. Kapitel. die Zahl der Permutationen mit lauter ungleichen oder teilweise gleichen Elementen, dort die Summe, welche entsteht, wenn man alle Permutationsformen als dekadisch geschriebene Zahlen betrachtet und zueinander addiert, lauter Dinge, welche in dieser Vollkommen- heit gewiß keinem Griechen jemals bekannt waren, wenn auch, wie wir gezeigt haben, die Meinung aufzugeben ist, als sei den Griechen die Kombinatorik überhaupt durchaus fremd gewesen. Gehen wir nun zu der eigentlichen Algebra der Inder über, so haben wir erstens von ihren Bezeichnungen und Benennungen, zwei- tens von ihrer Auflösung bestimmter Gleichungen, drittens von ihren zahlentheoretischen Kenntnissen zu reden. In den Bezeichnungen und Benennungen ist bei den Indern selbst ein Fortschritt zu erkennen, welcher sie von unvollkommenen Anfängen zu einer Höhe führt, welche die Entwicklung, zu welcher Diophant diese Dinge brachte, ziemlich tief unter sich läßt. Aryab- hatta!) nennt die unbekannte Größe einer Aufgabe: Kügelchen, gulika, die bekannte Größe: mit Zeichen versehene Münzen, rüpakd. Das letztere Wort ist ohne die Anhängsilbe kä, welche im Sanskrit sehr häufig wiederkehrt, als räpa geblieben, das gleiche Wort, welches im Rechenbuche von Bakhshäli die Einheit bedeutete; für die Unbekannte tritt bei Brahmagupta schon das allgemeinere Wort: so viel als (quantum tantum), yävattavat ein. Einen Vergleich mit dem ägyp- tischen hau, dem Diophantischen @oıdudg unterlassen wir, als zu un- bestimmter Natur. Die Inder besaßen für beide Gattungen von Größen, für die bekannte wie für die unbekannte, Zeichen, die in den Anfangssilben jener Wörter rü und yä& bestanden, mithin erst eingeführt worden sein dürften, als gulik& zugunsten von yävattavat abgängig geworden war. Sollten derartige Größen addiert werden, so wurden die zu ‚vereinigenden Ausdrücke ohne weiteres einander nachgesetzt, wie es von Diophant auch geschah. Bei der Subtraktion ist ein Unterschied zwischen der griechischen und der indischen Bezeichnung, welcher zugunsten der letzteren ausschlagen möchte. Wir wissen, daß Diophant das Subtraktionszeichen A dem Abzu- ziehenden vorsetzte, daß bei ihm nur von Differenzen, von abzüg- lichen aber keineswegs von negativen Größen die Rede war (8. 471). Anders die Inder. Bei der Subtraktion wird über den Zahlenkoeffi- zient des Abzuziehenden, seien es rüö oder yü& um die es sich handelt, ein Pünktchen gemacht. Das ist ein so wesentlicher Fortschritt gegen das Kreuz der Subtraktion, von welchem (S. 614) die Rede war, daß er nicht genug hervorgehoben werden kann. Das jüngere !) L. Rodet, Legons de caleul d’Aryabhata pag. 15 und 39—40. Höhere Rechenkunst. Algebra. 621 Pünktchen ist kein Zeichen der Operation, sondern der Zahlenart. Es verwandelt die Subtraktion in eine Addition anders gearteter, entgegengesetzter Größen. Es sind wirklich positive und negative Zahlen, mit denen man operiert. Die positiven Zahlen heißen dhana oder sva, die negativen rina oder kshaya, erstere mit der Bedeutung Vermögen, letztere Schulden bedeutend), Ja die Erläuterung des Gegensatzes positiver und negativer Zahlen durch den Gegen- satz ‚der Richtung einer Strecke ist dem Inder nicht fremd’). Diophant blieb bei der Bezeichnung der ersten Potenz der Unbe- kannten nicht stehen. Ebensowenig tut es der Inder. Allein auch hier ist eine sehr wesentliche Verschiedenheit zwischen beiden Be- zeichnungen. Diophant addiert (S. 470) seine Exponenten; die Inder multiplizieren sie, wenn nicht das Wort ghatä besonders anzeigt, daß eine Addition vorgenommen werden soll. Die zweite Potenz wird durch varga abgekürzt in va, die dritte durch ghana abgekürzt zu gha bezeichnet, Wörter, die uns oben bei der Wurzelausziehung schon bekannt geworden sind. Dann heißt der angedeuteten Regel gemäß va va, va gha, va va va, gha gha die 2:-2=4te, 2.3 — bte. 2.2.2=8te, 3:3 = 9te Potenz, und die zwischenliegenden 5. und 7. Potenz der Unbekannten führen die Namen und Zeichen va gha ghata, va va gha ghata. Über diese Potenzbezeichnung hinaus hat sich aber der Inder auch noch zu einer Bezeichnung der irratio- nalen Quadratwurzel einer Zahl mit Hilfe des Wortes karana, geschrieben ka, emporzuschwingen gewußt. Die Bedeutung dieses Wortes, welches mit dem Zeitwort machen in Verbindung steht, deutet allerdings darauf hin, daß hier das indische Zeichen einem griechischen Begriffe nachgebildet sei, daß man die Länge sucht, welche eine gewisse Oberfläche als ihr Quadrat macht; denn wenn der Grieche hier auch können zu sagen liebt, so steht dem doch der Ausdruck 6 &mo tig «ß d. h. das von der Strecke «ß gemachte Quadrat zur Seite?). Der Inder hat ferner ein Zeichen der Multipli- kation in dem den Faktoren nachzusetzenden Worte bhävita, das Her- vorgebrachte, geschrieben bhäd. Dieselbe Silbe war (S. 614), als An- fang eines anderen Wortes, Divisionszeichen. Er hat endlich eine unterscheidende Bezeichnung für mehrere Unbekannte, indem nur die erste, häufig alleinige Unbekannte yävattävat heißt, während die übrigen nach Farben unterschieden werden*): die schwarze kälaka, die blaue nilaka, die gelbe pitaka, die rote lohitaka, die grüne hari- taka regelmäßig durch die Anfangssilbe bezeichnet, eine Bezeichnungs- ) Colebrooke pag. 131, Note 1. ?) Ebenda pag. 71, 8166. °)L. Rodet, Lecons de caleul d’Aryabhata pag. 31. *) Colebrooke pag. 139 und 348 flgg. 622 29. Kapitel. weise, deren ganz allgemeine Übung zu dem Rückschlusse geführt hat, es müßten auch die indischen Zahlzeichen ursprünglich Anfangs- ‚silben der betreffenden Zahlwörter gewesen sein. Als Beispiel der eben erwähnten mehrere Unbekannte umfassenden Schreibweise mag yü kä bhä gelten d. h. die Unbekannte mit der Schwarzen in Ver- vielfachung oder x mal y. Die Gleichsetzung zweier Zahlen vollzog Diophant durch das Wort ioo:, mitunter zu ı abgekürzt. Auch dem Inder fehlt nicht ein Wort dieser Bedeutung: in Gleichgewicht, tulyau, heißen die beiden Glieder, pakshau'), aber sie bedürfen dessen beim Schreiben nicht. Sie setzen die einander gleichen Ausdrücke unmittelbar untereinander ohne jedes vermittelnde Wort, allerdings auch ohne Gleichheitszeichen. Sie scheuen es dabei nicht eine nega- tive Zahl allein die eine Seite einer Gleichung bilden zu sehen, wenn sie auch freilich rein sinnlich genommen dieselbe selten allein sehen, indem meistens die nicht vorkommenden Glieder mit dem Koeffi- zienten O0) behaftet angeschrieben werden. Soll also bei Brahmagupta aus 10x — 8= x” +1 die Folgerung — 9 = x — 10x gezogen werden?), so schreibt er 0 +102x—8=1x2°+0x2+1 und damn erst — 9= x? — 10x oder in indischer Weise | yä va 0 yü 10 rü 8 und dann rü 9 yavalya Orül ya va 1 ya 10. Negative Wurzeln einer Gleichung waren, wenn auch nicht streng verpönt, doch auch nicht gestattet; man darf vielleicht sagen, sie wurden mit Bewußtsein ihres Vorkommens beseitigt: „Absolute negative Zahlen werden von den Leuten nicht gebilligt“?). Damit sind wir aber schon bei der Auflösung bestimmter Gleichungen angelangt. Die Inder behandelten solche von ver- schiedenen Graden. Eine Grundoperation ging immer voraus. Nach- dem nämlich der Ansatz vollzogen war, zog man entsprechende Teile voneinander ab; Vielfache des Quadrats der Unbekannten, Vielfache der Unbekannten, Bekanntes wurden bei der dafür ungemein be- quemen indischen Anordnung voneinander subtrahiert, und man nannte dieses sima cödhanam d. h. Abziehung des Ähnlichen. Mit Fug und Recht hat man diesen Ausdruck neben das diophantische „Gleichartiges von Gleichartigem“ (S. 472) gestellt). Es ist gewiß uicht zu weit gegangen, wenn man behauptet von den Wörtern sdma cödhanam und db Öuolov Öuoı« sei das eine die Übersetzung des andern, und warum wir geneigt sind Diophant als selbständigen !) L. Rodet, L’algebre d’ Al-Khärizmi pag. 17. °) Colebrooke pag. 346 bis 347, 849. °) Ebenda pag. 217, $140. *) L. Rodet, L’algebre d’Al-Khärizmi pag. 49. Höhere Rechenkunst. Algebra. 623 Schriftsteller zu betrachten, haben wir früher (8. 465) erörtert. Hier wäre somit schon eine von den verheißenen Spuren griechischer Algebra auf indischem Boden, hier eine Spur indischen Fortschrittes in Gestalt ihrer Anordnung. Aryabhatta hat in seiner 31. Strophe ein merkwürdiges Beispiel aufgestellt!): „Teile bei entgegengesetzter Bewegung die Entfernung durch die Summe der Geschwindigkeiten, bei übereinstimmender Bewegung teile die Entfernung durch die Differenz der Geschwindigkeiten; die zwei Quotienten sind die Be- gegnungszeiten der beiden in der Vergangenheit oder Zukunft“, das ist die allgemein gestellte Aufgabe der beiden Kuriere, wie richtig erkannt worden ist. Hat aber Aryabhatta diese Aufgabe gleichungsweise gelöst in der Weise, wie wir soeben zu erörtern an- gefangen haben, oder hat er nur eine von auswärts erhaltene Regel wiederholt? Eine bestimmte Antwort läßt sich noch nicht geben. Jedenfalls ist bei Brahmagupta die Gleichung als solche vorhanden. Viermal der zwölfte Teil ener um 1 vermehrten Zahl wird um 8 vergrößert, um die um 1 vermehrte Zahl zu finden?). Die Zahl y& wird um 1 vermehrt zu y& 1 rü& 1. Dann teilt man yalrül durch 12 und vervielfacht mit 4 zu 5 ‚ vermehrt um 8 zu yaılrü 25 3 Das soll aber dem ya 1 rü 1 gleich sein, mithin ist: ya 1 rü 25 yasrü 3. Der Ansatz ist soweit vollendet und nun heißt es weiter: Der Unter- schied der Unbekannten ist y& 2; hierdurch der Unterschied der be- kannten Zahlen nämlich 22 geteilt gibt die Zahl 11. Bhäskara hat mit Vorliebe Textaufgaben behandelt, deren Form dem poetischen Gewande, in welchem das Ganze erscheint, sich trefflich anpaßt. Wie er das Kapitel der Rechenkunst Lilävati, die Reizende, genannt hat, und von den glitzernden Augen der Schönen (8. 617) im Zusammen- hang mit dem Umkehrungsverfahren zu reden wußte, so stellt er auch folgende auf eine Gleichung ersten Grades führende Frage°): „von einem Schwarm Bienen läßt 4 sich auf einer Kadambablüte, + auf der Silindhablume nieder. Der dreifache Unterschied der beiden Zahlen flog nach den Blüten eines Kutaja, eine Biene blieb übrig, welche in der Luft hin und herschwebte gleichzeitig angezogen durch den lieblichen Duft einer Jasmine und eines Pandamus. Sage ') L. Rodet, Lecons de caleul d’Aryabhata pag. 15 und 41—42. ?) Cole- brooke pag. 344, $45. °) Ebenda pag. 24—25, $ 54. 624 29. Kapitel. mir, reizendes Weib, die Anzahl der Bienen“ Er ahmt übrigens selbst nur (ridhara darin nach, auf welchen folgende Aufgabe ihrer wesentlichen Form .nach zurückzuführen ist!): „Bei ver- liebtem Ringen brach eine Perlenschnur; : der Perlen fiel zu Boden, + blieb auf dem Lager liegen, = rettete die Dirne, n nahm der Buhle an sich, 6 Perlen blieben aufgereiht; sage, wie viele Perlen hat die Schnur enthalten?“ Bisher trat nur eine Unbekannte auf. Eine Aufgabe, welche mehrere Unbekannte bestimmt wissen will, ist diejenige, welche Aryabhatta in seiner 29. Strophe uns erhalten hat?): „Die Summe einer gewissen Anzahl von Größen je um eine derselben vermindert, alle vereinigt, man teilt durch die um 1 verringerte Anzahl der Größen, man hat die Summe.“ Wir fürchten keinen Widerspruch, wenn wir in dieser Aufgabe und in dem Epantheme des Thymaridas (S. 158) so nahe Verwandte erkennen, daß an einen Zufall nicht zu denken ist. Vollkommen ist zwar die Übereinstimmung nicht. Nennen wir s wieder die Summe der n Unbekannten &,, 75, ''%, und die Differenzen su, =d, s-—R=d, 5 —2,=d,, 80 behauptet Aryabhatta, es sei s- Ara T 0 nd fügt hinzu, n—'} daß durch einzigweise Subtraktion von d,, d,, ::-d, von dem so gefundenen s die Unbekannten z,, %, »'- x, erhalten werden können; aber nur um so wahrscheinlicher wird dadurch, was auch durch die selbst nur mangelhaft bekannte, jedenfalls aber sehr frühe (8. 158) anzusetzende Lebenszeit des Thymaridas an die Hand gegeben wird, daß dieser Pythagoräer der Erfinder war, als welchen Jamblichus ihn ausdrücklich nannte, daß Äryabhatta in echt indischer Weise, genau so wie Albirüni es uns schildert (S. 597), das Erlernte un- kenntlich zu machen wußte. Ist aber diese Folgerung gerecht- fertigt, so ist eine neue Spur griechischer Algebra in Indien auf- gedeckt, und damit immer größere Sicherheit gewonnen, daß wirk- lich auf diesem Gebiete die Inder von den Griechen lernten, keines- wegs aber umgekehrt, und daß die Inder alsdann nur, wie wir wiederholt erklären, in dem ihrer Geistesrichtung besonders zusagen- den Gedankenkreise überraschende Fortschritte auf eigenen Füßen machten. So glauben wir auch deutlich die griechische Auflösung der quadratischen Gleichung, wie Heron (8. 405), wie Diophant ') Colebrooke pag. 25, Note 5. ?) L. Rodet, Legons de caleul d’Aryab- hata pag. 14—15 und 38—39. Höhere Rechenkunst. Algebra. 625 (S. 474) sie übte, in der mit ihr nicht bloß zufällig übereinstimmen- den Regel des Brahmagupta zu erkennen'): „Zu der mit dem Koeffi- zienten des Quadrates vervielfachten absoluten Zahl füge das Quadrat des halben Koeffizienten der Unbekannten. Die Quadratwurzel dieser Summe weniger dem halben Koeffizienten der Unbekannten ge- teilt durch den Koeffizienten des Quadrates ist die Unbekannte.“ D. h. aus Verrl- a * a0 +-br=c folgt = | Bei Aryabhatta ist die gleiche Auflösungsmethode wenigstens vorausgesetzt?), da die in seiner 20. Strophe gelehrte Auffindung der Gliederzahl einer arithmetischen Reihe aus Summe, Differenz und An- fangsglied die vorhergehende Möglichkeit eine unreine quadratische Gleichung auflösen zu können in sich schließt. Cridhara hat Brahmaguptas Regel verbessert?), indem er die ge- gebene Gleichung statt mit a sogleich mit 4a vervielfachen läßt, wo- durch die Möglichkeit Brüche unter dem Wurzelzeichen zu erhalten verschwindet; aus a0? +bx=c erhält er nämlich 4a?a? +4abx = 4ac oder (2ax) + 2b: (2ax) =4ac, also auch (2ax +5)? —4ac+ 5? und „FÜ ZP. Die Br gänzung des quadratischen Teiles, welche in Wirklichkeit dahin führt statt eines quadratischen Gliedes und eines Gliedes mit der ersten Potenz der Unbekannten nur das Quadrat eines Binoms ersten Grades als unbekannt aber bestimmungsfähig zu erhalten, wird seit Brahma- gupta „Wegschaffung des mittleren Gliedes“, madhyama hara- nam, genannt?). Der wichtigste Fortschritt, welchen die Lehre von den unreinen quadratischen Gleichungen schon bei Brahmagupta vollzogen hat, be- steht aber darin, daß die drei verschiedenen Formen (S. 473) a? +br=c, be t+c=ar, a®+c=bzx verschwunden sind, wie ‘es vermöge der Gewohnheit mit. negativen Zahlen zu rechnen gestattet war. Nun ist Bhäskara noch wesentlich über Brahmagupta hinaus- gegangen. Er kennt die bei den Quadratwurzeln sich ergebenden Doppelsinnigkeiten und Unmöglichkeiten. Er faßt sie in die Regel’): „Das Quadrat einer positiven wie einer negativen Zahl ist !) Colebrooke pag. 346, 848. °) L. Rodet, Lecons de caleul d’Arya- bhata pag. 13 und 33. °) L. Rodet, L’algebre d’ Al-Khärizmi pag. 71. *) Ebenda pag. 76. °) Colebrooke pag. 135. CANTOoR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 40 626 29. Kapitel. positiv, und die Quadratwurzel aus einer positiven Zahl ist zwiefach, positiv und negativ. Es gibt keine Quadratwurzel aus einer negativen Zahl, denn diese ist kein Quadrat.“ Dementsprechend kennt er die paarweise auftretenden Wurzeln einer quadratischen Gleichung, gibt sie aber aus dem oben angegebenen Grund, daß „absolute negative Zahlen von den Leuten nicht gebilligt werden“, nur dann an, wenn beide Wurzelwerte positiv ausfallen und keinen Durchgang durch ein Negatives voraussetzen; er folge dabei Padmanäbha!). Folgende Beispiele mögen die Meinung der einschränkenden Klausel erläutern ?). „Der 8. Teil einer Herde Affen ins Quadrat erhoben hüpfte in einem Haine herum und erfreute sich an dem Spiele, die 12 übrigen sah man auf einem Hügel miteinander schwatzen. Wie stark war die Herde?“ Hier gibt es zwei Auflösungen: 48 und 16. „Das Quadrat des um 3 verminderten 5. Teiles einer Herde Affen war in einer Grotte verborgen, 1 Affe war sichtbar, der auf einen Baum geklettert war. Wieviele waren es im ganzen?“ Bhäskara sagt 50 oder 5, aber der zweite Wurzelwert dürfe nicht genommen werden. Ein Kommentar erklärt uns, wie das gemeint sei. Man könne den 5. Teil von 5, oder 1, nicht um 5 vermindern, ohne daß, wenn auch nur vorübergehenderweise, die absolute negative Zahl — 2 auftrete. Bhäskara hat auch an anderer Stelle?) gezeigt, wie mit Hilfe der Formel re Ve ere Quadratwurzeln aus Summen rationaler und irrationaler Zahlen ge- zogen werden können, und hat die Wurzelausziehung auf noch ver- wickelter zusammengesetzte Größen wie V10+y24+Yy40+y60=-y2+Yy3+Y5 ausgedehnt. Er erklärt diese Darstellung ausdrücklich für seine Er- findung, welche aber einer sehr behutsamen Benutzung bedürfe, widrigenfalls man zu falschen Ergebnissen geführt werde; die Er- zielung eines solchen beweise alsdann, daß eine Wurzelausziehung eben nicht gelinge, und alsdann müsse man sich damit begnügen statt der einzelnen vorkommenden Irrationalitäten deren Näherungs- werte in Rechnung zu haben. Das Rechnen mit Irrationalgrößen führt Bhäskara ferner zu der Aufgabe, Brüche rational zu machen‘). Man soll Zähler und Nenner ı) Colebrooke pag. 218, $ 142. °) Ebenda pag. 215—217. °) Ebenda pag. 149—155. Die Bemerkung über falsche Ergebnisse pag. 155, $51. *) Ebenda - pag. 147, $ 34—35. Höhere Rechenkunst. Algebra. 627 mit einem dem Nenner ähnlichen Ausdrucke vervielfachen, bei welchem nur das Vorzeichen einer Irrationalzahl entgegengesetzt gewählt wird, und soll dieses Verfahren so lange fortsetzen, bis man wirklich im- stande sei die noch geforderte Division zu vollziehen. Endlich ist bei Bhäskara noch ein letzter großer Fortschritt vor- handen. Er hat auch Gleichungen von höherem als dem zweiten Grade in Angriff genommen!). So z. B @®+122x=6x° +35. Er zieht 6x? + 8 auf beiden Seiten ab und gewinnt so > —-6° +12 —-8= 27, wo beiderseits vollständige dritte Potenzen erscheinen, nämlich (x — 2)’ = 3°. Die Kubikwurzelausziehung gibt ihm x —2=5, woraus endlich <—=5 folgt. Ähnlich behandelt er «+ — 2 (x + 200x) = 9999. Er addiert auf beiden Seiten 4x? + 400x +1 und gewinnt dadurch nach vollzogener Umformung (2? + 1)? = (2x + 100). Quadrat- wurzelausziehung führt zu der selbst noch quadratischen Gleichung x“ +1=2x2+100, aus welcher =11 folgt. „In diesem Falle bedarf es des Scharfsinnes“ sagt Bhäskara, und man kann ihm diese kleine Ruhmredigkeit nicht verargen. Es ist nicht unmöglich, dab Diophant, welcher gleichfalls eine kubische Aufgabe gelöst hat (S. 478), den Anstoß auch zu diesen Untersuchungen gab, aber wieder ist ein ungeheures Mehr auf seiten Bhäskaras zu verzeichnen. Er hat einen Kunstgriff erdacht, den er uns ausdrücklich kennen lehrt, und der richtig gehandhabt zu einer Methode der Gleichungs- auflösung werden konnte. So ist wohl nach beiden Seiten hin gerechtfertigt, was wir über die Algebra bestimmter Gleichungen angekündigt haben: daß manches davon griechischer Herkunft zu sein scheint, daß die Inder mit dem ihnen fremd Zugetragenen staunenswerte eigene Leistungen zu ver- binden wußten. Noch bedeutender ist es, was die Inder in der Zahlentheorie leisteten, in welcher sie uns zum ersten Male Gelegenheit geben werden, wirkliche allgemeine Methoden kennen zu lernen. Zwei Be- merkungen müssen wir vorausschicken. In den indischen Schriften, welche uns bekannt sind, kommen die altpythagoräischen Zahlen- betrachtungen nicht vor. Den vermutlich späteren Begriff vollkom- mener oder befreundeter Zahlen aufzustellen, ist, soviel wir wissen, keinem Inder in den Sinn gekommen. Auch figurierte Zahlen kommen ) Colebrooke pag. 214—215. 40* 628 29. Kapitel. als solche kaum vor, jedenfalls nicht in der Ausdehnung, in welcher Diophant sich mit ihnen beschäftigte. Nur die Summierung nn+1) _nan+Dm+D _ mt m+1) 143464... 47, = : — ; als Anzahl der Kugeln in einem dreieckigen Haufen ist seit Arya- | bhattas 21. Strophe!) bekannt, aber von Fünfeckszahlen oder gar meckszahlen ist nirgend die Rede. Einen Griechen und Indern ge- meinschaftlichen Gegenstand der Untersuchung bildet nur die Auf- findung rationaler rechtwinkliger Dreiecke’). Das ist das eine, was wir uns merken wollten. Zweitens aber ist ein noch viel grundsätz- licherer Widerstreit zwischen indischer und griechischer Zahlentheorie vorhanden. Für die unbestimmte Analytik ist nämlich die Bedingung ganzzahliger Auflösungen maßgebend, eine Forderung, welche Diophant (S. 478) niemals stellt und nur ausnahmsweise erfüllt. Das sind so wesentliche Gegensätze, daß wir auf diesem Gebiete fast nur selbständige Leistungen im Westen wie im Osten zu erwarten haben. Gehen wir jetzt darauf aus, einen Überblick über die indischen Leistungen in der unbestimmten Analytik zu gewinnen, und beginnen wir mit den unbestimmten Gleichungen ersten Grades. Schon Aryabhatta hat sich in der 32. und 33. Strophe seines mathema- tischen Kapitels mit solchen Gleichungen beschäftigt?) und dabei eine Methode in Anwendung gebracht, der Brahmagupta wahrschein- lich den Namen Zerstäubung, kuttaka, beigelegt hat, unter welchem sie sich auch bei Bhäskara auseinandergesetzt findet‘). Bhäskara beginnt ihre Darstellung mit der Aufgabe, das gemeinschaftliche Maß zweier Zahlen zu finden. Diese löst er, wie sie eben gelöst werden muß, wie Euklid verfuhr, wie auch Bhäskara sehr wohl selbständig erdacht haben oder von selbständigen indischen Vormännern über- nommen haben kann. Er vollzieht fortlaufende Divisionen des früheren Divisors durch den bei Teilung mittels desselben verbliebenen Rest, und der letzte dieser Reste ist der gesuchte größte gemeinsame Divisor der beiden gegebenen Zahlen. Durch ihn verkleinert werden sie feste Zahlen, dridha, oder teilerfremd, ein Begriff, den Brahma- gupta durch die Namen niccheda oder nirapavarta dem deutschen Worte entsprechender bezeichnet’). Soll nun eine Zerstäubungsauf- gabe gelöst werden, so muß vor allen Dingen Dividend, Divisor ) L. Rodet, Legons de calcul d’Aryabhata pag. 13 und 35. ®) Cole- brooke pag. 306, $ 35 und pag. 340, $ 38. ®) L. Rodet, Legons de calcul d’Aryabhata pag. 15 und 42—46. °) Colebrooke pag. 112flgg. °) Ebenda pag. 330, Note 3. { 7 » Höhere Rechenkunst. Algebra. z 629 und Additive durch dieselbe Zahl verkleinert werden können. „Mißt die Zahl, welche für Dividend und Divisor das Maß ist, die Additive nicht, so ist die Aufgabe schlecht gestellt.‘“ Die Meinung dieses Satzes, von welchem übrigens so wenig wie von der eigentlichen Methode ein Beweis gegeben ist, besteht darin, daß wenn ax +b=cy in ganzen Zahlen lösbar sein soll, jeder Teiler des Dividenden a und des Divisors ce auch in der Additiven b enthalten sein muß, daß es also möglich sein muß, durch Verkleinerung der vorgelegten Glei- chung mittels des größten gemeinsamen Teilers von « und c diese beiden Koeffizienten teilerfremd zu machen. Denkt man sich diese Vorbereitung getroffen, so muß bei der nunmehr erfolgenden Auf- suchung des größten gemeinsamen Teilers der neuen «a und c nach dem euklidischen Kettenbruchverfahren schließlich der Rest 1 auf- treten. Die einzelnen Quotienten der aufeinanderfolgenden Divisionen seien 9, 99, - --G,, die entsprechenden Reste r,, r,, ...r,, wo also r„— 1 sein muß. Man schreibt die Quotienten in ihrer Reihenfolge in eine Zeile und fügt am Schlusse noch die Additive b und eine Null bei, so daß diese letztere eingeschlossen n + 2 Zahlengrößen in einer Zeile nebeneinander stehen. Nun vervielfacht man das dritt- letzte Glied mit dem vorletzten und addiert das letzte, streicht das letzte ganz und ersetzt das drittletzte durch die eben gefundene Zahl. Man hat mithin jetzt eine Zeile von n+1 Zahlengrößen vor sich, an welcher man das eben erläuterte Verfahren, welches die Anzahl wieder um eins verringert, wiederholt. Das setzt man so fort bis schließlich nur zwei Zahlen in der Zeile sich be- finden, und nun hat man zwei Fälle zu unterscheiden. War n gerad, so ist von beiden Zahlen die erste y, die zweite x. War n ungerad, so muß man die erhaltenen Werte von a und von ec abzählen, um die richtigen y und x zu finden. Eine Verminderung des gefundenen y um den Betrag eines Vielfachen von a, während von x das Gleichvielfache von c abgezogen wird, ist in beiden Fällen gestattet. Ein Beispiel, welches zu einem geraden » führt, ist!) 1002 + 90 = 63y. Die Division 100:63 gibt den Quotienten q, —=1 und den Rest r,— 51. Die folgenden Quotienten und Reste sind ,—1, r, = 26; 5=1, n=-1l; u=2, n=4; 5-2, ,=5; 6-1, rl, mithin 2 —=6. Die zu bildenden Zahlenreihen sind: ') Colebrooke pag. 115, $ 255. 630 29. Kapitel. 1, ae, sch a RD DO DS Or 9 DE 28 230,00, ge rg a U FTR 2: 270+ 90= 630 1 4 7.0020 1: 630 +270— 900 1, 1, 900, 630. 1: 900 + 630 = 1530 1, 1530, 900. 1: 1530 + 900 — 2430 2430, 1530. x=1530 y- 2430. Nun zieht man 24-100 von y, 24-63 von x ab und erhält die kleineren Werte = 18, y= 30. Zu einem ungeraden n führt): 60%x+16=13y. Hier ist nämlich ,=4 n—=-8 9-1, n-5 9-1, n=3; q=-1, r,=2;,=1,r,=1 undn=5. Die Rechnung stellt sich daher folgendermaßen: " ayaaep Diaber BSG DR ee 0 1:16 0:16 2:33.01 1030 1-36 +16: 83 .1:.%,88,18 ERDE IS ie 48 4, 1, 48, 32. 1,4832 =.,80 4, 80, 48. 4:80 + 48 = 368 368, 80. 13-0 = -67=-x 60-368 = — 308 —y Diesmal addiert man 6-60 zu y, 6-13 zu x und erhält die Werte s=11, y= 252. Die Zerstäubungsmethode stimmt, wie vielfach bemerkt worden ist, in ihrem ganzen Gange mit der Methode der Auflösung unbe- stimmter Gleichungen ersten Grades durch Kettenbrüche überein, wie sie in jedem Lehrbuche der Zahlentheorie erörtert ist; wir können den Nachweis ihrer Richtigkeit füglich übergehen. Wir übergehen auch die unbestimmten Gleichungen ersten Grades mit mehr als zwei Unbekannten, welche Äryabhatta wie Brahmagupta schon kannten ?) und in wesentlich der gleichen Art behandelten, wie die Zerstäubungs- methode es für zwei Unbekannte vorschreibt. Wir gehen zu den unbestimmten Gleichungen zweiten Grades über. Brahmagupta behandelt hier zuerst solche Gleichungen, welche nur das Produkt der beiden Unbekannten unter sich als qua- dratisches Glied enthalten und dann erst solche, in welchen die Quadrate der Unbekannten vorkommen?). Bhäskara schlägt den ent- !) Colebrooke pag. 116, $ 257. °) L. Rodet, Legons de calcul d’Arya- bhata pag.15 und 43. Colebrooke pag. 348—360: Equation of several colowrs. ») Ebenda pag. 361—362: Equation involving a factum und 363—372: Square affected by coeffieient. Höhere Rechenkunst. Algebra. 631 gegengesetzten Weg ein, indem er zuerst mit Aufgaben von der Form a®®+b=cy?’, dann erst mit solchen wie zy=ax+by+ ec sich beschäftigt!). Bei der Auflösung dieser letzteren bedient er sich entweder des Verfahrens die eine Unbekannte, etwa %, ganz willkür- by+c lich anzunehmen und alsdann 2 = _ pi setzen, wobei freilich ganzzahlige Lösungen nur infolge gün- . H : stigen Zufalles auftreten, oder aber er 5 geht von einer auffälligen Verbindung 2, geometrischer und algebraischer An- schauungen aus, die zugleich Methode F und Beweis derselben enthalten (Fig. 81). ei = In dem Rechteecke ABCD sei die Basis AB=x, die Höhe BC=y, so ist die Fläche xy. Ist nun DE=a, AG=b, so ist ÖDEF=az, AGHD=by und ax + by — G@nomon OFIGADC+ DEIH, oder da DEIH=ab, so ıst Gnomon CFIGADC=ax+by— ab. Zieht man diesen Gnomon von dem ursprünglichen Rechtecke ABCD=xy ab, so bleibt das Rechteck BFIG =zy—ax—by-+ ab, welches als aus den Seiten x —b und y—a bestehend auch die Fläche (x — b)- (y— a) besitzt. Nach dem Wortlaute der Aufgabe ist aber zy— ax —by+ab=c + ab, mithin ist auch (e —b):-(y—a)=c-+ ab. Man hat also nur ce-+t ab nötig c+ ab in zwei Faktoren, etwa m und zu zerlegen und den einen mit <— b, den anderen mit y— a zu identifizieren. So entsteht entweder 2 — b = ge y—a=m oder y—u= nn : x—b= m; beziehungsweise entweder <= ee & ” es y=atm oder e+a(b-+ m) z=b+m, y= mM und die Lösungen werden ganzzahlig, wenn m ein ganzzahliger Faktor von c + ab ist. Wir haben bei dieser Auseinandersetzung des griechischen Wortes Gnomon uns bedient. Bei Bhäskara entspricht demselben kein eigen- tümlicher indischer Ausdruck. Er spricht vielmehr nur von dem Unterschiede der Rechtecke ABCOD und BFIG. Wir haben die nicht unbedeutende Abweichung von dem Urtexte uns gestattet, um damit unsere Auffassung kund zu geben, daß wir nicht umhin können, ) Colebrooke pag. 170—184: Affected square, 245—267: Varieties of quadratics, 268—274: Equation involving a factum of unknown quantities. 632 29. Kapitel. in diesem nichts weniger als indischen Verfahren griechische Erinne- rungen zu vermuten. Die indische Auflösung der Gleichungen von der Form ax” +b=cy? hier ausführlich mitzuteilen, würde uns viel zu weit führen. Wir begnügen uns mit wenigen Andeutungen. Bhäskara kennt das, was wir quadratische Reste!) und das, was wir ku- bische Reste?) nennen, insofern als er weiß, daß es Zahlen von gewissen Formen gibt, die Quadrate und Kuben sein können, und andere, bei welchen das Entgegengesetzte stattfindet. Er lehrt in der zyklischen Methode?), wie die Gleichung ax +1=y? ge- löst werde, ausgehend von einer beliebigen empirisch gegebenen Gleichung a4?+ B=(#, welche nur so gewählt worden ist, daß die keinen quadratischen Faktor enthaltende Zahl B so klein als möglich ausfällt, ein Verlangen, zu dessen Erfüllung es genügte Va näherungsweise in Bruchgestalt etwa als _ zu suchen, und Zähler und Nenner dieses Bruches in der versuchsweise aufzustellenden Glei- chung ihren Platz anzuweisen. Aus der für D ausgesprochenen Be- dingung folgt von selbst ihre Teilerfremdheit gegen A. Besäßen nämlich A und B einen gemeinsamen Teiler d, so müßte derselbe wegen a4A?+B=(? auch in C enthalten sein. In A? wäre 0°, ebendasselbe auch in ©? und schließlich auch in D enthalten. Nun setzt man rn — A,, wobei durch Zerstäubung 2, nebst A, ganz- zahlig gefunden werden, und zwar wählt man von den unendlich vielen möglichen Werten von z, einen solchen, der 2,’ — «a kleinst- möglich macht. Setzt man hierauf a = —B, so ist D, eine ganze Zahl. Der indische Schriftsteller gibt allerdings dafür so wenig wie für die vorhergehende Teilerfremdheit zwischen A und B ; ; ie A © einen Beweis, aber die Sache ist richtig. Aus \ a — A, folgt nämlich a, BA? —2BO0A, +0’ — aA? ee SR 4? Br BA—2BOA+B_(BA—2CAH+N,g EEE IE Nun ist 2? — a eine ganze Zahl, also muß das Gleiche für den zu- letzt erhaltenen Ausdruck gelten, und das kann, weil, wie wir sahen, 1) Colebrooke pag. 262—263, $ 202—204. *) Ebenda pag. 265, $ 206. ») Ebenda pag. 175flgg. H. Konen, Geschichte der Gleichung — Du’—=1 (Leipzig 1901). Höhere Rechenkunst. Algebra. 633 B gegen A teilerfremd ist, nur dann der Fall sein, wenn A? in BA? — 20A, +1 ganzzahlig enthalten ist. D.h. 2 BA? — 204 +1 i aa B, ka i 75 Fr ist eine ganze Zahl. Ersetzt man rechts B wieder durch 0? — a4?, so zeigt sich 0? 43 — a4?47 — 204 1 CA, —1N? b, = 1 43 1 *H IE ( F ) BE aA? oder CA, — 1N2 al+B-(y—) =. CAhrnä Auch (, =, — muß als rationale Quadratwurzel der ganzen Zahl aA? + B, selbst ganzzahlig sein. Somit ist aus der lauter ganze Zahlen enthaltenden Gleichung «4?+ B= (? eine neue Glei- chung a4? + B, = (? hervorgegangen, in der wieder nur ganze Zahlen vorkommen. Man kann nun in gleicher Weise andere und andere ähnlich geformte Gleichungen ableiten, man kann aber auch gewonnene Gleichungen nach einem anderen Natz vereinigen. Dieser Satz lautet!),, daß a +b,=vi und au +b,=v} die Folge- rung ad +b=n% gestatten, ww = Un + WU, ds =bb,, % = QAU;U; + %%. Durch solche Veränderungen und Divisionen, wo immer sie möglich sind, kann man bis auf eine Gleichung ax +1=y? geführt werden und hat alsdann die Aufgabe gelöst. Allerdings wird dieses indische Verfahren nicht stets zum Ziele führen, namentlich nicht nach ganz vorschriftsmäßigen Regeln die Wurzeln. der Gleichung ax? +1=y? finden lassen. Vieles bleibt dem Takte des Auflösenden überlassen. Mit Recht sagt auch Bhäs- kara an einer anderen Stelle?): „Die Regeldetri ist Arithmetik, die Algebra aber ist makelloser Verstand. Was wäre dem Scharfsinnigen unbekannt?“ Wird übrigens bei der Gleichung az°+1=y* kein Gewicht auf die Ganzzahligkeit der Lösungen gelegt, so kann immer ohne weiteres ein genügendes Wurzelpaar angeschrieben werden’). Aus a4?+ B=(? in Verbindung mit der noch einmal gesetzten unveränderten Gleichung ergibt sich nämlich nach der erwähnten Vereinigungsregel: «a - (2AC)’ + B?= (a4? + C?)? und daraus 2A0\? aA?’ + ON? ee Überblieken wir alle diese Untersuchungen, welche natürlich, so algebraisch begabt wir die Inder uns denken mögen, die Kraft der bedeutendsten Geister in um Jahrhunderte weit auseinander liegenden ') Colebrooke pag. 171, 8 77-78. ?) Ebenda pag. 276. ®) Ebenda pag. 172, 8 80-81. 634 29. Kapitel. Zeiten in Anspruch genommen haben können, so ist ein nicht un- bedeutendes Interesse mit der Frage verknüpft, wo denn die Wurzel aller zahlentheoretischen Untersuchungen für die Inder lag)? Die unbestimmten Gleichungen zweiten und höheren Grades sind wohl nichts weiteres gewesen als siegreiche Erfolge einer Spekulation, welche wachgerufen war durch Aufgaben, die nur auf unbestimmte Gleichungen vom ersten Grade geführt hatten. Diese aber waren vermutlich astrologisch-chronologischer Natur. Die Astronomen, welche, wie wir uns erinnern, alle diese Gegen- stände in eingeschalteten Kapiteln ihrer Astronomien zu behandeln pflegten, haben wenigstens, je weiter wir im Datum zurückgehen können, um so ausschließlicher die Zerstäubungsrechnung auf um- gekehrte Kalenderaufgaben angewandt, auf die Frage, wann gewisse Konstellationen am Himmel eintreten, wann also bedeutungsvolle Übereinstimmung verschiedener Zyklen erreicht wird? Das sind, wie man leicht einsieht, Fragen, bei denen es darauf ankommt, aus ge- gebenen Resten, welche eine unbekannte ganze Zahl bei Division durch bekannte ganze Zahlen gibt, jene Zahl selbst zu erkennen. Ist aber diese ganze Klasse von Aufgaben indisch? Wir können die Frage weder bejahen noch verneinen. Zu beidem fehlt die nötige Reichhaltigkeit gesicherter altertümlicher Quellen. Wir können nur darauf hinweisen, daß die Beantwortung dieser Frage nicht früher wird gegeben werden können, als bis man entschieden haben wird, ob die altindische Sternkunde lange bevor griechische Einflüsse sich geltend machen konnten landesursprünglich oder fremden Ursprunges, ob sie, wenn letzteres der Wahrheit entsprechen sollte, chinesischer oder babylonischer Herkunft war. Wir fühlen uns nicht befugt in dieser hochwichtigen Streitfrage das Urteilsrecht uns anzumaßen. Nur auf einige wenige Punkte sei aufmerksam gemacht, die unter den Entscheidungsgründen keinenfalls fehlen dürfen. Fehlen darf nicht die Berücksichtigung der Sexagesimalbrüche, welche mit Wahr- scheinlichkeit unmittelbar aus Babylon nach Indien herüberkamen (S. 613). Verschwiegen darf nicht werden, daß astrologische Deu- tungen, daß Amulette und Talismane gerade in Babylon zu Hause waren, daß andererseits Zahlenspielereien den Babyloniern ebenso an- gehörten. Und dieser letzte Gedanke wird auch nicht in den Hinter- grund gedrängt werden dürfen, wenn wir anknüpfend an diese Be- merkungen jetzt noch einige Worte über eine Spielerei zu sagen ge- denken, welcher immerhin einiger mathematische Wert innewohnt. I) Mit dieser Frage hat sich Hankel S$. 197 beschäftigt, wenn auch nicht unter Ziehung aller Folgerungen, die sich ergeben können. ah = REN, ME ae E 2 Do a » RT Be AT BAT EEE A ee Geometrie und Trigonometrie. 635 Wir meinen die magischen Quadrate, bhadra ganita. Über diesen Gegenstand!) schrieb Näräyana, ein von Ganeca zitierter Schriftsteller; Ganeca selbst verfaßte 1545 seinen Kommentar zu Bhäskara. Das sind freilich recht späte Daten, aus welchen auch nur Vermutungen auf eine ältere Zeit sich nicht stützen lassen. Solchen liegt nur die Tatsache zugrunde, daß in Indien das Schach- spiel erfunden worden ist”), während die Zerlegung in schachbrett- artige Felder der Bildung magischer Quadrate, deren Wesen wir (S. 515) erörtert haben, notwendig vorausgehen mußte. Die einzige ausführliche Mitteilung ist um anderthalb Jahrhunderte jünger als selbst Ganeca. Sie findet sich in einem 1691 gedruckten Berichte über das Königreich Siam?). Allerdings ist sie in ihrer Ausführlich- keit von großer Zuverlässigkeit, indem sie die Methode kennen lehrt, nach welcher die Inder ein magisches Quadrat von ungerader Felder- zahl anzufertigen wußten. Daß sie auch magische Quadrate von ge- rader Zellenzahl zu bilden verstanden, behauptet Laloubere, der Ver- fasser jenes Reiseberichtes, ebenfalls, gibt aber die betreffende Methode nicht an®). Bei der mathematisch nicht gar hoch anzuschlagenden Tragweite des Gegenstandes verzichten wir, wie schon früher, auf nähere Darlegung. 30. Kapitel. Geometrie und Trigonometrie. Als Quellen für indische Geometrie dienen nicht bloß die wieder- holt von uns benutzten Zwischenkapitel der astronomischen Schriften des Aryabhatta, des Brahmagupta und Bhäskara, sondern auch Schriften von geometrisch-theologischem Charakter, wie sie, abgesehen von einigen ägyptischen Inschriften, in keiner Literatur sich wiederfinden. Wir meinen die Gulvasütras. Der indische Gottesdienst, peinlich genauen Vorschriften folgend, kann der geometrischen Regeln nicht entbehren. Wenn der Altar nicht genau in der anbefohlenen Gestalt erbaut ist, wenn eine Kante nicht rechtwinklig zur anderen steht, wenn in der Orientierung nach den Himmelsgegenden ein Fehler statt- fand, so nimmt die Gottheit das ihr dargebrachte Opfer nicht an, ein dem Inder schrecklicher Gedanke, da für ihn jedes Opfer ein ") Colebrooke pag. 113, Note #. ?) Lassen, Indische Alterthumskunde IV, 905. Bonn 1862. °) La Loubere, Du royaume de Siam, Tom. II, pag. 237, 266 sqq., 273. Amsterdam 1691. *) S. Günther, Vermischte Untersuchungen z. Geschichte d. mathemat. Wissenschaften Kap. IV, S. 188—191. Leipzig 1876. 636 30. Kapitel. förmlicher Vertrag mit der betreffenden Gottheit, eine Art von Tauschgeschäft ist, und er somit auf Erfüllung seines bei dem Opfer gehegten Wunsches sich nicht die geringste Rechnung machen kann, sofern seine Gabe verschmäht würde. Die rituellen Vorschriften, soweit sie auf die Opfer überhaupt sich beziehen, sind in den soge- nannten Kalpasütras enthalten, und zu jedem Kalpasütra scheint als Unterabteilung ein Gulvasütra gehört zu haben, welches eben jene geometrischen Vorschriften lehrte, und deren zwei in auszugsweiser, eines in vollständiger Übersetzung zugänglich gemacht sind'). Die Verfasser derselben heißen Baudhäyana, Äpastamba und Kätyäyana. Leider ist deren Lebenszeit noch ziemlich im Dunkeln. Es scheint zwar, daß die Reihenfolge, in welcher wir sie nannten, der Zeitfolge ihres Lebens entspricht, aber ob z. B. Baudhäyana zwei Jahrhunderte früher als Apastamba zu setzen ist, ob die Zeit- bestimmung des IV. oder V. 8. v. Chr. auf Apastamba zu deuten ist oder auf die Niederschrift des ältesten Qulvasütra, darüber suchen wir vergebens nach einer unzweideutig ausgesprochenen Meinung. Nur einer bestimmten Behauptung?) begegnen wir: daß der Satz vom Quadrate der Hypotenuse spätestens im VII S. vor Chr. in Indien bekannt gewesen sein müsse, eine Behauptung, welche die- jenigen zu vertreten haben, die sich berufsmäßig mit indischer Sprache und Geschichte beschäftigen, und welche wir zum Ausgangspunkte unserer weiteren Untersuchungen machen müssen. Unter den auf die Errichtung von Altären bezüglichen Aufgaben handelt es sich, wie wir schon andeuteten, zunächst um deren Orien- tierung und deren genau rechtwinklige Herstellung. Die ostwestliche Linie, welche dabei abgesteckt werden muß?), führt den Namen präci, und wir haben (S. 599) schon berührt, daß deren Richtung im Sürya Siddhänta®) genau nach der Methode gefunden wird, welche wohl aus griechischer Quelle zu Vitruvius und zu den römischen ı) The Sulvasütras by G. Thibaut. Reprinted from the Jowrnal of the Asiatie Society of Bengal, Part I for 1875. Calcutta 1875. Außer auf diese (als Thibaut zu zitierende Schrift) verweisen wir auf unsere daran anknüpfende Abhandlung: Gräkoindische Studien, Zeitschr. Math. Phys. XXII, Histor.-literar. Abteilung (1877). Ferner vgl. L. v. Schroeder, Pythagoras und die Inder (Leipzig 1884), Albert Bürk, Das Apastamba — Sulba — Sütra herausgegeben, übersetzt und mit einer Einleitung versehen. Zeitschr. d. Deutsch. Morgenl. Gesellsch. LV, 543—591 (Einleitung und Urtext) und LVI, 327—391 (deutsche Übersetzung 1901), unsere Abhandlung: Über die älteste indische Mathematik. Archiv d. Math. u. Phys. 3. Reihe, VIII, 63—72 (1904), Zeuthen, T’heoreme de Pythagore. Comptes Rendus dw II. Congres internat. de Philosophie & Geneve, Septembre 1904, pag. 883—854 (1905). H. Vogt, Biblioth. Mathem. 3. Folge VII, 6—23 (1906). *)Bürkl.c. LV,556. ThibautS$.9—10. *) Sürya Siddhänta 8. 239. Geometrie und Trigonometrie. 637 Feldmessern gelangte. Selbstverständlich ist diese späte Angabe ohne jede überzeugende Kraft für die Zeit der ersten Vorschriften zur Herstellung richtig orientierter Altäre. Wie damals die Präci abge- steckt wurde ist uns unbekannt. Die Qulvasütras schweigen darüber. Ist die Präci gefunden, so werden rechte Winkel abgesteckt, und zwar mit Hilfe eines Seiles.. Die Länge dieser ostwestlich gezogenen Strecke sei 36 Padas. An ihren beiden Endpunkten wird je ein Pflock in den Boden eingeschlagen'). An diese Pflöcke befestigt man die Enden eines Seiles von 54 Padas Länge, in welches zuvor, 15 Padas von einem Ende entfernt, ein Knoten geschlungen wurde. Spannt man nun (Fig. 82) das Seil auf dem Erdboden, indem man den Knoten festhält, so entsteht ein rechter Winkel am Ende der Präci. Daß das Verfahren richtig ist, und auf dem rechtwinkligen Dreiecke von den Seiten 15, 36, 39, oder in kleinsten Zahlen ausgedrückt 5, 12, 13 beruht, ist einleuchtend. Einleuchtend ist aber auch, daß es in der Kenntnis des pythagoräischen Lehrsatzes wurzelt, daß. es die Seilspannung genau in der gleichen Weise anwendet, wie Heron dieselbe benutzte (5.384 Fig. 64), wie wahrscheinlich die altägyptischen Harpedonapten bei Lösung der gleichen Aufgaben verfuhren (S. 106). Nächst der richtigen Orientierung und Scharfkantigkeit des Altars hat seine Gestalt eine hohe Wichtigkeit. Sie hat allerdings im Laufe der Zeiten gewechselt, Formen annehmend, welche für jeden nicht- indischen Geist an das Lächerliche streifen. Welcher Europäer kann sich hineindenken, einen Altar in der Figur eines Falken oder irgend eines anderen Vogels, eines Wagenrades usw. zu errichten? Dabei treten jedoch zwei mathematische Gesetze auf?), jedes eine besondere Gruppe von Aufgaben erzeugend. Wird ein Altar von gegebener Gestalt vergrößert, so muß die Gestalt selbst in allen ihren Verhältnissen dieselbe bleiben. Man muß also erstens verstehen eine geometrische Figur zu bilden, einer gegebenen ähnlich und zu derselben in gegebenem Größen- verhältnisse stehend. Die Fläche des Altars von normaler Größe ist ferner ohne Rück- sicht auf seine Gestalt stets dieselbe. Man muß also zweitens ver- stehen eine geometrische Figur in eine andere ihr flächengleiche zu verwandeln. Fig. 82. !) Albr. Weber, Indische Studien X, 364 und XIII, 233 figg. und Äpa- stamba Kap. I, 32, vgl. Bürk l. c. LVI, 327. 2) Thibaut 8.5. 638 30. Kapitel. Gleich das erste Gesetz mahnt uns mit Entschiedenheit an die Würfelgestalt, welche das Grabmal für Glaukos besitzen sollte, wäh- rend es auf Geheiß des Königs Minos in doppelter Größe aufzuführen war (8. 211). Euripides hat, wie wir uns erinnern, das vielleicht sagenhafte Geheiß in einer Tragödie verwertet, und Euripides lebte 485—406, mehr als 70 Jahre bevor der Alexanderzug geregeltere indisch-griechische Beziehungen hervorrief. Wir fügen hinzu, daß eine indische astronomische Handschrift den Ursprung ihrer Wissen- schaft nicht bloß auf einen ionischen Meister Yavanecvaräcärya zu- rückführt (S. 600), sondern neben diesem eine Persönlichkeit des Namens Minaräja anführt!) ein Name, der täuschend an den König Minos zu erinnern geeignet ist. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings zwischen der Aufgabe, welche König Minos seinem Architekten stellte, und der Aufgabe, welche bei der Inhaltsveränderung indischer Altäre vor- kommt. Jener sollte den Kubikraum verdoppeln, hier kommt es nur auf die Oberfläche an, soweit die Qulvasütras uns Auskunft geben. Es galt also nur eine Vervielfachung einer ebenen Figur zu voll- ziehen, oder mit anderen Worten eine Quadratwurzel zu finden, was bei Griechen wie bei Indern ebensowohl geometrisch als arithmetisch geschah. Die Würfelvervielfältigung hätten die Inder arithmetisch gleichfalls vollziehen können, da, wie wir gesehen haben, Aryabhatta Kubikwurzeln auszuziehen wußte; geometrisch dagegen überstieg diese Aufgabe indische Kräfte bei weitem, indem die Kurven, mittels welcher die Würfelvervielfachung geleistet werden kann, die Kegelschnitte, die Konchoide und wie sie alle heißen, den Indern durchaus unbekannt geblieben zu sein scheinen. Für die geometrische Ausziehung der Quadratwurzel gibt Baudh- äyana folgende Regeln?): Das Seil, quer über das gleichseitige Recht- eck gespannt, bringt ein Quadrat von doppelter Fläche hervor. Das Seil, quer über ein längliches Rechteck gespannt, bringt beide Flächen hervor, welche die Seile längs der größeren und kleineren Seite ge- spannt hervorbringen. Diesen zweiten Fall erkenne man an den Rechtecken, deren Seiten aus 3 und 4, aus 12 und 5, aus 15 und 8, aus 7 und 24, aus 12 und 35, aus 15 und 36 Längeneinheiten be- stehen. | Das ist nun offenbar der pythagoräische Lehrsatz, erläutert an Zahlenbeispielen. Das zuletzt genannte Dreieck mit den Katheten 15 und 36 ist vorher schon einmal in den kleineren Zahlen 12 und 5 ') Brockhaus in den Verhandlungen der königl. sächs. Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Philolog.-histor. Klasse IV, 18—19 (1852). °) Thi- baut 8.7, 8, 9. Bürk LVI, 340—341. f & A EN NEET EEETR Geometrie und Trigonometrie. 639 genannt, offenbar ohne daß Baudhäyana dieser Wiederholung sich bewußt war, ein Zeugnis dafür, daß er den Gegenstand seiner Dar- stellung nicht durchaus beherrschte, sondern mindestens teilweise Her- gebrachtes vortrug, welches er nicht verstand. Der pythagoräische Lehrsatz ist aber nicht als einheitlicher Satz vorgetragen, sondern in zwei Unterfällen, je nachdem die beiden Katheten gleicher Länge sind oder nicht. Es ist wahrscheinlich (3. 185), daß Pythagoras bei dem Beweise seines Satzes ebenso verfuhr. Die Anwendung dieser Sätze in den Qulvasütras ist der doppelten Gattung von Aufgaben entsprechend, welche bei Herstellung eines Altars sich darbieten, eine doppelte. Es kann eine Strecke verändert werden sollen, so daß ihr Quadrat sich im Verhältnisse 1:»n ver- größert, es kann auch eine Figur in eine andere gleichen Inhaltes umgewandelt werden sollen. Die Auffindung der Seite eines 2, 3, 10, 40 mal so großen Quadrates, als ein gegebenes ist, geschieht durch allmähliche, sich wiederholende Anwendung des pythagoräischen Lehrsatzes, indem von dem gleichschenklig rechtwinkligen Dreiecke ausgegangen und die Hypotenuse eines Dreiecks immer als die eine Kathete eines folgenden Dreiecks benutzt wird, dessen andere Kathete der des zuerst betrachteten Dreiecks gleich ist. Dabei erscheinen Namen für Y2, Y3 usw., gebildet durch Zusammensetzung der Zahlwörter mit dem von uns früher (8. 621) erörterten Worte karana!), also dvikarani = V2, trikarani = Y3, dagakarani = V10, catvarincatkarani = Y40) usw. Bei den Verwandlungen von Figuren ineinander ist die Auf- findung des einem Rechtecke gleichen Quadrates?) sehr interessant, weil sie nur des pythagoräischen Lehrsatzes sich bedient, dagegen von Anwendung des Hilfsmittels, welches im 14. Satze des II. Buches der euklidischen Elemente geboten ist, d. h. von der Fällung einer Senkrechten aus einem Punkte einer Kreisperipherie auf den Durch- H E messer, absieht (Fig. 85). Von dem Rechtecke A.BCD wird zunächst vermittels AE=AD ein B c Quadrat ADFE abgeschnitten. Der Rest EFCB 5 F p; wird durch @H halbiert und die obere Hälfte GHOB unten rechts als DF'IK angesetzt. So ist RUHE r ABCD in einen Gnomon AGHFIKA verwandelt, RR oder, wie Baudhäyana sagt, der des Wortes Gnomon sich so wenig bedient wie Bhäskara, bei welchem wir (S. 631) die gleiche Figur ı) Thibaut S. 16. 2) Ebenda $. 19. Äpastamba Kap. I, $ 7, vgl. Bürk LVI, 333. 640 30. Kapitel. nachwiesen, in den Unterschied der beiden Quadrate AKLG und FILH, und dieser Unterschied ist mit Hilfe des pythagoräischen Lehrsatzes leicht in die Gestalt eines Quadrates zu bringen. Die Quadratwurzelausziehung, welche geometrisch genau erfolgt, muß arithmetisch sich mit einer Annäherung begnügen, und zwar wird, wenn die Quadratwurzel zum Zwecke praktischer Ausmessungen gezogen worden ist, eine solche Annäherung genügen, welche auf dem Felde keinen bemerklichen Unterschied gegen die strenge Wahr- heit mehr hervorbringt. So benutzten Baudhäyana und Äpastamba = 1 1 1 . : . . j V2=1+ eure Erinnern wir uns hier an die bei Theon von Smyrna ($. 436) angegebenen Näherungswerte für Y2. Sie heißen der Reihe nach — Er » 53 57 79, und dieser letztere Wert 3 Ä 1 1 3 kommt uns hier in der Form 1 -+ 7 + ae also durch eine Summe von Stammbrüchen dargestellt wieder zu Gesicht. Wir sagten damals, er habe auf außergriechischem Boden eine Rolle gespielt, und wir erkennen diese Rolle nunmehr darin, daß er Veranlassung gab, eine von ihm als Voraussetzung ausgehende größere Annäherung zu er- 17 zielen. Die Quadrierung (5) — 2 ]äßt nämlich erkennen, dab 12 144 zu groß ist. Soll aber das Quadrat um De kleiner werden, so muß 1 s 17 144 das doppelte Produkt des gefundenen Teiles , der Quadrat- wurzel aus 2 in die negative Ergänzung sein, falls man von dem Quadrate jener Ergänzung absehen zu können glaubt, und nun ist u ee 1 geteilt durch 2 mal ;, nichts anderes als „ _;,, welches Baudh- äyana wirklich abzieht, so daß hiermit die Entstehung des Wertes V2=1 Hat hinlänglich erklärt sein dürfte?). Arithmetisch und zugleich geometrisch interessant sind die Auf- lösungsversuche der (ulvasütras für die Aufgabe, Flächengleichheit zwischen quadratischen und kreisrunden Figuren hervorzubringen ?), eine Aufgabe, die noch mehr als andere geeignet erscheint, geschicht- liche Zusammenhänge nachweisen zu lassen, weil eben hier vermöge der Natur der Aufgabe von vornherein auf volle Genauigkeit ver- ziehtet werden muß, und bei bloßen Annäherungen — mögen die Er- y Dem Grundgedanken nach stimmt diese Darstellung ziemlich genau mit der von Thibaut zuerst versuchten Wiederherstellung überein. Thibaut 8. 13—15. 2) Ebenda $. 26—28. ET FT DR arsch Geometrie und Trigonometrie. 641 finder sie als Annäherungen oder als genau richtige Werte betrachtet haben — eine Notwendigkeit gerade dieses oder jenes bestimmte Er- gebnis zu erhalten nicht vorhanden ist. In den Gulvasütras ist eben- sowohl die Quadratur des Kreises gelehrt; als auch unmittelbar vorher umgekehrt die Aufgabe gestellt, ein gegebenes Quadrat in einen Kreis zu verwandeln, eine Aufgabe, welche man füglich Zirkulatur des Qua- So drates wird nennen können. Die Lösung 4 = ist folgende!) (Fig. 84). Die Diagonalen I AC, BD des Quadrates ABOD werden Er | gezogen und durch ihren Durchschnitts- \ punkt E die Gerade KI parallel zu A | den Seiten AD und BC des Quadrates. Von E als Mittelpunkt aus wird mit der / halben Diagonale #A als Halbmesser B% ein Bogen beschrieben, der die über I L4 | hinaus verlängerte KI in F' schneidet. Nun wird das Stück IF ınG und H in drei gleiche Teile zerlegt und EH als Halbmesser des gesuchten Kreises betrachtet. Es lohnt sich zuzusehen, ob es nicht möglich wäre, diese Konstruktion in ein Rechnungsresultat umzusetzen. Wir gehen davon aus, daß, indem F'I in drei gleiche Teile zer- lest wird, dadurch die Wahrscheinlichkeit entsteht, es si FI=3 angenommen worden, oder es si EA= EI+3 gesetzt, d. h. EI:YV2=EI+3 und daraus ER-6EI=9, EI=3+Y18. Das ist annähernd EI=7 und EA=10 oder Y2=, ein in der Tat gar nicht übler Wert, wenn es auch noch nicht gelungen ist, ihn bei irgend einer anderen Gelegenheit, sei es bei Indern, sei es bei Griechen, nachweisen oder auch nur mutmaßen zu können. Ist aber diese Meinung richtig, dann ist die Seite des Quadrates 14, seine Diagonale 20, der Durchmesser des gleichflächigen Kreises 16, und die Kreisfläche demnach 14° —(16 — 2)? (16 %) . Darin ist aber eine doppelte Regel enthalten. Erstens: Die Zirkulatur Fig. 84. des Quadrates benutzt als Kreisdurchmesser ” der Diagonale des Quadrates?). Zweitens: Die Quadratur des Kreises benutzt als RO ; a i Quadratseite e des Kreisdurchmessers. Freilich stehen diese aus der ») Thibaut 8. 26—28. Äpastamba Kap. II, $2 und 3 vgl. Bürk LVI, 335. ?°) Genau diese Regel wird uns bei Albreeht Dürer wieder be- gegnen. CANToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 41 642 30. Kapitel. Zirkulatur des Quadrates hergeleiteten Werte, wie wir uns sehr bald überzeugen werden, nicht im Einklang mit dem, was bezüglich der Quadratur des Kreises gelehrt wird, doch zunächst verweilen wir noch einen Augenblick bei unseren gegenwärtigen Folgerungen. Deren erste ; 8 s 2 heißt zur Ausrechnung von x benutzt: 2r =, Diagonale r— -— ; < 4 i 8 25 Diagonale, »” = „, Diagonalenquadrat — ,, Quadrat, Quadrat — —- r2, a 1 | -—. Er A Br in a mithin x = 3—. Die zweite heißt: Kreis = (44) -(7r) -—r2, 8 .\8 4 16 nn 1 mithin = —=3,,, also im Widerspruch zu der eben gezogenen ersten Folgerung, ein Widerspruch, der darauf beruht, daß wir bei unserer Rechnung vermeiden konnten, mit dem nur näherungsweise bekannten V2 uns abfinden zu müssen. Wir erinnern daran, daß schon das altägyptische Handbuch des Ahmes eine ähnliche Vorschrift, allerdings, was man gewiß nicht außer Augen lassen darf, mit anderen Zahlen enthält, indem dort als Seite des dem Kreise flächengleichen Quadrates . des Kreisdurch- messers gilt. Wir erinnern uns um so mehr daran, als der Versuch nahe liegt durch andere Annahme des Näherungswertes für Y2 die indische Konstruktion mit der ägyptischen Zahl in Einklang zu bringen. Diese Übereinstimmung läßt sich aber nur mittels Pi 11 ; . 2 V?= F erzielen, eine uns sehr unwahrscheinliche Annahme. Unsere Hypothese, die Quadratseite sei bei den Indern = des Kreisdurch- messers gewesen, gewinnt aber selbst eine Bestätigung in einer arith- metischen Kreisquadratur, welche Baudhäyana lehrt, allerdings mit der Zahl z sich nicht begnügend, sondern ihr eine Korrektur bei- fügend. Baudhäyana schreibt nämlich vor, den Kreisdurehmesser mit 7 1 1 1 3 t8.90 8.9.6 7 8.90.0-8 dem Kreise gleichflächigen Quadrates zu erhälten. Die Korrektur 1 1 1 8.39 8.90.67 8.90.0-8 10 3 zu vervielfachen, um die Seite des stammt daher, daß Baudhäyana offenbar nicht von V2= zur Umsetzung der Konstruktion in eine Formel nahm, sondern von dem oben erörterten Werte V2 -1+ - + = de m u - —1 gs -1+ - + a + er seinen Ausgangspunkt E war BA=EI: VS, FI-EI VID), HI= E81! Geometrie und Trigonometrie. 643 EH-EILIH— BI De BIz SEH pnde Hr ie ya doppelten Strecken d. h. ek und en gilt der- selbe Zahlenfaktor Mit Hilfe von Y2=- ze geht derselbe 2+y2 aber über in 1224 ...:7 1 Bus urn 41 E 1398 8 18.29 >99.,6.°.8:29.6:8 + 8:29:6.8.13937 dessen letzter Teil als nahezu 5 des ihm vorangehenden selbst schon sehr kleinen Bruches vernachlässigt ist!). Eine andere Zahlenregel für die Quadratur des Kreises findet sich übereinstimmend bei Baudhäyana, Apastamba und Kätyäyana: „Teile [den Durchmesser] in 15 Teile und nımm 2 weg, das [was übrig bleibt] ist ungefähr die Seite des Quadrates“, oder mit Apastamba zu reden „ist genau die Seite des Quadrates“. Setzen wir diese Vor- schrift in Zahlen um. Sei wieder d der Kreisdurchmesser, r der Kreishalbmesser, so ist (G d) = - r\ er die Quadratur des ; ae? > 1 £ Kreises. Darin liegt die Annahme x = 5,,,, welche nahezu mit x = übereinstimmt und genau damit übereinstimmen würde, wenn ze —-y3 gesetzt werden müßte. Beide hier hervorgehobenen Werte sind uns ; 26 . s . aber keineswegs unbekannt. Y3 = 75 Ist uns auf griechischem und auf römischem Boden begegnet. m —=5 ist in Indien selbst aus sehr altertümlichen Schriften bestätigt worden?), gehört überdies allen von uns der Besprechung unterzogenen Kulturstätten an mit Ausnahme des alten Ägypten, wo wir ihm nicht begegnet sind. Wir haben wahrscheinlich zu machen gesucht, = 5 habe ursprünglich den Babyloniern angehört. Mit diesen Werten haben wir eine neue Frage angeschnitten, die Frage nach dem Ursprunge der in den Qulvasütras aufbewahrten ältesten indischen Geometrie. Die Meinung, welche wir selbst ehedem für die wahrscheinlichste hielten, Heronisches sei seit dem ersten vor- christlichen Jahrhunderte den oftbetretenen Pfaden des Handels- verkehrs folgend von Alexandria aus nach Indien vorgedrungen, ist natürlich von dem Augenblicke an unhaltbar geworden, in welchem das einstimmige Urteil der Indologen den Culvasütras ein so D) Der Gedanke, die Konstruktionsregel mit der Zahlenformel in Einklang zu bringen, rührt von Thibaut her. ”) Thibaut, On the S’uryaprajnapti. Journal of the Asiatie Society of Bengal, Vol. XLIX, Part. I, pag. 120 Note * (1880), 41* 644 30. Kapitel. hohes Alter beilegte als wir (S. 636) berichtet haben. Nicht halt- barer scheint uns, beiläufig bemerkt, die Meinung Pythagoras sei Schüler altindischer Weisheit, und insbesondere der Satz vom Quadrate der Hypotenuse, die Lehre von den rationalen rechtwinkligen Drei- ecken, die Lehre vom Irrationalen usw. sei ihm aus Indien bekannt geworden. Es ist wahr, daß manche Bestandteile der pythagoräischen Lehren, die Seelenwanderung, das Verbot des Bohnenessens, sich nach der Aussage von Indologen leicht aus indischen, schwer oder gar nicht aus ägyptischen Einflüssen erklären lassen. Es ist nicht minder wahr, daß ein Bericht!) über die Wanderungen des Pythagoras zu erzählen weiß, er habe von den Brahmanen gelernt, ein Bericht, welchen wir im 6. Kapitel gleich demjenigen, der Pythagoras zu den Galliern führte (S. 176) vernachlässigten, weil wir seiner zum Nach- weis eines einheitlichen Ursprunges des mathematischen Wissens des Pythagoras — und zu einem Urteile über seine sonstigen Lehren - fehlt uns jede persönliche Berechtigung — nicht bedurften noch be- dürfen. Der Aufenthalt des Pythagoras in Ägypten kann keinem Zweifel unterworfen sein, und er genügt, um die Entstehung der pythagoräischen Mathematik zu verstehen, deren Grundbestandteile (wir erinnern nur an das Dreieck aus den Seiten 3, 4, 5) sich in Ägypten um viele Jahrhunderte früher nachweisen lassen als die Zeit ist, welche als weitest entlegene Ursprungszeit der in den Qulvasütras vorgetragenen Lehren in Anspruch genommen wird. Aber verhalte es sich mit dem indischen Einflusse auf Pythagoras wie es wolle, so lohnt es sich an und für sich über die Kenntnisse der Culvasütras von rationalen rechtwinkligen Dreiecken zu berichten. Apastamba sagt?): „Es folgt nun eine allgemeine Regel für die Vergrößerung eines gegebenen Quadrates. Man fügt das, welches man mit der jedesmaligen Verlängerung umzieht, an zwei Seiten hinzu und an der Ecke das Quadrat, welches durch die betreffende Ver- längerung hervorgebracht wird“. Unter Beiziehung von späten Kom- mentaren ist es gelungen, die an und für sich recht dunkle Vorschrift zu verstehen. Sie will ein Quadrat a? zu einem größeren Quadrate (@ + b)’ werden lassen, indem man an zwei aneinanderstoßenden Quadratseiten je ein Rechteck ab und an der Ecke das Quadrat b? hinzufügt, wieder ein Gnomon, wie es (S. 639 Fig. 83) schon aufge- treten war. Es ist nun ganz richtig, daß, wenn 2ab +b?=c? eine Quadrat- zahl ist, die Gleichung a? + ce? = (a + b)? entsteht und zur Auffindung ') Alexander Polyhistor in seiner Schrift über die Pythagoraeischen Symbole. Vgl. L. v. Schroeder, Pythagoras und die Inder 8, 24 Note 1. 2, Apastamba Kap. II, 39. Bürk LVI, 336. Geometrie und Trigonometrie. 645 der Seiten eines rationalen rechtwinkligen Dreiecks führen kann. Man c? — b? könnte mit modernem Denken aus 2ab +b’=-« u a——,,- ge 2 __A22 2_| 9212 langen, von da zu (5) + d- u ‚ aber so dachten, so rechneten weder die uralten Inder noch Pythagoras, wenn auch von dem letzteren ebenso wie von Plato Formeln für ganzzahlige recht- winklige Dreiecke berichtet werden, die uns (8. 186 und 224) be- kannt geworden sind, und an die wir noch in diesem Kapitel zu er- innern haben werden. Aber wenn man sogar, was wir nicht mittun, zugibt, Pythagoras sei Schüler der Inder, wessen Schüler waren die Inder? Haben sie alles selbst erdacht? Wir hegen daran den größten Zweifel. Er- innern wir uns, wie vieles an Babylon mahnt! Babylon als mutmaß- liche Heimat der Null, als mutmaßliche Heimat der Quadrat- und Kubikwurzeln aus Zahlen, welche zwischen ganzen Quadrat- und Kubikzahlen liegen, als bekannt mit dem zu Messungszwecken be- nutzten Seil tim, als Ort, an welchem der längste Tag die Dauer wirklich besaß, welche die Inder ihm zuschrieben, als wahrscheinliche Heimat von = =5, das alles drängt dazu mit doppelter Wachsam- keit auf künftige Entdeckungen zu warten, welche das Zweistromland uns noch bieten kann. Einige Punkte möchten wir überdies noch hervortreten lassen. (ulva bedeutet Seil, kommt aber in den GQul- vasütras nicht vor. Dort ist für das Seil ein anderes Wort im Ge- brauch rajju, gleichsam als wenn in einer Seilvorschrift nur von einem Strick die Rede wäre. Das mutet fast an, als wenn Titel und Text nicht gleichzeitig entstanden wären, als wenn der Text eine spätere Umarbeitung erlitten hätte. Ferner kommen in den Vor- schriften für rechnerische Ausziehung von Y2 und für die Kreis- quadratur Stammbrüche vor, wie sie in anderen indischen Schriften allerdings wesentlich jüngeren Ursprunges uns nicht bekannt ge- worden sind. Endlich zeugt die spätere indische Geometrie, mit Aus- nahme der Trigonometrie, keineswegs für besondere geometrische Be- gabung. Sehen wir uns doch Aryabhattas geometrisches Wissen an. Der Körper mit sechs Kanten, d. h. die dreieckige Pyramide, ist bei ihm das halbe Produkt aus der Grundfläche in die Höhe!). Wir vermuten als Ursprung dieser grundfalschen Formel, der Verfasser habe das arithmetische Mittel zwischen der Grundfläche und der als Nulldreieck betrachteten Spitze als ein Mitteldreieck betrachtet, über welchem ein Prisma gleicher Höhe mit der Pyramide gebildet den gewünschten ') L. Rodet, Legons de caleul d’Aryabhata pag. 10 und 20. 646 ....80, Kapitel, Körperinhalt darstellte, eine Anschauung, welche der ägyptischen Dreiecksflächenberechnung ähnelt. Der Kugelinhalt ist bei ihm Pro- dukt der Fläche des größten Kreises in die Quadratwurzel derselben '), wieder ein Unsinn, welcher in der kaum halbgeometrischen Auffassung wurzelt, der Würfel derselben Seite, welche als Quadrat die Kreis- fläche darstellt, müsse den Inhalt der körperlichen gleichmäßigen Rundung, das ist eben der Kugel liefern. Daneben weiß aber Aryabhatta, daß 62832 :20600 das Verhältnis des Kreisumfanges zum Durchmesser ist?), oder er kennt x = 3,1416. Ist es denkbar, daß derartige Anschauungen mit einem Näherungswerte, der den archimedischen an Genauigkeit übertrifft, zugleich vorkommen und sämtlich einheimisch sein sollen? Die Berechnung des Parallel- trapezes wird gelehrt, dessen parallele Seiten genau so wie im Hand- buche des Ahmes (5. 97) zur Rechten und Linken, nicht oben und unten gezeichnet sind®), und unmittelbar anschließend wird in aller- dings etwas dunklem von dem indischen Kommentator mißverstan- denem*) Wortlaute verlangt, jede auszumessende Figur der Ebene solle in Trapeze zerlegt werden, ein Verfahren, welches Ahmes, welches die Tempelpriester von Edfu übten (S. 110). Wir denken, das sind wieder einige Bausteine zur Herstellung dessen, was von aus- wärtiger Geometrie nach Indien gelangt war, Bausteine, denen ihr Ursprung deutlich anzusehen ist. Wir kommen zur weit umfangreicheren Geometrie Brahmaguptas?). Sie ist eine rechnende Geometrie, eine Sammlung von Vorschriften, Raumgebilde zu berechnen wie bei Heron von Alexandria. Zu Anfang heißt es, die Fläche des Dreiecks und Vierecks werde in rohem Überschlag gewonnen als Produkt der Hälften von je zwei Gegen- seiten. Das ist die alte ägyptisch-heronische Formel, ist zugleich die Auffassung des Dreiecks als Viereck mit einer verschwundenen Seite und geht nur in einer allerdings wesentlichen Beziehung weiter darin, daß die Ungenauigkeit des Verfahrens ausdrücklich betont wird, welche Heron ohne allen Zweifel auch erkannte, aber in dem uns erhaltenen Texte nicht hervorgehoben hat. Damit man ja an dem Ursprung nicht zweifle, gibt der gleiche Paragraph die genaue Fläche des Dreiecks aus den drei Seiten nach der heronischen Formel. Als genau gilt auch die Formel für das Viereck, wenn von den Fak- toren unter dem Wurzelzeichen jeder die um eine Seite verminderte halbe Seitensumme darstellt, wenn also Y(s— a): (s—b)-(s— ce): (s—.d) ) L. Rodet, Lecons de calcul d’Aryabhata pag. 10 und 20—21. *) Ebenda pag. 11 und 23. °) Ebenda pag. 10 und 21. *) Ebenda pag. 22. °) Cole- brooke pag. 295—318. Geometrie und Trigonometrie, 647 gebildet wird, wo s-“T? FF pedeutet und a, b, e, d die Vier- ecksseiten sind. Im folgenden Paragraphen lehrt Brahmagupta aus den Seiten eines Dreiecks die Abschnitte finden, welche eine ge- zogene Höhe auf der Grundlinie bildet. Genau so lehrt Heron das- selbe. Wir können unmöglich so fortfahrend alle einzelnen Para- graphe der Reihe nach durchgehen. Wir begnügen uns mit einzelnen Bemerkungen. Eine Rechtecksseite wird Seite, die andere Aufrechtstehende ge- nannt, die Diagonale vollendet mit beiden ein rechtwinkliges Dreieck, auf welches der pythagoräische Lehrsatz Anwendung findet; das ist heronisch. Die obere Seite eines Vierecks wird als Scheitellinie mit besonderem Namen belegt!); das ist wieder ägyptisch-heronisch. Der Name selbst mukha oder vadana bedeutet Öffnung, Mund. Der Durchmesser des Umkreises eines Dreiecks ist der Quotient des Pro- duktes zweier Seiten geteilt durch die auf der dritten Seite errichtete Höhe; das stimmt wieder mit Heron?). Die Figuren sind nicht an den Eeken mit Buchstaben bezeichnet, sondern mit den die Längen angebenden Zahlen an den Seiten selbst. Ähnliches finden wir zwar nicht in Herons Vermessungslehre, aber in den sogenannten Hero- nischen Sammlungen im Gegensatze zu allen anderen griechischen Geometrien. Der Kreisdurchmesser beziehungsweise das Quadrat des Halbmessers mit 3 vervielfacht sind für die Praxis Umfang und In- halt des Kreises; die genauen Werte werden durch die Quadratwurzel aus den 10fachen zweiten Potenzen jener Zahlen gefunden?). Das will sagen, in roher Weise ist = 3 und genau == Y10. Den ersteren Wert haben wir oben (S. 645) besprochen. Der zweite kommt uns hier zum ersten Male vor. Es ist der Versuch gemacht worden, zu ermitteln, wie man auf diesen Näherungswert gekommen sein mag*). Die Seite des regelmäßigen Sechsecks ın dem Kreise von dem Durchmesser 10 war von alters her als 5, der ganze Umfang somit als 30 bekannt. Nun wird behauptet, der Um- fang des demselben Kreise einbeschriebenen Zwölfecks sei als Y 965, der des 24ecks als Y981, der des 48-, des 96ecks als Y986, als V 987 gefunden worden, und so habe man sich veranlaßt gefühlt, die Grenze Y1000 = 10.Y10 als nach unendlich oft wiederholter Ver- doppelung der Seitenzahl erreichbar anzusehen. Diese Wiederher- stellung wäre eine ungemein glückliche zu nennen, wenn es gelänge ebenso, wie in den Kommentaren zu Brahmagupta an dieser Stelle ") Colebrooke pag. 72, Note 4 und pag. 307, $ 36. °) Ebenda pag. 229, $ 27 = Heron Liber Geoponicus cap. 58 (ed. Hultsch) pag. 214. °) Ebenda pag. 308, 8 40. *) Hankel $. 216—217. 648 30. Kapitel. der Kreisdurchmesser mehrfach als 10 angenommen ist, auch jene - Wurzelgrößen, von denen behauptet wird, sie seien für die Umfänge der Vielecke von immer verdoppelter Seitenzahl gesetzt worden, in indischen Schriften nachzuweisen. Solange aber dieses nicht ge- schieht, bleibt jener Wert m — Y10 so rätselhaft wie er allen Ge- schichtsforschern zu erscheinen pflegte, und wir teilen zur Bestäti- gung dieser Behauptung noch drei Erklärungsversuche mit. Da ist behauptet worden!), entsprechend dem Näherungswerte bei Archimed aber sei x = 37 ‚ und so sei m= 10 zustande ge- kommen. Das heißt doch: man ersetzte 5 durch Y10, einen ratio- nalen Wert durch einen irrationalen, und das kommt in der ganzen Geschichte der Mathematik nirgends vor. Die zweite Erklärung’) geht davon aus, daß Brahmagupta wußte?), daß der Pfeil h,, welcher zwischen der Seite s, und dem Kreisumfang sich befindet, dureh die Formel h, = = [a Ve | gegeben ist. Im Sechsecke ins- n = a Va 2-73] besondere ist und hätte man das Recht, 5 als Näherungswert für Y3 anzunehmen, - d . 1 os so wäre = :;. Da ferner allgemein 3,=h,+7 5, 50 wäre 1 10d? auch , = +75= 77, und (125,)’=10d. Aber 125, = us ist der Umfang des Sehnenzwölfecks, und so hätte man erhalten 4; = dY10, d.h. a= Y10 bedeutet, man habe den Kreis als mit dem Sehnenzwölfeck zusammenfallend angesehen. Sehr sinnreich, wenn nur Y3 = 2 irgendwo Beglaubigung fände. Die dritte Ver- Ei Ki folgende‘), Bei Heron kommt der Näherungswert 22 V34 = 7 vor. Da nun bei Archimed ==, so kann 5 22 Ri g 486 T = 7 . 3 == 7 y54 == VS ı) L. Rodet, Sur les methodes d’approximation chez les anciens in dem Bulletin de la Societe mathematique de France T. VII (1879). °) Hunrath, Über das Ausziehen der Quadratwurzel bei Griechen und Indern. Hadersleben 1883, S.25. °) Colebrooke pag. 310, $ 42. *) Briefliche Mitteilung von Max Curtze. Geometrie und Trigonometrie. 649 P 7 486 } . gesetzt worden sein und, weil 9 ur wenig von 10 abweicht, auch x —=Y10. Diese Vermutung ähnelt in ihrem Grundgedanken der Er- setzung eines rationalen Wertes durch eine Irrationalzahl der ersten der drei hier geschilderten Vermutungen, dürfte also von der gleichen Einwendung wie jene bedroht sein. Heronisch ist es wieder, wenn unter Anwendung von Propor- tionen Höhen mit Hilfe von Schattenlängen gemessen werden!). Von Interesse ist uns dann noch die stereometrische Aufgabe, den Raum- inhalt einer abgestumpften quadratischen Pyramide zu finden, für welche Brahmagupta drei Lösungen angibt, eine für Praktiker, eine für annähernde, eine für genaue Rechnung?). Der Praktiker begnüge sich mit dem Produkte der Höhe in das Quadrat des Mittels zwischen den Seiten an der unteren und oberen Fläche des Stumpfes. An- nähernd richtig, fährt Brahmagupta fort, sei das Produkt der Höhe in das Mittel der Grundflächen. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir darin eine Bestätigung unserer oben ausgesprochenen Vermutung über die Entstehung der falschen Formel für den Rauminhalt der dreieckigen Pyramide bei Aryabhatta erkennen. Richtig sei, wenn man den Inhalt des Praktikers um den dritten Teil des Unter- schiedes der Inhalte des Praktikers und des annähernd Rechnenden vergrößere. Dieser letzte Ausspruch ist vollkommen wahr. Heißen a, und a, die Seiten der beiden quadratischen Grundflächen und ist 4 die Höhe des Pyramidenstumpfes, so ist richtig dessen In- haltı—n am te gupta h- (®); annähernd richtig sei h- es Ba no . (=) .: . EL es (+=@)]. Der Praktiker rechnet aber nach Brahma- a? a ; At und nun ist Wir sind oben mit sehr kurzen Worten über die Flächenformel Brahmaguptas für das Viereck hinweggegangen, welche als beson- deren Fall die heronische Dreiecksformel einschließt. Daß die Vier- ecksformel als eine allgemeine nicht gelten kann, ist ersichtlich. Gleichwohl hat Brahmagupta in jenem ersten Paragraphen seiner geometrischen Lehren in keiner Weise ausgesprochen, daß er der Formel nur bedingte Zulässigkeit für gewisse Vierecke, caturacra, zuschreibe. Man hat in verschiedener Weise sich dieser Schwierig- keit gegenüber einen Ausweg zu bahnen gesucht. Man hat ange- nommen, Brahmagupta, ein hervorragend geometrischer Geist, habe ') Colebrooke pag. 317. Section IX, Measure by shadow. 2) Ebenda pag. 312—313, $ 45—46. 650 30. Kapitel. eigentlich nur vom Sehnenviereck reden wollen; auf dieses bezögen sich auch einige andere Sätze, deren wir hier Erwähnung zu tun unterlassen, und Brahmagupta sei nur aus Kürze dunkel geblieben'). Man hat im schroffen Gegensatze dazu und an dem Wortlaute der Regel bei Brahmagupta festhaltend ihn beschuldigt, er habe die Regel, die er an einem besonderen Vierecke entdeckt habe, wirklich auf alle bezogen?). Man hat dagegen wieder von anderer Seite in Brahmaguptas Text alles finden wollen, was zum Verständnis nötig sei. Im 26. Paragraphen lehre nämlich Brahmagupta die Berechnung des Durchmessers des Umkreises, und darin liege ausgesprochen, daß die gemeinten Vierecke einen Umkreis besäßen; im 38. Para- graphen definiere er „die Aufgerichteten und die Seiten zweier recht- winkliger Dreiecke wechselweise mit der Diagonale vervielfacht sind vier unähnliche Seiten eines Trapezes; die größte ist die Grundlinie, die kleinste die Scheitellinie, die beiden anderen sind die Seiten“, und diese Definition, der man trotz ihrer Dunkelheit einen guten Sinn abzugewinnen wußte, bilde einen zweiten Kern der ganzen Unter- suchung, welche aber nur für Vierecke von den Gattungen stichhaltig sei, wie sie hier näher bestimmt wurden?). Auch dieser Meinung ist man entgegengetreten: Brahmagupta werde doch nicht in $ 33 erst definieren, was er seit $ 21 benutze; er werde den Gang seiner Untersuchung doch nicht so eingerichtet haben, daß man besser daran tue, sie von hinten nach vorn als in der Folge zu lesen, wie er sie niederschrieb; er werde doch endlich nicht als Formel für das Tetragon, das Viereck also, aussprechen, was er vom Trapeze meinte; und nach diesen freilich nicht ungewichtigen Einwürfen hat man ver- sucht zu zeigen, wie Brahmagupta rechnend und durch Induktion von der ihm bekannten Dreiecksformel aus zu der entsprechenden Vier- ecksformel gelangte, deren bedingte Gültigkeit ihm nur nach und nach klar wurde?). Diese sehr verschiedenen Auffassungen können uns nur bestimmen, die Dunkelheit des ganzen Kapitels bei Brahma- gupta von $ 21 bis $ 38 als eine bisher noch nicht vollständig ver- nichtete zu erklären. Wir glauben dabei noch immer an die Richtig- keit einiger aus der Formel von $ 26 und der Definition von $ 38 gezogenen Schlüsse, möchten aber doch nicht so zuverlässig be- haupten, jede Schwierigkeit sei damit verschwunden. Wir meinen freilich, ein Teil der Schwierigkeiten sei durch un- olückliche Übersetzung entstanden, welche das Wort Trapez anwandte, !) Chasles, Apergu hist. pag. 420 sqq., deutsch 465 figg. ?) Arneth, Geschichte der reinen Mathematik 8. 145 flgg. (Stuttgart 1852). 3) Hankel S. 210-215. *) Weißenborn, Das Trapez bei Euklid, Heron und Brahmagupta in Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik Il, 169—184 (1879). Geometrie und Trigonometrie. 651 wo es nach dem Sinne, welchen man diesem Worte beizulegen ge- wohnt ist, nicht angewandt werden durfte. Caturveda Prithüdakas- vämin, ein Scholiast des Brahmagupta, der selbst vor Bhäskara lebte, der ihn anführt!), gibt zu dem die Flächenformel enthaltenden $ 21 eine wichtige zu wenig berücksichtigte Erläuterung”): Dreierlei Drei- seite gebe es, fünferlei Vierecke und als neunte ebene Figur den Kreis; die Dreiseite seien gleichseitig, gleich für zwei Seiten und ungleichseitig; die Vierecke seien gleiche, paarweis gleiche, mit zweien gleiche, mit dreien gleiche und ungleiche Vierecke. Man sieht wohl: von Parallelismus, von Trapez und dergleichen ist dabei ausdrück- lich wenigstens nicht die Rede, und wenn man die fünf Gattungen von Viereecken aus den Beispielen, die derselbe Prithüdakasvämin beifügt, zu bestimmen sucht, so findet man, daß das gleiche Viereck das Quadrat, das paarweise gleiche das Rechteck ist; daß unter dem mit zweien gleichen und mit dreien gleichen gleichschenklige Parallel- trapeze zu verstehen sind, deren kleinere Parallelseite in dem zweiten Falle auch noch den beiden gleichen Schenkeln gleich sein soll. Die fünfte Gattung von Vierecken, nämlich die unter gewissen anderen zu erfüllenden Bedingungen ungleichen Vierecke sind im $ 33 definiert. Nun sieht man, welche heillose Verwirrung entstehen mußte, sobald man die Vierecke letzter Gattung Trapeze nannte, statt irgend ein anderes Wort, z. B. unser ungleiches Viereck zu wählen. Man sieht aber noch mehr. Man sieht, daß die fünf Gattungen von Vierecken keineswegs richtig gewählt sind. Sie erschöpfen den Begriff des Vierecks durchaus nicht. Aber darin sehen wir nur einen weiteren Beweis für den ausländischen Ursprung der indischen Geometrie. Die Fünfzahl der Vierecke ist vielleicht selbst auf griechische Erinnerung zurückzuführen, da Euklid in der 30. bis 34. Definition des I. Buches seiner Elemente ebensoviele Gattungen unterscheidet: Quadrat, Recht- eck, Rhombus und Rhomboid, unregelmäßiges Viereck, in seinen Gattungen freilich jeder Möglichkeit einen Platz zuweisend.. Nun waren den Indern nur Sätze über die fünf unberechtigten Vierecks- arten, welche Prithüdakasvämin uns nennt, bekannt geworden; nur mit ihnen also hatte man sich zu beschäftigen. Es waren das in den vier ersten Gattungen gerade die Vierecke, welche Heron mit Vorliebe behandelt hat, das Quadrat und das Rechteck und das gleichschenklige Trapez, die Lieblingsfigur schon der alten Ägypter. Was die Zerfällung der Trapeze in solche mit zwei und mit drei gleichen Seiten betrifft, so kann man verschiedener Meinung sein. Man kann meinen, da bei Heron verschiedene Gattungen von Parallel- ) Colebrooke pag. 245, $ 174 und Note 5. ?) Ebenda pag. 295, Note 1. 652 30. Kapitel. trapezen gefunden worden waren, deren Unterscheidungsgrundlage man nicht verstand, so habe man auf eigene Faust neue Gruppen ge- bildet; man kann aber auch an einen griechischen Ursprung denken, da beispielsweise Hippokrates von Chios (S. 208) sich mit Parallel- trapezen mit drei gleichen Seiten vielfach abquälte und es daher wohl möglich ist, daß Spätere auch noch um diese Figur sich küm- merten, ohne daß wir unmittelbar davon wissen. Kehren wir jetzt zu $ 26 Brahmaguptas zurück. Wenn darin von dem Halbmesser des Umkreises zuerst jedes Vierecks mit ausdrücklicher Aus- nahme des ungleichen Vierecks die Rede ist, so sind eben nur die vier ersten Gattungen gemeint, und diese vier sind zweifellos Sehnenvierecke, und wenn in demselben Paragraphen fortfahrend auch die Berechnung des Halbmessers des Umkreises der fünften Vierecksgattung gelehrt wird, so ist wieder zweifellos auch für diese Gattung die Eigenschaft als Sehnenviereck damit in Anspruch genommen. Jene ungleichen Vierecke der fünften Gattung entstehen aber gemäß $ 38 auf folgende Weise. Man denke (Fig. 85) zwei rationale rechtwinklige Dreiecke aus den Seiten «4, &, h und (,, (,, H ge- bildet. Man vervielfache die Seiten des ersteren zuerst mit C,, dann mit (,, so se 25 sind auch U, &C,, hC, und c,(,, %0,, hC, Seiten zweier rechtwinkliger Dreiecke. FE Be 48 25 Diese beiden setzt man mit den rechten Winkeln als Scheitelwinkeln aneinander, # /, so daß c,C, als Fortsetzung von c,Ü, und A c,C, als Fortsetzung von c,C, erscheint, beziehungsweise dad CO, +0, und Fig. 85. 60, +%C, zwei sich senkrecht durch- kreuzende Gerade bilden, welche als Diago- nalen eines leicht zu vollendenden Vierecks auftreten. Gegenseiten dieses Vierecks sind, wie wir schon wissen, AO, und hC,; das andere Paar Gegenseiten heißt leicht ersichtlich He, und He. Alle vier Vierecksseiten sind voneinander verschieden, sind ungleich; das Vier- eck ist aber aus vier rationalen rechtwinkligen Dreiecken zusammen- gesetzt, und je zwei Scheiteldreiecke sind einander ähnlich. Diese ungleichen Vierecke sind unter denen der fünften Gattung verstanden, und die Gleichheit der Summe je zwei gegenüberstehender Winkel kennzeichnet sie als Sehnenvierecke. Zu ihrer Bildung sind also Zu- sammensetzungen rechtwinkliger Dreiecke notwendig, welche Heron gekannt hat (S. 399), und für welche er in seiner Geometrie des eigenen Kunstausdruckes zusammenhängender rechtwinkliger Dreiecke, Geometrie und Trigonometrie. 653 roiyova dedoyavıa Nvaueve, sich bediente. Durch ähnliche Zusammen- setzung ist aus den beiden rechtwinkligen Dreiecken 5, 12, 13 und 9, 12, 15 an der Kathete 12 das in allen Beziehungen rationale be- rühmte Dreieck 13, 14, 15 entstanden, welches Heron kannte, welches auch den Indern vielfach als Beispiel diente. Vor der Zusammensetzung rationaler rechtwinkliger Dreiecke müssen wir aber auch die Kenntnis rationaler rechtwinkliger Drei- ecke selbst als vorausgehend vertreten finden. Heron hat sich mit solehen beschäftigt; auch bei Brahmagupta fehlen sie nicht, der, wie wir schon (8. 628) andeuteten, zweimal darauf zurückkommt, zuerst in seinem geometrischen Kapitel und dann eingeschaltet zwischen dem Rechnen mit irrationalen Quadratwurzeln, wo die Regel am 2 deutlichsten ausgesprochen ist!. Man solle c, = (5 - b) und - (3; ar b) als Seiten wählen, wobei ce und b ganz beliebige Werte haben. Diese Formel, welche die unter dem Namen des Pythagoras und des Platon bekannten Sonderfälle durch b=1 und db=2 in sich schließt, ist genau so bei keinem Griechen uns begegnet, stimmt aber zu der (S. 645) erörterten Entstehungsweise rationaler recht- winkliger Dreiecke. Dieser Umstand ebenso wie die Stelle, wo die Regel sich ausgesprochen findet, geben ihr ein, wenn auch nicht alt- indisches, immerhin indisches Gepräge, aber die Aufgabe, welche durch sie ihre Lösung fand, dürfte griechisch sein, dürfte, wenn man den Ausdruck gestatten will, in Indien nur noch mehr algebraisiert worden sein, als sie es schon war. Wir denken nicht, daß alle diese kleineren und größeren Über- einstimmungen zwischen Heron und Brahmagupta der Annahme unseres Grundgedankens entgegenwirken können, und fragen nun, was aus einer so aus der Fremde eingeführten Lehre im Lauf der Zeiten werden mußte? Wesentliche Fortschritte dürfen und können wir bei einem nicht geometrisch angelegten Volksgeiste nicht erwarten. Im Gegenteil, manches anfänglich Verstandene muß verloren gegangen sein. Nur Aufgaben einer algebraischen Geometrie werden den indi- schen Geist ansprechend weitere Pflege erfahren und sich vielleicht in einem Umfange erhalten haben, der das bei Brahmagupta Vor- handene überragt. Die Geometrie des Bhäskara?) erfüllt diese unsere Erwartung. Bis zu Bhäskara ist vor allen Dingen der Rest des Verständ- nisses der Formel für die Vierecksfläche verloren gegangen. In einem Vierecke mit denselben Seiten, sagt er, gibt es verschiedene Diago- ') Colebrooke pag. 340, $ 38. °) Ebenda pag. 58—111. 654 30. Kapitel. nalen. „Wie kann jemand, der weder eine Senkrechte noch eine der Diagonalen angibt, nach dem Übrigen fragen? oder wie kann er nach der bestimmten Fläche fragen, wenn jene unbestimmt sind? Ein solcher Fragesteller ist ein tölpelhafter böser Geist. Noch mehr ist es aber der, welcher die Frage beantwortet, denn er berücksichtigt nicht die unbestimmte Natur der Linien in einer vierseitigen Figur“!), R . ; > ii 22 Hinzugekommen ist die Kreisverhältniszahll m»—= _, welche als für . r os . “ . 3927 Praktiker genügend erklärt wird, während der feinere Umfang seo mal dem Durchmesser sei?). Hier ist allerdings etwas rätselhaft. Das erste Verhältnis ist das archimedische, das zweite das von Aryabhatta » 62832 in der Form 00 nicht bekannt oder, was noch auffallender wäre, nicht mitteilens- wert gewesen zu sein scheint, und doch soll es die Methode Archi- meds gewesen sein, welche zu dem genaueren Werte geführt hat. Archimed, erinnern wir uns, ließ vom Sechsecke ausgehend die Seitenzahl des eingeschriebenen Vielecks sich immer verdoppeln, bis er zum I6eck gelangte (S. 305). Ganeca, der Kommentator Bhäskaras, berichtet uns, man sei vom Sechsecke durch stete Verdoppelung der benutzte, während diesem die archimedische Zahl Seitenzahl bis zum 384eck vorgeschritten und habe so x = er gefunden. Bhäskara bedient sich übrigens auch noch einer anderen Annäherung”), nämlich x = ki —= 3,141666... Hinzugekommen sind ferner einige Aufgaben über rechtwinklige Dreiecke, welche unsere Aufmerksamkeit verdienen. Sie finden sich nicht, wie die bisher angeführten Dinge, in der Lilävati, sondern in dem Vija Ganita ge- nannten algebraischen Kapitel. Es wird verlangt, die Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks zu finden, wenn neben der Summe derselben erstens das Produkt der beiden Katheten oder zweitens das Produkt der drei Seiten gegeben ist‘). Die erstere Aufgabe ähnelt nämlich ebensowohl der heronischen Aufgabe vom Kreise, bei welcher Summen von Stücken verschiedener Dimensionen gegeben sind (S. 404), als der des Nipsus aus Hypotenuse und Fläche, d. h. also halbem Pro- dukte der Katheten die Dreiecksseiten selbst zu finden (9. 556). Bhäskara löst die erste Aufgabe wie folgt. Ist 4, =p, so ist 2p=20,6= (4 +6)” — (E+2)= (+6 -W=(s+a+h)+g—h). Da nun ,+%+h=s gegeben ist, so flgt , +, —h= °P und s !), Colebrooke pag. 73. ?) Ebenda pag. 87. °) Ebenda pag. 95, $ 214. *) Ebenda pag. 225—226, $ 151—152. Geometrie und Trigonometrie. 655 2 s — 2p»- s? -— 2» >2h=s— 2 de or re re 2 2 Die Katheten findet man noch einzeln, indem von (c, +) = (5?) der Wert 4c,c, = 4p abgezogen wird; so entsteht nämlich tm 1aps’ ap? (46) = Ag? und daraus &, — 6, welches in Gemeinschaft mit c, + «& die Katheten liefert. In der zweiten Aufgabe ist ,-5 h=pund. +, +h=s gegeben. Aus s—h=c,-+ c, erhält man 2— 2; +#=-d+d+24,-M +, mithin ist s®® — 2sh = 2 und 2sh®— s®h= —2p. Daraus findet 4 : j man h, daraus s-h=c,+c und r — 4c,6,, und nun ist es wieder v leicht ec, —c, und endlich die Katheten zu finden. Das sind Methoden, welche der von Nipsus angewandten entschieden ähneln, so wenig in Abrede gestellt werden soll, daß Bhäskaras Aufgaben die bei weitem verwickelteren sind. Hinzugekommen sind endlich einige Beweise geometrischer Sätze durch Rechnung, und einige auf Anschauung beruhende, wenn man letztere als Beweise gelten lassen darf. Ein Beispiel beider Auffassungen bildet der Beweis des pythagoräischen Lehrsatzes, der sich in dem Vija Ganita vor- findet!). Das eine Mal wählt man die Hypo- /, tenuse zur Grundlinie, auf welche (Fig. 86) 3/ Be von der Spitze des rechten Winkels aus eine / Senkrechte gefällt wird, und weist auf die # h, Eigenschaft der zwei so entstehenden recht- winkligen Dreiecke hin, mit dem ursprünglichen Proportionalitäten zu bilden. So kommen, wenn h, und h, die Stücke der Hypotenuse h heißen, die je an c, und c, anstoßen, die Verhältnisse heraus Fig. 86. und daraus folgt | hh+h)=W=dR+e. Bei Euklid (VI, 8 der Elemente) findet sich zwar nicht dieser rechnende Beweis selbst, aber doch dessen Grundlage, daß die Senk- rechte aus der Spitze des rechten Winkels auf die Hypotenuse zwei dem ganzen Dreiecke ähnliche Teildreiecke hervorbringt. ") Colebrooke pag. 220—222, $ 146. 656 30. Kapitel, Der andere Beweis, welcher, wie im 34. Kapitel sich zeigen wird, mehr als 200 Jahre vor Bhäskara schon bekannt war, kon- struiert (Fig. 87) über jede Seite des Quadrates der Hypotenuse nach innen zu das rechtwinklige Dreieck. „Sehet!“ Da- mit begnügt sich Bhäskara und erwähnt nicht ein- mal, daß die Anschauung A 6 '6 ER 2 | B-4x a4 -dte liefere. Ganz ähnlicher Natur sind Beweise, welche der Kommentator Ganeca zu Sätzen Bhäskaras beigebracht hat!). Die Dreiecksfläche wird er- halten als Rechteck der halben Höhe und der Grundlinie (Fig. 88). Sehet! Die Kreisfläche wird erhalten als Rechteck des halben Durchmessers in den halben Kreisumfang (Fig. 89). Sehet! | 7 ERS MAMMA Fig. 83. Fig. 89. N Fig. 87. Diese Beweisform, welche bei Brahmagupta nirgend auftritt, muß wohl als indisch betrachtet werden. Sie ist mit der algebraischen Beweisform verbunden ungemein charakteristisch für die Darstellungs- weise jener Geometer. Rechnen in nahezu unbegrenzter Möglichkeit oder Anschauen, darüber kommen sie nicht hinaus. Das eine wie das andere ist zum Beweise schon bekannter Sätze gleich gut anzu- wenden, die Rechnung ist strenger, die Berufung auf unmittelbare Anschauung vielfach überzeugender. Aber kann letztere zur Erfindung neuer Sätze führen? Kann es erstere, wenn nicht eine gewisse Summe geometrischer Sätze als Ausgangspunkt vorhanden ist, unter welchen der pythagoräische Lehrsatz einer der wichtigsten ist? Kann der pythagoräische Lehrsatz gefunden worden sein von einem Beweise ausgehend, wie die beiden durch Bhäskara uns überlieferten? Wir wissen, daß diese Fragen bald verneinend bald bejahend beantwortet worden sind, daß man gerade den auf Fig. 87 beruhenden Beweis des Satzes von dem Quadrate der Hypotenuse bis zu einem gewissen Grade für die Entstehung des Satzes in Anspruch genommen hat, Wir persönlich können diese Ansicht nicht teilen. Wir kommen, wie wir es in unserer seitherigen Schilderung indischer Geometrie ı) Colebrooke pag. 70, Note 4 und pag 88, Note 3. FR ) \ a uni in m Geometrie und Trigonometrie. 657 überall haben durchklingen lassen, immer wieder zur Überzeugung, es sei für die Inder nach einer frühen Periode geometrischer Beein- flussung von Norden her eine solche eingetreten, in welcher von Süd- westen her Fremdes eindrang, Fremdes, welches der indischen Denk- weise entsprach, also weniger der „Kuklid“ mit seinen streng geome- trischen Folgerungen, als der „Heron“ mit seinen Rechnungen. Eine solche Übertragung schließt keineswegs aus, daß indische Mathematiker des überkommenen Stoffes sich in ihrer Weise bemächtigten, ihn mißhandelten oder behandelten, wie sie es eben verstanden, bald einen Rückgang, bald einen Fortschritt zuwege bringend. Am unzweifelhaftesten sind die Fortschritte, welche der der Rechnung am meisten bedürftige Teil der alten Geometrie bei den Indern gemacht hat, die Trigonometrie'). Hier ist zwar von Griechenland aus sicherlich die archimedische Verhältniszahl e der Kreisperipherie zum Durchmesser nach Indien gedrungen (S. 654). Vielleicht mag auch griechischen Ursprunges sein, wie die Höhe h eines Kreisabschnittes, sein utkramajyü nach indischem Sprachgebrauche, mit der Sehne s und dem Kreishalbmesser r in Verbindung steht, wir meinen (Fig. 90) die leicht abzuleitende Gleichung >2hr -WP = 2 oder s=2Yh(2r —h). Aber ihre ganze weitere Rechnungsweise be- ginnend von dem Maße der Linien im Kreise ist so ungriechisch wie möglich, also vermutlich indischen Ursprunges. Allerdings zerlegt der Inder, wie wir schon früher betont haben, gleich dem Griechen und wahrscheinlich babylonischer Sitte folgend den ganzen Kreisumfang in 360 Grade oder in 21600 Minuten, da jeder Grad gleich 60 Minuten ist; aber wenn dann der Grieche den Halbmesser gleichfalls in 60 Teile mit sexagesimal fortschreitenden Unterabteilungen zerlegt, so fragt der Inder, wie groß der Kreis- bogen in Minuten sei, zu welchem der Halbmesser sich zusammen- biegen läßt. Er vollzieht eine Arkufikation der geraden Linie und muß dazu des schon bei Aryabhatta vorkommenden Wertes x = 3,1416 sich bedient haben, denn nur dann folgt aus 2xr = 21600 Minuten, Fig. 90. ") Vgl. außer Colebrooke den Sürya Siddhänta und das von Rodet übersetzte Kapitel des Äryabhatta. Ferner Asiatie researches (Calcutta) II, 225; daraus Arneth, Geschichte der reinen Mathematik S. 171—174. Woepcke, Sur le mot kardaga et sur une methode indienne pour caleuler les sinus in den N. ann. math. (1854) XIH, 386—394. A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Ge- schichte der Trigonometrie I, 31—42. CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 42 658 30. Kapitel. r= aa — 3457,71... in ganzen Zahlen am nächsten r = 3438 Mi- nuten, wie der Inder rechnet. Es ist nicht unmöglich, daß der Ge- danke der Arkufikation darin wurzelt, daß die Trigonometrie der Inder wie der Griechen in astronomischen Aufgaben ihren Ursprung hat, also zunächst eine sphärische Trigonometrie war, in welcher nur Bogen vorkommen, wenn auch im übrigen, wie wir noch bemerken werden, von sphärisch-trigonometrischen Aufgaben keine Rede ist. Von r = 3438 Minuten als erster Tatsache ausgehend wurde nun die ähnlicherweise in Minuten umgebogene Länge anderer Geraden im Kreise gesucht. Die Sehne, welche einen Bogen bespannt, wurde jyä oder jiva genannt, welche Wörter auch die Sehne eines zum Schießen bestimmten Bogens bezeichnen. Die halbe Sehne hieß dann jyärdha oder ardhajyä und wurde unter letzterem Namen auch zum halben Bogen in Beziehung gesetzt. Sie war nichts anderes als was die spätere Trigonometrie den Sinus jenes Bogens genannt hat. Auch den Sinus versus unterschied man, wie schon bemerkt, als utkramajyd, sowie den Kosinus als kofijyd. Man wußte zugleich aus dem aus Sinus, Kosinus und Halbmesser bestehenden rechtwinkligen Dreiecke, daß (sin «)? + (cos «)? = r? = (3438)?. Da ESS nun die Sehne von 60° dem Halbmesser oder 3438 % Minuten gleich ist, so mußte ihre Hälfte oder in . . . ”, . Ä " moderner Schreibweise sin 30° = gm 1719 Minuten sein. Man war nun imstande, aus dem Sinus eines Bogens den des halb so großen Bogens zu finden, da (Fig. 91) 2 sin — die Hypotenuse eines recht- winkligen Dreiecks bildet, dessen beide Katheten sin « und sin vers « sind. Folglich mußte 2 Fig. 91. (2 sin =) — (sin @)? + (sin vers «)? sein. Aber sinvers@ae—=r— cos« und sin«®+cos«@=r? ın Be- rücksichtigung gezogen, wird auch (2 sing) —2r?— 2r:cose und sin 5 zu I (r — e0s«) = Y1719 (3438 — cos a). So verschaffte man sich vielleicht die Zahlen, welche im Sürya Siddhänta unter anderen angegeben sind: sin 15° = 890 Minuten, sin 7° 30° = 449 Minuten, sin 3° 45’ = 225 Minuten. Aber 3° 45’ sind selbst 225 Minuten, also bei soweit fortgesetzter Bogenhalbierung fiel der Sinus mit dem Bogen zusammen, war ihm an Länge gleich, sofern man es bei der Genauigkeit von einer Minute bewenden ließ, und um so mehr mußte diese Gleichheit für noch kleinere « EN ee En 1 ERENTO HET NORRETTERENN Geometrie und Trigonometrie. 659 Bögen und deren Sinus stattfinden d. h. es mußte sin«=« sein, wofern « < 225’ war. Damit war dem Bogen von 225’ oder, wie wir auch sagen können, dem 96. Teile des Kreisumfanges eine be- sondere Wichtigkeit beigelegt, welche ihn würdig machte durch einen besonderen Namen ausgezeichnet zu werden. Man nannte seinen Sinus und ihn selbst den geraden Sinus, kramajyd. Wenn wir uns ausdrückten, man habe vielleicht von sin 30° aus- gehend durch Bogenhalbierung sin 225’— 225’ gefunden, so gebrauchten wir dieses einschränkende Wort, weil möglicherweise auch der um- gekehrte Weg eingeschlagen wurde. Die archimedische Verhältnis- zahl T war gefunden worden, indem man das 96eck als mit dem umschriebenen Kreise nahezu zusammenfallend sich dachte; daraus 360% 360° TREE) rk setzen und zum voraus diese Annäherung als genügend zu be- trachten. Sei dem nun, wie da wolle, jedenfalls spielte von nun an der Bogen von 225’ wie dessen Vielfache und die Sinus derselben in der indischen Trigonometrie eine Rolle, deren Wichtigkeit zur Genüge hervortreten wird, wenn wir sagen, dieser Bogen bildete die Bogen- einheit einer Sinustabelle, die sich von 3° 45’ bis 90° in 24 Werten erstreckte. Die Auffindung der Sinusse der durch Zusammen- setzung von Bögen gebildeten größeren Bögen erfolgte nach ähnlichen Methoden, wie Ptolemäus sie im Almageste gelehrt hat. Nachdem die Tabelle gebildet war, erkannte man vermutlich empirisch das Zahlengesetz, daß sin (m + 1) 225’) — sin (n - 225”) = sin (n - 225°) — sin ((n — 1) 225’) sin (n - 225”) 225 war, und benutzte nunmehr diese Interpolationsformel, um die Tabelle selbst jeden Augenblick herstellen zu können. Bhäskara ist sogar bei dieser Tabelle nicht stehen geblieben. Er hat die Sinusse und Kosinusse in Bruchteilen des Halbmessers des Kreises angegeben: sin 25 =, cn -T; snll=-, coll=r, wo jedesmal die betreffenden Teile des Halbmessers gemeint sind; er hat die Berechnung einer Sinustabelle gelehrt, deren Bögen von Grad zu Grad fortschreiten. Damit steht vielleicht eine in der Lilä- ‘ vati!) mitgeteilte Formel in Verbindung, welche die Sehne s aus könnte man Veranlassung genommen haben, auch sin 1) Colebrooke pag. 94, $ 213. 42* 660 30. Kapitel. dem Kreisumfange P, dem Durchmesser d und dem Bogen B finden lehrt: s= an ‚ eine Formel, deren Ableitung noch nicht —P— B(P—B) enträtselt ist, welche aber eine ziemlich genügende Annäherung liefert!). Trigonometrie als Berechnung von Dreiecksstücken eines be- liebigen Dreiecks mit Hilfe von Winkelfunktionen scheinen die Inder nicht gekannt zu haben. Sie führen vielmehr fast alle Aufgaben auf ebene und zwar auf rechtwinklige Dreiecke zurück und konnten so mit ihren planimetrischen Kenntnissen ausreichend die verschiedenen vorkommenden Fragen beantworten. Als wesentlicher Fortschritt, den die Trigonometrie in Indien machte, bleibt danach das übrig, was wir oben besprachen: die Sinustabelle.e Die Sehnen waren verdrängt durch ihre Hälften. Was im Analemma des Ptolemaeus angedeutet war (8. 423), aber bei dem Griechen nicht seine in Zahlen umgesetzte Ausbildung fand, dessen Wichtigkeit ahnte wenigstens der rechnungsgeübte Inder. In dem Sürya Siddhänta findet sich bereits eine Sinustabelle.e Die ganze Tragweite der damit vollzogenen Abänderung ergab sich allerdings auch den Indern noch nicht, sondern erst ihren Nachfolgern, den Arabern. ı) Ein Herleitungsversuch der Formel von Suter in den Verhandlungen des III. internationalen Mathematikerkongresses in Heidelberg 1904 8. 556—558 scheint uns zu kühn, um ihn aufzunehmen. ER Ph Ber Ss o a o Oh + . # 31. Kapitel. Die Mathematik der Chinesen. „Wissen, daß man es weiß, von dem was man weiß, und wissen, daß man es nicht weiß, von dem was man nicht weiß, das ist wahre Wissenschaft.“ So soll Confucius, der chinesische Weise, dessen Lebensdauer von 551 bis 479 angesetzt wird, zu seinen Schülern gesagt haben!), Von China selbst dürfte nach dieser Definition kaum eine Wissenschaft möglich sein, denn weder was wir über dieses Reich wissen, noch was wir nicht wissen, ist von Zweifel befreit. Europäischer Nachforschung hat man mit geringen Ausnahmen, welche sich auf Männer bezogen, die keineswegs mit der kritischen Vorbereitung eines Gelehrten von Fach ausgerüstet waren, zu allen Zeiten Hindernisse in den Weg zu legen gewußt. Was uns über Chinas Vergangenheit erzählt wird, stammt ausschließlich von der Benutzung chinesischer Quellen durch Chinesen her. Der Chinese aber liebt das Alte. Seine Anhänglichkeit an dasselbe geht so weit, daß er Neuerungen, wo möglich, als Rückkehr zu Altem und Ältestem darstellt, und wenn ein anderer Ausspruch des Confucius, er habe neue Schriften nicht verfaßt, er habe nur die alten geliebt, erläutert und verbreitet?), vielleicht der persönlichen Bescheidenheit des Redners entstammt, so ist jedenfalls von anderen diese Auf- fassung dahin überboten worden, daß sie für alt ausgaben, was durchaus neuen und neuesten Datums war. So gibt es kaum eine Erfindung, welche nicht mit dankbarer, vielleicht häufig ganz unbegründeter Erinnerung an bestimmte Per- sönlichkeiten eines längst entschwundenen Altertums geknüpft wird. Die Schrift, nach der Ansicht einer Gelehrtenschule in namenlose Vorzeit hinaufreichend, soll nach der Ansicht einer zweiten Schule von Kaiser Fü hi um 2852 v. Chr. herrühren, und ein fürstlicher ') Paul Perny, Grammaire de la langue chinoise orale et ecrite. Paris. T. I, 1873. T. II. 1876. Der hier zitierte Ausspruch II, 243, Note I. °) Perny II, 263. 664 31. Kapitel. Gelehrter Prinz Huäy nän tse gibt (189 v. Chr.) gar an, die Schrift sei durch Tsäng ki&, den Minister des Kaisers Huäng ti 2637 v. Chr. auf Befehl des Kaisers erfunden worden'!), Auf Fü hi wird auch das dekadische Zahlensystem zurückgeführt?), welches er abgebildet auf dem Rücken eines aus den Fluten des Gelben Stromes auf- tauchenden Drachenpferdes sah und dessen Bedeutung erkannte. Die chinesische Tusche soll unter Kaiser Oü wäng 1120 v. Chr. schon bereitet worden sein?). Confueius soll sich zum Schreiben damit eines Pinsels aus Antilopenhaar bedient haben, während Pinsel aus Hasenhaar durch Möng tien 246 v. Chr. erfunden wurden, einen General, welcher auch eine Art von Papierbereitung lehrte und zu- gleich die Aufsicht über die Erbauung der chinesischen Mauer führte, eine Vereinigung von Tatsachen, in welcher wir fast eine Ironie der Geschichte zu erkennen geneigt sind. Wir würden noch anderen eben so glaubhaften oder unglaubwürdigen Nachrichten begegnen, wenn wir weiter griffen. Wir wollen lieber an der Hand chinesischer Quellen einen Blick auf die Geschichte des Reiches der Mitte werfen?). Wilde Jäger waren die Ureinwohner Chinas. Zu ihnen wanderte zwischen dem XXX. und XXVII S. von Nordwesten her das „Volk mit schwarzen Haaren“ ein, Hirten, die sich bald dem Landbau wid- meten und eine gewisse Kultur schon mit sich brachten. Sie hatten ein Wahlkaisertum, welches bis um 2200 währte Nun folgten in meistens lang am Ruder bleibenden Erbfolgen verschiedene Dynastien. Die Dynastie Hin regierte 500 Jahre. Sie wurde von der Dynastie Chang gestürzt, diese um 1122 durch die Dynastie der alten Teheöu entthront. Die Tcheöu waren ein Stamm, der unter den Ohang von der alten Gemeinschaft sich trennte und westlich sich ansiedelte. Dort erstarkten sie so weit, daß seit 1200 Kämpfe zwischen ihnen und den Untertanen der Ohang begannen, die in dem genannten Jahre 1122 mit der Ersetzung des letzten Chang-Kaisers Cheou sin durch Oü wäng endigten. So wurde dieser letztere Kaiser aller wieder vereinigten Stämme und gab ihnen ein neues Gesetzbuch, den Teheöu ly, welchen sein Bruder Tcheöu kong verfaßt haben soll, während eine andere Sage den Tcheöu ly wenige Jahre später (1109) im sechsten Regierungsjahre von Then wäng entstanden sein läßt?). Die Dynastie der Tcheöu blieb im Besitze der kaiserlichen Macht bis 221 also volle 900 Jahre. ı, Perny I, 2—4, 7, 9. ‚, ?) Biernatzki, Die Arithmetik der Chinesen in Crelles Journal für reine und angewandte Mathematik (1856). LII, 59—94. Die hier angezogene Stelle auf 8. 92. °) Perny II, 92. *) Unsere Quelle war namentlich die Einleitung des zweibändigen Werkes: Le Teheou Ly ou rites de Teheöu tradwit par Ed. Biot. Paris 1851. °) Perny II, 303. Die Mathematik der Chinesen. 665 In diese lange Periode fällt eine Einwanderung von vielleicht hochwichtigem Einflusse auf die chinesische Kultur. Eine jüdische Kolonie ließ sich jedenfalls im VI. S. in China nieder!), also etwa zur Zeit, die kurz vor die Geburt des Confucius fällt, die etwa die Blütezeit eines andern chinesischen Weisen Laö tse war, welcher 604—523 gelebt hat. Bei Laö tse, von welchem übrigens auch weite Reisen nach Westen, vielleicht bis Assyrien, erzählt werden, findet sich mutmaßlich eine Spur der Berührung mit diesen Einwanderern in dem dreieinigen Namen Yhy wy, welche er dem Taö, d. h. dem höchsten Wesen, beilegt und in welchem man Jehova, den der war, ist und sein wird, hat erkennen wollen. Auf die Teheöu folgt Tsin sche huäng ty, der sich durch eine Anordnung aus dem Jahre 213 v. Chr. den Beinamen des Bücher- verbrenners verdiente’). Ob er nur eine neue Schrift allgemein einführen wollte, um der wachsenden Verwirrung ein Ende zu machen, die darin ihren Ursprung hatte, daß allmählich die allerverschiedensten Verschnörkelungen der Schriftzeichen Eingang gewonnen hatten, ob er, was dem, der der Gründer eines neuen Herrschergeschlechtes zu werden beabsichtigt, weit ähnlicher sieht, alles vernichtet wissen wollte, was auf die frühere Geschichte sich bezog, damit nicht der Geschmack der Alten über die neueren Einrichtungen ein Verdam- mungsurteil spreche oder gar die Staatskunst des Kaisers tadle, jeden- falls wurde der Befehl des Kaisers vollzogen, so genau es möglich war, und Stöße von zusammengehefteten Bambusbrettehen mit einge- ritzten Schriftzeichen, die Bücher der alten Chinesen, wurden den Flammen überantwortet. Der Kaiser starb 211. Seinem Geschlecht verblieb die Regierung nicht. Die Dynastie der Han folgte 197, und der ihr angehörige Hoei ti hob 191 das Verbrennungsedikt wieder auf. Ja unter einem der nächsten Regenten dieses Hauses Hiao wen ti 170—156 suchte man nach Werken, welche der Vernichtung entgangen waren, und fand solche in ziemlicher Menge. Bruchstücke des Teheöu 1y sollen damals entdeckt und der kaiserlichen Büchersammlung einverleibt worden sein, welche sodann zwischen 32 und 6 v. Chr. durch den gelehrten Minister Lieou hin noch interpoliert wurden, um, wie es heißt, gewissen damals zu treffenden Einrichtungen den Stempel hohen Alters aufzudrücken. Die Dynastie der Han ging 223 n. Chr. zu Ende. Wieder haben wir ein für chinesische Kulturverhältnisse ungemein ı) Perny I, 265, 305, 312. ®) Vgl. Tcheöu ly I, pag. XII figg. mit Perny II, 34—36. 666 31. Kapitel, bedeutsames Ereignis aus dieser Zeit zu erwähnen. Im Jahre 61 n. Chr. fand der in Indien verfolgte Buddhismus in China Eingang, wo er insbesondere unter der niederen Bevölkerung sich unaufhalt- sam und mit so dauerndem Erfolge verbreitete, daß noch jetzt die große Masse der etwa 500 Millionen Menschen, welche chinesisch reden, ihm anhängt. Es kann unsere Aufgabe nicht sein auch nur skizzenhaft der nun folgenden Dynastien zu gedenken. Höchstens, daß wir erwähnen wollen, wie unter den Sung im Jahre 1070 ein politisch-literarischer Streit an eine Auslegung sich knüpfte, welche Wang ngan chi, der Minister des Kaisers Chin tsong, einigen Stellen des Tcheöu ly gab. Damals ging man so weit die Ursprünglichkeit jenes Werkes völlig zu leugnen und es für eine Fälschung des Lieou hin, also etwa aus den drei letzten Jahrzehnten vor dem Beginne der christlichen Zeit- rechnung, zu erklären. Daß man nicht einen noch späteren Zeit- punkt für das unterschobene Werk annahm, war wohl vorzugsweise in der Lebenszeit der Kommentatoren des Teheöu ly begründet. Man kannte damals hauptsächlich drei solcher Kommentatoren: Tching tong dem I. S. n. Chr., Tehin khang tehing dem II. S., Kiu kong yen dem VII. S. angehörig, von welchen insbesondere der zweite zur Siche- rung des Originals seit seinem Leben dienen konnte, weil sein Kom- mentar über das ganze Werk fortläuft und stete Vergleichungen mit den Sitten und Regeln, mit den Würden und Öbliegenheiten seiner Zeit anstellt'). Hundert Jahre nach jenem Streite trat ein vierter Kommentator Wang tchao yu hinzu, und nun am Ende des XII. S. verfocht auch der gelehrte Tchu hi wieder die volle Echtheit des Teheöu 1y. Auf die Sung folgte ein fremdes Herrschergeschlecht. Mongolen drangen in China ein und gaben dem Reiche eine Dynastie, welche 1275—1368 den Kaiserthron besetzt hielt, bis sie, die sogenannte Dynastie Yun, verdrängt wurde durch die einheimische Dynastie Ming 1368—1644. Im Gefolge der Mongolen kamen, wie mit Be- stimmtheit bekannt ist, arabische Gelehrte an den Kaiserhof von China, ihre wieder ganz anders geartete Wissenschaft mit sich führend, freilich nicht die ersten Araber, welche in China erschienen, denn schon 615 n. Chr., 713, 726, 756, 798 waren arabische Gesandt- schaften dorthin gelangt, das heißt Handeltreibende, deren Anführer, um mehr beachtet und geachtet zu sein, sich als Abgeordnete des Herrschers der Araber aufspielten. Der Name, unter welchem die Araber erwähnt werden, ist Ta schi, das ist Täzy, der persische Name 1) Teheöu 1y I, pag. LX—LXI. Die Mathematik der Chinesen. 667 derselben). In die Mongolenzeit fallen auch die Reisen des Vene- tianers Marco Polo, dessen Berichte bei der 1295 erfolgten Heim-- kehr auf unverdienten Unglauben stießen. Erst unter der Ming- dynastie suchten andere Europäer dem Beispiele des Wundermannes, der von seinem Umsichwerfen mit großen Zahlen oder von seinen Reiehtümern den Beinamen Messer Millione erhalten hatte, zu folgen und in das schwer zugängliche Reich einzudringen. Dem Jesuitenmissionar Matthias Ricei gelang es 1583 zuerst Zugang zu finden und in seinem Unternehmen, das Christentum zu predigen, nennenswerte Erfolge zu erreichen. Er machte sich zu- gleich auch als tüchtiger Astronom am Kaiserhofe geltend, so daß ihm, bis er 1620 China wieder verließ, die Leitung des Kalender- wesens übertragen wurde, eine früher in China erbliche Würde, und von nun an blieb China ein der katholischen Mission geöffnetes Land, so daß dieselbe mehr und mehr erstarkte, so daß Missionsprediger Kenntnisse genug von Land und Leuten, von Sprache und Schrift sich erwarben, um in umfangreichen Werken davon handeln zu können, um auch ihrerseits den Chinesen europäische Wissenschaft mitzu- teilen. Wissen wir doch, daß Julius Aleni, der von 1613 bis zu seinem 1649 eintretenden Tode in China verweilte, in der Landes- sprache einen Auszug aus den Elementen des Euklid und eine prak- tische Geometrie verfaßte?). Jean Francois Gerbillon löste ihn ab 1686 —1707, in welchem Jahre er in Peking starb. Es verfaßte eine Geometrie nach Euklid und Archimed in chinesischer und in tartarischer Sprache’). Das änderte sich auch nicht als die Mandschu, erst mit den Chinesen in Krieg verwickelt und zurückgeschlagen, von einer der in China nicht seltenen Gegenregierungen, die in China gegen den Kaiser sich erhob, zu Hilfe gerufen wurden, und ein Mandschu Schun tehi nach mehrjährigen Kämpfen 1647 die noch jetzt vorhandene Dynastie der Tsing gründete. Unter dieser Dynastie, insbesondere unter Kaiser Kang hi, wurde vielmehr das Verhältnis zwischen dem Kaiserhofe und den Missionären ein immer engeres. Schon unter Kang hi’s Vorgänger war Adam Schaal aus Köln, gleich Ricei, Aleni und Gerbillon Mitglied des Jesuitenordens, gleich ihnen Astronom und Missionär, in China ansässig geworden. Nun folgte ein fünfter Jesuit, der Holländer Ferdinand Verbiest, den ') Bretschneider, On the knowledge possessed by the Chinese of the Arabs and Arabian Colonies. London 1871, und A. v. Kremer, Culturgeschichte des Orients II, 280. Wien 1877. ?) Carteggio inedito di Ticone Brahe, Giovanni Keplero ete. con Giovanni Antonio Magini pubblicato ed illustrato da Antonio Favaro. Bologna 1886, pag. 108 Note 4. ®») Poggendorff, Biographisch- literarisches Handwörterbuch zur Geschichte der exacten Wissenschaften I, 877. 668: 31. Kapitel. Kang hi zum Präsidenten des Kollegiums für Astronomie ernannte, ‚derselbe Kang hi, der in mannigfachster Weise seine Liebe für Wissen- schaft betätigte und z. B. ein Wörterbuch der damals vorhandenen Schriftzeichen anfertigen ließ, welches in 32 Bänden 42000 Zeichen enthält). Es folgten im XVII 5. Männer wie Pater Pr&mare, Pater @aubil, deren Werke für die Kenntnis Chinas unentbehrlich geworden sind, wenn ihnen auch anhaftet, was wir zu Anfang dieses Kapitels angedeutet haben, daß sie den Erzählungen chinesischer Be- richterstatter und chinesischer Bücher ein allzubereites Ohr zu leihen liebten. Am Anfange des XIX. S. erfolgte ein Umschlag, als 1805 die katholische Mission eine Landkarte einer chinesischen Provinz nach Rom zu schicken wagte. Das alte Mißtrauen, die alte Feind- schaft gegen die Fremden erwachte, welche kaum durch die Waffen Europas um die Wende des XIX. zum XX. Jahrhundert gebändigt, sicherlich nicht vernichtet worden ist. | Der ‘Überblick, welchen wir, selbstverständlich auf Quellenwerke zweiter Hand allein uns stützend, hier gegeben haben, soll uns mehr- fache Zwecke erfüllen. Er soll uns gestatten im Verlaufe dieses Kapitels der Dynastien als Zeitbestimmungen uns zu bedienen. Er soll zweitens in ein helles Licht setzen, daß die Kultur des Reiches, mit welchem wir uns zu beschäftigen haben, doch nicht so sehr gegen auswärtige Einflüsse abgeschlossen war, als man in gebildeten Kreisen Europas zu wähnen pflegt, daß vielmehr in dem Zeitraum, welcher mit dem VI. vorchristlichen Jahrhundert beginnt, der Reihe nach jüdisch-babylonische, dann indische, dann arabische, dann euro- päische Wissenschaft die Gelegenheit hatte in China einzudringen, eine Gelegenheit, welche kaum jemals unbenutzt verlaufen sein mag. Er soll drittens uns bemerklich machen, daß den chinesischen Zeit- angaben für schriftstellerische Überreste nicht immer Glaube beizu- messen ist, daß es häufig absichtliche Rückverlegungen sind, von Chinesen selbst wenigstens im Eifer gelehrter Streitigkeiten als solche verunglimpft und ihres Ansehens für unwürdig erklärt. Steht es doch um die Glaubwürdigkeit chinesischer Berichte überhaupt nicht sonderlich, und ohne auf Gründe psychologischer Art uns einzulassen, die man weder behaupten noch verwerfen sollte, ohne sich auf eigne Kenntnis des betreffenden Volkscharakters stützen zu können, wollen wir nur ein Moment hervorheben: das ist die buddhistische Neigung zur Anwendung großer Zahlen, welche in China ihren Gipfelpunkt erreichte und in dem Namen Sand des !) Stanisl. Julien in dem Journal Asiatique vom Mai 1841. 3ieme serie XI, 402. Die Mathematik der Chinesen. 669 Ganges, heng ho cha, welcher dem 10° beigelegt wurde'), ihren Ursprung deutlich an den Tag legt. Man könnte ferner aus dem Umfange vorhandener chinesischer Enzyklopädien den Rückschluß ziehen, daß viel Unwahres in den- selben mit in Kauf genommen werden muß. Wenn uns gesagt wird, daß eine solche Enzyklopädie, welche den Namen Yün lo ta tien führt, aus beinahe 15000 Bänden bestehe”), so kann uns das schon ein Kopfschütteln entlocken. Wenn nun aber gar eine neue Finzy- klopädie, zu deren Herstellung Kaiser Ki6u löng den Befehl gab, auf 160000 Bände veranschlagt worden ist, von welchen über 100000 bereits vollendet seien?), so ruft diese Mitteilung in uns persönlich keineswegs das Gefühl demütiger Bewunderung hervor, welches den Berichterstatter offenbar durchdringt. Wir kommen vielmehr selbst unter Beschränkung der Stärke der Bände auf das Geringfügigste und unter Ausdehnung der durch Blumenreichtum der Sprache trotz der ungemein raumsparenden Wortschrift erzielten Raumverschwen- dung auf das Unerträglichste nur zu dem einen Gedanken: Wie viel muß in einer solchen Enzyklopädie unwahr sein, da für ein Volk, welches seinen Stolz darein setzt um das Ausland sich nicht zu kümmern, so viel Wahres gar nicht vorhanden sein kann. Wir werden freilich, trotz dieser Bekenntnis unserer ungläubigen Voreingenommenheit, getreulich wieder berichten, was aus ver- schiedenen chinesischen Werken für die Geschichte der Mathematik bei jenem Volke ermittelt worden ist, überall soweit als möglich der Zeitangabe folgend, welche die Chinesen selbst liefern, aber wir verargen es keinem unserer Leser, wenn ihn die erheblichsten Zweifel an unsere Gewährsmänner erfüllen sollten. Man wird es um so be- greiflicher finden, daß wir europäischer Übertreibungen, die chine- sischer als die Chinesen selbst der Sternkunde jenes Volkes ein Alter von 18500 Jahren beilegen wollen, nur mit diesem einen Worte gedenken). Einem Minister des Kaisers Huäng ti, welcher 2637 v. Chr. re- gierte, wurde, wie wir (8. 664) gesehen haben, nach einem Berichte die Erfindung der Schrift beigelegt. Ein anderer Minister desselben Kaisers, Cheöu ly, wird als Erfinder des Rechenbrettes, swan pän, ) Ed. Biot, Table generale d’un ouvrage chinois intitule Souan-fa-tong-tson ou Collection des regles du calcul im Journal Asiatique vom März 1839. 3ieme serie, VO, 195. ®) Perny I, 10. °) Ebenda II, 7. *) G. Schlegel, Urano- graphie chinoise. Wir selbst kennen das Werk nur aus den dessen Tendenz ablehnenden Rezensionen von Jos. Bertrand (Journal des Savans 1875) und von S. sünther (Vierteljahrsschrift der Astronomischen Gesellschaft, XI. Jahr- gang, Heft 1). E 670 31. Kapitel. genannt‘), und unter ebendemselben soll das erste arithmetische Werk, die neun arithmetischen Abschnitte, Kieou tschang, verfaßt worden sein?), welches in fast allen nachfolgenden arithmetischen Werken als die erste Grundlage der Wissenschaft des Rechnens ge- nannt wird, und welches schon Tcheöu kong, von welchem noch nachher die Rede sein wird, um 1100 v. Chr. im Auge gehabt haben soll bei einer Vorschrift?): die Söhne der Fürsten und des hohen Adels in den sechs Künsten zu unterweisen, nämlich in den fünf Klassen gottesdienstlicher Gebräuche, in den sechs verschiedenen Arten der Musik, in den fünf Regeln für Bogenschützen, in den fünf Vor- schriften für Wagenlenker, in den sechs Anweisungen zum Schreiben und endlich den neun Methoden mit Zahlen zu rechnen. Wieder Huäng ti ist es, dem die Einführung eines 60jährigen Zyklus nach- gerühmt wird‘®). Zum besseren Verständnis dieser Berichte müssen wir einiges hier einschalten. Die Chinesen teilen ihre Zeit nach den Grund- zahlen 12 und 10 ein. Zwölf Stunden bilden ihnen den Tag, und der Zehn bedienen sie sich zur höheren Zeiteinteilung’), nachdem eine in den heiligen Schriften vorkommende siebentägige Zeitgruppe wieder verloren gegangen ist‘). Aus den beiden Grundzahlen 12 und 10 vereinigt soll nun die Zahl 60 jener Jahreszyklen entstanden sein. Jedes der 60 Jahre hat seinen besonderen Namen, das erste kiä, das zweite tse usw., weshalb der ganze Zyklus kıä tse genannt wird. Die aufeinander folgenden Namen dieser Jahre weiß jeder Chinese aus- wendig, und er sagt daher über sein Alter befragt ohne weiteres: ich bin in dem so und so genannten Jahre des gegenwärtigen oder des vergangenen, des vorvergangenen Zyklus geboren. Eine anderweitige Anwendung dieser Namen bietet die Geometrie, indem die einzelnen Punkte einer Figur durch sie unterschieden werden, in derselben Weise wie Griechen und Römer es durch die Buchstaben ihres Alpha- betes zu erreichen wußten. | Wir haben ferner vom Rechenbrette swän pän gesprochen’). Von demselben handelt der swän fä töng tsöng in 6 Bänden von je 2 Büchern. Der Swän pän besteht aus in einen Rahmen einge- spannten Drähten, welche insgesamt durch einen Querdraht in zwei Abteilungen zerfallen, deren kleinere 2, deren größere 5 Kugeln trägt, also abgesehen von einer sehr überflüssigen Kugel in jeder einzelnen ı) Perny I, 108. ?) Biernatzkil.c. 8. 62. °) Ebenda S. 67. *) Ebenda S.62. °) Perny I, 104. °) Ebenda I, 107. °) Abbildungen desselben bei Duhalde, Ausführliche Beschreibung des chinesischen Reiches und der großen Tartarei, übersetzt von Mosheim. Rostock 1747, Bd. II, S. 350, und bei Perny I, 108. Die Mathematik der Chinesen. 671 Abteilung genau in der Weise hergerichtet sind, wie wir den Abacus der Römer (8. 529) beschrieben haben. Die meisten Swän päns be- sitzen 10 Drähte. Es soll auch solche von 15 und mehr Drähten geben. Einem Zeichnungsfehler dürfen wir es vielleicht zuschreiben, wenn eine Abbildung nur 9 Drähte aufweist‘), während wir aller- dings selbst der Ausnahmsbildung eines echt chinesischen Swän pän mit 11 Drähten begegnet sind?). Wie ausnahmslos die Chinesen sich ihres Swan pän bedienten, ist schon daraus zu entnehmen, daß in den Lehrbüchern der eigentlichen Rechenkunst über Addition und Subtraktion gar keine Vorschriften gegeben sind”), doch wohl .nur, weil man diese Rechnungsarten mit der Hand und nicht im Kopfe auszuführen gewohnt war. Für das Multiplizieren und Dividieren sind dagegen Regeln vorhanden. Ersteres beginnt bei der Verviel- fachung der größten Zahlenteile, letztere wird durch wiederholte Sub- traktion ausgeführt. Da auch unter Huäng ti die Anwendung der Schrift auf arith- metische Dinge uns erwähnt wird, so müssen wir hier von der Zahlenschreibung bei den Chinesen reden. Wir dürfen dabei wohl zweierlei als bekannt voraussetzen: erstens daß die chinesische Sprache der Beugungsformen durchaus entbehrt, so daß alle syn- taktischen Beziehungen der Wörter eines Satzes zueinander nur durch die gegenseitige Stellung sowie durch eigens dazu vorhandene Partikeln ausgedrückt werden müssen, zweitens daß die Schrift der Chinesen keine Lautschrift oder Silbenschrift, sondern eine ursprüng- lich bildliche Begriffsschrift ist, deren Zeichen kursiv geworden und ihrer ursprünglichen Gestalt entfremdet nunmehr aus 214 Schlüsseln?) durch das reichhaltigste Verbindungsverfahren hergestellt werden können. So wuchs die Anzahl chinesischer Zeichen bis auf die 42000 des Wörterbuches Kaisers Kang hi, während freilich die vier sogenannten klassischen Bücher der Chinesen nicht mehr als die Kenntnis von 2400 Zeichen von ihrem Leser verlangen’). Das sind immer noch viel mehr als eigentliche chinesische Stammwörter vor- handen sind, deren man neuerdings 304 zählt, welche sich durch verschiedenartige Betonung auf 1289 erheben‘), aber naturgemäß weitaus nicht hinreichen jedem Begriffe ein eigenes Wort zuzuwenden, so daß 20, ja 30 chinesische Schriftzeichen durch dasselbe Wort aus- gesprochen werden, beziehungsweise daß man dasselbe Wort, weil es ‘) Perny I, 109 und 110. ?°) Das 11drähtige Exemplar gehört der ethno- graphischen Sammlung des Missionshauses in Basel an. °) Biernatzki S. 72. * Perny I, 103. °) Stanisl. Julien im Journal Asiatique vom Mai 1841, pag. 402. °) Perny I, 34—36. 672 31. Kapitel. 20 bis 30 Bedeutungen besitzt, bald so bald so zu schreiben über- eingekommen ist. Diese Armut der Sprache nötigte nun bei den Zahlwörtern Ver- bindungen weniger Elemente eintreten zu lassen, und die Elemente wurden nicht anders als wie bei den übrigen Völkern gewählt, denen wir bisher unsere Aufmerksamkeit zuwandten: das Zehnersystem der Zahlbildung ist auf das folgerichtigste festgehalten. Der Mangel an jeglicher Beugung ließ ja nicht einmal Wortverschmelzungen wie z. B. unser dreißig zu; die Wortelemente drei und zehn mußten unverändert sich zusammensetzen. Eben dieselben Wortelemente mußten zu der Bildung des Zahlwortes dreizehn ausreichen, und so ergab sich für die Chinesen als sprachnotwendig, was überall sonst mehr oder weniger Willkür war: man mußte je nachdem der Name einer kleineren Zahl dem einer größeren voranging oder folgte bald multiplikativ bald additiv verfahren, und vermöge des Gesetzes der Größenfolge, welches dem des Zehnersystems im allgemeinen noch vorgeht, ergab sich die Regel von selbst aus san = 3 und ch@ = 10 additiv ch® san = 10 +3 = 13, multiplikativ san che = 3 x 10 = 30 zu bilden. Die Schrift hat nun bei den Chinesen dieselbe Methode festgehalten. Sie unterscheidet sich freilich von der dem Europäer geläufigen Reihenfolge insofern als der Chinese seine Wörter von oben nach unten zu Zeilen, die Zeilen von rechts nach links zu Seiten vereinigt'), aber diese Anordnung als bekannt vorausgesetzt schreiben sich die Zahlwörter in der Tat so, wie es eben angedeutet wurde (die Zahlzeichen und Beispiele vergleiche auf der am Schlusse des Bandes beigefügten Tafel). Es gibt allerdings Wörter und Zeichen, welche noch weit über 10000, ja über das multiplikativ herstellbare 10000 mal 10000 sich erheben — wir haben vorher in 10° ein überzeugendes Beispiel davon kennen gelernt — aber eben jenes Bei- spiel mit seinem Ursprungszeugnisse an der Stirn läßt vermuten, was berichtet wird, daß die altchinesische Gewohnheit nicht über 10000 ‚als höchste einfache Rangordnung sich erhob. Eine Bestätigung liefert die früher von uns (8. 24) erwähnte Unterscheidung des Heil- rufes, der einem Großen des Reiches noch 1000, dem Kaiser noch 10000 Jahre wünscht. Außer den Zahlzeichen, von deren Benutzung wir bisher ge- sprochen haben, und welche die altehinesischen heißen mögen, gibt es merkwürdigerweise noch mehrere andere Schreibarten. Wir meinen nicht eine offizielle verschnörkelte Form, welche zur Ver- hinderung von Fälschungen in öffentlichen Aktenstücken mit Vorliebe ) Abel Remusat, Klemens de la grammaire chinoise (Paris 1822) pag. 23. Die Mathematik der Chinesen. 673 angewandt wird, noch eine kursive flüchtigere Form, in welcher die Gestaltung der einzelnen Zeichen sich mehr und mehr verwischt hat; diese Zeichen sind beide nur als das aufzufassen, als was wir sie be- nannten, als Formverschiedenheiten. Wir meinen dagegen Zahlen- anschreibungen, welche einem ganz anderen Grundgedanken folgen, und zwar unter Benutzung von selbst zweierlei Zeichen, welche wir Kaufmannsziffern und wissenschaftliche Ziffern nennen wollen, und deren Form gleichfalls auf der Tafel am Schlusse des Bandes zu vergleichen ist. Die Kaufmannsziffern wie die wissenschaftlichen Ziffern werden horizontal nebeneinander geschrieben in derselben Richtung wie die indischen Ziffern, also so daß die höchste Ordnung am weitesten links erscheint. Die Kaufmannsziffern an Form den altchinesischen nahe verwandt sollen nie gedruckt erscheinen!), son- dern nur im täglichen Gebrauche des Lebens ihre Anwendung finden. Die multiplikative Ziffer, welche also angibt, wieviele Zehner, wie- viele Hunderter usw. gemeint sind, tritt nur äußerst selten links von dem Zeichen der betreffenden Einheit auf, dann nämlich wenn keine Einheiten von anderer Ordnung vorkommen, also z. B. wenn 3000 oder 400 geschrieben werden soll. Sonst werden die Rangziffern und Wertziffern in zwei Zeilen übereinander geschrieben, jene in der unteren, diese in der oberen Zeile, bis auf die Einer, welche wegen nicht vorhandenen Rangzeichens in die untere Zeile hinabrücken. Eine zweite und noch wichtigere Eigentümlichkeit dieser Kauf- mannsziffern besteht in dem Zeichen der Null, für welche ein kleiner Kreis in Anwendung tritt um anzudeuten, daß Einheiten einer gewissen Ordnung, welche aber selbst nicht weiter ange- deutet wird, sondern aus den Nachbarziffern einleuchtet, nicht vor- handen sind. Gewichtige Gründe sprechen dafür, daß hier erst spät von aus- wärts Eingeführtes, nicht ursprünglich Vorhandenes vorliegt. Das geht eben aus dem gegenseitigen Verhältnisse von Sprache und Schrift bei den Chinesen hervor. Die Schrift konnte verschiedene Zeichen für gleichlautende Wörter besitzen um den verschiedenen Sinn der- selben zu erkennen zu geben, aber sie fügte kein durch die Nachbar- werte überflüssiges Null hinzu. Noch weniger kann in China eine vollständige Stellungsarith- metik erfunden worden sein. Wenn die Zahl 36 z. B. chinesisch durch die drei Wörter drei-zehn-sechs ausgesprochen wurde, so konnte der Chinese von sich aus unmöglich auf den Gedanken kommen, beim ) Ed. Biot, Sur la connaissance que les Chinois ont eu de la valeur de position des chiffres im Journal Asiatique vom Dezember 1839, pag. 497—502. CANToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 45 674 31. Kapitel. Schreiben das Wort zehn aus der Mitte heraus fortzulassen, welches er noch immer lesen sollte Er konnte nicht auf diesen Gedanken kommen, weil bei ihm nicht, wie bei anderen Völkern, das An- schreiben der Zahlen ohnedies ein aus dem Rahmen der gewöhn- lichen Lautschrift heraustretendes war, weil alle Schrift vielmehr, wie wir schon sagten, für ihn Begriffsschrift war, mochten es Wörter einer oder einer anderen Bedeutung sein, die aufgezeichnet werden sollten. | Nichtsdestoweniger hat, wie die Zeichen, welche wir wissen- schaftliche Ziffern nennen, beweisen, die Stellungsarithmetik mit einem eigenen System von Zeichen, welches viel durchsichtiger ist als die bisher besprochenen, in China Eingang gefunden. Man be- zeichnet nämlich die Eins durch einen senkrechten oder wagrechten, die Fünf entsprechend durch einen wagrechten oder senkrechten Strich und verbindet diese beiden Elemente zur Bezeichnung von 6 bis 9, während 1 bis 5 durch Wiederholung der Eins, Null durch einen kleinen Kreis geschrieben werden. Wenn wir zum voraus schon diese Bezeichnungsweise als eine jedenfalls spät eingeführte schildern durften, so entspricht dem die Tatsache, daß dieselbe nicht früher als in einem Werke des Jahres 1240 etwa erscheint!), in dem Su schu kieou tschang (neun Abschnitte der Zahlenkunst) des Tsin kiu tschau, der unter der Dynastie Sung gegen Ausgang derselben lebte. Andere Beispiele gehören gar der Zeit der Mongolen (1275—1368) erst an?), so.daß wir von den neun Abschnitten der Rechenkunst unter der Sungdynastie bis zu dem Werke gleichen Namens des Huäng ti den weiten Weg von fast 4000 Jahren zurückverfolgen müssen, um uns wieder an der Stelle zu befinden, von welcher aus wir diese Abschweifung begannen. Und selbst jener Ausgangspunkt war ein zu später, denn noch vor Erfindung des Rechenbrettes, vor Verfassung des ersten arith- metischen Lehrbuches muß ja ein Rechnen, muß der Begriff der Zahlen festgestanden haben. Die chinesische Überlieferung läßt uns auch für jene allerältesten Zeiten nicht im Stich. Mit Knötchen versehene Schnüre in Verschlingungen gezeichnet bilden die beiden Tafeln hö tü und 16 schu?). Auf der ersteren (Fig. 92) sind durch die je einer Schnur angehörigen Knoten die Zahlen 1 bis 10, auf der zweiten (Fig. 93) die 1 bis 9 dargestellt. Weiß sind die ungeraden Zahlen gezeichnet, denn das Ungerade ist das Vollkommene wie der Tag, die Hitze, die Sonne, das Feuer. Die geraden Zahlen dagegen ı) Biernatzki 8. 72 und 69. ?) Ed. Biot im Journal Asiatique für De- zember 1839. °) Perny Il, 5—7. Die Mathematik der Chinesen. 675 sind schwarz, denn das Gerade ist das Unvollkommene, wie die Nacht, die Kälte, das Wasser, die Erde. Man hat neuester Zeit darauf auf- merksam gemacht!), daß die Anordnung der Zahlen 1 bis 9 auf ee SR | ©: et | a > r ? Fig. 93 das magische Quadrat ebenderselben Zahlen darstelle. Diese Tafeln sollen nun — wie? ist uns wenigstens ganz unersichtlich — in der Urzeit Chinas dazu gedient haben in der Verwaltung der öffentlichen. Angelegenheiten benutzt zu werden, und Kaiser Fü hi um 2852 soll sie erst durch seine 8 aufgehängten Zeichen pä kuä ersetzt haben, gewöhnlich kurzweg die Kuas genannt. Sie bestehen aus bald ganzen, bald gebrochenen Linien, jene das Vollkommene diese das Unvollkommene bezeichnend, in dieser Bezeichnung also, mit dem hö tü und 15 schu übereinstimmend, wie auch darin mit ihnen übereinstimmend, daß wir uns unter Zuhilfenahme der vor- handenen Berichte auch nicht die geringste Anschauung von der Anwendungsart der Kuas zu bilden vermögen?). Nur schwach ver- mutend möchten wir darauf hinweisen, daß der Swän pän aus den ' Knotenschnüren vielleicht seine Entstehung genommen oder zu der einen Ursprung suchenden Rückerfindung jener Urbilder geführt haben kann, daß ferner in den gezeichneten Tafeln hö tü und 16 schu wie in den kuä eine Art von Zahlensymbolik auftritt, welche uns daran erinnert, daß wir schon früher (S. 43) auf Überein- 'stimmungen zahlenträumerischer (Gedankenverhindungen zwischen ") Dr. Gram hat dieses bemerkt. Vgl. Zeuthen, Forelaesning over mathe- matikens Historie. Oldtid og Middelalder. Kopenhagen 1893. $. 274. °) Über die Kuas vgl. Le Chou king un des livres sacres chinois traduit par le P. Gaubil revu et corrige par M. de Guignes. Paris 1770, an sehr verschiedenen Stellen, die im Register s. v. koua zu entnehmen sind. Daß man in den Kuas einmal ein chinesisches Binärsystem erkannt haben wollte, führen wir beiläufig an. Vgl. Math. Beitr. Kulturl. S. 48—49. / 43" 676 31. Kapitel. . chinesischen und pythagoräischen Lehren aufmerksam machen mußten, welche wohl einen geistigen wie örtlichen Mittelpunkt ihres Daseins in Babylon besaßen. Wir gehen weiter zum Tcheöu ly über, jenem Gesetzbuche, welches auf Oü wäng oder dessen nächste Nachfolger zwischen 1122 und 1109 zurückgeführt wird. In ihm sind alle jene zahlreichen Würdenträger des chinesischen Hofstaates mit ihren Obliegenheiten genannt, welche sicherlich in späterer Zeit vorhanden waren, wenn auch vielleicht nicht in früher, da, wie wir uns erinnern, der Tcheou ly von Chinesen selbst als eine Fälschung aus den letzten 30 Jahren v. Chr. angesehen worden ist. Unter diesen Würdenträgern er- scheinen mehrere!), welche in der Geschichte der Mathematik Er- wähnung finden müssen. Da sind erbliche Würden eines Hofastro- nomen, fong siang schi, und Hofastrologen, pao tschang schi. Da ist ein Obermesser, liang jin, betraut mit der Tracierung der Mauern der Paläste wie der Städte. Da ist ein eigener Beamter des Meß- apparates, tu fang schi, der mit dem tu kuei genannten Instrumente, das ist mit einem Schattenzeiger, den Schatten der Sonne und der- gleichen bestimmen muß. Die bedeutsamste Stelle, welche wir des- halb der französischen Übersetzung entnehmen, lautet: „Wird eine Hauptstadt angelegt, so ebnen die Erbauer, tsiang jin, den Boden nach dem Wasser, indem sie sich des hängenden Seils bedienen. Sie stellen den Pfosten mit dem hängenden Seile auf. Sie beobachten mit Hilfe des Schattens. Sie machen einen Kreis und beobachten den Schatten der aufgehenden Sonne und den Schatten der unter- gehenden Sonne.“ Das hängende Seil aber wird uns dahin erläutert, es befänden sich 8 Seilstücke am oberen Teile des Pfahles befestigt, 4 längs der Kanten, 4 in der Mitte der Seitenflächen, und wenn diese 8 Seilstücke sämtlich dicht am Pfahle herunterhängen, so sei seine senkrechte Aufstellung gewährleistet. Für jeden Leser dieses Bandes muß hier mancherlei auffallen: die Nivellierung nach der Wasserfläche, die Bestätigung des Senkrecht- stehens eines Pfahles durch hängende Seilstücke, die Benutzung eines Schattenzeigers, die Beobachtung des Schattens der auf- und der unter- gehenden Sonne zur Orientierung nach den Himmelsgegenden, das sind alles Dinge, die uns in Alexandria oder aus Alexandria stammend in Rom begegnet sind, die mindestens im ersten vorchristliceben Jahrhunderte im Westen bekannt waren und uns nun im fernsten Osten zu Gesicht !) Teheöu ly Buch XXVI, Nr. 15 und 18; Buch XXX, Nr. 6—10; Buch XXXII, Nr. 60; Buch XLII, Nr. 19 figg. Letztere Stelle T. II, pag. 553 der Übersetzung. Die Mathematik der Chinesen. 677 kommen. Es dürfte kaum einen anderen Ausweg geben, als entweder mit den heißspornigsten Sinologen anzunehmen, die ganze Mathe- matik und Astronomie sei altcehinesische Erfindung und sei von dort zu den Völkern des Westens gelangt, oder aber mit den Zweiflern unter den Chinesen selbst die Entstehung des Tcheöu ly in eine Zeit kurz vor Christi Geburt herabzulegen und zu schließen, es müsse damals schon aus Alexandria über Indien, wo wir auch ein sehr ein- faches Wassernivellement hätten nachweisen können!), oder wieder aus Babylon, dessen mathematische Vergangenheit uns von Abschnitt zu Abschnitt merkwürdiger und erforschungsbedürftiger wird, der- gleichen nach China gedrungen sein. Diese Zwangswahl wird unseren Lesern noch mehr als einmal im Laufe dieses Kapitels sich auf- drängen, auch wenn wir nicht darauf aufmerksam machen, hat sich ihnen vielleicht schon geboten, als wir vom 60 jährigen Zyklus des Huäng ti sprachen. Wir haben in der letztangeführten Stelle des Teheou 1y: „Sie machen einen Kreis und beobachten den Schatten der aufgehenden Sonne und den Schatten der untergehenden Sonne“ das uns wohlbekannte Örientierungsverfahren erkannt. Daß wir in dem vielleicht auch anderer Deutung fähigen Wortlaut nicht mehr hinein als heraus lesen, beweist eine Stelle eines mathematischen Werkes, mit welchem wir uns jetzt beschäftigen müssen. „Wenn die Sonne zu erscheinen beginnt, errichte eine Beobach- tungsstange und beobachte den Schatten. Beobachte den Schatten aufs neue, wenn die Sonne untergeht. Die beiden Hauptschatten- punkte, welche sich entsprechen, bezeichnen Ost und West. Teile deren Entfernung hälftig und ziehe eine Linie nach der Beobachtungs- stange hin, so wirst Du Süd und Nord bestimmt haben.“ So un- zweideutig spricht sich der Teheou pei aus?). Der Teheou pei oder tcheou pei swan king, d. h. heiliges Buch (king) der Rechnung (swan), welches genannt ist Beobachtungsstange (pei) im Kreise (tcheou), besteht aus zwei Teilen, welche sich scharf unterscheiden lassen. Im ersten wie im zweiten Teile wird zwischen zwei Männern, von denen der eine den Lehrer, der andere den Schüler darstellt, ein wissenschaftliches Gespräch geführt, welches auf den Schattenzeiger sich bezieht. Aber die beiden Redner wechseln. Im ersten Teile sind es Tcheöu kong und der Gelehrte Schang kao, und sie beziehen sich auf die Kenntnisse, welche Kaiser Fü hi und ') L. Rodet, Lecgons de calcul d’Aryabhata pag. 27—28. ?) Ed. Biot, Traduction et examen d’un ancien owvrage chinois intituldE Tcheou pei, litterale- ment: Style ou signal dans une eirconference im Journal Asiatique vom Juni 1841, pag. 593—639. Die hier angeführte Stelle der künftig als Tcheou pei zu zitierenden Übersetzung auf pag. 624. 678 31. Kapitel. der nicht minder sagenberühmte Kaiser Yu besessen haben. Im zweiten Teile wird ein Yung fang von einem Tchin tsoe unter- richtet. Die Redner des I. Teils sind Persönlichkeiten aus dem Anfange der Teheöu-Dynastie, welche um 1100 v. Chr. gelebt haben sollen. Die Redner des II. Teils kennt man nicht, doch ist hier ein Zitat aus lu schi tschun tsieeu des Lu pu oei vorhanden!), welcher letztere bekannt ist als Minister des Kaisers Tsin sche huäng ty des Bücherverbrenners, also um 213 v. Chr. lebte. Drei ältere Kommentatoren werden für beide Teile genannt, deren ältester Tchao kun hiang von den einen in die Dynastie der östlichen Han etwa auf 200 n. Chr., von den anderen erst in die Dynastie der Tsin im IV. 5. gesetzt wir. Was man von den Kommentatoren und von dem auf die Teheöu-Dynastie zurückgeführten Alter des I. Teiles weiß — von dem II. Teile wird ohne genau bestimmte Zeitangabe nur gesagt, er sei jünger als der I. — stammt aus einer Vorrede, welche 1213 n. Chr. unter der Dynastie Sung verfaßt worden ist. In einem anderen Werke wird ferner noch berichtet”), der Teheöu pei sei unter der Dynastie Thang, dann wieder unter der Dynastie Sung „einer Durchsicht“ unterworfen worden. Was man aber unter Durch- sicht zu verstehen habe, geht daraus hervor, daß zugestanden wird, man habe bei der letzten 120 Zeichen, mithin Wörter, verändert und 60 weggelassen. Fassen wir diese Angaben zusammen, so steht freilich die heutige Gestalt des Werkes nur in einem Alter von noch nicht sieben Jahr- hunderten fest. Nimmt man an, es seien damals und früher unter den Thang wirklich nur unwesentliche Verbesserungen getroffen worden und die Kommentatoren seien richtig datiert, so kommt man auf die Zeit zwischen 213 v. Chr. und etwa 300 n. Chr., innerhalb welcher der II. Teil entstanden sein müßte, ohne daß irgend eine Nötigung vorläge, sich der früheren Grenze mehr zu nähern als der späteren. Man könnte also z. B. eine Gleichzeitigkeit des II. Teiles mit jenem Lieou hin annehmen, welcher den Teheöu ly gefälscht haben soll. Was endlich den I. Teil betrifft, so müssen wir es unseren Lesern überlassen, ob sie der Überlieferung, welche ihn von Tehedu kong selbst herrühren läßt, Glauben schenken wollen. Uns scheint ein Beweis, gestützt darauf, daß Teheöu kong redend eingeführt ist, gestützt ferner auf eine Vorrede, die mehr als zwei Jahrtausende nach Teheöu kong geschrieben ist, nicht unumstößlich festzustehen, und man gestattet uns vielleicht trotz unserer vollständigen Unbe- kanntschaft mit der chinesischen Sprache den Hinweis, daß bei der !) Teheou pei pag. 616. °) Ebenda pag. 597. Die Mathematik der Chinesen. 679 eigentümlichen Doppelbedeutung von tcheou als Kreis und als Name einer Dynastie es nicht so gar weit entfernt lag, ein Werk von der Beobachtungsstange im Kreise dem Tcheöu zuzuschreiben. Dann freilich rückt auch das Datum des I. Teiles so weit herab, daß er nur vor der Lebenszeit des ersten Kommentators entstanden sein muß, möglicherweise auch nicht weit von der Zeit um Christi Geburt entstand. | Der I. Teil ist kurz genug, um die wichtigsten Lehren des Schang kao in Übersetzung hier anzufügen. Schang kao spricht: „Die Wissenschaft der Zahlen stammt vom Kreise und vom rechtwinkligen Vierecke. Der Kreis stammt von dem rechtwinkligen Viereck, und das rechtwinklige Viereck stammt vom Kreise. Der kuu d. h. das Winkellineal stammt von 9 mal 9, welches 81 gibt. Teile den kuu. | Mache die Breite keou d. h. den gekrümmten Haken gleich 3. Mache die Länge kou d.h. die Hälfte gleich 4. Der king yu d.h. der Weg, der die Winkel vereinigt, die Dia- gonale, ist 5. Nimm die Hälfte des rechtwinkligen Vierecks außen herum, es wird ein kuu sein. Vereinige sie und behandle sie gemeinschaftlich mit dem Rechen- brette, so wirst Du genau 3, 4, 5 erhalten. Die zwei kuu bilden zusammen die Größe 25. Das ist was man die Vereinigung der kuu nennt. Die Wissenschaft, deren Yu sich einst bediente, um was unter dem Himmel sich befindet zu regeln, beruht auf diesen Zahlen.“ Hier folgen im Originale drei Figuren, welche in der Über- setzung, deren wir uns bedienen, nicht abgebildet, sondern nur be- schrieben sind!). Sie sollen die Theorie des rechtwinkligen Dreiecks klar machen. Die erste Figur heißt „Figur des Seiles“ und wird folgendermaßen geschildert. In einem in 49 Teile geteilten großen Quadrate befindet sich eingezeichnet ein aus 25 Teilen bestehendes zweites Quadrat. Dieses zweite Quadrat ist selbst in vier recht- winklige Dreiecke und ein inneres Quadrat zerlegt. Man kann nicht sagen, daß die Klarheit dieser Schilderung nichts zu wünschen übrig lasse. Wir entnehmen ihr, die Figur des Seiles habe so ausgesehen: ") Teheou pei pag. 601, Note1. Biernatzki S. 64—66 hat eine deutsche Übersetzung nach englischer Vorlage, von welcher die unsrige sehr abweicht. Von den hier erwähnten Figuren sagt er kein Wort. 680 31. Kapitel. (Fig. 94). Da die Richtigkeit dieser Auffassung durch einen 1682 gedruckten chinesischen Kommentar zum Tcheou pei, in welchem die Erläuterungen stets den neuerdings abgedruckten Textesworten folgen, nachträgliche volle Bestätigung gefunden hat!), so 77 1 stellt das zweite Quadrat mit seiner Zerlegung die / Figur dar (Fig. 87), deren Bhäskara um 1150 sich bediente ($. 656), etwa 60 Jahre vor der Durchsicht BREI des Tcheou pei in der Sung-Dymastie. ; Da wir den Lauf unserer wörtlichen Wiedergabe doch einmal unterbrochen haben, so sei auf einiges aus dem bisherigen Texte hingewiesen: auf den pythagoräischen Lehr- satz an dem Dreiecke von den Seiten 3, 4, 5; auf den Namen der Diagonale für die Hypotenuse, welcher zeigt, daß der Satz am Recht- ecke und nicht am Dreiecke bekannt geworden war; auf den weiteren Namen Seil für Hypotenuse, welcher täuschend an die Seil- spannung der Inder erinnert, wenn wir keine andere Verwandtschaft suchen wollen. Nach jenen Figuren folgen nun weitere Lehren, wie man den kuu, also das Winkellineal, benutzen soll. Eben hingelegt diene es zum Gradmachen, umgekehrt zur Höhenmessung, verkehrt zur Tiefen- messung, ruhend zur Messung der Entfernung. Der kuu für den Kreis, d. h. der Zirkel, diene zur Herstellung des Kreises, der Doppel- kuu zur Herstellung rechtwinkliger Vierecke. Die rechtwinklige Figur entspreche der Erde, die runde dem Himmel. Der Himmel sei der Kreis, die Erde sei das Quadrat. Dieser letztere Satz bedarf gar sehr der Erläuterung. Vielleicht ist es richtig, was ein Missionär, welcher lange in China war, zur Erklärung gesagt hat?), Himmel und Erde seien symbolisch für die Zahlen 3 und 4; andererseits gehöre die Zahl 3 zum Kreise, dessen Umfang als dreifacher Durchmesser galt, 4 naturgemäß zum Quadrate, und so sei die weitere Vergleichung des Himmels mit dem Kreise, der Erde mit dem Quadrate zustande gekommen. Es folgen noch einige philosophische uns unverständliche Redens- arten, und nun schließt Schang kao: „Das Wissen stammt vom ge- krümmten Haken, der gekrümmte Haken vom Winkellineal, das Fig. 9. 1) Giov. Vacca, Sulla Matematica degli antichi Cinesi in dem Bollettino di bibliografia e storia delle scienze matematiche (Oktober, November und Dezem- ber 1905). Da H. Vacca zurzeit (Winter 1905—1906) unter der Leitung von H. Carlo Puini in Florenz chinesischen Studien obliegt, so dürfte in Bälde Genaueres über chinesische Mathematik bekannt werden. ®) Teheou pei pag. 602, Note 1 mit Beziehung auf eine Bemerkung des Pater Gaubil. en Die Mathematik der Chinesen. 681 Winkellineal mit Zahlen vereinigt regelt und leitet alle Dinge.“ Teheou kong sprach: „Das ist wundervoll!“ Hiermit schließt der I. und, wie man behaupten will, ältere Teil des Teheou pei. Es folgt der Il. viel ausführlichere Teil. Wir brauchen ihm eine weit weniger eingehende Aufmerksamkeit zu- zuwenden, teils wegen des allgemein anerkannten verhältnismäßig späten Datums seiner Entstehung, teils weil es sich in ihn mehr um astronomische Verwertung der Beobachtungsstange handelt. Nur zwei Bemerkungen scheinen uns von Wichtigkeit. Erstlich, daß die Verhältniszahl des Kreisumfangs zum Durch- messer stets als 3 gerechnet wird!). Das bestätigt jene Bemerkung, warum 3 die Zahl des Kreises sei, erinnert zugleich an die nach unserer Vermutung altbabylonische Umfangsformel. Aus den Durch- messern 238000, 317333, 357000, 396666, , 436333, 476000, 810000 sind die Umfänge 714000, 952000, 1071000, 1190000, 1309000, 1428000, 2430000 gefolgert, und in einem Beispiele heißt es aus- A F N 5 75 R drücklich: „Nimm einen Durchmesser von 121-,, Fußen, verviel- fache mit 3, Du erhältst 365, Fuß.“ Dieses letztere Beispiel?) führt uns zu unserer zweiten Bemer- kung. Der Kreisumfang wird bei den Öhinesen nicht in 360 Grade, sondern in 365 , Grade eingeteilt, und die Chinesen kennen die Jahreslänge des Sonnenjahres von 365-- Tagen. „Unter 4 Jahren sind, wie man weiß, drei von 365 Tagen und eines von 366 Tagen; daraus weiß man, daß das Jahr im Mittel aus 365-- Tagen besteht.“ Eine deutlichere Bestätigung unserer Ansicht, daß die Kreiseinteilung in 360 Grade nichts anderes bezwecke als die von der Sonne am Himmel scheinbar durchlaufenen Wege sichtbar zu machen (S. 40), dürfte sich kaum finden lassen. Wenn die Chinesen diese Bedeutung der Gradeinteilung überliefert bekamen und nachträglich die mit der Wahrheit besser übereinstimmende Jahreslänge von 365 Tagen er- fuhren oder erkannten, dann, aber auch nur dann, konnten sie dem allem Zahlengefühle Hohn sprechenden Gedanken verfallen, den Kreis ') Teheou pei pag. 613, 614, 626. Auf pag. 614 ist zwar zu dem Durch- 2 a messer 267666-,- der Umfang 833000 statt 803000 angegeben, doch dürfte diese einzige Ausnahme auf einem Druckfehler im Journal Asiatique beruhen. ?) Ebenda pag. 625. Vgl. auch pag. 638—639. 682 | 31. Kapitel. nunmehr selbst in 365 Grade zu zerlegen, damit wieder jeder Grad einen Tagesweg darstelle. Außerdem sprechen mittelbare Spuren dafür, daß den Chinesen die Kreisteilung in 360 Grade gleichfalls einmal bekannt war, denn nur von ihr aus erklärt sich die Anwen- dung der Zahl 60 in dem sechzigjährigen Zyklus, nur von ihr aus die 30 Speichen in dem Rade des Kaiserwagens in der Tcheou-Dy- nastie, wie eine Abbildung sie zeigt!). Bei den Unterabteilungen des Grades bedienten sich dagegen die Chinesen nach einem Berichte des Paters Verbiest seit undenklichen Zeiten der Zerlegung in 100 Teile, welche man Minuten nennen könnte?). Leider ist der Tcheou pei die einzige mathematische Abhand- lung der Chinesen, welche durchaus übersetzt uns vorliegt. Für alle übrigen Schriften sind wir gezwungen, uns auf notdürftige Auszüge zu beziehen, von welchen nur einer eine halbwegs genügende Inhalts- anzeige des Werkes liefert, aus welchem er stammt und zugleich das Alter dieses Werkes zweifellos angibt. Die anderen Berichte leiden meistens an Unklarheit und lassen es selbst fraglich erscheinen, welches Werk von verschiedenen, die den gleichen Namen führen, eigentlich gemeint sei? Kieou tschang oder die neun Abschnitte war (S. 670) der Titel des ältesten arithmetischen Werkes. Kieou tschang swan su d. h. Arithmetische Regeln zu den neun Abschnitten schrieb alsdann etwa ein Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung ein gewisser Tschang tsang. Dieses Werk behauptet „die von den kaiserlichen Hofmeistern unter der Dynastie Tcheöu befolgten arithmetischen Grundsätze zu enthalten. Jedoch gibt es sich nicht für ein neues Öriginalwerk aus, sondern nur für eine revidierte und verbesserte Auflage eines viel älteren Buches, dessen Verfasser unbekannt ist. Das Werk hat bis heute mehrere neue Auflagen erlebt, ist jedoch jetzt sehr selten geworden; es hat aber viele Kommentatoren unter namhaften chinesischen Gelehrten gefunden“?). Gegen Ende der Dynastie Sung um 1240 schrieb Tsin kiu tschau, welchen wir (S. 674) als den Schriftsteller nannten, bei welchem die sogenannten wissenschaftlichen Ziffern zuerst erwähnt werden, sein su schu kieou tschang oder die neun Abschnitte der Zahlenkunst. Werke ähn- lichen Titels von noch anderen Verfassern folgten vielfach. Wenn wir uns nun der chinesischen Rückverlegungen erinnern, welche dem Teheöu 1y II, 488. 2) Henri Bosmans 9. J. in den Annales de la societe scientifique de Bruxelles. T. XXVI Nr. 3 (April 1903). °) Wörtlich aus Biernatzki 8. 67. Die Mathematik der Chinesen. 683 Götzen des nationalen Eigendünkels mit persönlicher Bescheidenheit das Opfer der eigenen Erfinderfreude zu bringen verlangten und in diesem Verlangen offenbar nirgend auf Widerstand stießen; wenn uns dann ein Auszug aus den neun Abschnitten gegeben'), aber mit keiner Silbe gesagt wird, welches von den vielen Werken, die diese Überschrift tragen, zugrunde gelegt sei, welchen geschichtlichen Wert kann das für uns haben? Doch wohl keinen anderen, als daß wir dem Auszuge das alte vielleicht auf Tschang tsang, vielleicht noch weiter hinauf zurückzuverfolgende Vorhandensein von neun Abschnitten glauben, ohne jedoch annehmen zu dürfen, diese Ab- schnitte hätten von jeher dieselben 246 Aufgaben enthalten, oder es sei auch nur sicher, daß die Namen der Abschnitte sich nicht ver- ändert hätten. Die Namen der Abschnitte?): 1. Viereckige Felder, 2. Reis und Geld, 3. Verschiedene Teilungen, 4. Eng und weit, 5. Körpermessung (wörtlich: überlegen und beendigen), 6. Gerechte Verteilung, 7. Über- schuß und Mangel, 8. Vergleichen und recht machen (d.h. Gleichungen), 9. Dreieckslehre erinnern ungemein an Namen indischer Abschnitte, gebildet nach irgend einer Hauptaufgabe, an welche die anderen an- knüpfen, wenn auch nicht immer im Inhalt ihr gleichend. Gleich im ersten Abschnitte findet sich die Regel für die Dreiecksfläche als Produkt der Grundlinie in die halbe Höhe. Die Kreisfläche zu be- rechnen wird nach sechs der Form nach verschiedenen Arten ge- lehrt: „Man multipliziere den halben Durchmesser mit dem Radius, oder nehme ein Drittel vom Quadrat des halben Umkreises, oder ein Zwölftel vom Quadrate des Umkreises, oder ein Viertel vom drei- fachen Quadrate des Durchmessers, oder ein Viertel vom Produkte aus Durchmesser und Umkreis, oder endlich das dreifache Quadrat des Radius.“ Man sieht sofort, daß die fünf letzten Regeln sämt- lich auf x = 5 herauskommen. Die erste allein it mit x =|1 gleichbedeutend und höchst auffallend dadurch, daß sie in einem Atem von dem halben Durchmesser und dem Radius spricht. Wir möchten daher hier einen Druck- oder Übersetzungsfehler annehmen und lesen „man multipliziere den halben Umkreis mit dem Radius“, eine Vorschrift, welehe sonst fehlen würde, und welche nicht mit xz=5 in Widerspruch steht. Das genauere Verhältnis des Kreisumfanges zum Durchmesser war einem Schriftsteller Tsu tschung tsche, der dem Ende des ') Biernatzki 8. 73—76. ?) Die drei ersten Namen nach Biernatzki, die sechs folgenden nach L. Nix. Vgl. W. Schmidt im Bericht über grie- chische Mathematiker und Mechaniker 1890—1901 8. 63. 684 31. Kapitel. VI. S. angehören soll, als =, bekannt und Liu hwuy') be- 157 nutzte x = 5 Der 9. der neun Abschnitte beschäftigt sich mit 24 geometri- schen Aufgaben, welche mittels des rechtwinkligen Dreiecks gelöst werden. Über die Methode läßt uns der Auszug im unklaren, doch dürfte wohl der pythagoräische Lehrsatz angewandt sein, der im Tcheou pei uns gleichfalls begegnet ist. Von den Körpermessungen im 5. Ab- schnitte ist uns nur ganz allgemein berichtet, die angewandten Formeln scheinen mithin zu besonderen Anmerkungen eine dringende Veranlassung nicht geboten zu haben. Aus den übrigen Abschnitten erwähnen wir Gesellschafts- und Vermischungsrechnungen im 3. und 6. Abschnitte, Ausziehung von Quadrat- und Kubikwurzeln im 5. Ab- schnitte, Gleichungen im 8. Abschnitte. Die Geometrie dürfte wohl den schwächsten Teil chinesischer Mathematik gebildet haben, kaum über die niedrigsten Anwendungen des Satzes vom reehtwinkligen Dreiecke sich erhebend; denn wenn Ko schau king um 1300 unter den Mongolen die sphärische Trigonometrie erfunden haben soll, welche in einem Werke aus der Dynastie Ming wiederholt dargestellt sei”), so klingt das doch sehr nach 'arabischen ins Chinesische nur übersetzten Schriften. In der Lehre von den Gleichungen dagegen müssen wir den Chinesen selbsttätiges Vorgehen nachrühmen, denn hier finden wir in der Tat Fortschritte, welche weder auf indischem Boden uns bekannt geworden sind, noch überhaupt anderswo so frühzeitig gemacht wurden. Hauptquelle für die Lehre von den bestimmten wie von den unbestimmten Gleichungen sind Schriften desselben Tsin kiu tschau aus der Mitte des XIII. S., welchen wir auch unter den Verfassern von Neun Abschnitten der Rechenkunst nannten. Die Lehre von den bestimmten Gleichungen findet sich in dessen Auf- stellung der himmlischen Monade, leih tien yuen yih?), und ist erläutert durch Le yay jin king, welcher während der Mongolenzeit gelebt hat*). Die Monade, yuen, ist das durch ein besonderes Schriftzeichen dargestellte Symbol der ersten Potenz der unbekannten Größe, also das yävattävat der Inder. Auch die Zahl, welche als ein Gegebenes in der Gleichung auftritt, die rüpa der Inder, hat einen Namen täe. Die Zeichen für yuen und täe werden rechts von den betreffenden !) Dessen Lebenszeit anzugeben sind wir nicht imstande. Biernatzki sagt nämlich S. 63—64, er habe früher als 7'su tschung tsche gelebt, und S. 68, er habe im VII. S. gelebt, und sein Werk sei im VIH. S. neu aufgelegt worden! ?®) Biernatzki 8. 70. ») Ebenda S. 84 figg. #) Ebenda 8. 70 und 84. Die Mathematik der Chinesen. 685 Zahlenkoeffizienten geschrieben. Die Gleichungen sind vor dem An- schreiben geordnet und zwar so, daß die unbekannten Dinge den bekannten gleich gesetzt sind. Ein Gleichheitszeichen tritt dabei nicht auf, ist vielmehr aus der bloßen Stellung ersichtlich. Die unterste Reihe mit rechts stehendem täe enthält die bekannte Zahl, die darüber befindliche mit rechts stehendem yuen die Unbekannte, die nächsthöhere ohne weiteren Zusatz enthält die zweite Potenz der Unbekannten usf. Eine fehlende Potenz der Unbekannten muß, da die Höhe der Potenzen nach dem Stellungswerte zu entnehmen ist, durch Null angedeutet werden. Von den beiden Wörtern täe und yuen kann eines, beliebig welches fehlen, da die Verständlichkeit dadurch noch nicht aufgehoben ist. Positive und negative Zahlen werden durch die Farbe des Druckes unterschieden. Erstere druckt man rot, letztere schwarz. So heißt z. B. unser 142° — 27x = 17 auf chinesisch, wenn wir die Benutzung unserer Ziffern beibehalten und die Farben durch die links beigesetzten Anfangsbuchstaben „ (rot) und , (schwarz) unterscheiden: „L4 „4 „4 „90 „90 „O0 oder oder ‚ZT yuen zZ’ ‚ZT yuen „LT täe „LT täe Ay: Es scheint dabei eine Annäherungsmethode für Gleichungen höherer Grade bestanden zu haben, in welcher man eine Ähnlichkeit mit der sogenannten Hornerschen Näherungsmethode entdecken will!), die aber wenigstens in unserer Vorlage zu dürftig behandelt ist, als daß wir es wagten, diese Meinung zu stützen oder zu widerlegen. Die Lehre von den unbestimmten Gleichungen scheint unter dem Namen große Erweiterung, Ta yen, zuerst von Sun tse in dunkeln Versen beschrieben worden zu sein?), und dieser Verfasser wird gegenwärtig in die Dynastie Han im III. S. n. Chr. gesetzt. Be- sondere Anwendung fand die Regel Ta yen durch Yih hing, einen Geistlichen unter der Dynastie Thang, welcher 717 das Werk Ta yen lei schu darüber verfaßte, und dieses Werk hat wieder unser Tsin kiu tschau neu bearbeitet. Das Hauptbeispiel heißt in wörtlicher ") Matthiessen, Grundzüge der antiken und modermen Algebra der litteralen -Gleichungen. Leipzig 1878, S. 964—965. ?) Biernatzki S. 77 fleg. Vgl. besonders L. Matthiessen, Vergleichung der indischen Cuttaca- und der chinesischen Ta yen-Regel in der Zeitschr. f. math. und naturw. Unterricht (1876) VI, 78—81. Ebenderselbe hatte schon 1874 in der Zeitschr. Math. Phys. XIX, 270—271 die Ta yen-Regel erklärt, die vor ihm nie verstanden worden war. 686 31. Kapitel. Übersetzung: „Dividiert durch 3 gibt Rest 2; schreibe 140. Dividiert durch 5 gibt Rest 3; schreibe 63. Dividiert durch 7 gibt Rest 2; schreibe 30. Diese Zahlen addiert geben 233, davon subtrahiert 210 gibt 23 die gesuchte Zahl. Für 1 durch 3 gewonnen setze 70. Für 1 durch 5 gewonnen setze 21. Für 1 durch 7 gewonnen setze 15. Ist die Summe 106 oder mehr, subtrahiere hiervon 105 und der Rest ist die gesuchte Zahl.“ Man hat nun vollständig zutreffend darauf aufmerksam ge- macht!), daß dieselben Divisoren 3, 5, 7 und dieselben gewonnenen Zahlen 70, 21, 15 mit deren Anwendung zur Auffindung von 23 auch in einer griechischen Aufgabe vorkommen, deren Text in einer Hand- schrift aus dem Ende des XIV. oder Anfang des XV. S. sich erhalten hat, während ein Verfasser nicht genannt ist. Es ist nicht unmöglich, daß die chinesische Aufgabe und ihre Auflösung etwa durch arabische Vermittlung irgend einem Byzantiner bekannt geworden sein kann, der sie sich aufnotierte.e Ein umgekehrter Gang, daß also hier wie so vielfach im Westen Bekanntes nach China drang, ist kaum anzu- nehmen, weil nur im chinesischen Texte die Begründung des Ver- fahrens angedeutet ist, freilich schwer zu verstehen, aber doch zu verstehen, wie die Erfahrung gezeigt hat. Der Sinn ist nämlich folgender. Soll eine Zahl x gefunden werden, welche durch m,, m,, m, geteilt die Reste r,, r,, r, liefere, so sucht man drei Hilfszahlen k,, %,, k,, welche Multiplikatoren, tsching su, genannt werden, und deren jede vervielfacht mit ihrer Erweiterungszahl, yen su, d.h. mit dem Produkte derjenigen m, welche einen andern Index als das betreffende % führen, und dann geteilt durch ihre bestimmte Stammzahl, fing mu, d. h. das dritte m den Rest 1 liefern. So gibt unsere Aufgabe unter Anwendung von Kongruenzen: 5-7 -k,=1 (mod 3); 3:-7-%,=1 (mod 5); 3:5. k,=1 (mod 7). Daraus werden nun gewonnen: aus 3 die Zahl A, =2 oder 5-7.-2= 70; aus 5 die Zahl A,=1 oder 3-7-1 — 21; aus 7 die Zahl A,=1 oder 3-5-1=15. Wie diese Zahlen gewonnen wurden, ist auch nicht andeutungsweise gesagt, die Ver- mutung liegt daher am nächsten, man werde sich durch Probieren geholfen haben. Nun wird jede der gewonnenen Zahlen m;m;k, — 70, mM M;k, = 21, mm;k, = 15 mit dem entsprechenden Reste r, = 2, Y„=3, r3,—=2 vervielfacht und ihre Summe 140 + 63 + 30 — 233 gebildet, von welcher man die Stammerweiterung, yen mu, d.h. I!) Matthiessen in der Zeitschr. f. math. und naturw. Unterricht. Vgl. Nikomachus (ed. Hoche) pag. 152—153 und Friedleins Anzeige dieser Aus- gabe in der Zeitschr. Math. Phys. (1866) Bd. XI, Literaturzeitung 8. 71. su u nen. 1 nn, un Die Mathematik der Chinesen. 687 das Produkt der drei m, 3:-5-7= 105, so oft als möglich abzieht und hat damit = MyMakırı + M Mgkorz + MMm;kzrz; — cm, m, Mm, gefunden, wie z. B. z=2:70+3-21+2-15—-2:105= 23. Es steht ebenso fest, daß dieses Verfahren von der indischen Zer- stäubung, mit welchem man es zu vergleichen liebte, bevor man es verstand, durchaus verschieden ist, als daß es eine wahre Methode genannt zu werden verdient, deren Erfinder mit dem glücklichsten Scharfsinne ihrer Aufgabe zu Leibe zu gehen wußten'). Etwas später als Tsin kiu tschau lebte Tschu schi kih, welcher 1303 den kostbaren Spiegel der vier Elemente, Sze yuen yuh kihn, veröffentlichte. Hier finden sich die !ihn bei Berechnung von Zahlen bis zur achten Potenz als eine alte Methode. In unseren Ziffern sehen dieselben folgendermaßen aus: 1:5 206 ne De Barren 2.0.8.2 30 003 Ad il DD Da ] 1.:9...20 :56.:.410.:56:..28.::8. 1 Es sind?) die den Arabern freilich seit dem Ende des XI. 8. bekannten Binomialkoeffizienten zu der (Gestalt geordnet, welche man in Europa seit dem Ende des XVII S. das arithmetische Dreieck genannt hat. Das hier auftretende Wort lihn wird auch bei der früher erwähnten Annäherungsmethode zur Auflösung von Gleichungen höherer Grade mehrfach benutzt und hat dadurch Anlaß zu dem gleichfalls erwähnten Deutungsversuche dieser Methode gegeben. Das arithmetische Dreieck ist auch in einem letzten Werke wiedergefunden worden, von welchem wir einigermaßen eingehender unterrichtet sind, da wenigstens die Inhaltsangabe desselben in ') Matthiessen hat 1. c. mit Recht hervorgehoben, daß die Methode ta yen mit derjenigen, welche Gauß in den Disquisitiones arithmeticae $ 32—36 gelehrt hat, übereinstimme. Vgl. Dirichlet, Zahlentheorie $ 25 (III. Auflage. 1879, 8. 56—57). 2) Biernatzki 9. 87—89. 688 | 31. Kapitel. Übersetzung vorhanden ist!)., Wir meinen die Grundlagen der Rechenkunst, swan fa tong tsong, welche unter Wan 1ly aus der Dynastie Ming 1593 dem Drucke übergeben worden sind. Es heißt in demselben, jene Zahlenanordnung finde sich schon in einem älteren Werke des U schi, aber unser europäischer Gewährsmann fügt aus- drücklich hinzu, dieser Name sei ein so gewöhnlicher, daß Folge- rungen aus demselben nicht zu ziehen seien, und so wissen wir nicht einmal, ob dieser U schi früher oder später als Tschu schi kıh ge- lebt hat. Im Swan fa tong tsong werden noch mancherlei andere Dinge gerühmt, so die Anwendung der Verhältniszahl x — = , das Vorkommen von Dreieckszahlen und Pyramidalzahlen, magische Qua- drate, Multiplikationen unter Anwendung von dreieckigen Feldern, also vielleicht so, wie wir sie (8. 611) bei den Indern in Übung fanden. Wir berichten genauer nur über eine Messungsaufgabe, welche Verwandtschaft mit in Europa vorkommenden Verfahren (5. 556) an den Tag legt. Die Höhe eines zugänglichen Baumes wird zu kennen verlangt”). Man entfernt sich von dessen Fuße um eine gemessene Strecke, stellt eine Signalstange auf und entfernt sich dann noch weiter, bis man mittels eines hohlen Rohres die Spitze der Stange und des Baumes in einer geraden Linie sieht. Die Höhe des Auges über dem Boden wird nun zu 4 Fuß geschätzt und als- dann die Höhe des Baumes mit Hilfe ähnlicher rechtwinkliger Drei- ecke berechnet. Wir sind der Zeit schon sehr nahe, in welcher die europäischen Missionäre an dem Hofe des den Wissenschaften ergebenen Kaisers Kang hi freundliche Aufnahme fanden. Er schätzte in ihnen die höhere Bildung, welche er, sich darin als kein Nationalchinese ver- ratend, wohl anerkannte. Aber einen chinesischen Gelehrten Mei wuh gan, einen Anhänger der verjagten Ming-Dynastie und trotz- dem wegen seines Wissens bei dem fremden Kaiser wohlgelitten, wurmte das Übergewicht dieser Europäer. Er behauptete®), von den durch sie eingeführten Theorien sei die bei weitem größte Mehrzahl den Chinesen schon Jahrhunderte früher bekannt gewesen, und dieses nur aus Unkunde mit der heimischen Literatur übersehen worden. Ja aus China stamme alle Wissenschaft, übersetzt sei sie zu den Be- wohnern anderer Länder gedrungen und habe dort weiter gelebt, während sie in China selbst seit der großen Bücherverbrennung auf- ') Ed. Biot im Journal des Savants 1839 pag. 270—273 und besonders im Journal Asiatique für März 1839 pag. 193—217. Die Bemerkung über U schi pag. 194. ?) Journal Asiatique für März 1839, pag. 212. ®) Biernatzki S. 60—62. Die Mathematik der Chinesen. 689 gehört habe sich zu entwickeln, wie sie begonnen hatte. Jetzt suchte man wieder eifriger und allgemeiner nach den alten Schriften und fand sie. Wieviele deren echt, wieviele unecht waren, wer könnte diese Frage ohne die eingehendsten Kenntnisse der verschiedensten Art beantworten? Für die mathematischen Schriften muß notwendiger- weise neben den sprachlichen Merkmalen höheren oder niedrigeren Alters, vielleicht noch vor diesen der Inhalt zur Beantwortung bei- tragen, und diesem Inhalte, soviel uns davon bekannt geworden ist, entnehmen wir die gleiche Folgerung, welche (S. 669) als vor- läufige Ansicht schon von uns geltend gemacht worden ist, als wir die Ursprungs- und Echtheitsfrage zuerst aussprachen. Wir glauben nicht an eine hohe Entwicklung der ursprünglichen chinesischen Mathematik. Wir glauben vielmehr, daß das meiste aus verschiedenen (Quellen, unter welchen die babylonische wohl nicht die mindest er- giebige gewesen ist, dorthin zusammenfloß. Wir gehen aber anderer- seits auch nicht so weit, daß wir den Öhinesen jede einzelne Leistung auf mathematischem Gebiete absprechen. Die Algebra scheint wie den Indern so auch den Chinesen das ihrem Geiste angemessene Arbeitsfeld geboten zu haben, und auf diesem Felde wuchsen Früchte, denen wir bis auf weiteres die chinesische Heimat abzuerkennen in keiner Weise gerechtfertigt sind. Die Methode der großen Erweite- rung zur Auflösung gleichzeitig bestehender unbestimmter Gleichungen ersten Grades dürfte die edelste dieser Früchte sein. Für die verhältnismäßig geringe Meinung, welche wir von der altchinesischen Mathematik hegen, können wir eine mittelbare Be- stätigung in den entsprechend geringen Kenntnissen finden, die fast zweifellos von China aus weiter nach Osten vordrangen. Wir be- rufen uns in diesem Sinne auf die Mathematik der Japaner. Was wir von derselben wissen, stammt unmittelbar oder mittel- bar aus neueren geschichtlichen Untersuchungen dort einheimischer Gelehrten, welche das Ergebnis ihrer Forschungen teils in japanischer teils in englischer Sprache zum Drucke gegeben haben. Insbesondere sind es die Herren Endod, Kikuchi, Fujisawa, Hayashi, welche sich um den Gegenstand verdient gemacht haben. Sie unterscheiden eine Anzahl von Zeiträumen in der Geschichte der japanischen Mathe- matik und zwar: 1. Die Zeit bis 553 nachchristlicher Zeitrechnung, in welcher sie eine von außen unbeeinflußte Bildung vermuten, welche aber nicht über das Zählen und das elementarste Rechnen hinausging. Von der Art, wie das letztere geübt wurde, ist nicht der geringste Bericht vorhanden. Beim Zählen scheinen Gruppen von je 10% Einheiten CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 44 690 31. Kapitel. eine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Wir erkennen darin die griechischen Myriaden wieder, natürlich ohne aus dieser Ähnlichkeit eine Beeinflussung Japans von Griechenland oder gar Griechenlands von Japan folgern zu wollen. Sprachliche Gründe — wir meinen das Vorhandensein eines einfachen Wortes für den Begriff zehn- tausend — können an mehreren Orten zugleich und unabhängig von- einander solche Gruppierungen zur Folge gehabt haben. An diese älteste Zeit schloß sich 2. die Zeit von 554—1591, während welcher chinesische Mathe- matik, zuerst auf dem Umwege über Korea, dann bei sich steigern- dem Verkehre unmittelbar, in Japan eindrang. So kanı das Kieou ischang, die neun Abschnitte (S. 670), nach Japan, ohne jedoch dort weiter ausgebildet zu werden. Im Gegenteil geriet das anfänglich freudig aufgenommene fremde Wissen allmählich in Mißachtung und Vergessenheit. Erst in dem als weitere Periode unterschiedenen Zeitraume von 1592 an scheint sich, zum Teil unter holländischem Einflusse, eine japanische Mathematik gebildet zu haben, welche wirklich er- zählenswert ist, und von ihr soll im Ill. Bande dieses Werkes im 110. Kapitel die Rede sein, wo die Ähnlichkeiten und Unähnlich- keiten, welche zwischen enropäischer und japanischer Mathematik her- vorzuheben sind, deutlicher betont werden können. Hier kam es uns ja nur darauf an, den nach unserer Meinung geringen Wert altchinesischen mathematischen Wissens durch dessen geringe Einwirkung auf ein Volk zu belegen, dessen Begabung in späterer Zeit einen Zweifel nicht aufkommen läßt. Eon En BR * 2 3 N ee Ve REP ARE %5 ne BR ar Br an nanen ae I 5% r * a , 32. Kapitel. Einleitendes. Arabische Übersetzer. Wenn in den beiden vorigen Abschnitten der Ursprung der Kenntnisse, welche bei den Indern und Chinesen nachweislich waren, unsere Kritik herausforderte und uns die Hoffnung kaum gestattet ist, daß bei den einander schnurstracks entgegenstehenden Schul- meinungen in dieser Beziehung unsere Auffassung von allen Lesern geteilt des Charakters einer wenn auch durch Gründe gestützten doch wesentlich persönlichen Meinung entkleidet werde, so verhält es sich ganz anders mit der arabischen Mathematik). Daß ein Volk Jahrhunderte lang jedem Kultureinflusse von seiten seiner Nachbarvölker unzugänglich war, daß es selbst in jener ganzen Zeit keinen Einfluß üben konnte, daß es dann plötzlich seinen Glauben, seine Gesetze und mit diesen seine Sprache weiten Ländern aufzwang, welche an Ausdehnung kaum von dem Machtbereiche anderer Eroberer erreicht worden sind, ist für sich eine so regel- widrige Erscheinung, daß es wohl der Mühe lohnt, ihren Ursachen nachzuforschen, daß aber zugleich mit ihr die Gewißheit gegeben ist, die plötzlich auftretende anderen Entwicklungen ebenbürtige Geistes- reife könne aus sich selbst unmöglich zustande gekommen sein. ') Wir folgen in diesem Abschnitte in der Anordnung des Stoffes wesent- lich Hankels arabischen Kapiteln S. 223—293. Von Büchern allgemeinen In- haltes, deren wir uns außer den auch von Hankel benutzten bedient haben, seien besonders erwähnt: G. Weil, Geschichte der islamitischen Völker von Mohammed bis zur Zeit des Sultan Selim übersichtlich dargestellt. Stuttgart 1866, und Alfr. v. Kremer, Kulturgeschichte des Orients unter den Chalifen. Wien 1877. Suter, Das Mathematikerverzeichnis im Fihrist des Ibn Abi Jaküb an-Nadim. Übersetzung mit Anmerkungen in Abhandlungen zur Ge- schichte der Mathematik VI, 1—-87, 1892. Suter, Die Mathematiker und Astro- nomen der Araber und ihre Werke in Abhandlungen zur Geschichte der Mathe- matik X, 1--278, 1900 nebst Nachträgen in Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik XIV, 155—185, 1902. Wir zitieren diese Werke als Kremer, Weil, Fihrist, Suter, die Nachträge an den wenigen Stellen, wo wir uns ihrer bedienen, in ausführlicher Bezeichnung. Bei der ersten Auflage hat uns auch ein inzwischen allzufrühe aus dem Leben geschiedener Orientalist, Hein- rich Thorbecke, in ausgiebigster Weise unterstützt. 694 32. Kapitel. Muhammed floh im September 622 aus Mekka. Er starb im Juni 632. Zehn Jahre hatten ausgereicht, ihn auf der Flucht aus seiner Vaterstadt, ihn kämpfend mit wechselndem Erfolge, ihn endlich auf dem Gipfel seiner Macht zu sehen, und, was nur wenigen gleich ihm beschieden war, er starb auf einem Höhepunkt angelangt. Seine Nachfolger — Chalifen — setzten das von ihm begonnene Werk fort, die Glaubenssätze, welche Muhammed als ihm offenbart verkündigt hatte, mit dem Schwerte in der Hand zu verbreiten. Nicht eigent- liche Eroberung war der nächste Zweck der Kriege. Die Annahme der neuen Religion durch die Bekriegten genügte den Siegern in erster Linie, und auch wo der Glaubensfeldzug mit Ländererwerb endigte, blieb der erste Beweggrund an manchen Erscheinungen sichtbar. Der Fremde war nicht länger der Unterworfene, als er selbst wollte. Mit dem Übertritte zum Islam erlangte er das Bürger- recht, trat er in die Rechte der herrschenden Nation ein!), nur Eines fehlte ihm: Stammesgemeinschaft, da der Muselmann auf die alte Nationalität verzichten mußte, der neuen nicht von selbst an- gehörte. Aber auch diesem Mangel konnte er abhelfen. Er trat meistens zu dem herrschenden Stamme, zu dessen Anführer oder zur regierenden Dynastie in das Klientelverhältnis. In der nächsten Generation waren seine Nachkommen schon vollständig den neu ge- wonnenen Freunden gleichartig und galten bald als echte Araber, denen sie in Sprache und Sitte so schnell als möglich sich anzu- schließen bedacht waren. Diesen durch den Übertritt zu erwerbenden Vorteilen vereinigt mit der geschichtlichen Tatsache, daß in vielen Ländern, gegen welche die ersten Züge der Mohammedaner sich wandten, religiöse Gleichgültigkeit, in anderen Verkommenheit und Widerstandslosigkeit ihnen gegenübertrat, vereinigt mit der weiteren Tatsache, daß nationalarabische Volksteile an den verschiedensten Orten des Ostens längst vor dem Auftreten des Propheten verbreitet waren, welche auch den Stammesgegensatz zwischen Siegern und Be- siegten zu lindern sich eigneten, mag eine wesentliche Rolle bei der raschen Ausbreitung des Islam zugefallen sein. Eben diese Art der Ausbreitung erklärt es aber, daß die arabische Sprache in fast un- glaublich kurzer Zeit als herrschende Sprache sich aufdrängen, daß z. B. noch nicht volle 200 Jahre nach Muhammed unter dem Cha- lifen Almamün, welcher uns noch oft beschäftigen wird, ein Statt- halter in Persien seinen Wohnsitz haben konnte, der nicht ein Wort persisch verstand?). Den geistig kräftigeren Elementen, welche an der Religion ihrer ') Kremer II, 147. ?) Ebenda 150, Anmerkung 1. ar Dt. Einleitendes. Arabische Übersetzer. 695 Väter hingen und nicht zum Übertritte zu bewegen waren, sondern das blieben als was sie erzogen worden waren, meistens nestorianische Christen und Juden, wurde freilich dem Wortlaut des Gesetzes nach mit Bedrückung mannigfacher Art gedroht. Schon Chalife Omar 634—644, derselbe, welcher das Jahr 622 der Flucht Muhammeds als Hidschra zum Anfang einer neuen Zeitrechnung schuf, erließ das Verbot, daß kein Jude oder Christ in Staatskanzleien angestellt werde!). Härün Arraschid 786—809 befahl, alle Kirchen in dem Grenzgebiete niederzureißen und verordnete, daß die Nicht-Musel- männer sich einer besonderen Kleidung zu bedienen hätten?). Aber viele dieser Gesetze standen nur auf dem Papiere und wurden massen- haft umgangen. Wenn wir hören, daß Härün Arraschid selbst einen nestorianischen Christen Dschibril ibn Bachtisch@ zum Leibarzt hatte, der sich bei ihm jährlich auf 280000 Dirham (das sind über M. 200000) stand?), wenn Chalife Almuktadir 869—870 das Verbot Andersgläubige anzustellen mit der Klausel versah: es sei denn als Ärzte oder Geldwechsler, so wird uns der Grund nicht lange ver- borgen bleiben, warum man so schonend in mancher Beziehung verfuhr. Unter den echten Arabern war die Schreibkunst noch wenig verbreitet. Es ist zweifelhaft, ob Muhammed selbst in späteren Jahren sie sich aneignete‘). Gewandtheit mit dem Schreibrohre um- zugehen besaßen noch lange Zeit nur Christen und Juden, und so mußte man wohl oder übel sich ihrer bedienen. Namentlich die nestorianischen Christen waren es, die das staatliche Rechnungswesen fast allein besorgten und ebenso als Ärzte unentbehrlich waren. Auch Juden, .Perser, Inder betrieben die praktische Medizin, aber das christliche Element war entschieden vorherrschend. Erst der große Räzi, dessen Todesjahr auf 932 fällt, eröffnet den Reigen der mohammedanischen Ärzte’). Dagegen war schon unter den persi- schen Sassanidenkönigen im V. 5. ungefähr in der Stadt Dschundai- säbür in der Provinz Chuzistan eine von Nestorianern geleitete und besuchte medizinische Schule gegründet worden. Diese Schule wurde durch die Eroberung in ihrer Blüte keineswegs gehemmt, aus ihr gingen die besten und berühmtesten Ärzte ihrer Zeit hervor, aus ihr insbesondere die Leibärzte der Chalifen, und wir haben an einem Beispiele gesehen, wie dieselben bezahlt wurden. Die ungeheuren Geldsummen, welche rasch ihren Besitzer zu wechseln pflegten, bilden überhaupt ein kennzeichnendes Merkmal der damaligen Verhältnisse, ı) Weil 8. 20. ?) Kremer II, 167. ®) Ebenda 179. ı) Weil 8.3. °, Kremer II, 183. 696 32. Kapitel. und man hat gewiß mit Recht auf diesen Umstand hingewiesen'), um die Raschheit der Entwicklung, die eben so große Jähe des Verfalls der orientalisch-arabischen Bildung zu erklären. Wo nicht bloß der Beherrscher der Gläubigen über ungezählte Schätze ver- fügte, wo nur als ein Beispiel unter vielen von einem Kaufmanne in Al-Basra unter Al-Mahdi 775—785 uns berichtet wird, der ein täg- liches Einkommen von 100000 Dirham (beinahe 30 Millionen Mark jährlich!) besaß, so begreifen wir, welche Treibhaustemperatur durch solche Mittel den Fleiß anzufeuern geschaffen wurde. Eine ungemein fruchtbare übersetzende Tätigkeit begann, sobald das Arabische die allgemeine Literatursprache geworden war?). Aus dem Syrischen, aus dem Persischen, aus dem Griechischen, aus dem Indischen wurden durch eingeborene Andersgläubige wertvolle Werke in das Arabische übertragen. Die Regierungen der Chalifen Almansür 754—775, Härün Arraschid 786—809, Almamün 813—833 sind für solche Tätigkeit ganz besonders günstig gewesen, und hier beginnt auch die Geschichte der Mathematik bei den Arabern. Vielleicht sollte man zugunsten einer Persönlichkeit noch um einige Chalifate weiter hinaufgreifen bis zu dem ÖOmaijaden ‘Abd Almelik 684—705, während die drei obengenannten dem Geschlechte der Abbasiden angehörten. Unter “Abd Almelik, welcher gleich den anderen Omaijaden in Damaskus residierte, war ein Christ von echt- griechischer Herkunft, Sergius, Schatzmeister, und dessen Sohn Jo- hannes von Damaskus folgte in noch jugendlichem Alter wahr- scheinlich dem Vater bei dessen Tode in dieser Stellung nach. Bald aber zog er sich nach dem Kloster Saba zurück, wo er nach den einen 760, nach den andern gar erst 780 starb?). Wir haben früher (8. 464) gesehen, daß ihm, dessen schriftstellerische Tätig- keit allerdings auf theologischem Gebiete liegt, nachgerühmt wird, er sei in der Geometrie so bewandert gewesen wie Euklid, in der Arithmetik wie Pythagoras und Diophantus, aber das ist auch alles, was wir von ihm als Mathematiker wissen. Die Abbasiden folgten im Chalifate auf die ÖOmaijaden im Jahre 750 in der Person des grausamen, undankbaren, rachsüchtigen und meineidigen Abü’l "Abbäs, dessen blutgetränkte Regierung nur vier Jahre dauerte‘). Wir erwähnen aus dieser Zeit nur eine Neuerung. Die Heiligkeit des Nachfolgers des Propheten gestattete nicht mehr einen unmittelbaren Verkehr zwischen ihm und dem Volke. Ein Träger seiner Befehle mußte die Vermittelung hinfort übernehmen, und ein solcher Träger, arabisch Wezir, wurde demgemäß ernannt. Wir ı) Kremer JI, 190. ?°) Ebenda 169. °) Ebenda 402. *) Weil S. 131. Einleitendes. Arabische Übersetzer. 697 stehen jetzt wieder an dem Regierungsantritt Almansürs, der nach den verschiedensten Richtungen eine neue Zeit einleitete und wie zum äußeren Zeichen derselben seinen Wohnsitz von Damaskus nach Bagdad an den Tigris verlegte, an die Stelle, wo im Umkreise nur weniger Meilen einst Babylon und Ktesiphon mächtigen Königen zum Mittelpunkt ihrer Herrschaft gedient hatten. Der Handel be- lebte sich sichtlich. Die Schiffahrt im persischen Meerbusen und darüber hinaus brachte den Kaufleuten namentlich von Al-Basra an der Mündung des mit dem Euphrat vereinigten Tigris jene Reich- tümer, von denen vorübergehend die Rede war, brachte ihnen Menschenkenntnis und Welterfahrung und Wissen der mannig- fachsten Art. Al-Basra wurde jetzt der Ort, von wo auch geistige Güter der Reichshauptstadt zugeführt wurden‘). “Amr ibn “Ubaid lebte in Al-Basra, ein Philosoph von sittlicher Reinheit und geistiger Größe, der sich tief erbittert über die schmachvolle Regierungsweise der letzten Omaijaden lebhaft mit politischen Umtrieben beschäftigte und für seinen Teil an dem Sturze wenigstens eines Tyrannen aus jenem Geschlechte emisig mitwirkte Als die Dynastie vollends beseitigt war, trat er zu dem Abbasiden Almansür in nahe Beziehungen, und dieser verehrte ihn wie einen väterlichen Freund. Wahrscheinlicher- weise waren es die Lehren des ‘Amr ibn “Ubaid, welche die kultur- freundlichen Anwandlungen Almansürs in Taten überführten. Auf Almansürs Befehl entstanden Übersetzungen, von denen wir an- deutungsweise gesprochen haben. Aus dem Griechischen, vielleicht freilich erst mittelbar aus syrischen Bearbeitungen, übertrug man medizinische Schriften?); aus dem Pehlewi die ursprünglich indischen Tierfabeln des Bidpai, welche in der zweiten Hälfte des VI. S. der Leibarzt des persischen Königs Chosrau Anöscharwän, desselben, der den flüchtigen Lehrern der Athener Hochschule eine Heimat geboten hatte (8. 503), in jene Sprache übersetzt hatte?); aus dem Sanskrit lernte man den Sindhind kennen, welchen Al-Fazäri arabisch herausgab*), und sobald einmal, sagt der arabische Geschichtsschreiber, der uns dieses erzählt, diese Werke in die Öffentlichkeit gedrungen waren, las man sie und studierte mit Eifer die darin behandelten Gegenstände. » Kremer I, 410-412. ?) Wenrich, De auctorum Graecorum ver- sionibus et commentarüis Syriacis, Arabieis, Armeniacis Persicisque. Leipzig 1842, pag. 13—14. ®) Wüstenfeld, Geschichte der arabischen Aerzte und Natur- forscher. Göttingen 1840, 8.6, Nr. 7 und S. 11, Nr. 21. *) Kremer II, 442. Suter 4-5, Nr. 6. | 698 32. Kapitel. Wir sind namentlich über das, was den Sindhind betrifft!), aufs beste unterrichtet durch eine in der Einleitung zu einem astrono- mischen Werke enthaltene Erzählung. Aus dieser berichtet nämlich ein anderer Araber wie folgt: „Alhusain ibn Muhammed ibn Hamid, bekannt unter dem Namen Ibn Aladami, erzählt in seinem Tafel- werke, bekannt unter dem Namen der Perlenschnur?), daß im 156. Jahre der Hidschra vor dem Chalifen Almansür ein Mann aus Indien erschien, welcher in der unter dem Namen Sindhind bekannten Rechnungsweise, die sich auf die Bewegungen der Sterne bezieht, sehr geübt war, und zur Auflösung der Gleichungen Methoden, die sich auf die von einem halben Grade zu einem halben Grade be- rechneten Kardagas stützten, und außerdem mannigfache astronomische Verfahren zur Bestimmung der Sonnen- und Mondfinsternisse, der Koaszendenten der Zeichen der Ekliptik und anderer ähnlicher Dinge, insgesamt in einem aus einer gewissen Zahl von Kapiteln bestehen- den Buche besaß. Das Buch wollte er ausgezogen haben aus den Kardagas, welche den Namen eines indischen Königs Figar tragen, und welche auf eine Minute genau berechnet waren. Almansür ordnete an, daß man dieses Buch ins Arabische übersetze und da- nach ein Werk verfasse, welches die Araber den Planetenbewegungen zugrunde legen könnten. Diese Arbeit wurde dem Muhammed ibn Ibrähim Alfazäri anvertraut, welcher danach ein Werk verfaßte, das bei den Astronomen der große Sindhind heißt. Das Wort Sindhind bedeutet nämlich in der Sprache der Inder ewige Dauer. Insbesondere die Gelehrten jener Zeit bis zur Regierung des Chalifen Almamün richteten sich danach. Für diese wurde ein Auszug davon durch Abu Dscha‘far Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi angefertigt, welcher sich dessen auch zur Herstellung seiner in den Ländern des Islam berühmten Tabellen bediente. In diesen Tafeln stützte er sich für die mittleren Bewegungen auf den Sindhind und wich für die Gleichungen und Deklinationen davon ab. Er stellte seine Gleichungen nach der Methode der Perser und die Deklinationen der Sonne nach der Weise des Ptolemäus auf. Er schlug auch in diesem Werke schöne von ihm erfundene Näherungsmethoden vor, welche aber wegen gewisser augenscheinlicher Irrtümer, die das Werk enthält, und die des Verfassers Schwäche in der Geometrie zeigen, unzuläng- ') Vgl. Woepcke im Journal Asiatique vom 1. Halbjahr 1863, pag. 474 figg. Auch die von uns nachher zu gebenden Erläuterungen finden sich bei Woepcke, welcher sich hier zum Teil auf Colebrooke stützt. ®, Ibn Aladami lebte um 900. Sein Tafelwerk wurde 920 nach seinem Tode von einem Schüler herausgegeben. Notices et extraits de manuserits de la biblioth. VII, 126, An- merkung 3. Suter 44, Nr. 82. Einleitendes. Arabische Übersetzer. 699 lich sind. Diejenigen Astronomen der genannten Zeit, welche der Methoden des Sindhind sich bedienten, schätzten das Werk sehr und verbreiteten es rasch weiter. Noch heute ist es sehr gesucht von denjenigen, welche sich mit der Berechnung der Gleichungen der Planeten beschäftigen.“ Wir müssen diesem Berichte mannigfache Erläuterungen bei- fügen. Der Name Sindhind ist nichts anderes als eine offenkundige Verketzerung von Siddhänta, und es ist also nur die Frage, welches von den diesen Namen führenden astronomischen Werken der Inder gemeint sei. Da es im Jahre 156 der Hidschra, welches mit dem Jahre 773 n. Chr. übereinstimmt, nach Bagdad gekommen ist, so stehen später verfaßte Siddhäntas natürlich außer Frage. (Genauere Antwort gestattet sodann die Nennung des Königs Figar. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Figar aus Vyäghra entstand, daß aber Vyäghra selbst eine Abkürzung aus Vyäghramuka ist, dem Namen des Königs, während dessen Regierungszeit Brahmagupta 628 seinen Brähma-sphuta-siddhänta (5.598) verfaßte. Berücksichtigt man end- lich die gleichfalls allgemein zugestandene Verketzerung Kardaga aus kramajyä, so dürfte folgende Vermutung zur fast sicheren Tatsache sich gestalten: Im Jahre 773 kam durch einen Inder ein Auszug aus dem astronomischen Lehrgebäude des Brahmagupta nach Bagdad, und dieser Inder nannte seine Quelle nicht mit dem wahren Namen des Verfassers, sondern nach dem Könige, unter welchem das Werk verfaßt war, darin vielleicht nur die Fragen des Chalifen be- antwortend, welcher die fürstliche Macht so verstand, daß alles nach dem benannt werden müsse, unter dem es geleistet wurde. Die arabischen Personennamen, welche in dem Berichte und auch sonst uns bereits vorgekommen sind, erheischen gleichfalls eine erläuternde Bemerkung!). Die Araber bedienten sich verhältnis- mäßig sehr wenig zahlreicher Namen. Um so sicherer trat es ein, daß viele gleichnamig waren, und zur Unterscheidung wurde alsdann, verbunden durch das Wort ibn = Sohn, auch der Vatersname genannt, Muhammed ibn “‘Abdalläh (der Sohn des ‘Ahdalläh) war ein anderer als Muhammed ibn ‘Omar (der Sohn des “Omar). Waren auch die Väter gleichnamig, so konnte wiederholt durch ibn eingeführt auf den Vater des Vaters zurückgegangen werden usw. War eine Ver- wechslung nicht möglich, so ließ man nicht selten dem Namen des Vaters gegenüber den des Sohnes weg und sprach nur von dem Sohne ‘Omars oder von dem Sohne ‘Abdallähs. Auch umgekehrt .) Wüstenfeld, Geschichte der arabischen Aerzte und Naturforscher, S. XXI. 700 32. Kapitel. hat man durch den Sohn auch wohl den Vater näher bezeichnet, der nun abü = Vater des nachfolgend Genannten hieß. Ein Muhammed also, der einen “Omar zum Vater, einen “Abdalläh zum Sohne hatte, vereinigte die Namen beider Blutsverwandten mit dem eignen und hieß dementsprechend Abü ‘Abdalläh Muhammed ibn ‘Omar. Man findet dabei die eigentümlichsten Verbindungen und Weglassungen. So konnte von dem Vater eines bekannten Mannes, von dem Sohne des Vaters eines Dritten die Rede sein, ohne daß der Name des eigentlich Gemeinten überhaupt ausgesprochen wurde. Abü Marwän war Marwäns Vater, gleichgültig wie er hieß; Ibn Abü Marwän war der Sohn von Marwäns Vater, d. h. Marwäns Bruder. Der Araber hat nun ferner die Gewohnheit auch Eigennamen den Artikel al vor- zusetzen, welcher mit Abü sich zu Abül vereinigt und auch andere Veränderungen erleidet, z. B. vor einem anfangenden R sich in ar verwandelt. Daß dieser Artikel um so weniger bei Beinamen fehlen durfte ist einleuchtend. Wir erinnern als Beispiele an die Chalifen- namen al Mansür = der Siegreiche, ar Raschid — der auf richtigen Weg Geleitete, al Mamün — der durch Vertrauen Beglückte. Die Beinamen, vielfach zur genaueren Bestimmung der gemeinten Persön- lichkeit beitragend, sind verschiedener Gattung. Sie können sich auf geistige oder körperliche Vorzüge oder Mängel dessen beziehen, dem sie beigelegt wurden; sie können von dem Geburtsorte oder Wohn- orte des Betreffenden herrühren; sie können eine religiöse Sekte be- zeichnen, welcher er angehörte; sie können den Stand oder die Be- schäftigungsweise der Persönlichkeit selbst oder des Vaters angeben. Wir werden durch diese Erläuterung darauf vorbereitet, arabische Schriftsteller mit einem für unsere Gewohnheiten übermäßig langen Namen auftreten zu sehen, aber auch darauf, daß man, um die Länge zu vermeiden, sich gern nur der Beinamen bediente. So ist in obigem Bruchstücke schon von Alhusain ibn Muhammed ibn Ha- mid die Rede und dabei erwähnt, man nenne ihn gemeiniglich Ibn Aladami. So kommt ebendort Abü Dscha‘far Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi vor, d. h. Muhammed, der Vater des Dscha‘far, der Sohn des Müsä aus der Provinz Chwarizm, und wir werden sehen, daß Alchwarizmi der Name blieb, unter welehem dieser Schriftsteller in weiteren Kreisen bekannt wurde. Wir kehren nach dieser Abschweifung zu der unmittelbar vor- her ausgesprochenen Behauptung zurück, daß 773 ein Auszug aus dem uns bekannten Werke des Brahmagupta nach Bagdad kam. Die arabische Überarbeitung durch Alehwarizmi muß um 820 etwa stattgefunden haben. Aber schon vorher wurde jener Auszug von Arabern benutzt. Ja’küb ibn Tärik schrieb schon 777 Tafeln ge- RE SIE RERENR Einleitendes. Arabische Übersetzer. 101 zogen aus dem Sindhind‘). Ähnliche Tafeln fertigte Hafs ibn ‘Abdalläh aus Bagdad, und Ahmed ibn ‘Abdalläh Habasch genannt al Häsib — der Rechner aus Merw stellte um 830 drei ver- schiedene astronomische Tafeln her, eine nach arabischen Beobachtungen, eine nach den Lehren der Perser, eine nach den Methoden der Inder’). Auf ein noch späteres Datum weisen nach indischer Methode berechnete Tafeln des Abü’l ‘Abbäs Fadl ibn Hätim aus Nairiz in Persien?) um 900 und die Perlenschnur des Ibn Aladami aus der gleichen Zeit. Ob jedoch alle diese Anwendungen indischer Methoden auf der einmaligen Einführung im Jahre 773 beruhten, ob spätere Ver- bindungen zwischen arabischen und indischen Gelehrten vorhanden waren, wenn wir von den Reisen absehen, welche Mas’üdi (f 956) und Albirüni ( 1038) in Indien machten und ausführlich beschrieben haben, ob schon vor 773, damals als Muhammed ibn Käsim unter dem Omaijaden Welid I, 705 bis 715, bis an den Indus vordrang‘), indische Wissenschaft in mündlicher Übertragung zu den Arabern gelangt war, das sind Fragen, zu deren Bejahung wir freilich keinen überlieferten Anhaltspunkt haben, deren vollständige Verneinung aber uns fast noch kühner erscheinen möchte. Ungleich gesicherter ist jedenfalls die Art und Weise, in welcher griechische Wissenschaft in sich wiederholenden Wellen den arabischen Boden durchtränkte Ganz Syrien in den gebildeten vorzugsweise christlichen Kreisen ist fast als griechische Kolonie zu denken. . Aus der Schule von Antiochia ging jener Nestorius hervor, welcher 428 bis 431 Patriarch von Konstantinopel war, und dessen Anhänger seine Heimatsgenossen waren und bis auf den heutigen Tag geblieben sind. In Emesa und Edessa waren nestorianische Schulen, in welchen man nicht aufgehört hatte, Hippokrates und Aristoteles zu studieren. Als dann bei der Amtsentsetzung des Nestorius wegen seiner als ketzerisch verurteilten Ansichten diese Anstalten in eine Art von Verruf kamen und die zu Edessa 489 ganz aufhörte, da verschwand das Studium griechischer Medizin nicht etwa ganz, es zog sich nur weiter zurück nach Dschundaisäbür in der Provinz Chuzistän, wie wir (8. 695) gelegentlich gesagt haben. Die spätere Omaijadenresidenz selbst, Damaskus, besaß unter ihren Einwohnern Männer von grie- t) Hankel 8. 230—231. Fihrist 33. Suter 4, Nr. 4. ®) Abulpha- ragius, Historia dynast. ed. Pococke. Oxford 1663, pag. 161 der lateinischen Übersetzung. Vgl. auch Caussin in den Anmerkungen zu den Häkimitischen Tafeln des Ibn Junis. Notices et extraits de manuscrits de la Bibliotheque nationale VII, 98, Anmerkung 2. 3) Notices et extraits etc. VII, 118, An- merkung 2. Suter 45, Nr. 88. #% Weil 8. 97. Woepcke im Journal Asia- tique vom 1. Halbjahr 1863, pag. 472. 702 32. Kapitel. chischer Herkunft und griechischer Bildung. Damascius von Damaskus (S.501) stand um 510 an der Spitze der athenischen Hochschule, entsprechend wie Johannes von Damaskus in der zweiten Hälfte des VIII. S. Vertreter griechischer Denkungsart in der Heimat war. Auch in Persien fehlte es keineswegs neben alten an neueren Be- ziehungen zu Griechenland. Der Hof jenes Sasaniden, Chosrau I. Anöscharwän war, woran wir eben (S. 697) erinnert haben, von 531 bis 535 etwa die Zufluchtsstätte der aus Athen vertriebenen letzten Peripatetiker gewesen, und wenn dieselben auch der Heimat sich wieder zuwandten, sobald der Friedensvertrag von 533 es ihnen ge- stattete, die Samen, welche sie einmal ausgestreut hatten, gingen doch nicht alle in der fremden Erde zugrunde. So war also, als durch Verhältnisse, auf die wir aufmerksam gemacht haben, eine Neigung der Chalifen erwachte, Schriftsteller anderer Völker in arabischer Sprache kennen zu lernen, an Männern kein Mangel, welche Griechisches aus schon vorhandenen syrischen und persischen Übersetzungen, aber auch aus der Ursprache zu übertragen im- stande waren. Die ersten griechischen Mathematiker, welche den Arabern mund- gerecht gemacht wurden, waren Ptolemäus und Euklid!). Für beide werden wir auf die Regierungszeit Arraschids ver- wiesen, dessen Wezir Jahjä ibn Chälid der Barmekide die große Zu- sammenstellung übersetzen ließ. Der erste Versuch scheint jedoch nicht von sonderlichem Erfolge begleitet gewesen zu sein. Vielleicht entstammt ihm die sprachwidrige Verbindung des arabischen Artikels al mit dem griechischen Superlativ weylorn, welche in dem Worte Al-Midschisti (Almagest) ein höchst ungerechtfertigtes, aber durch die lange Dauer des Besitzes unantastbar gewordenes Bürgerrecht erlangte. Erneuerte Durchsicht und Verbesserung dieser Übersetzung erfolgte noch unter desselben Chalifen Regierung durch Abü Hasan und Salmän, dann dureh Haddschädsch ibn Jüsuf ibn Matar, welcher letztere auch als erster Übersetzer der euklidischen Elemente genannt wird. Euklid scheint er sogar zweimal, zuerst unter Arra- “ schid, dann unter Almamün, vorgenommen zu haben, da von den beiden Bearbeitungen unter dem Namen jener Chalifen die Rede ist als von einer harünischen und einer mamünischen?). Wir stellen uns keineswegs die Aufgabe, alle arabischen Über- ) Gartz, De interpretibus et escplanatoribus Euclidis arabieis. Halle 1823, pag. 7, und Wenrich, De auctorum Graecorum versionibus etc. pag. 177 und 227. ®) Über diese und andere Euklidübersetzungen vgl. Klamroth, Ueber den ara- bischen Euklid (Zeitschr. der morgenländ. Gesellschaft XXXV, 271—326, Leipzig 1881). Über Haddschädsch s. Suter 9, Nr. 16. Einleitendes. Arabische Übersetzer. 103 setzer zu nennen, oder die griechischen Schriftsteller über Mathematik sämtlich anzugeben, welche von jenen übersetzt worden sind. Die einen wie die anderen dürften nicht einmal alle bekannt sein, selbst für solche, welche mit dem gediegensten Einzelwissen an die Unter- suchung dieses Gegenstandes herangetreten sind. Die Anzahl der noch nicht katalogisierten oder ungenügend beschriebenen, jedenfalls von Mathematikern von Fach noch nicht durchgesehenen arabischen Handschriften, welche auf unsere Wissenschaft sich beziehen, in Bibliotheken des Ostens wie des Westens — wir nennen insbesondere die reichhaltigen spanischen Sammlungen — ist eine ungemein große und verbietet dadurch jedes abschließende Wort, mag es um Über- setzer oder um Öriginalschriftsteller sich handeln. Nur einige wenige Übersetzer sind unter allen Umständen zu erwähnen. Hunain ibn Ishäk mit dem ausführlichen Namen Abü Zaid Hunain ibn Ishäk ibn Sulaimän al ‘Jbädi!) gehörte dem christlichen arabischen Stamme der ‘Jbäd an. Er kam schon mit guter Vorbildung nach Bagdad, machte dann Reisen in die griechischen Städte, wo er deren Sprache sich aneignete und kehrte über Al-Basra, wo er sich noch im Arabischen vervollkommnete, nach Bagdad zurück. Jetzt begab er sich an die Übersetzung einer ganzen Reihe griechischer Naturforscher und Philosophen, auch des Ptolemäus, dessen Almagest er bearbeitete. Andere Schriftsteller, wie die meisten Werke des Euklid, die Schrift des Archimed von der Kugel und dem Zylinder, den Autolykus ließ er unter seiner Aufsicht durch seinen Sohn Abü Ja'küb Ishäk ibn Hunain?) übersetzen. Der Vater starb, durch den Bischof Theodosius wegen Gotteslästerung aus der Gemeinde ausgestoßen, 873, der Sohn 910 oder 911. Beiden fehlten bei aller philologischen Gewandtheit, deren sie sich rühmen durften, die sach- lichen Kenntnisse, ohne welche es nun einmal nicht möglich ist, ein mathematisches Buch zu übersetzen, und so bedurften ihre Arbeiten gar sehr der fachkundigen Verbesserung. Diese wurde ihnen durch Täbit ibn Kurrah?°). Abül Hasan Täbit ibn Kurrah ibn Marwän al Harräni wurde 836 zu Harrän in Mesopotamien geboren. Er war zuerst Geldwechsler, wandte sich aber dann der Wissenschaft zu und erwarb sich in Bagdad ausge- . ) Wüstenfeld, Geschichte der arabischen Aerzte und Naturforscher S. 26, Nr. 69. Suter 21—23, Nr. 44. Wenrich |. ce. pag. 228 glaubte fälschlich die . Almagestübersetzung dem hier gleich folgenden Ishäk ibn Hunain zuschreiben zu müssen. Vgl. Steinschneider in der Zeitschr. Math. Phys. X, 469, An- merkung 2. ’) Wüstenfeld, Geschichte der arabischen Aerzte und Natur- forscher 8.29, Nr. 71. ®) Ebenda 1l.c. 8.34, Nr.81. Fihrist 25—26. Suter 34—38, Nr. 66. 704 32. Kapitel. zeichnete Kenntnisse, sowohl als Mathematiker und Astronom, als auch in der griechischen Sprache, welcher er wie der syrischen und arabischen mächtig war. Ein erneuerter Aufenthalt in seiner Vater- stadt war für Täbit mit Mißhelligkeiten verknüpft. Er gehörte nämlich der Sekte der Sabier an, teilte aber deren Ansichten nicht in der geforderten Strenge und wurde deshalb ausgestoßen. Nun kehrte er abermals nach Bagdad zurück, welches er nicht wieder verließ. Dort starb er 901 in höchstem Ansehen bei dem Chalifen Almu‘tadid!), 892—902, der ihn seines nächsten Umganges würdigte. Wir werden es im 34. Kapitel mit Täbit als Originalschriftsteller zu tun haben. Unter seinen Übersetzungen nennen wir Schriften des Apollonius von Pergä, des Archimed, des Euklid, des Ptolemäus, des Theodosius. Den Übersetzungen können wir auch als nahe verwandten Inhaltes einen Kommentar Täbits?) zu dem (8. 424) von uns er- wähnten Buche des Charistion über die Wage anschließen. Es ist in einer viel verbreiteten alten lateinischen Übersetzung erhalten und ‘den Forschern über die Geschichte der Mechanik als Liber Charastonis bekannt. Etwa gleichzeitig mit Täbit zwischen 864 und 923 ist Kusta ibn Lükä zu nennen), ein christlicher Philosoph und Arzt, der von seinen Reisen durch die griechischen Städte eine Menge Bücher mit nach Hause brachte, deren Übersetzung er sich angelegen sein ließ. In seinen eigenen Schriften soll Reichtum an Gedanken neben Kürze der Ausdrucksweise zu bewundern sein. Er übersetzte die Sphärik des 'Theodosius, astronomisch-geometrische Schriften des Aristarch von Samos, des Autolykus, des Hypsikles, den Gewichtezieher des Heron von Alexandria, mit großer Wahrscheinlichkeit auch den Diophant. Die ganze zweite Hälfte des X. S. erfüllt Abü’l Wafä Muhammed ibn Muhammed Al-Büzdschäni 940—998 aus Büzdschän®), der als Übersetzer des Diophant zu nennen ist. Er verließ schon mit 20 Jahren seine Heimat, um nach ‘Iräk überzusiedeln, wo er speku- lative und praktische Arithmetik vermutlich bei zwei Oheimen, Geo- metrie bei zwei anderen Lehrern studierte. Unter der spekulativen Arıthmetik ist das zu verstehen, was die Griechen Arithmetik nannten, also Zahlentheorie und Algebra, unter der praktischen Arithmetik die eigentliche Rechenkunst, die Logistik der Griechen, ) Weil S. 194—198. *) P. Duhem, Les origines de la statique I, 79—93. ®) Wüstenfeld l. e. 8. 49, Nr. 100. Wenrich |. ce. 8. 178. Steinschneider in der Zeitschr. Math. Phys. X, 499. Suter 40—42, Nr. 77. 4) Eilhard Wiedemann, Zur Geschichte Abul Wefas. Zeitschr. Math. Phys. XXIV, histor.- literar. Abtlg. S. 121—122 (1879). Fihrist 39—40. a Hr ns Einleitendes. Arabische Übersetzer. 705 wobei jedoch keineswegs jetzt schon mit Bestimmtheit ausgesprochen werden will, daß er beide nach griechischen Mustern erlernt habe. Die griechischen Schriftsteller, deren Werke wir als von Arabern übersetzt namhaft zu machen hatten, sind neben den großen Meistern Euklid, Archimed, Apollonius, Heron, Diophant hauptsächlich solche, welche den sogenannten kleinen Astronomen (S. 447) der Griechen ausmachten. Die Araber hatten für diese Schriften, deren Studium zwischen die Elemente des Euklid und den Almagest einzuschalten ist, gleichfalls einen besonderen Sammelnamen, sie nannten sie die mittleren Bücher'). Man muß nicht glauben, daß damit die Reihe griechischer Mathematiker, von denen man weiß, daß ihre Schriften arabische Übersetzer fanden, abgeschlossen sei, und ebensowenig, daß es eine einfache Sache sei, aus arabischen Zitaten klug zu werden. Wenn es natürlich ist, daß Eigennamen, bei welchen man sich, auch wenn man die Sprache des Volkes, dem ihre Träger angehörten, kennt, gar häufig nichts denken kann oder Falsches sich zu denken versucht ist, beim Übergang in fremde Literaturen verdorben werden, so haben arabische Abschreiber, welche sogenannte diakritische Punkte bald wegließen, bald unzutreffend hinschrieben, ein besonderes Geschick an den Tag gelegt, Namen unkenntlich zu machen. Sind nun vollends die arabischen Schriften nicht im Urtexte bekannt, sondern selbst wieder in Gestalt von Übersetzungen ins Lateinische, welche seit dem XI. 8. angefertigt wurden und zum Teil von Männern angefertigt wurden, denen die wirklichen griechischen Eigennamen unbekannt waren, so ist das Unmögliche an Verketzerungen fast das Gewöhn- liche. Aus Heron ist Iran und Yrinius geworden?), aus Menelaus Milleius, aus Archimed bald Arsamites, bald Arsanides, bald Archimenides usw.?). Einen Vorteil bilden diese Umgestaltungen, sobald sie einmal erkannt sind; sie geben die Möglichkeit, lateinischen Übersetzungen oder Bearbeitungen griechischer Schriftsteller, welche dieselben ent- halten, auf den ersten Blick anzusehen, daß nicht der griechische Grundtext, sondern die Zwischenbehandlung eines Arabers die Vor- lage des letzten Übersetzers bildete, daß also notwendigerweise der | betreffende griechische Schriftsteller als einer von denen betrachtet werden muß, deren Werke auf arabische Mathematik Einfluß üben ') Steinschneider, Die mittleren Bücher der Araber und ihre Bearbeiter. Zeitschr. Math. Phys. X, 456—498 (1865). ?) Zeitschr. Math. Phys. X, 489, An- merkung 60. Suterin der Bibliotheca Mathematica, 3. Folge II, 408—409 (1902). °?) Steinschneider in der Hebräischen Bibliographie Juli-August 1864 (Bd. VII, Nr. 40) S. 92—93, Anmerkung 20. CANTOoR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 45 706 32. Kapitel. konnten. So müssen beispielsweise die Arbeiten des Zenodorus den Arabern bekannt gewesen sein, weil in einer lateinischen Ab- handlung über die isoperimetrische Aufgabe, welche handschriftlich in Basel vorhanden ist!), der Name Archimenides vorkommt. Von anderen Schriftstellern, welche den Arabern bekannt waren, nennen wir neben Jamblichus und Porphyrius, deren Studium bei den Syrern niemals aufgehört hat, insbesondere Nikomachus?), dessen arabische Quellen selbst gedenken. Ebenso dürfen wir eine Bekannt- schaft mit Pappus vermuten, da Pappus der Rumäer doch wohl nur irrtümlich statt der Alexandriner gesagt ist. Die Übersetzungstätigkeit war auch von einer vielfach kommen- tierenden begleitet, auf die wir aber, da sie immerhin einige An- sprüche an das Selbstdenken des Kommentators erhebt, bei den Öriginalarbeiten zu reden kommen. Wir haben, bevor wir diesen uns zuwenden, nur eine Bemerkung noch zu machen. Die Schriftsteller, von welchen als Übersetzern seither die Rede war, gehörten sämtlich dem Morgenlande an. Das Morgenland war es aber nicht allein, welches der Islam sieh unterwarf, in welchem arabisch gesprochen und arabisch gelehrt wurde, und wenn wir gelten lassen, was für die früheren Abschnitte unsere Richtschnur bildete, daß es wesentlich auf die Sprache ankommt, nicht auf das örtliche Beisammenwohnen, um die Zugehörigkeit zu einem Kulturverbande zustande zu bringen, so werden wir neben den Ostarabern auch Westaraber berücksichtigen müssen, welcher letztere Name für die arabisch redenden Bewohner der afrikanischen Nordküste, Spaniens und Siziliens in Anspruch genonımen wird. Längs der afrikanischen Küste?) verbreitete sich der Islam unter der Regierung Welid I, 705—717, vornehmlich durch die Tapferkeit zweier Feldherren, des Müsä und des Tärik. Letzterer war es auch, der sein Waffenglück über das Mittelmeer hinübertrug und im Mai 711 auf spanischem Boden jene steile Höhe besetzte, die nach ihm Tärıks Höhe, Dschebel Tärik, Gibraltar genannt ist. Von diesem festen Punkte aus wurde Spanien bald zum größten Teile unter- worfen. Aber die große Entfernung von der Chalifenhauptstadt gab . dem Emir, d. h. dem Befehlshaber von Spanien, die Gelegenheit sich selbständiger zu gehaben, als Statthalter der näher gelegenen Pro- vinzen es wagen durften. Nachdem die Abbasiden zur Macht gelangt waren, kam es zur vollständigen staatlichen Trennung, indem Emir !) In dem Sammelbande F. II, 33 der Basler Stadtbibliothek. ?) Zeitschr. Math. Phys. X, 463, Anmerkung 24 über Nikomachus und auf derselben Seite im Texte: Pappus der Rumäer. °) Weil 8. 97 figg. Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. 707 ‘Abd Arrahmän ein Omaijade 747 eine eigene spanische Omaijaden- dynastie gründete!), welche Versuche des Chalifen Al-Mahdi 776— 777 Spanien wieder zu unterwerfen, mit Glück zurückwies?). Auch das afrikanische Küstengebiet trennte sich vom Mutterlande. Seit dem Anfang des IX. S. entstand?) dort ein Reich mit der Hauptstadt Fez, und dieses war, kaum gegründet, kräftig genug selbst wieder erfolg- reiche Kolonisten nach Sizilien auszusenden, wo auch wieder eine selbständige moslimische- Dynastie ihren Herrschersitz aufschlug. Wir haben zum Glück uns nicht mit den Kämpfen und Feindselig- keiten zu beschäftigen, welche zwischen den einzelnen Dynastien herrschten. Gift und Dolch ebenso wie offene Empörungen ließen bald einzelne Persönlichkeiten, bald ganze Geschlechter in der Herr- schaft wechseln und auch den Sitz der Herrschaft mehrfach verlegen. Uns genügt die Tatsache der fast unaufhörlichen Kämpfe zur Stütze der weiteren Tatsache, daß auch wissenschaftlicher Neid zwischen den Arabern des Ostens und des Westens eine Scheidewand errichtete, welche es verhinderte, daß manches, welches den einen eigentümlich geworden war, in derselben Form von den anderen über- nommen wurde, und was wir damit meinen, wird wohl klar, wenn wir die Jahreszahl 773, welche das Auftreten indischer Astronomie in Bagdad bezeichnet, mit der Zahl 715 der Eroberung des West- reiches, oder auch nur mit der 747 des Beginnes des spanischen Ömaijadenreiches vergleichen. Wir werden sofort an diese Datenver- gleichung erinnern müssen, wenn wir nunmehr an die Ausbreitung des Zahlenrechnens als ersten Teil arabisch-mathematischen Original- schriftstellertums gelangen und dabei wieder zuerst von den Zahl- zeichen der Araber reden. 33. Kapitel. Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. Die Schreibkunst der Araber?) in der Zeit, zu welcher sie für die Geschichte der Mathematik unsere Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen, war nicht weit her (S. 695). Von einer alten Schrift mit groben starken geradaufstehenden Zeichen, welche von späteren ara- ) Weil 8. 140flgg. ?) Ebenda 8.150 °) Ebenda $. 297—336 die mos- limischen Dynastien in Afrika und Sicilien. ® Vgl. Silvestre de Sacy, Grammaire arabe. Paris 1810 und die von Gesenius verfaßten Artikel Ara- bische Schrift 8. 53—56 und Arabische Literatur S. 56—69 im V. Bande von Ersch und Grubers Enzyklopädie. 45* 708 33. Kapitel. bischen Gelehrten selbst diesem Aussehen nach den Namen einer ge- stützten säulenartigen Schrift erhalten hat, sind nur geringe Über- reste vorhanden. Ob Zahlzeichen darunter vorkommen, ist uns nicht bekannt. Eine neue Schrift, welche zunächst dazu angewandt wurde, den Koran zu schreiben, entwickelte sich um die Mitte des VL. S. Die Schreibkunst gelangte bei diesem heiligen Zwecke bald zu höherem Range, gewerbsmäßige Abschreiber bildeten sich aus, und da diese besonders zahlreich und geschickt in dem 639 am Euphrat erbauten Al-Küfa auftraten, so erhielt die Schrift den Namen der kufischen. Am Anfange des X. S. veränderte sich diese doch immer noch grobe und rohe Schrift, welche man mit einem Stifte oder einer ungespaltenen Röhre zu schreiben pflegte, besonders unter dem Ein- flusse des 940 verstorbenen Wezirs Ibn Mukla zu jener flüchtigen, abgerundeten Kurrentschrift, welche heute noch im Oriente dient und in Druckwerken nachgeahmt wird. Sie führt den Namen Nes-chi- schrift oder Schrift der Abschreiber, und wurde, seit man sich ge- spaltener Rohrfedern zu ihrer Darstellung bediente, immer feiner und eleganter. Schreibkünstler wie Ibn Bauwäb (j 1032), wie der be- rühmte Jäküt (7 1221) glänzten. Spanien bewahrte seinen eigenen Schriftzug, der sich bis jetzt in Westafrika, in dem sogenannten Magrib, erhalten hat; er ist von einer altertümlichen Steifheit und Ungefälligkeit!). Die Buchstaben des arabischen Alphabetes waren ursprünglich nach Reihenfolge und Aussprache wohl übereinstimmend mit den 22 Lauten, welche auch anderen semitischen Alphabeten angehören, und diese ältere Anordnung führt den Namen Abudsched durch Verbindung der drei ersten Laute, wie man Abece und Alphabet sagt. Als die Nes-chicharaktere sich bildeten, verließ man die alte Reihen- folge, um die Buchstaben nach ihrem Aussehen zu ordnen, d. h. so, daß die einander ähnlichen Schriftzeichen nebeneinander gestellt wurden. Daß die Schreibart der Zahlen bei den vielfachen Verände- rungen der ganzen Schrift sich nicht gleich bleiben konnte, ist nicht mehr als natürlich. Vor allem liebten es die Araber, die Zahlwörter selbst vollständig zu schreiben, eine Methode, wenn man das Methode nennen darf, welche selbst in einem Lehrbuche der Rechenkunst noch beibehalten ist, das zwischen 1010 und 1016 in Bagdad verfaßt wurde ’?). Aus ihr wohl entstanden die einem arabisch-persischen Wörter- ') Kremer II, 314. ®) Käfi fil Hisäb des Abu Bekr Mohammed ben Alhusein Alkarkhi, deutsch von Ad. Hochheim. Halle 1878. Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. 709 buche entnommenen sogenannten Diwäniziffern, welche nur abge- kürzte Zahlwörter sein sollen!). Am klarsten stelle sich dieses durch den Umstand heraus, daß in Zahlen, die aus Hundertern, Zehnern und Einern bestehen, die Einer zwischen den Hundertern und Zehnern ihren Platz finden, wie es in der Aussprache auch sei (8. 607). Außerdem bedienten sich die Araber ihrer in der Reihenfolge Abudsched geordneten Buchstaben in derselben Weise wie die übrigen Semiten, um die Zahlen von 1 bis 400 darzustellen. Freilich ist die genannte Reihenfolge nicht allerorten ganz streng festgehalten worden. Der gleiche Buchstabe, der in Bagdad 90 bedeutete, hatte im nördlichen Afrika den Wert 60, 300 wechselte an eben diesen Orten mit 1000 usw.”), und man hat daraus den Schluß gezogen, diese von den Arabern als wesentlich arabisch bezeichnete Darstel- lungsweise der hurüf aldschummal, d. h. der Zahlenwerte der Buch- staben nach ihrer alten Reihenfolge, könne erst entstanden sein, nachdem Afrika islamisiert war, also nach 715. Damit stimmt auch eine Notiz überein?), welche dem Chalifen Welid I, unter dessen Regierung jene Ausbreitung nach Westen erfolgte, das Verbot nach- erzählt, in die öffentlichen, wie wir uns erinnern meist von Christen geführten Bücher griechische Einträge zu machen mit Ausnahme der Zahlen, weil arabisch eins, oder zwei, oder drei, oder achteinhalb nicht geschrieben werden könne. Eine Ausnahme, welche natürlich nur so gedeutet werden kann, daß damals um 700 die Bezeichnung der Zahlen in abgekürzter Buchstabennotation anders als mit grie- chischen Buchstaben noch nicht stattfand. Die Schwierigkeit Hunderte von 500 an zu bezeichnen, scheint man anfänglich ähnlich über- wunden zu haben, wie zum Teil bei den Hebräern (8. 126) durch gleichzeitige additive Benutzung von zwei oder gar drei Buchstaben. Später, vielleicht erst vom XI. S. an*), ersann man ein neues Mittel. Wie nämlich im Hebräischen gewisse Buchstaben existieren, welche in zweierlei Aussprache mit und ohne Aspiration vorhanden sind, so gibt es auch im Arabischen sechs Charaktere von doppelter Laut- bedeutung. Man unterscheidet dieselbe durch Punkte, welche des- halb diakritische Punkte genannt werden. Diese sechs neuen punk- tierten arabischen Buchstaben wurden nun den 22 schon vorhandenen beigefügt und lieferten in dieser Weise nicht nur Zeichen für die Hunderte 500 bis 900, sondern, da jetzt ein Zeichen überschüssig war, auch noch für 1000. Die Vereinigung mehrerer Buchstaben zu ') Silv. de Sacy, Grammaire arabe I, 76, Note a und Tabelle VII. ?) Woepcke im Journal Asiatique vom 1. Halbjahr 1863 pag. 463, Note 1 und 464. °) Theophanes, Chronographia (ed. Franc. Combefis). Paris 1655, pag. 314. *) Silv. de Sacy, Grammaire arabe I, 74, Note b. 710 33. Kapitel. Zahlen geschah nach dem Gesetze der Reihenfolge linksläufig, wie es die Schrift morgenländischer Völker mit sich brachte. So war für das Volksbedürfnis, für das Schreiben und Lesen von Zahlen im fortlaufenden Texte ausreichend gesorgt, insbesondere da den Arabern bei ihrer allmählichen Ausbreitung auch noch eine Möglichkeit offen stand, die Möglichkeit sich der in dem eroberten Lande schon vorhandenen, dort volkstümlich gewordenen Zahlzeichen zu bedienen, von der sie wirklich da und dort Gebrauch machten'). Das Rechnen, dessen Kenntnis am langsamsten unter den eigent- lichen Arabern sich entwickelte, stellt andere Anforderungen. Teils war es ein schwieriges nur Geübten mögliches Kopfrechnen, bei welchem vielleicht die Darstellung der Zahlen an Fingern als Hilfs- mittel diente. Sind wir auch über die Zeit durchaus im unklaren, wann ein solches Fingerrechnen stattfand, so wissen wir aus einem kleinen Lehrgedichte eines Verwaltungsbeamten Schams addin al Mausili?), daß es bei Arabern in Übung war. Genau nach der gleichen Folge, wie Nikolaus Rhabda es seine Landsleute. lehrte (S. 514—515), wurden die Einer und Zehner an der linken, die Hunderter und Tausender an der rechten Hand dargestellt. Teils aber lernten die Araber beim Rechnen den indischen Stellungswert der Ziffern kennen. Darüber kann bei der über- einstimmenden Aussage aller arabischen Quellen Zweifel nicht be- stehen. Am deutlichsten spricht sich Albirüni darüber aus. Dieser Schriftsteller?) ist in Iran geboren. Er brachte lange Jahre in Indien zu, studierte im Sanskrit geschriebene Werke, stellte astronomisch- geographische Beobachtungen an, denen namentlich auffallend genaue Breitenangaben für die von ihm bestimmten Orte verdankt werden, und schrieb ein großes Werk über Indien, welches in jeder Beziehung zu den bedeutendsten Erscheinungen der arabischen Literatur ge- hört. Albirüni starb im Jahre 1038 oder 1039. Er sagt uns‘), die Inder hätten nicht die Gewohnheit ihren Buchstaben eine Bedeu- tung für das Rechnungswesen zu geben, wie die Araber es täten, welche ihre Buchstaben nach dem Zahlenwerte anordneten. Die Inder bedienten sich vielmehr gewisser Zahlzeichen, die aber ver- schiedener Art seien, wie denn auch die Gestalt der Buchstaben bei den Indern von einer Landesgegend zur andern wechsle. Die von ') Woepcke im Journal Asiatique vom 1. Halbjahr 1863 pag. 236—237. ®) Übersetzt von Aristide Marre im Bullettino Boncompagni (1868) I, 310—312. Suter in den Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik XIV, 181 (1902). ®) Suter 98—100 Nr. 218 und in der Bibliotheca Mathematica 3. Folge III, 128, Note 2 (1903). *) Woepcke im Journal Asiatigque vom 1. Halbjahr 1863 pag. 275 flgg. Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. 711 den Arabern angewandten Zahlzeichen seien eine Auswahl der ge- eignetsten bei den Indern vorhandenen. Auf die Form komme es nicht an, wenn man nur die innenwohnende Bedeutung kenne. Ferner sagt uns Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi'), derselbe, welcher für Almamün die indische Astronomie bearbeitet hat (S. 698) und dessen schriftstellerische Leistungen uns noch in diesem Kapitel ausführlich beschäftigen müssen, es herrsche in bezug auf die Zeichen Ver- schiedenheit unter den Menschen, eine Verschiedenheit, welche zumal bei der 5, der 6, der 7 und der 8 hervortrete, doch liege darin kein Hindernis. Sieht man sich so vorbereitet die arabischen Handschriften an, so findet man wesentliche Abweichungen zwischen den Zahlzeichen der Ostaraber und der Westaraber. Der Vergleich der auf der Tafel am Ende unseres Bandes ausgeführten Zeichen lehrt, daß die hauptsächlichsten Abweichungen in den Zeichen für 5, 6, 7 und 8 stattfinden, während 1, 4, 9 ziemlich gleich aussehen, 2 und 3 nur aus horizontaler Lage in vertikale übergingen. Das kann uns nicht gerade überraschen. Wohl aber überrascht es uns, daß die arabischen Zahlzeichen so ungemein abweichen von den Devanagariziffern und daß sie viel eher den Vergleich aushalten mit den Apices, beziehungs- weise mit indischen Zeichen des II. bis Ill. S. Das gibt zu denken! Als immer wahrscheinlicher drängt sich die Vermutung auf, es könne der ganze historisch so dunkle als merkwürdige Vorgang folgender gewesen sein?): Um das II. S. n. Chr. kamen indische Zahlzeichen nach Alexan- dria, von wo sie sich in ihrer Anwendung beim Kolumnenrechnen vielleicht nach Rom, jedenfalls aber nach dem Westen Afrikas ver- breiteten. Die Erinnerung an die indische Herkunft mag wach ge- blieben sein. Im VIII. S. lernten die Araber des Ostens die indischen Zahlzeichen in bereits wesentlich veränderter Gestalt mit der inzwischen dazugetretenen Null kennen. Die Null nannten sie as-sifr, das Leere, ') Trattati d’aritmetica pubblicati da Bald. Bonecompagni I, pag. 1—2. ?) Diese Theorie rührt von Woepcke her. Journal Asiatigque vom 1. Halbjahr 1863 pag. 69—79 und 514—529. Gundermann, Die Zahlzeichen (Gießen 1899), hat dagegen folgende Theorie zu begründen gesucht: Ein älteres einfaches System, die Zahlen durch Striche zu bezeichnen, ist allmählich aber nie ganz durch ein neues System, das von allen Kulturvölkern der antiken Welt ange- nommen wurde, zurückgedrängt worden. Die Buchstaben eines Alphabetes fanden in ihm ihrer Reihenfolge nach Verwendung. Aus diesem Systeme ent- wickelte sich schrittweise ein neues, das nur einzelne Grundzeichen festhielt, die übrigen abstieß. Das vollständige System lebte aber verborgen weiter und kam nochmals zu großer Blüte. Endlich wurden durch das Ziffernsystem, den Abkömmling eines vollständigen Systems, alle früheren Systeme verdrängt. 712 33. Kapitel, als Übersetzung von sunya, wie die Null bei den Indern heißt (8. 614). Im Westen nahm man zwar die Null auf, blieb aber, und wäre es nur im bewußten Gegensatze zu den Ostarabern, den alten Zeichen treu, deren indischen Ursprungs man sich ebensowohl als ihres alexandrinischen Stempels noch lange erinnerte, und die man jetzt Gubärziffern nannte, d. h. Staubziffern!) im Gedächtnisse. der indischen Weise auf mit Staub bedeckten Tafeln zu rechnen. Wenn wir behaupten dürfen, jene doppelte Erinnerung sei lange nicht verloren gegangen, so beziehen wir uns dafür auf drei Stellen ziemlich später arabischer Rechenbücher?). In allen dreien ist die Form der Gubärziffern neben der der ostarabischen, welche letztere den Namen der indischen führen, aufgezeichnet; in zweien sind die Gubärziffern beschrieben, d. h. ihre Ähnlichkeit mit arabischen Buch- staben und Buchstabenvereinigungen ist hervorgehoben, so daß man sie deutlich erkennen kann; in allen dreien sind dann auch die Gu- bärziffern als indische Formen bezeichnet. Das eine Rechenbuch er- zählt in dieser Beziehung: „Ihr Ursprung bestand darin, daß ein Mann aus dem Volke der Inder feinen Staub nahm, welchen er auf eine Tafel von Holz oder anderem Stoff oder auf irgend eine ebene Fläche ausbreitete, und daß er darauf verzeichnete was ihm beliebte an Multiplikationen, Divisionen oder sonstigen Operationen, und hatte er die Aufgabe vollendet, so schloß er die Tafel wieder fort bis zum Gebrauche.“ Eben dieses Rechenbuch leitet aber, und das ist beweisend auch für die andere Erinnerung, die ganze Erörterung durch die Bemerkung ein, die Pythagoräer seien die Männer der Zahlen gewesen. Mögen die Vermutungen, mit deren Hilfe hier ein einheitlicher Überblick zu gewinnen gesucht wurde, richtig sein oder nicht, das Vorhandensein der ostarabischen wie der @ubärziffern wird dadurch nicht beeinträchtigt, und wir müssen nun Schriftsteller verschiedener Zeiten und verschiedener Heimat kennen lernen und von ihnen erfahren, was sie in der Mathematik geleistet haben, auch wie sie rechneten. Der erste arabische Schriftsteller, mit welchem wir es zu tun haben, ist Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. Er hat, wie wir wissen, im ersten Viertel des IX. S. gelebt. Er war einer der Gelehrten, welche der Chalif Almamün so sachgemäß zu beschäftigen wußte, indem er einen Auszug aus dem sogenannten Sindhind an- fertigen, eine Revision der Tafeln des Ptolemaeus vornehmen, Beob- \ ') Journal Asiatique vom 1. Halbjahr 1863 pag. 243. 2?) Ebenda pag. 58 bis 68. x Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. 713° achtungen zu diesem Zwecke in Bagdad und in Damaskus anstellen, endlich die Messung eines Grades des Erdmeridians ausführen ließ'). Die astronomischen Tafeln Alchwarizmis gehen uns nicht weiter an, als daß wir hervorheben müssen, daß sie von Atelhart von Bath, einem englischen Mönche, welcher um 1120 die erste Übersetzung des Euklid aus dem Arabischen in das Lateinische anfertigte (vergl. Kapitel 40), gleichfalls in lateinischer Sprache bearbeitet worden sind?), und daß sich in ihnen zweifellos eine Sinustafel befand°). Eingehend müssen wir uns dagegen mit zwei Schriften Alchwarizmis beschäftigen, in welchen er zuerst die Algebra, dann die Rechen- kunst behandelt hat, deren Reihenfolge wir in unserer Besprechung aber umkehren. | Beide wurden hoch geschätzt und, wie wir sehen werden, nicht ohne Grund. Beide sind, oder waren in verhältnismäßig neuer Zeit im arabischen Texte vorhanden. Die Algebra freilich ist allein in diesem Urtexte veröffentlicht, während für die Rechenkunst man lange auf das Nachsprechen eines selbst arabischer Quelle entstammenden Lobes beschränkt war: das Buch übertreffe alle anderen an Kürze und Leichtigkeit und beweise den Geist und Scharfsinn der Inder in den herrlichsten Erfindungen‘). Ein lateinisches Manuskript, 1857 in der Bibliothek zu Cambridge entdeckt und im Drucke heraus- gegeben), erwies sich aber als Übersetzung des vermißten Werkes, und der Umstand, daß trotz nachträglichen eifrigen Suchens kein zweites Exemplar dieser Übersetzung außer dem Kodex von Cam- bridge hat aufgefunden werden können, vereinigt mit der Tatsache der Übersetzung der astronomischen Tafeln desselben Verfassers durch Atelhart von Bath, haben die Vermutung entstehen lassen®), der gleiche Übersetzer habe auch die Arithmetik lateinisch be- arbeitet, eine Vermutung, welche wenigstens soweit große Wahr- scheinlichkeit für sich hat, als man auf einen Landsmann und Zeit- genossen des Atelhart, wenn nicht auf ihn selbst als Übersetzer wird schließen dürfen. !) Kremer II, 442—443. Suter 10—11, Nr. 19, aber auch Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik XIV, 158—160 (1902). ?) Math. Beitr. Kulturl. 8. 268— 269. Wüstenfeld, Die Uebersetzungen arabischer Werke in das Latei- nische. Abhandlungen der königl. Gesellsch. d. Wissensch. zu Göttingen. Bd. XXI (1877) 8. 20—23. °) A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie I, 49 Note 1 und 2. *) Casiri, Bibliotheca arabico-hispana Escurialensis I, 427 (Madrid 1760). °) Die Schrift bildet das I. Heft der von dem Fürsten Bald. Boncompagni herausgegebenen Trattati d’aritmetica. 6) Vgl. einen Aufsatz von Chasles in den Comptes Rendus de l’academie des sciences XLVIII, 1058 vom 6. Juni 1859. 714 33. Kapitel. Die Schrift beginnt mit den Worten: „Gesprochen hat Algo- ritmi. Laßt uns Gott verdientes Lob sagen, unserem Führer und Verteidiger.“ Der Name des Verfassers Alchwarizmi ist also hier in Algoritmi übergegangen, und fast in dieser letzteren Form nur noch etwas weniger der Urform gleichend, nämlich als Algorithmus hat das Wort Jahrhunderte überdauert!) und bezeichnet jetzt jedes wiederkehrende zur Regel gewordene Rechnungsverfahren. Das Be- wußtsein der eigentlichen Bedeutung des Wortes ist in diesem modernen Algorithmus gänzlich verloren gegangen, aber das Gleiche gilt bereits für das XIIL. S., wo man schon durch allerlei sprachliche Taschenspielerkünste sich bemühte ein Verständnis des Wortes zu gewinnen?). Da sagt einer, das Wort kommt von alleos fremd und goros Betrachtung, weil es eine fremde Betrachtungsweise ist. Nein, sagt der zweite, es kommt von argis griechisch und mos Sitte, es ist eine griechische Sitte. Der dritte kommt zu ares die Kraft und ritmos die Zahl. Ein vierter sieht in algos ein griechisches Wort, welches weißen Sand bedeute, und daher der Name, denn die Rech- nung ritmos wurde auf weißem Sande geführt. Wieder ein anderer legt sich das Wort auseinander in algos die Kunst und rodos die Zahl. Manchen war durch Überlieferung vielleicht das Bewußtsein geblieben, es handle sich um den Namen eines Mannes, aber dieser hieß ihnen bald Algorus von Indien, bald König Algor von Kastilien, bald Algus der Philosoph. Allerdings ist auch ein Zeugnis dafür vorhanden, daß man in Deutschland im letzten Drittel des XII. 8. Algorismus als Namen eines Mannes kannte. Im jüngeren Titurel findet sich eine Strophe°): Nu ist auch hi gesundert Lot vurste von Norwege Ichn weyz, mit we vil hundert, Ob Algorismus noch lebens plege Unde Abakuc de geometrien kunde, De heten vil tzo scaffen Solten se ir aller tzal da haben funden. Am auffallendsten erscheint, daß hier nicht bloß Algorismus, sondern auch Abakuc als eine Persönlichkeit vorkommt. Neuere Ge- lehrsamkeit hat sich, ehe die richtige Ableitung bekannt war, mit !) In dem Algorithmus den Namen Alchwarizmi erkannt zu haben, ist das große Verdienst von Reinaud (Memoire sur U’Inde pag. 303 sq.), der schon 1845 diesen Gedanken aussprach, also lange bevor die Entdeckung des Cambridger Kodex die Vermutung in Gewißheit verwandelte. ?) Math. Beitr. Kulturl. 267. ®) Wir verdanken die Kenntnis dieser Strophe Herrn Armin Tille. Vgl. Zeitschr. für deutsche Philologie Bd. XXX. Ein Xantener Bruch- stück des jüngeren Titurel (insbesondere S. 175 die obige Strophe 2009). Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. 715 scheinbarem Rechte fast am weitesten von der Wahrheit entfernt, indem sie in ähnlicher Weise wie bei Almagest eine Zusammensetzung des arabischen Artikels al mit dem griechischen &gıduög, die Zahl, ver- mutete und das dazwischengetretene g als sprachliche Absonderlichkeit betrachtete, die einer Erklärung nicht fähig sei, auch nicht bedürfe, da man bei dem Übergange aus dem Griechischen durch das Arabische . in das Lateinische auf alles gefaßt sein müsse. Es können einen solche Verirrungen nicht erstaunen, wenn ‚man berücksichtigt, daß durch neekischen Zufall alle anderen Formen des Namens unseres arabi- schen Gelehrten, die bekannt geworden sind, dem Algorithmus lange nicht so verwandt klingen wie das zuletzt veröffentlichte Algoritmi. Als solche Formen erwähnen wir Alchoarismus'), Alkauresmus, ja sogar Alchocharithmus?). Eine Frage könnte noch erhoben werden dahin gehend, welche den Namen Alchwarizmi führende Persönlichkeit den Urtext zu jener lateinischen Übersetzung geliefert habe? Wir nahmen an, es sei Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi gewesen, aber eine zweite Per- sönlichkeit konnte gleichfalls als Verfasser gelten. Albirüni, nach unserer früheren Darstellung (S. 710) dem Nordwesten Indiens ent- stammend, hatte nach anderer Meinung seine Heimat in einem kleinen Orte Birün der Landschaft Chwarizm, und diese Meinung, wenn auch mutmaßlich irrig, war verbreitet genug ihm den Namen Alchwarizmi bei manchen zuzuziehen?). Außerdem weiß man von ihm, daß er ein Rechenbuch verfaßt hat*), einiger Zweifel konnte daher entstehen, ob der erste, ob der zweite Alchwarizmi sich in jener Schrift redend einführe. Die Sicherung in dem Sinne beruht auf dem Umstande, daß nur von dem ersten, nicht von dem zweiten Alchwarizmi eine Algebra geschrieben worden ist, und daß der Ver- fasser des Rechenbuches nach jenem Anrufen und Preisen des Lenkers der Dinge, welches er echt arabisch noch weiter fortsetzt als wir es oben - mitteilten, nach Erörterung der Verschiedenheit der Zahl- zeichen unter den Menschen, auf welche wir ebenfalls (S. 711) uns schon bezogen haben, fortfährt wie folgt’): „Und ich habe schon ın dem Buche Aldschebr und Almukäbala, d. h. der Wiederherstellung und Gegenüberstellung eröffnet, daß jede Zahl zusammengesetzt sei, und daß jede Zahl sich über eins zusammensetze. Die Einheit also wird in jeder Zahl gefunden, und das ist es, was in einem anderen Buche der Arithmetik ausgesprochen ist. Weil die Einheit Wurzel ) Libri, Histoire des sciences mathematiques en Italie I, 298. °) Reinaud, Memoire sur UInde pag. 375. °) Wüstenfeld, Geschichte der arabischen Aerzte und Naturforscher 8. 75, Nr. 129. *) Reinaud, Memoire sur UInde pag. 303. °) Trattati d’aritmetica I, 2. 716 33. Kapitel. jeder Zahl und außerhalb der Zahl ist.“ Der Anfang dieses Satzes bis zu der „einem anderen Buche der Arithmetik“, in alio lkibro arith- metico, entnommenen Bemerkung über die Ausnahmestellung der Ein- heit findet sich aber nahezu wörtlich in der Algebra des Muhammed ibn Müsä!l. Wir sind also in der Tat berechtigt, hier unter dem Namen des Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi über jenes Rechen- buch weiter zu berichten, für ihn in Anspruch zu nehmen, was aus dem letzten Teile der hier mitgeteilten Stelle unzweifelhaft her- vorgeht, daß wer so schrieb, in der Zahlenlehre der Neupythagoräer wohl geschult sein mußte, welche er nicht aus indischen Quellen ‘kennen lernen konnte, daß unter jenem anderen Buche der Arith- metik die spätere sogenannte spekulative Arithmetik im Gegensatze zur praktischen Arithmetik (S. 704) gemeint ist, daß dem Verfasser darüber Kenntnisse zu Gebote standen, welche unmittelbar oder mittelbar auf Nikomachus, vielleicht auch auf Theon von Smyrna, der am deutlichsten betont hat, die Einheit sei keine Zahl (S. 435), zurückgehen. Nun wird das eigentliche Rechnen gelehrt, das Zahlenschreiben, das Addieren, bei welchem ein besonderes Gewicht auf den Fall ge- legt ist, daß die Summe der Ziffern an einer Stelle 9 übersteigt; die Zehner sollen alsdann der folgenden Stelle zugerechnet und an der ursprünglichen Stelle nur das geschrieben werden, was unterhalb 10 noch übrig bleibt. „Bleibt nichts übrig, so setze den Kreis, damit die Stelle nicht leer sei; sondern der Kreis muß sie einnehmen, da- mit nicht durch ihre Leerheit die Stellen vermindert werden und die zweite für die erste gehalten wird“?). Bei der Subtraktion wie bei der Addition soll man bei der höchsten Stelle, also links anfangen, dann zur nächstfolgenden übergehen, weil dadurch die Arbeit, so Gott will, nützlicher und leichter werde. Die eigentliche Schwierig- keit der Subtraktion für Anfänger, die Behandlung des Falles, daß eine Stelle des Subtrahenden durch eine höhere Zahl als die ent- sprechende Stelle des Minuenden erfüllt ist, wird zwar erwähnt?), aber ohne daß ein Beispiel dafür angegeben wäre, trotzdem vorher tres modi d. h. drei Beispiele in Aussicht gestellt sind. Da zwei der- selben (niimlich 3211 von 6422 und 144 von 1144) angegeben sind, ') The algebra of Mohammed ben Musa (ed. Rosen). London 1831, pag. 5, $ 3: I also observed that every number is composed of units and that any number may be divided into units. ?) Si nihil remanserit pones circulum, ut non sit differentia vacua: sed sit in ea circulus qui occupet eam, ne forte cum vacua fuerit, minuantur differentiae, et putetur secunda esse prima. Trattati d’aritmetica 1, 8. °) Hierauf hat H. Eneström in der Bibliotheca Mathematica 3. Folge, Bd. VI, 307 hingewiesen. Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. 717 so entsteht die Frage, ob hier an einen Mangel des arabischen Originals oder an eine durch den Übersetzer verschuldete Auslassung zu denken sei. Die dritte Operation ist das Halbieren, welches in der um- gekehrten Ordnung bei der niedersten Stelle zu beginnen hat. Das Verdoppeln hingegen, die vierte Operation, beginnt wieder von oben. Die Hervorhebung von Halbierung und Verdoppelung als be- sonderen Rechnungsarten ist sehr bemerkenswert. Indisch ist sie nicht, wenigstens finden wir sie weder bei indischen Originalschrift- stellern, noch bei dem nach indischem Muster arbeitenden Maximus Planudes. Nach dem heutigen Stande des Wissens können wir nur an unmittelbaren oder durch Griechen vermittelten ägyptischen Ein- fluß denken. Die Multiplikation wird nach der Weise ausgeführt, welche wir (8. 610—611) bei den Indern kennen gelernt haben; das Produkt wird jeweil über die betreffende Ziffer des Multiplikandus ge- schrieben und verbessert, wenn eine nach rückwärts folgende Stelle des Multiplikandus mit der Multiplikatorziffer vervielfacht eine Ver- besserung nötig macht. Von der Richtigkeit der genannten Ope- rationen überzeugt man sich durch die Neunerprobe. Die Division wird nach dem gleichen Gedanken wie die Multiplikation ausgeführt, nur natürlich in umgekehrtem Gange. Die Schreibweise ist die, daß der Dividend unter sich den Divisor, über sich den Quotienten erhält und erst über dem Quotienten die aufeinanderfolgenden Veränderungen erscheinen, welche mit dem Dividenden durch Abziehung der Teil- produkte vorgenommen werden. Der Divisor bleibt übrigens an seiner Stelle unter dem Dividenden nicht stehen, sondern rückt fortwährend von links nach rechts zurück. So liefert die Division 46468 :324 den Quotient 143 und den Rest 136. Faßt man die umständliche Beschreibung!) in eine kurze, vielleicht durch den Ver- fasser, vielleicht durch den Übersetzer weggelassene Musterrechnung zusammen, so würde sie folgendermaßen ausgesehen haben: 136 24 110 22 140 143 46468 324 324 324. ') Trattati d’aritmetica I, 14—16. 718 33. Kapitel. Von einer komplementären Division ist keine Spur zu finden. Im Anschlusse an die Division kommt der Verfasser zu den Brüchen und bemerkt, die Inder hätten sich der 60 teiligen Brüche bedient, welche er dann schließlich ausführlich erklärt und das Rechnen an und mit denselben erläutert. Wir schalten hier eine Bemerkung über arabische Brüche ein, von welcher wir zwar nicht die volle Überzeugung besitzen, daß sie bereits für die Zeit des Muhammed ibn Müsä Geltung habe, aber auch für das Gegenteil keinerlei Gründe kennen, indem es mehr um etwas Sprachliches als der Rechenkunst Angehöriges sich handelt. Die Araber unterschieden nämlich stumme Brüche von aus- sprechbaren!). Aussprechbar sind die Brüche mit den Nennern 2 bis 9 oder anders gesagt: es gibt arabische Wörter für Halbe, Drittel, ... Neunte. Stumm sind Brüche mit Nennern, welche nicht 2 bis 9 sind oder aus diesen multiplikativ zusammengesetzt werden können, wie etwa Sechstel des Fünftels statt Dreißigstel. 1 13 ein Teil von 13 Teilen ausgedrückt werden. Man hat die Ähn- lichkeit mit dem Aussprechbarmachen der Brüche durch Verwandlung in eine Summe von Stammbrüchen bei den Ägyptern (8. 68) her- vorgehoben?), und wenn wir uns kein bestimmtes Urteil über die Triftigkeit dieser unter allen Umständen höchst scharfsinnigen Ver- gleichung zutrauen, so unterlassen wir doch nicht sie zu wiederholen und im voraus darauf aufmerksam zu machen, daß uns noch eine weitere Vergleichung, möglicherweise eine ägyptische Erinnerung durch mündliche Überlieferung von Jahrtausenden in diesem Kapitel aufstoßen wird. Von einem Rechenbrette oder etwas, was demselben irgendwie gleicht, ist bei Alchwarizmi keine Rede, und ebenso erfolglos wird unser Suchen danach bei älteren arabischen Schriftstellern bleiben. Von Alkindi, der seine wissenschaftliche Tätigkeit um 850 ent- faltete, wird zwar eine Schrift erwähnt, deren Titel in richtiger Übersetzung über die Linien und das Multiplizieren mit der Zahl der Gerstenkörner?) lautet, aber daraus ein Rechnen auf Linien oder zwischen Linien mit Hilfe von Gerstenkörnern entnehmen zu wollen, dürfte allzukühn sein. Die zweite Schrift des Alchwarizmi, welcher wir uns jetzt zu- wenden, ist die, wie wir schon gesagt haben, vor der Arithmetik des- ') Käfi fil Hisäb (deutsch von Hochheim) Heft I, S. 11, Anmerkung 4, und Behaeddins Essenz der Rechenkunst (deutsch von Nesselmann) S. 4. ?) Herr L. Rodet in einem Privatbriefe. ®) Fihrist 11. Suter 23—26, Nr. 45. Ein stummer Bruch ıst also z. B. und muß umschreibend durch Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä Alchwarizm!i. 719 selben Verfassers entstandene Algebra'), das erste Werk, soviel man weiß, in welchem dieses Wort selbst als Titel erscheint. Ja, wenn man arabischen Notizen, die teils in einem Werke des XII S., teils in Randbemerkungen zu einer Handschrift von Alchwarizmis Algebra niedergelegt sind?), Glauben beimessen darf, so ist es das erste Werk, in welchem jenes Wort vorkommen kann, denn vor Alehwarizmi habe kein Araber je über den dadurch bezeichneten Gegenstand geschrieben. Wir müssen demnach sicherlich an dieser Stelle von dem Worte Algebra reden?). Eigentlich sind es zwei Wörter Aldschebr walmukäbala, welche Alchwarizmi vereint als Titel benutzt hat. Dschebr ist re- stauratio, die Wiederherstellung, mukäbala ist oppositio, die Gegen- überstellung.: Allein mit diesen Wortübersetzungen ist gewiß für niemand, der den Sinn der Wörter in der Mathematik noch nicht gekannt hat, etwas verdeutlicht. Trotzdem fand es Alchwarizmi nicht für notwendig, die Wörter, die ihm als Überschrift dienten, zu erklären, und, was noch mehr sagen will, in dem eigentlich theo- retischen Teile seines Buches kommen diejenigen Operationen, welche dschebr und mukäbala genannt werden, gar nicht vor. Wir werden noch Folgerungen aus diesem höchst merkwürdigen Tatbestande ziehen. Einstweilen erläutern wir auf die Erklärungen späterer ara- bischer Schriftsteller uns stützend die Meinung unseres Verfassers. Wiederherstellung ist genannt, wenn eine Gleichung derart geordnet wird, daß auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens nur positive Glieder sich finden; Gegenüberstellung sodann, wenn Glieder gleicher Natur auf beiden Seiten weggelassen werden, so daß Glieder dieser Art nach vollzogener Gegenüberstellung nur noch auf der einen Seite vorkommen, wo sie eben im Überschusse vor- handen waren. Alchwarizmi nimmt, wie gesagt, in seinem theoretischen Teile, wo er zuerst die Auflösung der Gleichungen lehrt, stillschweigend an, die betreffenden beiden Vorbereitungsoperationen seien bereits vollzogen, und er unterscheidet danach 6 Arten von Gleichungen, welche wir schreiben würden: ar mbt, aMmuc dbü=c, tbs-e @+c=br, ®—=dbr-+ c. !) Eine alte lateinische Übersetzung ist abgedruckt bei Libri, Histoire des sciences mathematiques en Italie I, 253—297. Wir verstehen unter Mohammed ben Musa, Algebra immer die von Friedr. Rosen besorgte mit englischer Übersetzung begleitete Ausgabe. London 1831. ®) Mohammed ben Musa, Algebra pag. VL. ®) Ebenda pag. 177—188 und Nesselmann, Die Algebra der Griechen $. 45—53. 720 33. Kapitel. Er gibt sodann für jede dieser Gleichungen Regeln, welche er zu- gleich an Zahlenbeispielen erläutert. Wir wollen die Auflösung von 2? +c=bx hier beispielsweise übersetzen, weil sie in mehreren Beziehungen die wichtigste ist?). „Quadrate und Zahlen sind gleich Wurzeln; z. B. 1 Quadrat und 21 an Zahlen sind gleich 10 Wurzeln desselben Quadrates, d. h. was muß der Betrag eines Quadrates sein, welches nach Addition von 21 Dirham gleichwertig wird mit 10 Wurzeln jenes Quadrates? Auflösung: Halbiere die Zahl der Wurzeln; ihre Hälfte ist 5. Ver- vielfache dieses mit sich selbst; das Produkt ist 25. Ziehe davon die mit dem Quadrate vereinigten 21 ab; der Rest ist 4. Ziehe die Wurzel; sie ist 2. Ziehe dieselbe von der halben Anzahl der Wurzeln, welche 5 war, ab; der Rest ist 3. Das ist die Wurzel des gesuchten Quadrates und das Quadrat selbst ist 9. Oder Du kannst jene Wurzel zu der halben Anzahl der Wurzeln addieren; die Summe ist 7. Das ist die Wurzel des gesuchten Quadrates, und das Quadrat selbst ist 49. Wenn Du auf ein Beispiel dieses Falles stößest, ver- suche die Lösung durch Addition, und wenn diese nicht den Zweck erfüllt, dann wird Subtraktion es sicherlich tun. Denn in diesem Falle können beide — Addition und Subtraktion — angewandt werden, was in keinem anderen der drei Fälle; in welchen die Anzahl der Wurzeln halbiert werden muß, gestattet ist. Wisse auch, daß, wenn in einer Aufgabe dieses Falles das Produkt der Vervielfachung der halben Anzahl der Wurzeln in sich selbst kleiner ausfällt als die Zahl der Dirham, welche mit dem Quadrate verbunden ist, die Aufgabe unmöglich ist; ist aber jenes Produkt den Dirham selbst gleich, dann ist die Wurzel des Quadrates gleich der Hälfte der An- zahl der Wurzeln allein ohne jede Addition oder Subtraktion.“ In Zeichen würden wir das so schreiben, daß aus 2 +c=bx sıch b Bye = y,H V® ai 2 ergebe, also mit zwei möglichen Werten, vorausgesetzt, daß (5) 2.6; bei c> (+) sei die Aufgabe unmöglich; bei c = (2) gebe es nur a b einen Wert z = =: Nachdem die verschiedenen Gleichungsformen aufgelöst sind, wendet sich Alchwarizmi zum geometrischen Nachweise der Richtig- keit des betreffenden Verfahrens. Auch hier wollen wir nur einen Fall, etwa 2? +bz=c hervorheben?), um zu zeigen, wie die Sache ') Mohammed ben Musa, Algebra pag. 11—12. °) Ebenda pag. 13—16. Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. 721 gemeint sei. Das Zahlenbeispiel lautet 2° + 10x2—= 39. Man zeichne (Fig. 95) ein Quadrat «ß und an jede Seite desselben ein Rechteck, so entsteht, wenn man noch 4 kleine Quadratchen an den Ecken beifügt, ein größeres Quadrat de. Boll die erste Figur «ß das Quadrat x°, sollen die 4 Rechtecke 2 y, 9, %, 6 die 10x vorstellen, so ist die Breite A jedes solchen Rechteckes T = = und die 4 Eck- |? * quadratchen betragen zusammen 4: (2) == 25. e z Das größere Quadrat de ist also ©? +10x-+ 25 RN € oder 64, weil © +10x2=359 ist. Die Seite des größeren [Quadrates ist mithin Y64= 8. Eben diese Seite ist Aa auch + “ folglich = 8 —5 —3 oder als Formel geschrieben x -V4: (4 ) + C— ar beziehungsweise x — v(& +c— = Alchwarizmi erklärt dann ebendenselben Fall mit Hilfe eines Gno- mons. Er legt nämlich (Fig. 96) an «ß—=x? das 10x in Gestalt nur zweier Rechtecke y, ö an 2 Seiten an, so dab ein aus «ß, y und Ö bestehender Gnomon gebildet 5 ist, welchem zur Vollendung des Quadrates && nur i ein Eckquadrat von der Seite n —5, mithin von R der Fläche 25 fehlt. Das größere Quadrat ist nun- |, Es d mehr - wieder «? +10: +25 =-39 +25 =-64 und | “ seine Seite Y64 = 8. Ebendiese ist aber auch 2 +5 Fig. 96. und so wieder =8—5=3. Wir bleiben in unserem Berichte hier zuvörderst stehen, um an das Bisherige die erforderlichen Bemerkungen zu knüpfen. Wir haben gesehen, daß Alchwarizmi seine Schrift Aldschebr walmukä- bala nannte. Als im Mittelalter lateinische Übersetzungen ange- fertigt wurden, übernahm man erst einfach die beiden Wörter, welche man nur mit lateinischen Buchstaben schrieb!), und welchen man allenfalls die Übersetzung restauratio et oppositio beifügte, die dabei mitunter in der Reihenfolge wechselten, so daß sie oppositio et re- stauratio hießen. Allmählich ging von den beiden arabischen Wörtern das zweite verloren, das erste blieb allein in der Form algebra übrig, und nun geschah das Entgegengesetzte wie bei algorithmus. Dort vergaß man, daß es ein Mann war, der so hieß, und suchte das Wort zu übersetzen, hier vergaß man, daß es ein übersetzungs- ') Libri, Histoire des sciences mathematiques en Italie I, 253. CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 46 722 33. Kapitel. fähiges Wort war, welches man vor sich hatte und hielt algebra für den Namen eines Mannes. Von einem Araber Geber sollte die Kunst herrühren, behauptete im XIV. S. ein Florentiner, Rafaele Canacei!), und andere schrieben das gläubig ab, nicht selten den Erfinder in jenem Astronomen Dschäbir ibn Aflah aus Sevilla ver- mutend, der gemeiniglich Geber genannt wird und mehrere Jahr- hunderte nach Alchwarizmi erst lebte?). Im Spanischen ist die Be- deutung und das Wort selbst annähernd erhalten in Algebrista, der Chirurg ’?). Wir haben ferner gesehen, daß Alchwarizmi jene Wörter dschebr und mukäbala zwar in der Überschrift gebraucht aber nirgend er- klärt hat, wiewohl der bloße Wortlaut ganz gewiß nicht ausreicht, um die technische Bedeutung zu verstehen. Die Folgerung ist da- durch geradezu aufgezwungen, daß Alchwarizmi, mag er auch der erste arabische Schriftsteller über seinen Gegenstand gewesen sein, doch keinesfalls einen für seine Landsleute neuen Gegenstand be- handelte, daß vielmehr durch mündliche Lehre, entnommen aus per- sönlichen Übertragungen fremdländischen Wissens oder aus Schriften, die in nicht-arabischer Sprache verfaßt waren, schon bekannt gewesen sein muß, was Herstellung und was Gegenüberstellung sei. So sind wir zu der Frage gelangt, aus welcher Sprache die ara- bische Lehre von den Gleichungen sich abgeleitet hat und wann diese Ableitung erfolgte. Die letztere Frage zu beantworten reicht das bekannte Quellenmaterial nicht aus. Wir können nur behaupten, die Einführung der Algebra müsse hinlänglich lange Zeit vor Alchwa- rizmi stattgefunden haben, um die Möglichkeit zu gewähren, daß jene Begriffe und die für dieselben erfundenen Kunstausdrücke unter den Fachleuten — denn für solche schrieb Alchwarizmi — schon landläufig geworden sein konnten. Aber woher war damals die Algebra gekommen? Zwei Quellen stehen uns, soweit wir sehen, zu Gebot. Was Alchwarizmi gibt kann griechischen, kann indischen Ursprungs sein, kann vielleicht einer aus beiden Quellen gemischten Strömung sein Dasein verdanken, wie wir ja auch in seinem Rechen- ') Cossali, Origine, trasporto in Italia, primi progressi in essa dell’ algebra. Parma 1797. I, 35. ”) Hankel S. 248, Note **. Dieser Geber darf ja nicht verwechselt werden mit dem Alchimisten Abü Müsä Dschäbir, der gleichfalls als Geber in der Literargeschichte genannt wird und ein Schüler des Dscha far as Sädik (699—765) war, mithin vor Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi gelebt hat. Vgl. Wüstenfeld, Geschichte der arabischen Aerzte und Naturforscher S..12, Nr. 25. °) Llegaron a un pueblo, donde fue ventura hallar a un Algebrista con quwien se curö el Sanson desgraciado. Don Quwixote, Parte III, L. V, e. 15 am Ende. Hier ist augenscheinlich Algebrista der Chirurg, der Zerbrochenes wieder einrichtet. Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. 123 buche überwiegend Indisches und daneben einzelne griechische Spuren vorfanden. Wir wollen zu zeigen versuchen, daß, wenn die Algebra überhaupt als eine Mischung zu betrachten ist, jedenfalls griechische Elemente in ihr weitaus vorherrschen. | Schon die beiden Verfahren der Herstellung und Gegenüber- stellung, welche voraussetzen, daß auf beiden Seiten der Gleichung nur Positives stehe, wenn der Ansatz vollendet ist, können nicht indisch sein, weil die Inder von dieser Bedingung nichts wissen. Es kann hier nur auf Griechisches gemutmaßt werden, und vergleichen wir unsere Auszüge aus Diophant (S. 472), so finden wir ganz genau die Vorschrift der Herstellung und Gegenüberstellung, in welcher nur keine Namen für jenes Verfahren angegeben sind, Namen die mithin jünger und mutmaßlich arabischer Herkunft sein werden. Bei Diophant finden wir ferner gerade die drei Formen unreiner quadratischer Gleichungen, welche unser Araber kennen lehrt, wieder mit einem kleinen Unterschied, auf den wir noch zu reden kommen. Vergleichen wir weiter. Alehwarizmi hat für die in den Gleichungen auftretenden Größen verschiedene Namen. Die Unbekannte heißt schai, die Sache, oder dschidr, die Wurzel. Das Quadrat der Unbekannten heißt mäl, Ver- mögen, Besitz. Die bekannte Größe wird als die Zahl benannt. Der Name des Quadrats kann nun sehr wohl aus dem griechischen Övveuıs, Möglichkeit, Vermögen übersetzt sein, während es aus dem indischen varga, die Reihe, unter keinen Umständen abgeleitet werden kann'). Das Wort schai für die Unbekannte entspricht weder dem indischen yävattävat, noch dem «@o:Yuög des Diophant. Letzteres war freilich nicht mehr zu verwenden, wenn man ihm schon eine andere Bedeutung gegeben hatte, wenn man ganz zweckmäßig die bekannte Größe der Gleichung, die uovdg des Diophant, die rüpa der Inder Zahl genannt hatte. Der Name schai, Sache, für die Unbekannte er- innert, wenn man ihn nicht als in der Natur der Fragen begründet einheimisch entstanden lassen sein will, nur an das ägyptische hau, welches gleichfalls Sache heißt und für die Unbekannte gebraucht wird, eine Ähnlichkeit, auf welche wir oben (S. 718) vorbereitet haben?). Nun bleibt noch dschidr, die Wurzel, für die Unbekannte erklärungsbedürftig. Man hat darin eine Übersetzung des indischen müla erkannt. Das ist ganz gewiß richtig für die Bedeutung von !) Über alle diese Namen vgl. Hankel S. 264, Note *, wo freilich weder alles angegeben ist, was wir hier mitteilen, noch die gleichen Folgerungen ge- zogen sind. *) Die Vergleichung zwischen schai und hau haben wir in dem Aufsatze: „Wie man vor vierthalbtausend Jahren rechnete“ in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 6. September 1877 ausgesprochen. 46* 1724 33. Kapitel. dschidr als Quadratwurzel einer Zahl, welche bei den Griechen stets zievod, die Seite, hieß. Aber ob nicht zugleich an das o/fn des Ni- komachus, welches in der Arithmetik des Boethius sich mit er- weiterter Bedeutung als radix wiederfindet!), erinnert werden darf, ist eine doch wohl aufzuwerfende Frage. Es könnte 6ifn selbst eine Übersetzung von müla sein, wenn wir an die indische Beeinflussung Alexandrias im II. S. uns erinnern; es könnte müla aus 6/$n über- setzt worden sein, wenn wir an die alexandrinische Beeinflussung Indiens denken; es könnte dschidr dem einen wie dem andern Worte sein Dasein verdanken! Soviel scheint daraus hervorzugehen, in diesen Wortvergleichungen werden wir den Schlüssel zu dem uns be- schäftigenden Geheimnisse nicht finden. Täuschen wir uns nicht, so liegt dieser Schlüssel in den Figuren, welche Alchwarizmi zur Begründung seiner Auflösungen der unreinen quadratischen Gleichungen gezeichnet hat, oder vielmehr in den Buchstaben, welche er zur Bezeichnung dieser Figuren verwendet?). Alchwarizmi beweist Algebraisches geometrisch; das ist von vorn- herein griechisch, nicht indisch, da dem Inder gerade das entgegen- gesetzte Verfahren Gewohnheit ist, Geometrisches algebraisch zu be- handeln, und nur eine unbestimmte quadratische Gleichung zy=axc+by-+e (S. 631) geometrische Erörterung fand, welche uns an einen griechi- schen Ursprung gerade dieser Gleichungsauflösung denken ließ. Alch- warızmi bezeichnet ferner seine Figuren mit Buchstaben; das ist wieder griechisch, nicht indischh Und nun vollends mit welchen Buchstaben bezeichnet er sie? Allerdings mit arabischen Buchstaben, aber mit solchen, welche eine bunte Reihenfolge in dem späteren arabischen Alphabete darstellen und auch durch die Reihenfolge Abudsched nicht ganz erklärt sind, während sie durch griechische Buchstaben nach dem Gesetze gleichen Zahlwertes, sofern man die Buchstaben als Zahlen betrachtet, ausgedrückt die vollständig richtige griechische Reihenfolge zeigen, und auch darin griechisch sich geben, daß sie das 5 und ı ausschließen. Welchen Grund könnte ein Araber gehabt haben, seinen beiden Zeichen, welche die Zahlenbedeu- 24 ') Radiees autem proportionum voco numeros in superiore dispositione deserip- tos, quasi quibus omnis summa supradictae comparationis innitatur (Boetius ed. Friedlein pag. 60 1. 1-3). °) Der den Charakter einer Methode an sich tragende Gedanke auf die Buchstaben einer Figur und deren Reihenfolge zu achten, um die Herstammung einer Lehre zu erkennen, rührt von Hultsch her, der ihn in seiner Abhandlung über den heronischen Lehrsatz, Zeitschr. Math. Phys. IX, 247 zuerst in Anwendung gebracht hat. Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. 725 tung 6 und 10 haben und so den als ausgeschlossen von uns ge- nannten entsprechen, also den w-Laut und den j-Laut, nicht zu be- nutzen? Keinen, so viel wir sehen. Der Grieche hatte solche Gründe. Das s war ihm im Gewöhnlichen überhaupt kein Buchstabe mehr, und das ı, wie wir uns erinnern, dem einfachen Striche allzuähnlich. Der ein griechisches Muster benutzende Araber folgte ihm, aber auch nur dieser. Wir behaupten auf diese Begründung gestützt: Zum mindesten die geometrischen Nachweisungen für die Auflösung unreiner qua- dratischer Gleichungen bei Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi sind griechisch, und damit gewinnen auch frühere Behauptungen erneute, für manchen Leser vielleicht erhöhte Wahrscheinlichkeit, die Be- hauptung jene Auflösung der Gleichung zy= ax +by-+c bei Bhäskara sei griechischen Ursprungs, die Behauptung, die griechische Algebra habe von Euklid zu Heron, vielleicht zu Diophant in voll- kommen selbständiger Entwicklung sich ausgebildet. Wie Alchwarizmi zu griechischer Algebra gekommen sein kann, darüber vollends ist nach der allgemeinen kulturgeschichtlichen Über- sicht, welche wir im vorigen Kapitel zu geben uns gedrungen fühlten, kein Zweifel. Die griechischen Gelehrten, die am persischen Hofe erschienen waren, gehörten einer Zeit an, welche wohl anderthalb Jahrhunderte nach Diophant fällt, und durch sie kann und wird manches aus Diophant, beziehungsweise aus Kenntnissen, wie sie in griechischer Sprache uns nur bei Diophant erhalten sind, mitgeführt worden sein. Wir erinnern ferner daran, daß Johannes von Da- maskus im VIII. S. zum arabischen Hofe in Beziehung stand, jener Mann (S. 696), der mit Pythagoras und Diophant verglichen worden ist, vielleicht doch mehr als eine Floskel seines Lobredners, vielleicht ein Hinweis darauf, daß die Gegenstände pythagoräischer wie dio- phantischer Arithmetik und Algebra ihm geläufig waren. Es fehlt freilich bei Alchwarizmi neben Dingen, in welchen er als Schüler griechischer Algebraisten sich erweist, auch nicht an Dingen, in welchen er sich wie von den Indern, so auch von ihnen zu unterscheiden scheint, nicht an solchen, in welchen er über sie hinausgeht. Die Griechen, und wie die Griechen so auch die Inder (S. 625), bereiteten eine unreine quadratische Gleichung, etwa ae +br=c, zur Auflösung dadurch vor, daß sie dieselbe mit dem Koeffizienten @ des quadratischen Gliedes, unter Umständen auch mit dem Vierfachen desselben 4a vervielfachten. Alchwarizmi schlägt den entgegen- gesetzten Weg ein, er läßt seine Gleichung durch jenen Koeffi- 726 33. Kapitel. zienten dividieren!) und bringt sie so in die in seinen Lösungen vor- gesehene Form z#°+b,2—=e,. Wir erinnern uns ferner, daß es min- destens sehr wahrscheinlich gemacht werden konnte, Diophant habe nicht gewußt, daß manche unreine quadratische Gleichungen zwei von- einander verschiedene positive Wurzelwerte besitzen (S. 476). Alch- warizmi spricht ausdrücklich von den beiden Wurzeln der Gleichungen x2?+c=bx (8. 720). Das dürfte doch wohl auf indischen Einfluß zurückzuführen sein, so daß damit das Wort Mischung, dessen Möglichkeit 'wir für die arabische Algebra in sehr einschränkende Klauseln einschlossen, sich für dieses eine indische Element recht- fertigen könnte. Indisch ist auch wohl die nur uneigentlich der Algebra zuge- teilte Regeldetri, welche in der Fortsetzung von Alchwarizmis Werke auftritt?) und ähnlich bei griechischen Schriftstellern uns nicht bekannt ist. Gehen wir in unserem Berichte weiter, so kommen wir zu einem unzweifelhaft wieder griechischen Quellen entstammenden Kapitel mit der Überschrift die Messungen, misähät?). Einzelheiten mögen unsere Behauptungen bestätigen. Alchwa- £ 4 “ _rizmi spricht den pythagoräischen Lehrsatz aus und will ihn beweisen. Zum Beweise dient ihm (Fig. 97) das in acht gleichschenk- £ x A lige rechtwinklige Dreiecke zerlegte Qua- K drat, die Figur, deren wir als Fig. 34 zum Verständnis der berüchtigten platonischen Menonstelle (5.217) bedurften, welche auch Pr - BE ron Pythagoras mutmaßlich zum Beweise Fig. 97. seines Satzes in dem ersten Falle, daß das vorgelegte rechtwinklige Dreieck die Hälfte eines Quadrates war, benutzt wurde, eine Mutmaßung, die selbst wieder zu gesteigerter Wahrscheinlichkeit gelangt, wenn wir die dazu dienende Figur als eine griechische wirklich nachweisen können. Das können wir aber trotz des arabischen Fundortes wieder mit Hilfe der ') The solution is the same when two squares or three, or more or less be specified; you reduce them to one single square and in the same proportion you reduce also the roots and simple numbers, which are connected therewith (Mo- hammed ben Musa, Algebra pag. 9). °) Mohammed ben Musa, Algebra pag. 68—70. °) Ebenda pag. 70—85. Eine französische Übersetzung dieses einen Kapitels hat Aristide Marre nach Rosens englischer Übersetzung in den N. ann. math. V, 557—570 gegeben. Später hat er sie nach denı arabischen Grundtexte verbessert zum erneuerten Abdruck bringen lassen in Annali di matematica pura ed applicata T. VII. Roma 1866. Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. 727 Buchstaben. Unter den 12 Figuren, welche überhaupt in dem Kapitel der Messungen vorkommen, ist eine (ein durch einen vertikalen Durch- messer geteilter Kreis) ohne jede Bezeichnung. Zehn Figuren sind durch an die Seiten beigeschriebene Längenmaße bezeichnet. Die einzige zum pythagoräischen Lehrsatze gehörige Figur trägt Buch- staben an den Ecken und zwar solche, die nach unserer vorerwähnten Methode ins Griechische übertragen eine richtige Reihenfolge der ge- wählten Buchstaben geben!). Vierecke, heißt es alsdann weiter, sind von fünf Arten: Quadrate, Rechtecke, Rhomben, Rhomboide, un- regelmäßige Vierecke. Das sind ganz genau die fünf euklidischen Vierecke im Gegensatze zu den indischen (8. 651). Alchwarizmi unterscheidet dabei Länge und Breite der Figuren, unter ersterer die größere, unter letzterer die kleinere Abmessung verstehend. Das ist wieder alexandrinisch und von ägyptischer Zeit her in Gebrauch (3.394). Die Aufgabe wird gestellt: in ein gleichschenkliges Dreieck, dessen beide gleiche Schenkel 10 und dessen Grundlinie 12 zur Länge hat, ein Quadrat einzuzeichnen. Die Höhe des Dreiecks ergibt sich ihm als 8, die Quadratseite als a Genau dieselbe Aufgabe mit den- selben Maßzahlen findet sich bei Heron?), denn darin wird man doch wohl eine Verschiedenheit nicht erkennen wollen, daß Heron von seinem gleichschenkligen Dreiecke nur die Grundlinie mit 12, die Höhe mit 8 bekannt gibt, woraus man die beiden gleichen Seiten mit je 10 berechnen könnte, wenn Heron es auch unterläßt. Eine gewisse Ver- schiedenheit bietet nur die Art der Berechnung der Quadratseite, die in dem arabischen Texte deutlicher ist als in unserem griechischen Wortlaute. Heron nämlich verschafft sich ohne weitere Begründung die Quadratseite, indem er das Produkt von Höhe und Grundlinie durch die Summe von Höhe und Grundlinie dividiert; Alchwarizmi dagegen rechnet — ob nach griechischer Vorlage lassen wir dahingestellt — dieselbe Formel erst algebraisch aus, indem er die Quadratseite als Unbekannte wählt und die vier Stücke, in welche die Einzeichnung des Quadrates das ursprüngliche Dreieck zerlegt, ihrer Fläche nach einzeln berechnet, welche alsdann zusammen der bekannten (Gesamt- fläche gleich gesetzt werden. Allerdings fehlen auch in dem Kapitel der Messungen gewisse Dinge, welche wir sonst bei Schriftstellern, die unmittelbar an Heron sich anlehnen, zu finden gewohnt sind. Die näherungsweise Berechnung des gleichseitigen Dreiecks unter ı) Rosen hat zwar R wo wir & haben, doch ist dieses offenbar Wirkung eines Schreibfehlers, indem die beiden entsprechenden arabischen Buchstaben sich nur durch ein kleines Pünktchen unterscheiden. °) Heron (ed. Hultsch) pag. 74—75. 128 33. Kapitel. Y;, 26 3 N ’ - Benutzung von Y3 = 75, die heronische Dreiecksformel aus den drei Seiten, jene altägyptischen Annäherungswerte für Vierecksflächen als Produkte der arithmetischen Mittel von je zwei Gegenseiten lehrt Alchwarizmi nicht. Von Stereometrischem hat nur der Inhalt einer abgestumpften quadratischen Pyramide, deren Grundfläche die Seite 4, die Abstumpfungsfläche die Seite 2 besitzt, während die Höhe 10 ist, Beachtung gefunden. Die Berechnung selbst kann nach griechischem Muster geführt sein, wiewohl gerade diese Zahlen in keinem der be- kannten heronischen Beispiele vorkommen. Auch ein indisches Ele- ment ist übrigens mit Bestimmtheit in diesem Kapitel nachzuweisen. Die Verhältniszahl x wird nämlich in dreierlei Größen angegeben. Davon werde = „im praktischen Leben angewandt, wiewohl es nicht ganz genau sei; die Geometer besitzen zwei andere Methoden“, und 62832 20000 Nun kommt ein letzter wieder ganz verschieden gearteter Ab- schnitt, an Länge ziemlich genau die Hälfte des ganzen Buches aus- machend'!) und dadurch den Beweis liefernd, daß in den Augen des Verfassers hier wohl der Schwerpunkt seiner Aufgabe liegen mochte. Es handelt sich um die ungemein verwickelten, um nicht zu sagen verworrenen Bestimmungen über Erbrecht, über Freimachung von Sklaven und dergleichen, welche in dem Koran, dem bürgerlichen nicht minder als religiösen Gesetzbuche der Araber, enthalten waren, und welche mit ihren sich oft widersprechenden Forderungen nicht selten eine Entscheidung nötig machten, die von dem Rechte und der Rechnung gleichmäßig abwich, weil es untunlich schien, nur das eine zugunsten des anderen zu verletzen. Aufgaben wie jene römische Erbschaftsfrage von der Witwe, die nach dem Tode des Mannes Zwillinge zur Welt bringt, sind in diesem Abschnitte nicht enthalten, was ja zum voraus keineswegs sicher war, da möglicher- weise auch diese Doktorfrage einem arabischen Rechenkünstler hätte bekannt werden können und dann gewiß seine Sammlung kitzlicher Fälle zu bereichern beigetragen haben würde. Aber wenn auch Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit dem römischen Rechte bei den Arabern nachzuweisen sind, ableitbar aus der langen Geltung römischen Rechtes in Palästina und Syrien, im Erbrecht finden sich keine Vergleichungspunkte Es ist ganz unabhängig von fremden Einflüssen auf ausschließlich semitischem Boden entstanden, und nur die hebräische Gesetzgebung, die ebenso wie die arabische auf eine diese sind die indischen x — V10 und x = ') Mohammed ben Musa, Algebra pag. 86-174. Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. 729 altsemitische gemeinsame Rechtsauffassung zurückreicht, hat hierbei mitgewirkt!). Dieser Abschnitt der Algebra ist also arabisch durch und durch und ist als Grundlage zahlreicher späterer besonderer Schriften zu betrachten, welche geradezu von den Erbteilungen und den dabei vorkommenden Rechnungen ausschließlich handeln. Ibn Chaldün, ein arabischer Gelehrter, der von 1332 bis 1406 im Okzidente lebte, hat diesen Teil der mathematischen Wissen- schaften unter dem Namen al farä’id, d. h. gesetzlich festgestellte Bedingung, ausführlich geschildert und Schriftsteller genannt, welche sich mit demselben besonders beschäftigten?). Gleiches findet sich bei Hadschi Chalfa?), einem Bibliographen des XVII. 8. Wir haben die beiden Lehrbücher Alchwarizmis, sein Lehrbuch der Rechenkunst und das der Zeit nach ältere der Algebra, verhält- nismäßig sehr ausführlich besprochen. Die ganz außergewöhnliche Wichtigkeit, welche beide Schriften für die Entwicklung der abend- ländischen Mathematik gewonnen haben, wird noch nachträglich dieses längere Verweilen rechtfertigen. Schon jetzt dürfte aber unsere Rechtfertigung von dem Gesichtspunkte aus geliefert sein, daß uns nunmehr die Grundlage genau bekannt ist, welche durch den ersten arabischen Schriftsteller über Mathematik natürlich aus fremdem Stoffe geschaffen war, eine Grundlage, auf welcher seine Landsleute nun fortbauen konnten und mußten, mochten sie gleich ihm die schon zubehauenen Steine den Trümmern einer fremdländischen Bildung ent- nehmen, oder mochten sie selbst ganz Neues schaffend ihre Be- fähigung mehr als bloße Aufbewahrer angeeigneten Gutes zu sein glänzend bewähren. Was das Verhältnis betrifft, in welchem gemischt Griechisches und Indisches von Alchwarizmi aufgenommen und verarbeitet wurde, so läßt sich dasselbe kurz dahin angeben, daß als indisch vornehm- lich die Rechenkunst, als griechisch dagegen, wenn auch nicht unter Ausschließung jeglicher aus Indien stammender Veränderung, die Algebra sowie die Geometrie, mit anderen Worten die eigentliche wissenschaftliche Mathematik sich erweist. Diese fast gegensätzliche Scheidung der beiden Richtungen, welche bei Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi sich einigermaßen verwischte, scheint auch fast zwei Jahrhunderte nach ihm im all- gemeinen noch bemerklich gewesen zu sein. Erzählt doch der be- ') Kremer I, 527—532. °) Ibn Khaldoun, Prolegomenes in den Notices et extraits des manuserits de la Bibliotheque imperiale T. XXI, Partie 1, pag. 21 bis 25 und 138—140. Über Ibn Khaldoun selbst vgl. Suter 169—170, Nr. 420. ») Häggi Halifa, Bd. IV, S. 393 figg. 730 33. Kapitel. rühmteste unter allen arabischen Ärzten Abü ‘Ali Husain ibn ‘Abdalläh ibn Husain ibn ‘Ali as-Schaich ar-Ra’is Ibn Sinä oder Avicenna, wie man ihn gewöhnlich nennt, er habe!) in seinem zehnten Lebensjahre — das war zwischen 990 und 995 n. Chr. — in Buchärä von einem Lehrer Unterricht im Lesen des Koran und in den Wissenschaften erhalten und habe bald den Gegenstand allgemeiner Bewunderung gebildet; dann habe der Vater ihn zu einem Manne geschickt, der mit Kohl handelte, und der in der indischen Rechen- kunst wohl erfahren war, damit er von diesem lerne. Selbst Muhammed ibn Müsä hat neben seiner Algebra noch eine Schrift verfaßt, in welcher er nach höchster Wahrscheinlichkeit Gegenstände sehr ähnlicher Natur nach einer weniger wissenschaft- lichen als praktischen Methode, die auch bei den Indern, wenn auch etwas abweichend (S. 618) uns begegnet ist, behandelte?). Wir kennen freilich nur die Überschrift des uns verlorenen Buches Über die Vermehrung und Verminderung, fil dscham‘ wattafrik, und aus diesem Titel selbst ließe sich gar nichts entnehmen, wenn er nicht häufiger vorkäme, einmal begleitet von der Abhandlung, der er als Überschrift dient, und aus deren Inhalt man auf den der gleich- betitelten aber nicht mehr vorhandenen Arbeiten schließen zu dürfen glaubt. So ergänzt man sich die Schrift über die Vermehrung und Verminderung des Alchwarizmi, so die des Sind ibn ‘Ali, des Sinän ibn Alfath. Von diesen beiden war der erstere einer der Astro- nomen, welche Chalif Almamün zugleich mit Alchwarizmi in Diensten hatte, und ebenso wie von diesem, ebenso wie von dem vielleicht nicht viel späteren Sinän ibn Alfath ist auch von ihm eine Schrift über indische Rechenkunst ausgegangen?). Die zur Ergänzung dienende Schrift ist in einem dem Mittelalter entstammenden lateinischen Texte vorhanden‘) und ist betitelt: Ziber augmenti diminutionis vocatus numeratio divinationis ex eo quod sapientes Indi posuerunt, quem Abraham compilavit et secundum librum qui Indorum dietus est com- posuit. Ob dieser Abraham, wie man vermutet hat, der sonst unter dem Namen Ibn Esra bekannte gelehrte Jude ist, der 1093 bis 1168 lebte, ob ein Araber Ibrähim sich darunter verbirgt, wie man früher als einzige Möglichkeiten in Wahl stellte, ist keineswegs aus- gemacht. Gewichtige Gründe werden vielmehr dafür beigebracht, der ı) Wüstenfeld, Arabische Aerzte und Naturforscher S. 64—75, Nr. 128 Abul Pharagius Historia Dynast. (ed. Pocock) pag. 229 der lateinischen Über- setzung. Suter 86— 90, Nr. 198. ®) Woepcke in dem Journal Asiatique 1. Halbjahr 1863, pag. 514. ») Ebenda 490. #) Libri, Histoire des sciences mathematiques en Italie I, 304—371. Über einige dunkle Stellen vgl. Schnitzler, Zeitschr. Math. Phys. IV, 383—389. Arabische Zahlzeichen. Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi. 131 rätselhafte Verfasser sei ein gelehrter Ägypter Sodscha ibn Aslam!) gewesen, von dem man weiß, daß er ein Buch über die Vermehrung und über die Verminderung geschrieben hat. Die Namensverschieden- heit soll dabei kaum ins Gewicht fallen, da der ohnedies sehr seltene Name Aslam in arabischen Schriftzügen verhältnismäßig leicht mit Ibrähim verwechselt werden könne?). Unzweifelhaft dagegen ist es, daß das gelehrte Verfahren den Indern zugeschrieben ist, da ihrer nicht bloß in der Überschrift gedacht wird, sondern auch im Texte, wo der Verfasser wiederholt, er habe dieses Buch nach denjenigen Erfindungen zusammengestellt, welche die Weisen der Inder über die Rechnung der Annahme gemacht haben; es sei nützlich für den, welcher es beachte und sich bemühe und beharre und. dessen Meinung verstehe. Die eigentliche Methode zu erläutern, wollen wir die erste Auf- gabe hier mitteilen: „Ein gewisser Besitz (census), von welchem man dessen Drittel und dessen Viertel weggenommen hat, ließ S als Rest. Wie groß war der Besitz? Die Methode der Rechnung desselben ist, daß Du aus 12 eine Wagschale (lancem) bildest. Der dritte und der vierte Teil entstehen daraus. Du nimmst den dritten und vierten Teil weg, welche 7 betragen und 5 bleibt übrig. Stelle 8 gegenüber, nämlich den Rest des Besitzes, und es wird klar, daß Du um 3 in der Verminderung geirrt hast. Diese bewahre. Sodann nimm Dir eine zweite Wagschale, welche durch die erste teilbar sei, etwa 24; nimm ihren dritten und vierten Teil, also 14 weg, 10 bleibt übrig. Stelle 8 gegenüber, den Rest des Besitzes. Es wird klar, daß Du um 2 in der Vermehrung geirrt hast. Vervielfache jetzt den Irr- tum 2 der zweiten Wagschale mit der ersten Wagschale 12 zu 24, sodann vervielfache den Irrtum 3 der ersten Wagschale mit der zweiten Wagschale 24 zu 72.. Addiere nun 24 und 72, weil der eine Irrtum in der Verminderung, der andere in der Vermehrung war; wären dagegen beide in der Verminderung oder in der Vermehrung gewesen, so müßtest Du die kleinere Zahl von der größeren abziehen. Nachdem Du die 24 und 72 addiert hast, deren Summe 96 ist, addiere auch die zwei Fehler 2 und 3; sie geben 5. Nun teile 96 durch 5, um zu erfahren, welche Zahl es sei, aus welcher die Aufgabe stammt, und es kommt 195 heraus.“ ) Suter 43, Nr. 81 und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik XIV, 164 zu Nr. 81. ?) Steinschneider in der Zeitschr. Math. Phys. XII, 42 und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik II, 118—123 (1880). Suter in der Bibliotheca Mathematica 3. Folge II, 350—354 (1902) und zuletzt in den Verhandlungen des 3. internationalen Mathematiker-Kongresses 1904 in Heidel- berg. 8. 558—561. 132 33. Kapitel. Unmittelbar anschließend fährt der Verfasser fort als Regel, offenbar aber im Gegensatze zu dem erst gelehrten Verfahren, vor- zuschreiben: ',Man nehme 12 als die unbekannte Zahl, aus welcher die Wegnahme des dritten und vierten Teiles 5 hervorbringt und frage nun, womit wird 5 vervielfacht, um 12 hervorzubringen? Das gibt 20: vervielfache also die en mit 8 und es entsteht 19 : a Das ist genau die ishta karman der Inder, das Verfahren mit der angenommenen Zahl (S. 618), von welchem die Hauptregel als eine Abart sich erweist, auf welche wir gleich zurückkommen. Die Methode der Vermehrung und Verminderung wird noch an vielen anderen Beispielen gelehrt und das Ergebnis häufig mittels noch anderer Rechnungsweisen gefunden. Darunter ist auch das Umkehrungsverfahren!) unter dem sonderbaren Namen der Wort- rechnung, regula sermonis. Auch dieses haben wir bei den Indern kennen gelernt, und es kann uns als Bestätigung dienen, daß Abraham mit Recht auch die Methode der Vermehrung und Verminderung eben- denselben zuschreibt. Die Abweichung der letzteren von dem Verfahren mit der an- genommenen Zahl besteht, wie wir sahen, darin, daß dort nur ein einmaliger Versuch genügt, während hier zwei falsche Ansätze ge- bildet werden, wodurch sich auch der Name regula elchatayn, Regel der zwei Fehler, rechtfertigt”), welchen die Methode bei späteren abendländischen Schriftstellern führt. Daß sie auch Methode der Wagschalen heißt und in eigentümlicher Schreibweise auftritt, werden wir noch im 37. Kapitel zu besprechen haben. Ihre alge- braische Begründung ist sehr einfach. Es sei ax =b, folglich b x Rn. Nun setzt man einmal «= n,, das andremal «= n, und erhält ann =b—e, an=b-+e, wo e, und e, die beiden Fehler sind, der erstere in der Verminderung, der zweite in der Vermehrung. Jetzt soll «= * Ei Ed sein, und das ist auch der Fall, indem 1 2 N, = Ion; — AN, GN = ann, — In, b b N + &n, = bn, — bn, = Ps an, — N) = — (& + &) ist. Der Fall, daß beide Fehler in der Verminderung, oder beide in der Vermehrung ausfallen, kann entsprechend bewahrheitet werden. Wir dürfen allerdings, wenn wir den doppelten falschen Ansatz als indisch beanspruchen, nicht außer Augen lassen, daß wir (8. 372) in ') Libri l. ec. 313. ?) Diese richtige Übersetzung bei Hankel $. 259, Anmerkung. Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer unter den Bujiden. 733 einem doppelten falschen Ansatze das Rechnungsverfahren vermuteten, welches Heron in seiner Vermessungslehre anwandte, um zu dort vor- kommenden angenäherten Quadrat- und Kubikwurzeln zu gelangen. Hier liegt unter allen Umständen eine geschichtliche Schwierigkeit vor, auf die wir uns verpflichtet fühlen hinzuweisen, wenn wir sie auch nicht zu lösen imstande sind. Jedenfalls gehört auch diese Methode zu dem Grundstocke mathematischer Wahrheiten, welcher in der Zeit des Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi, also im ersten Drittel des IX. S., Eigentum der Araber war. Wir werden nun bei einzelnen Schriftstellern, von denen wir zu reden haben, sehen, welche Ver- mehrungen teils als neuerdings erworbenes fremdes Wissen, teils als eigene Erfindung hinzutreten. 34. Kapitel. Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer unter den Bujiden. Als der Zeit nach Nächste fordern die sogenannten drei Brüder unsere Aufmerksamkeit!. Müsä ibn Schäkir soll in seiner Jugend Räuber gewesen sein, d. h. hatte wohl zu einer der räuberischen Horden gehört, welche damals wie noch jetzt Unsicherheit der Wüsten- gegend hervorbrachten, ohne daß die persönliche Ehrenhaftigkeit der einzelnen Mitglieder in arabischer Auffassung dadurch beeinträchtigt erschiene. Dementsprechend nahm Müsä später am Hofe des Chalifen Almamün eine hohe Stellung ein und erwarb sich die Gunst des Herrschers in solchem Maße, daß dieser nach Müsäs Tode sich die Erziehung der drei hinterlassenen Söhne Muhammed, Ahmed und Alhasan angelegen sein ließ. Deren Wohlhabenheit wird dadurch bezeugt, daß sie drei Übersetzer aus dem Griechischen, darunter Täbit ibn Kurrah (8. 703) mit je 500 Dinaren monatlich unterstützten ?). Der Name des ältesten: Muhammed ibn Müsä ibn Schäkir kann, wenn der Vatersname nicht von dem des Großvaters begleitet ist, leicht zur Verwechslung mit Alchwarizmi führen, um so leichter, als alle drei Brüder tüchtige Astronomen und Mathematiker wurden. Von ihnen stammt die sogenannte Gärtnerkonstruktion der Ellipse mittels eines an zwei Punkten festgehaltenen und durch einen Stift gespannten Fadens gemäß dem Berichte eines Arabers Alsidschzi, welcher zu Ende des X. 8. lebte und, selbst Mathematiker von Bedeutung, am ‘) Vgl. Mohammed ben Musa, Algebra. Vorrede pag. XI, Anmerkung. Fihrist 24—25. Suter 20—21, Nr. 43. 2) Suter 22. 734 34. Kapitel. Schlusse dieses Kapitels uns beschäftigen wird. Eine geometrische Schrift ist in mittelalterlicher lateinischer Übersetzung auf uns ge- kommen!). Sie führt den Titel Liber trium fratrum de geometria und beginnt mit den Worten: „Verba filiorum Moysi, filii Schiae, id est Mahumeti Hameti et Hason‘“ oder nach anderer Lesart in einem zweiten Kodex „Verba filiorum Moysi, filii Schaker, Mahumeti Hameti Hasen“ und danach ist die Bezeichnung der drei Brüder, beziehungsweise der drei Söhne des Müsä ibn Schäkir geworden, unter welcher die Verfasser genannt zu werden pflegen. Manches Interessante findet sich dort, wenn auch wenig Neues, da fast alles, um nicht zu sagen alles, auf griechische Vorlagen zurückgeführt werden kann. Auch eine durch Bewegungsgeometrie erzielte Dreiteilung des Winkels dürfte griechischen Ursprungs sein. Vorzugsweise die heronische Formel für die Dreiecksfläche aus den drei Seiten hat die Aufmerksam- keit eines Forschers auf sich gezogen, der den Beweis obwohl einiger- maßen von dem heronischen verschieden doch als abhängig von dem- selben erkannte und insbesondere aus den Buchstaben, mit welchen die Eckpunkte der Figur bezeichnet sind, den Nachweis führte, daß diese Figur einem griechischen Muster nachgebildet sein müsse, so eine vielfach mit Erfolg anwendbare (8. 724) neue kritische Methode zur Ermittelung des Ursprungs mathematischer Untersuchungen er- findend. Vielleicht war es Muhammed, der älteste der drei Brüder, welcher die Kenntnis des heronischen Satzes nach Bagdad brachte, während allerdings andere heronische Schriften schon zu Alchwarizmis Zeiten, wie wir aus®manchen bei diesem auftretenden Dingen schließen durften, bekannt gewesen sein mögen. Jedenfalls weiß man von einer Reise nach den griechischen Gebieten, welche jener machte, und daß es auf der Rückkehr von dieser Reise war, daß er Täbit ibn Kurrah kennen lernte, welchen er aufforderte ihn nach Bagdad zu begleiten, und so kam auch dieser letztere an den Chalifenhof, und wurde in das Astronomenkollegium Almu‘tadids aufgenommen. Von dem Leben (826—901) und der reichen Übersetzungstätigkeit des gelehrten Täbit ibn Kurrah haben wir (S. 703— 704) gesprochen. Wir haben es jetzt mit ihm als Originalschriftsteller zu tun, und da finden wir eine Abhandlung von ihm, welche unsere Aufmerksam- keit zu fesseln ein entschiedenes Anrecht besitzt?). Der Gegenstand ist ein zahlentheoretischer und zwar ein solcher, der nur der grie- ') Vgl. Hultsch in der Zeitschr. Math. Phys. IX, 241—242 und 247 in dem Aufsatze „Der heronische Lehrsatz über die Fläche des Dreiecks als Funk- tion der drei Seiten“, und Jahresbericht über Mathematik im Alterthum für 1878—79 von Max Curtze. Ein von ebendiesem besorgter Abdruck des Buches in den Nova Acta der Leop.-Car. Akademie. Halle 1885. ?) Notice sur une Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer unter den Bujiden. 735 chischen, nicht ebenso der indischen Zahlentheorie angehört. Täbit sagt auch in den Einleitungssätzen, daß es Betrachtungen seien, welche der pythagoräischen Lehre angehörten, daß einiges über das zu Behandelnde bei Nikomachus und Euklid sich finde; er geht endlich, wieder nach seinen eigenen Worten, über diese beiden hinaus und liefert somit für uns das erste Beispiel einer wirklich arabischen Leistung auf mathematischem Boden. Es handelt sich um vollkommene und um befreundete Zahlen. Für die Bildung der ersteren hat Euklid die Regel angegeben (S. 268), Nikomachus sie wiederholt. Die zweiten hat nach Jamblichus schon Pythagoras gekannt und die Zahlen 220 und 284 als Beispiele aufgestellt, wie Freunde sein sollen, ein jeder dem andern ein zweites Ich (3. 167). Aber wie man solche befreundete Zahlen finde, darüber äußert sich auch Jam- blichus nicht. Täbit ibn Kurrah hat eine solche Vorschrift gegeben, welche mit der Euklids zur Bildung der vollkommenen Zahlen in Zusammenhang steht und dadurch sich als den Kern der Aufgabe enthüllend kennzeichnet. Sind a 7 gr] insgesamt Primzahlen, so sind A=2".»-:q und B=2”.r be- freundete Zahlen. Bir=2itp=11l,9q=5, r=7"lund A= 220, B = 284. Die befreundeten Zahlen haben übrigens von da an nicht auf- gehört den Arabern bekannt zu sein. In einer mystischen Schrift über die Zwecke des Weisen hat El Madschriti, der Madrider (r 1007), die Vorschrift, man solle die Zahlen 220 und 284 auf- schreiben und die kleinere wem man will zu essen geben und selbst die größere essen; der Verfasser habe die erotische Wirkung davon in eigener Person erprobt!), und Ibn Chaldün weiß gleichfalls von den wunderbaren Kräften eben dieser Zahlen, als Talismane gebraucht, zu erzählen ?). Alsidschzi berichtet auch kurz über eine Dreiteilung des Winkels durch Täbit ibn Kurrah. Figur und Wortlaut stimmen so nahe mit einem Satze aus dem IV. Buche des Pappus überein?), daß an einer genauen Benutzung dieses Schriftstellers nicht zu zweifeln ist, auch scheint Täbit kein Hehl daraus gemacht zu haben, daß er nicht der theorie ajoutee par Thäbit ben Korrah a l’arithmetique speculative des Grees von Woepcke im Journul Asiatique für Oktober und November 1852 pag. 420—429. ') Steinschneider, Zur pseudoepigraphischen Literatur insbesondere der geheimen Wissenschaften des Mittelalters S. 37 (Berlin 1862). ®) Notices et extraits des manuscrits de la bibliotheque imperiale T. XXI, Partie 1, pag. 175—179 (Paris 1868). ®) Pappus IV, 32. Die Figur vgl. (ed. Hultsch) pag. 275. 736 34. Kapitel. Erfinder sei, da Alsidschzi ausdrücklich sagt, er wolle in seinem Berichte über Winkeldreiteilung von den Sätzen der Alten aus- gehen, worunter sehr wohl die Griechen verstanden sein können!). Wir haben des weiteren auf eine Schrift Täbits über den Satz des Menelaus hinzuweisen, welche Gerhard von Cremona (1114—1187) unter dem Titel Liber thebit de figura alkata tractatus I ins Lateinische übersetzte und so das Wort alkata (= sector d. h. die Transversale) mit lateinischem Bürgerrechte versah. Ob Täbit aus der Figur alle trigonometrischen Folgerungen zog, deren sie fähig ist, bleibt so lange ungewiß, als seine Abhandlung nur bruchstückweise bekannt ist?). Wieder zu Almu‘tadid stand ein uns als Verfertiger astronomischer Tafeln (8.701) schon bekannter geometrischer Schriftsteller Alnairizi?) in Beziehung, den wir also hier zu nennen haben. Er verfaßte einen Kommentar zu den euklidischen Elementen, als dessen größtes Ver- dienst zu loben ist, daß dort wertvolle Bruchstücke der in der Ur- sprache verlorenen Erläuterungen von Heron und Simplicus (8. 386) erhalten sind*). Die Zeitfolge führt uns zu einem Manne, welcher in ganz anderer Richtung arbeitete, und dessen Name untrennbar verbunden ist mit der Geschichte der Einführung der trigonometrischen Funktionen im Abendlande, zu Albategnius, wie die Übersetzer ihn genannt haben?). Muhammed ibn Dschäbir ıbn Sinän Abü “Abdalläh al Battäni führt seinen Beinamen nach Battän in Syrien, wo er geboren ist, und welchem er zur Berühmtheit verholfen hat. Er stellte 878—918 in Ar-Rakka astronomische Beobachtungen an, welche von seinen Lands- leuten als die genauesten gefeiert worden sind, die irgend jemand ge- lungen seien, der unter dem Islam gelebt hatte, und mit nicht ge- ringerem Lobe haben sie seine Schrift über die Bewegung der Sterne bedacht, welche im XII. S. durch einen Übersetzer Plato von Ti- voli, der uns seinerzeit noch beschäftigen wird, unter der Über- schrift De motu oder De scientia stellarum in lateinischer Sprache bearbeitet wurde. Aus dieser Übersetzung soll das Wort sinus als Name einer trigonometrischen Funktion in die Mathematik aller ') L’algebre d’Omar Allhayami (ed. Woepcke), Paris 1851, pag. 118. Die Übereinstimmung Täbits mit Pappus hat Woepcke hervorgehoben ibid. pag. 117, Anmerkung *. ?*) A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie I, 46—47. ®), Fihrist 35. Suter 45, Nr. 88. *#) Alnai- rizis Kommentar wurde 1893—1905 von Besthorn und Heiberg herausgegeben. Über die Eukliderklärungen von Heron und von Simplieius vgl. auch Fihrist 22 und 21. Die von Gerhard von Cremona herrührende lateinische Übersetzung des Kommentars des Alnairizi hat Curtze als Supplementband zu den Werken Euklids (Leipzig 1899) herausgegeben. °) Hankel S. 241 und 281. Suter 45 bis 47, Nr. 89, Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer unter den Bujiden. 737 Völker eingedrungen sein. Der Ursprung des Wortes wäre dann nach aller Wahrscheinlichkeit folgender!). Die Benennung der Sehne war im Sanskrit jyä oder jiva, die der halben Sehne ardhajyä (S. 658). Allmählich wurde, da man nur die halbe Sehne trigonometrisch ver- wertete, das kürzere jiva auch für diese benutzt und drang so zu den Arabern, welche es in seinem Wortlaute, wie sie ihn verstanden, übernahmen und dschiba schrieben. Genau dieselben Konsonanten, welche arabisch dschiba zu lesen sind, lassen aber auch die Lesung dschaib zu, welches ein wirkliches arabisches Wort ist und den Ein- schnitt oder Busen bedeutet. Nun wird angenommen, die Überlieferung, daß man, für den Araber sinnlos, dschiba lesen müsse, sei verhältnis- mäßig frühzeitig abhanden gekommen, und die Lesart dschaib sei dafür die regelmäßige geworden. Jedenfalls übersetzte zwar nicht Plato von Tivoli, wie man früher fälschlich annahm, aber Gerhard von Cremona bei der Bearbeitung anderer arabischer Astronomen das arabische dschaib durch das ganz richtige Wort sinus, welches von nun an sich fort- erbte?). Daß übrigens die Araber das indische kramajyä in der Form kardaga übernommen haben, welches ihnen den 96. Teil des Kreis- umfanges bedeutete, ist schon (S. 699) erwähnt worden. Bei anderen arabischen Mathematikern, insbesondere bei solchen, deren Schriften im christlichen Mittelalter übersetzt wurden, bedeutet kardaga den 24. Teil des Kreisumfanges. Wieder bei anderen scheint kardaga zur Benennung des Sinus eines gewissen Bogens gedient zu haben). Den Sinus wendet nun Albattäni im UI. Kapitel seiner Stern- kunde, welches eine Trigonometrie enthält, regelmäßig an und zwar, was einen nicht hoch genug anzuerkennenden Fortschritt gegen die Inder bezeichnet, im Vollbewußtsein des Gegensatzes gegen die im Almageste benutzten ganzen Sehnen mit dem ausdrücklichen Zu- satze, daß man so in der Rechnung das fortwährende Verdoppeln erspare. In einer anderen Beziehung ist aber Albattäni noch immer Schüler des Ptolemaeus und ebenso Schüler der Inder. Er weiß noch nichts von trigonometrischen Gleichungen, nichts von deren algebrai- ') Die hier folgende Hypothese stammt von dem Pariser Orientalisten Munk her. Vgl. Woepceke in dem Journal Asiatique 1863, 1. Halbjahr, pag. 478, Anmerkung. 2°) Max Koppe, Die Behandlung der Logarithmen und der Sinus im Unterricht. Osterprogramm 1893 des Andreas-Realgymnasiums zu Berlin. 8. 32—34, hat nachgewiesen, daß bei Plato von Tivoli die sinngetreuere Übersetzung chorda vorkommt. Über die dem Wortlaut nach richtige Über- setzung sinus bei Gerhard von Cremona vgl. Jul. Ruska in der Zeitschr. Math. Phys. XL, Histor.-liter. Abtlg. 126—128. ®) Eneström in der Bibliotheca Mathematica 3. Folge IV, 284. CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 47 138 34. Kapitel. schen Umformung; er kennt nur an Figuren zu beweisende geo- metrische Sätze!). In diesem Sinne spricht er von dem Schatten und versteht darunter die Schattenlänge /, welche ein von der Sonne unter dem Winkel p beschienener Schattenmesser h wirft. Je nachdem der Schattenmesser auf einer Horizontalebene oder auf einer Ver- tikalebene aufsteht, ist : Winkels @. Albattäni hat eine kleine von Grad zu Grad fort- schreitende Kotangententafel hergestellt. Ferner kennt er Be- ziehungen zwischen einem Winkel und.den drei Seiten eines sphäri- schen Dreiecks, welche auf die Kotangente oder die Tangente des cosa=cosb-cosce+ sinb-sinc-cos A hinauslaufen, aber diese Gleichung selbst darf man bei ihm nicht suchen. Dem Anfange des X. S. gehört Ahmed ibn Jussuf°) an, der in Ägypten lebte. Unter seinen zahlreichen Schriften hat diejenige, welche über die Verhältnisse handelt, einen geschichtlichen Einfluß geübt, von welchem im 41. Kapitel im folgenden Bande die Rede sein wird. Von Al-Basra war, wie wir uns erinnern (S. 697), der Anstoß ausgegangen, der den Chalifen Almamün zu einem Beförderer der Philosophie und der Mathematik machte. In derselben an Bildungs- elementen der verschiedensten Länder reichen Handelsstadt scheint in der zweiten Hälfte des X. S. eine Art von wissenschaftlichem Ge- heimbund entstanden zu sein’), dessen Mitglieder in Gemeinschaft arbeiteten, wenigstens in Gemeinschaft veröffentlichten, was sie für notwendig zur Bildung des Geistes und des Charakters hielten. Diese Abhandlungen der lauteren Brüder müssen wir bis zu einem gewissen Grade der Besprechung unterziehen. Von den, wie gesagt, anonymen Verfassern ist es doch gelungen, einige zu ent- rätseln®), und unter diesen dürfte Almukaddasi der bekannteste sein, ein anderer hieß Zaid ibn Rıfä'a. Die Abhandlungen selbst verbreiteten sich rasch sehr weit, ja sogar bis zu den Westarabern Spaniens drangen sie durch El Madschriti oder durch dessen Schüler El Karmäni, von welchem letzteren, der 1066 über 90 Jahre ') A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie I, 50—54. ?) Steinschneider in der Zeitschr. Math. Phys. X, 492 (1865) und Bibliotheca mathematica 1888, 111—112. Suter 42—43, Nr. 78. °) Vgl. Die- terici, Die Propädeutik der Araber im X. Jahrhundert. Berlin 1865. Flügel, Ueber die Abhandlungen der aufrichtigen Brüder und treuen Freunde in der Zeitschr. der morgenl. Gesellschaft XIII, 1—38 (Leipzig 1859), Sprenger ebenda XXX, 330—335 (Leipzig 1876). *) Flügel l. e. 8. 21. Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer unter den Bujiden. 739 alt in Cordova starb, eine Studienreise nach dem ÖOriente bekannt ist"). Und trotz dieser Tatsache, welche eine packende Bedeutung der Schriften zu erweisen scheint, hat die arabische Kritik selbst wenig Gutes ihnen nachzurühmen gewußt. Zaid sei ein unwissender Scehwindler, sagte ein Zeitgenosse?), und das Urteil eines gelehrten Schaich, der die Abhandlungen einer genauen Durchsicht unterworfen hatte, lautet: Sie ermüden, aber befriedigen nicht; sie schweifen herum, aber gelangen nicht an; sie singen, aber sie erheitern nicht; sie weben, aber in dünnen Fäden; sie kämmen, aber machen kraus; sie wähnen was nicht ist und nicht sein kann?). Was den mathematischen Inhalt der Abhandlungen betrifft, so können wir dieses harte Urteil kaum ein allzustrenges nennen, und wenn wir trotz dieses geringen Wertes ihrer erwähnen, so geschieht dieses, weil in dem Mancherlei, in den zusammengestoppelten und gekoppelten Dingen, wie ein anderer Araber rügend sagt, doch ge- schichtlich verwertbare Körner haben aufgefunden werden können. Von den vollkommenen Zahlen heißt es*), sie kämen in jeder Zahlen- stufe nur einmal vor, 6 unter den Einern, 28 unter den Zehnern, 496 unter den Hundertern und 8128 unter den Tausendern. Das stimmt genau mit einer Bemerkung des Jamblichus überein’) und stellt zusammengehalten mit dem, was wir aus der Einleitung zu Täbits Abhandlung über befreundete Zahlen beibrachten, außer Zweifel, daß die Schriften des Jamblichus, ‘welche in Syrien nie auf- gehört hatten gelesen zu werden (S. 706), um 900 auch den Arabern überhaupt gut bekannt waren. Um so auffallender ist eine Bemer- kung, welche durch keine andere Überlieferung gestützt ist: die meisten Völker hätten nur 4 Zahlstufen, aber die Pythagoräer, die Männer der Zahlen, kannten 16 Stufen derselben tausend tausend tausend tausend tausend®). Wir können das nur dahin verstehen, daß während im Arabischen die selbständigen Zahlwörter sich nicht auf andere Rangeinheiten als auf 1, 10, 100, 1000 erstrecken, die Pythagoräer solche Namen bis 101° besaßen. Wenn diese Auffassung richtig und die Aussage wahrheitsgetreu, so ist der Zusammenhang zwischen Indern und Neupythagoräern in Dingen, die auf das Zahlen- system Bezug haben, um einen neuen Beleg reicher und die Hypothese ) Flügell.c. S.25. Wüstenfeld, Aräbische Aerzte und Naturforscher S. 61, Nr. 122 und S. 80, Nr. 137. Suter 105, Nr. 238. 2) Sprenger |. c. S. 333. ®, Flügel l. c. S. 26. #) Propädeutik der Araber 8.12. Daß dort statt 8128 fälschlich 7128 steht, ist wohl nur Druckfehler? 5) Jamblichus in Nikomachum (ed. Tennulius) pag. 46, (ed. Pistelli) pag. 33. ©, Propä- deutik der Araber 8. 6. 47* 740 =: 34. Kapitel. des Eindringens indischer Zahlzeichen in jene griechische Schule wird immer wahrscheinlicher. Wir haben (8. 706) gesehen, daß die Araber jedenfalls mit den Arbeiten des Zenodorus bekannt waren. Auch dafür haben wir hier eine Bestätigung in der Bemerkung, die Kreisfigur habe eine weitere Umfassung als alle vielwinkligen Figuren mit gleich langer Umfassungs- linie!), und wir können jetzt noch einen Schritt weiter gehend ver- muten, aus Pappus habe man die Kenntnis gerade dieser Unter- suchungen geschöpft. Im V. Buche des Pappus hat, wie wir uns erinnern (8. 446), die Abhandlung des Zenodorus Platz gefunden, und _ an die Einleitung eben des V. Buches erinnern aufs lebhafteste fol- gende Sätze?): „Viele Tiere schaffen von Natur schon Werke. Das ist ihnen ohne Unterricht eingegeben. So die Bienen, die sich Häuser schaffen. Sie bauen Häuser in Stockwerken von runder Gestalt wie Schilde, eins über das andere. Die Öffnungen der Häuser machen sie alle mit sechs Seiten und Winkeln. Dies tun sie mit sicherer Weis- heit, denn es ist die Eigentümlichkeit dieser Figur, daß sie weiter ist als das Viereck und das Fünfeck.“ Eine Stelle, welche auf falsche Flächenberechnung sich bezieht, haben wir schon früher (3. 173) erwähnt. Sie heißt folgendermaßen): „in einem jeden Gewerk erfaßt den Zweifel, der dasselbe ohne Mathematik zu verstehen unternimmt, oder nur mangelhafte Kenntnisse davon hat und sich darum 'nicht kümmert. Man erzählt, jemand hätte von einem Manne ein Stück Landes für 1000 Dirham gekauft, das 100 Ellen lang und ebensoviel breit sei. Darauf sprach der Verkäufer: Nimm statt dessen zwei Stück, ein jedes 50 Ellen lang und breit, und meinte, damit geschehe jenem sein Recht. Sie stritten nun vor einem Richter, der nicht Mathematik verstand, und dieser war irriger- weise derselben Ansicht, dann aber stritten sie vor einem anderen Richter, der der Mathematik kundig war, und der entschied, daß dies nur die Hälfte seines Anrechts wäre“ Wir machen mit wenigen Worten auf einen verhältnismäßig weitläufig behandelten Gegenstand*) aufmerksam, auf Verhältnisse der Abmessungen, welche zwischen den einzelnen Strichen stattfinden sollen, aus welchen die Buchstaben- zeichen gebildet werden, und derjenigen, welche die Natur bei den einzelnen Teilen des menschlichen Körpers uns zum sinnlichen Be- wußtsein bringt, letzteres ein Gegenstand, mit welchem auch Vitru- vius (8. 544) sich beschäftigt hat. Wir erwähnen endlich noch eines, welches nicht ohne Interesse ist, magische Quadrate’). Die magischen ') Propädeutik der Araber 8. 42. ?°) Ebenda $. 32. °) Ebenda $. 34—35. *, Ebenda $. 133—137. °) Ebenda 9. 43—44. Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer unter den Bujiden. 741 Quadrate aus 9, 16, 25, 36 sind hergestellt; daß es auch Quadrate von 49, 64, 81 gebe, wird gesagt; das Quadrat 9, heißt es, erleichtere die Nativität (2). Wir können hier so wenig als es uns früher (8. 635) gelang, dem Ursprunge dieser eigentümlichen Amulette auf die Spur kommen. Wir bemerken nur, daß sie bei den Arabern unter dem Namen wafk in der Zauber- und Vorbedeutungskunde eine nicht un- bedeutende Rolle gespielt haben), und daß unserem Gewährsmanne zufolge jeder der sieben Planeten einen ihm eigentümlichen waf% be- saß, vielleicht eben jere sieben den lauteren Brüdern bekannte Qua- drate von 9 bis 81? Am ausführlichsten soll darüber der unter dem Namen El Büni?) berühmte arabische Mystiker geschrieben haben, welcher in Bona geboren dieser Stadt unter den Arabern die gleiche Verherrlichung gab, welche sie als Heimat des heiligen Augustinus bei den Christen besaß. EI Büni starb 1228. Die Schriftsteller Alchwarizmi, die drei Brüder, Täbit ibn Kurrah, Al Battäni waren an dem Hofe der Abbasiden ihren gelehrten Be- schäftigungen nachgegangen. Unter demselben Chalifengeschlechte war die Verbindung der lauteren Brüder entstanden. Aber wenn auch Abbasiden fortfuhren, die Chalifen zu heißen, von einer Regierung derselben, ja auch nur von einem Einflusse auf die Wissenschaft durch Gelehrte, in deren Kreise sie weilten, die Zügel des Reiches den stärkeren Händen ihrer Heerführer, der sogenannten Emir Alumarä überlassend, war nachgerade keine Rede mehr?). Und die Emire selbst schienen allmählich die Schlaffheit ihrer Drahtpuppen, welche Gebieter hießen und Sklaven waren, ererbt zu haben. Das Chalifat schrumpfte nach und nach bis auf das Weichbild von Bagdad zu- sammen. Eine kriegerische Horde unter dem Befehle eines Bujiden d. h. eines Nachkommen von Abü Schudschä‘ Büjeh, welcher selbst seine Abstammung von den alten Perserkönigen herleitete, zog gegen Bagdad heran und bemächtigte sich der Stadt. Der Chalif mußte 945 dem Bujiden Mu‘izz Eddaula den Sultanstitel verleihen und ihm alle weltliche Macht abtreten. Dieses neue Geschlecht wußte zunächst mit neuer Kraft die Herrschaft wieder aufzurichten und auszudehnen, doch dauerte es nicht lange, so entbrannten unter den Bujiden Fami- lienkämpfe um die Gewalt, wie sie unter den Omaijaden, wie sie unter den Abbasiden stattgefunden hatten, und nach einem Jahrhunderte, im Jahre 1050, hatten die Bujiden ihrer Unfähigkeit den Sturz zu verdanken. Die Seldschukensultane lösten sie ab. U) Notices et extraits des manuscrits de la bibliotheque imperiale T. XXI, 1. Partie, pag. 180, Note 4 (Paris 1868). ») Hammer-Purgstall, Literatur- geschichte der Araber 2. Abteilung, Bd. VII, S. 402, Nr. 7944. °) Weil S. 219—226 742 34. Kapitel. Die Wissenschaft ist in diesem Jahrhundert, von der Mitte des X. bis zur Mitte des XI. S., keineswegs zurückgegangen. Im Gegen- teil sind es einige der hervorragendsten Mathematiker, welche wir in jener Zeit aufzuzeichnen haben. Der Bujide ‘Adud ed Daula 978-983 rühmte sich selbst astronomische Studien gemacht zu haben. Sein Sohn Scharaf ed Daula, derselbe, unter welchem die Familienzwistig- keiten zuerst entbrannten, errichtete in dem Garten seines Palastes zu Bagdad eine neue Sternwarte und berief dorthin um 988 eine ganze Vereinigung von Fachmännern!). Unter ihnen waren Abü’l Wafä, Alkühi und As-Sägäni. Abü’l Wafä Muhammed ibn Muhammed ibn Jahjä ibn Isma‘il ibn Al-"Abbäs Albüzdschäni’) wurde, wie wir (8. 704) schon sagten, 940 in Büzdschän, einem kleinen Orte des persischen Gebirgs- landes Chorasan, geboren, derselben Gegend, welche so viele arabische Mathematiker hervorgebracht hat. Er erfreute sich, bald Abull Wafä, bald Albüzdschäni genannt, unter den Arabern des größten Ruhmes und drei Jahrhunderte später sagt von ihm Ibn Challikän, der über berühmte Männer im allgemeinen, nicht bloß über berühmte Gelehrte schrieb, er sei ein weitbekannter Rechner, eine der glänzenden Leuchten der Geometrie gewesen, es seien ihm in dieser Wissenschaft wunderbare Entdeckungen gelungen. Er starb 998. Seine Schriften sind ungemein zahlreich. Eine, welcher er den Titel Almagest bei- legte, dadurch selbst kundgebend, nach wessen Muster er gearbeitet habe, enthält die in der Geschichte der Astronomie berühmt gewordene Stelle, über welche bis auf den heutigen Tag die Meinungen gespalten sind, ob darin die Entdeckung der sogenannten Variation enthalten sei oder nicht?). Uns kümmert nur der Mathematiker, und auch als solcher hat Abü’l] Wafä große Verdienste Er war einer der letzten arabischen Übersetzer und Kommentatoren griechischer Schriftsteller, und wir müssen aufs lebhafteste bedauern, daß gerade von dieser Tätigkeit gar keine unmittelbare Spur sich erhalten hat. Der Ge- lehrte, welcher mit Diophant sich so eingehend beschäftigte, daß er nicht bloß ihn übersetzte, ihn erläuterte, sondern ein besonderes Schriftehen mit den Beweisen der bei Diophant und in seinen Er- läuterungen zu demselben enthaltenen Lehrsätze füllte, muß viel Wissenswertes für uns auf diesem Gebiete vereinigt haben. Sein Kommentar zur Algebra des Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi würde uns wohl der Mühe überhoben haben, vermutungsweise dem Ur- .'‘) Hankel S. 242 nach Abulpharagius Histor. dynast. (ed. Pocock) pag. 216 der Übersetzung. ?) Woepcke in dem ‚Journal Asiatique für Februar und März 1855 pag. 243 flgg. Suter 71—72, Nr.167 und 213 Note 36. ®)R. Wolf, Geschichte der Astronomie $. 53 und 204. Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer unter den Bujiden. 743 sprunge der dort enthaltenen Lehren nachzuspüren. Sein Kommentar zur Algebra des Hipparch, vorausgesetzt daß der Name richtig über- liefert ist, ist ein eben so gerechter Gegenstand unserer Neugier, da wir hier ja nicht einmal die unzweifelhaft wichtige Abhandlung kennen, zu welcher er gehört. Aber leider sind von diesen algebrai- schen Kommentaren nur die Überschriften uns bewahrt. Eine Zu- sammenstellung dessen, was Rechnungsbeamten notwendig ist, hat sich wenigstens teilweise erhalten, ist aber nur in einem dürftigen Auszuge bekannt gemacht!), was Bedauern erregen kann, da aus- drücklich bemerkt ist, in jenem ganzen Werke seien wesentliche Unterschiede gegen andere arabische Kechenbücher auffallend, es sei z. B. nicht eine einzige Ziffer darin angewandt. Dagegen ist ein genügend ausführlicher Bericht über geometrische Leistungen veröffentlicht?), zu welchem wir uns jetzt wenden. Von Abü’l Wafä selbst rührt das aus zwölf Kapiteln bestehende Buch der geometrischen Konstruktionen freilich nicht her. Es ist vielmehr die persische Übersetzung eines Vorlesungsheftes, welches, wie es scheint, auf Grund von öffentlichen Vorträgen Abü’l Wafäs durch einen begabten aber doch nicht alles verstehenden Schüler an- gefertigt worden ist, und somit kann Abü’l Wafä unmöglich für die Mängel verantwortlich gemacht werden, welche bei der mehrfachen Überarbeitung nur allzuleicht sich einschleichen konnten. Man hat mit Recht drei Gruppen von Aufgaben aus diesem Buche hervor- gehoben, welche geschichtlich und sachlich unsere Aufmerksamkeit verdienen. Eine erste Gruppe beschäftigt sich mit der Auflösung von Aufgaben unter Anwendung nur einer Zirkelöffnung Abü’l Wafä hat die Bedingung teils aussprechend, teils sie stillschweigend verstehend nicht weniger als 18 Paragraphe mit solchen Aufgaben gefüllt?). In einer zweiten Gruppe handelt es sich um Zusammen- legung von Quadraten zu einem neuen Quadrate, so daß die Methode auch Praktiker befriedigen könne, welche die geometrische Anschau- ung der Rechnung vorziehen. Man wird aus einigen wenigen Bei- spielen am deutlichsten erkennen, wie das gemeint ist. Ein Quadrat soll gezeichnet werden von der dreifachen Größe eines gegebenen Quadrates*). Man findet die Seite als Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks, welches die Seite und die Diagonale des gegebenen Qua- drates als Katheten besitzt. Dagegen lehnen sich aber die Praktiker auf; mit einer solchen Auflösung, welche ihre Sinne nicht überzeuge, ).Woepcke in dem Journal Asiatique für Februar und März 1855 pag. 246—251. ?°) Ebenda pag. 318—359. °) Ebenda pag. 226. *) Ebenda pag. 349350. 744 34. Kapitel. könnten sie nichts anfangen. Abü’l Wafä befriedigt sie nunmehr durch folgende Konstruktion (Fig. 98). Er zeichnet die drei ein- ander gleichen Quadrate hin und halbiert zwei davon durch Diago- nalen. Die vier so entstehenden gleichschenklig rechtwinkligen Drei- ecke legt er nun um das dritte Quadrat herum, so daß die Hypote- nusen Verlängerungen der vier Quadratseiten in der Art bilden, daß an jeder Ecke eine und nur wa eine Seite verlängert ist. 3% Endlich verbindet er die rechtwinkligen Spitzen die- ser Dreiecke untereinander und hat so das gewünschte Vi Quadrat fertig. Man möchte fast erwarten, als Beweis jene Aufforderung „Sieh!“ zu lesen, welche indische Geometer ähnlichen Konstruktionen nachzuschieken für genügend hielten. Ja, eine Konstruktion, welche wir (S. 656) als in Bhäs- karas Schriften vorhanden erörtert haben, welche mit gleicher Sicherheit (S. 680) in China aufgefunden worden ist, kommt bei Abü’l Wafä vor'). Zwei Quadrate sollen zu einem dritten vereinigt werden. Man zeichnet sie (Fig. 99) aufeinander, so daß eine Ecke und die Richtung zweier Seiten beiden gemeinsam ist. Verlängert man darauf die beiden freiliegenden Seiten des kleinen Quadrates bis zum Durchschnitte mit den Seiten des größeren Quadrates, so ist die Summe der gegebenen Quadrate zerlegt in ein Quadratchen, dessen Fig. 9. Seiten gleich dem Unterschiede der Seiten der ur- sprünglich gegebenen Quadrate sind, und in zwei Rechtecke, auf der Figur einander zum Teil überdeckend, deren jedes durch eine Diagonale in zwei rechtwinklige Dreiecke zerfällt. Die vier rechtwinkligen Dreiecke um das Quadratchen herumgelegt bilden (Fig. 87) das verlangte große Quadrat. Es ist unmöglich, bei so übereinstimmenden Figuren so eigenartigen Gedankens nicht einen tatsächlichen Zusammenhang anzunehmen. Wir stehen nicht an, der Meinung uns anzuschließen?), daß wiewohl Abül Wafä fast zwei Jahrhunderte vor Bhäskara lehrte, und wiewohl es leicht möglich war, daß Arabisches von den islamisierten Indusländern aus sich weiter verbreiten konnte, dennoch hier nicht daran zu denken ist, “Fig. 98. A ') Woepcke in dem Journal Asiatigue für Februar und März 1855 pag. 346 und 350—351. ?) Ebenda pag. 235—238. Die Mathematiker unter den Abbasiden. Die Geometer unter den Bujiden. 745 Bhäskara habe die Konstruktion aus arabischer Quelle. Nur das persönliche Anrecht Bhäskaras an die Figur und ihre Benutzung geht verloren, wie wir von vornherein bemerklich machten, aber ihr indischer Stempel dürfte ihr erhalten bleiben, erhalten mit so viel älterer Datierung, daß sie schon den Praktikern, d.h. mutmaßlich indischen Handwerkern, Baumeistern, mit welchen Abü’l Wafä ver- kehrte, bekannt war. Die dritte Gruppe von Aufgaben hat die Be- schreibung regelmäßiger Vielflächner zum Zwecke. Wir wissen, daß Euklid (8.273) und Pappus (S. 447) jeder in seiner Weise sich eben- falls damit beschäftigt haben. Abü’l Wafä schließt sich so ziemlich an Pappus an!), und bestrebt sich nur auf der Kugeloberfläche die Eck- punkte des gedachten nicht förmlich einbeschriebenen Vielflächners zu bestimmen. Mit anderen Worten: er teilt die Kugeloberfläche in regelmäßige, einander gleiche sphärische Vielecke. Diese drei Haupt- gruppen von Aufgaben erschöpfen indessen nicht sämtliche zwölf Kapitel. Das Ende des 6., das ganze 7., der Anfang des 8. Kapitels A G M. . , >; L, pP Z, p; 0 ER M zZ, 17 B M, 4 7 Fig. 100. Fig. 101. sind verloren, und der erhaltene Rest schließt außer dem von uns bisher Hervorgehobenen noch manche wissenswürdige Einzelheit ein. Wir erwähnen nur zwei Sätze. Im 2. Kapitel im 6. Paragraphen und wiederkehrend im 3. Kapitel im 13. Paragraphen ist die Aufgabe, ein regelmäßiges Siebeneck zu konstruieren?), näherungsweise so gelöst, daß die Hälfte der Seite des einem Kreise einbeschriebenen gleich- seitigen Dreiecks als Seite des demselben Kreise einbeschriebenen regelmäßigen Siebenecks gilt, ein Verfahren, welches durch Jahr- hunderte durch sich fortgeerbt hat. Im 1. Kapitel im 21. und 22. Pa- ragraphen sind punktweise Konstruktionen der Parabel gelehrt), denen wir uns nicht erinnern bei früheren Schriftstellern begegnet zu sein. Von einem Punkte C der Parabelachse aus (Fig. 100), der um die ') Woepcke in dem Journal Asiatique für Februar und März 1855 pag. 241 und 352—358. ?) Ebenda pag. 329 und 332. °) Ebenda pag. 326. 746 34. Kapitel. doppelte Brennweite 24AF= AC vom Scheitelpunkte entfernt ist, als Mittelpunkt und mit der CA als Halbmesser wird ein Kreis be- schrieben und in einem Punkte P der Achse die Senkrechte PL er- richtet. Auf ihr nimmt man PM=AL ab, so ist M ein Punkt der Parabel. In der zweiten Konstruktion verlängert man (Fig. 101) die Parabelachse über den Scheitel hinaus um den Parameter 4 = A@. Mit der Entfernung von @ bis zu einem beliebigen Punkte P der Achse als Durchmesser beschreibt man einen Kreis, an P dessen Be- rührungslinie und ihr parallel durch A die Z,L,. Senkrechte von L, und ZL, auf jene Berührungslinie treffen sie in den Parabelpunkten M, und M,. Andere Verdienste hat sich Abü’l Wafä in der Trigonometrie erworben!). Er kennt Formeln, welche unseren Gleichungen N ; i: TR & 2 (sin 5) =1-— cose, sine —2sin, :cos— entsprechen. Er weiß sin(« + ß) herzustellen und schreibt dafür : . sin «®- sin ß? r sin «® - sin ß? sin (@ + ß) = Vsin a — = P + V sin P? — “ Pr P ; 7 wo die Nenner r? daher stammen, daß die Sinusse wirkliche Strecken bedeuten. Er leitet mittels geometrischer Konstruktionen, welche wir durch Rechnung an Formeln ersetzen, eine Methode zur Berechnung von Sinustafeln her?), welche den Sinus des Winkels von £ Grad mit einer Genauigkeit liefert, welche sich bis zur Einheit der 9. Dezi- male erstreckt. Er geht aus von der Vergleichung sin(« + ß) — sine : ee (55 — Al. und somit ist eine neue fortlaufende Ungleichung + [s RR u Er :n 30° nz ; | sın Sn sın 35] + 18-2 +5=- 1022 führte. Der dritte Name, welchen wir nannten, war As-Sägäni, der aus Sägän in Chorasan Herstammende?). Ahmed ibn Muhammed As-Sägäni Abü Hamid al Usturlabi d. h. auch der Verfertiger von Astrolabien genannt, starb 990. Er war, wie der zweite Beiname zu folgern gestattet, besonders geschickt in der Anfertigung jener astronomischen Winkelmessungsvorriehtungen, welche den Übergang von der Dioptra des Heron zu dem modernen Theodolit bilden. Von mathematischen Leistungen ist uns nur ein Satz über Kreissegmente bekannt?), welcher mit der Dreiteilung des Winkels in einigem Zu- sammenhange steht. Die Sätze des Täbit ibn Kurrah, des Alkühi, des As-Sägäni, welche auf Winkeldreiteilung sich beziehen, stehen insgesamt in einer größeren Abhandlung über den gleichen Gegenstand*), welche Abü Sa’id Ahmed ibn Muhammed ibn “Abd Al-Dschälib As-Sidschzi ver- faßt hat, ein Schriftsteller, der gewöhnlich unter seinem Heimats- namen Alsidschzi, mitunter aber auch statt dessen als Alsin- dschäri genannt zu werden pflegt’), und welcher etwa 30 Jahre vor der Abfassung jener Abhandlung in Schiräs eine mathematische Handschrift niederschrieb, die das Datum 972 tragend der Pariser Bibliothek angehört. Die Aufgabe der Winkeldreiteilung wird durch Alsidschzi zunächst auf einen Satz zurückgeführt, der mit den anderen, welche er der Reihe nach unter den Namen ihrer Erfinder herzählt, zwar nicht übereinstimmt, aber doch zu ihrer aller Beweisen ausreicht. Der Peripheriewinkel M (Fig. 102) sei nämlich der dritte Teil des Zentriwinkels Fig. 102. DCK, wem DExEC+ ECU= CD: Weil nämlich OD= (A, so sei UÜ.D? =(0A’=(CE?+AEX< EM. Nun war E so gewählt, dB OD?=-CE?+DEXEC, folglich muß EM = EC sein. In dem gleichschenkligen Dreiecke OEM sind demnach je ') L’algebre d’Omar Alkhayami (ed. Woepcke) pag. 54. 2) Hankel S. 243. Suter 65, Nr. 143. °) L’algebre d’Omar Allkhayami pag.119. *) Ebenda pag. 117—125. °) Hankel S. 246, Anmerkung **. Suter 80-81, Nr. 185. Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. 751 zwei Winkel =«, und der Außenwinkel DECO dieses Dreiecks ist —2«. Der Winkel bei D ist wegen der Gleichschenkligkeit von DOM wieder =« und der Winkel DUK=3« als Außenwinkel des Dreiecks ODE. Die erste Aufgabe der Winkeldreiteilung ist daher auf die zweite zurückgeführt, einen Punkt E von der ge- wünschten Eigenschaft zu finden. Die Alten, sagt Alsidschzi, lösten diese mittels Bewegungsgeometrie'); er selbst tut es, indem er mit dem der Figur schon angehörenden Kreis eine gleichseitige Hyperbel in Verbindung setzt, welehe durch © hindurchgeht und den Kreis- halbmesser als Halbachse besitzt. Er beruft sich dabei ausdrücklich auf einen Satz (den 53sten) des I. Buches der Kegelschnitte des Apollonius. Eine in Leiden befindliche Handschrift enthält ferner eine Abhandlung Alsidschzis, welche mit der Zeichnung von Kegel- schnitten sich beschäftigt?). Andere geometrische Abhandlungen Alsıdschzis beziehen sich endlich der Hauptsache nach auf Durch- schnitte von Kreisen mit Kegelschnitten?), welche letztere demnach ein Lieblingsgegenstand der Untersuchungen des Verfassers gewesen sein müssen. 35. Kapitel. Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. Ganz anderer Richtung gehören die Arbeiten einiger Gelehrten der gleichen, wohl auch noch etwas früherer Zeit an, von welchen wir jetzt reden wollen. An deren Spitze steht der anonyme Ver- fasser einer Abhandlung, welche, wie wir am Schlusse des vorigen Kapitels gesagt haben, Alsidschzi 972 abschrieb. Die Abhandlung ist durchaus zahlentheoretischen Inhaltes und hat es hauptsächlich mit der Bildung rationaler rechtwinkliger Dreiecke zu tun?). Primitive Dreiecke, deren Seiten teilerfremd zueinander sind, werden ') L’algebre d’Omar Alkhayami pag. 120. Aus dieser Stelle stammt die Kenntnis des Wortes Bewegungsgeometrie. 2) Journal Asiatique für Februar und März 1855 pag. 222. Woepcke hat diese Abhandlung Alsidschzis, sowie zwei andere ähnlichen Inhalts, d. h. gleichfalls über Kegelschnittzirkel, von Al- kühi und von Muhammed ibn Hosein in den Notices et extraits des manuscrits de la Bibliotheque nationale XVII zur Veröffentlichung gebracht. Vgl. A. von Braunmühl, Historische Studie über die organische Erzeugung ebener Curven in dem Katalog der Mathematischen Ausstellung zu Nürnberg 1892. °) Notices et extrasts des manuserits de la Bibliotheque du roi XIII, 136—145. *) Woepcke, Recherches sur plusieurs owvrages de Leonard de Pise in den Atti dell’ Accademia Pontificia de nuovi Lincei 1861, T. XIV, pag. 211—227 und 241—269. 752 35. Kapitel. dabei von abgeleiteten unterschieden. Im primitiven Dreiecke müsse, so wird behauptet, die Hypotenuse immer ungerad und Summe zweier Quadrate sein. Die Ungeradheit wird noch näher dahin bezeichnet, daß die Hypotenuse stets von der Form 12m + 1 oder 12m +5 sei. Die Formen, denen Quadratzahlen und Summen von Quadratzahlen angehören können, mit anderen Worten ein Teil der Lehre von den quadratischen Resten, werden erörtert. Die Aufgabe, welche von nun an der Geschichte der Arithmetik erhalten bleibt: ein Quadrat zu finden, welches um eine gegebene Zahl vergrößert oder verkleinert wieder Quadratzahlen gibt, wird gestellt und gelöst. Das dürften die wichtigsten Sätze dieses Bruchstückes sein, dessen Anfang leider verloren gegangen ist und mit ihm der Name des arabischen Verfassers. Ein Araber war er unzweifelhaft, wie aus . einer Stelle hervorgeht, in welcher er sich selbst als den Erfinder preist, aber nicht ohne hinzuzufügen: der Ruhm davon gehört Gott allein, ein geradezu kennzeichnender Ausdruck, dessen nur Araber sich zu bedienen pflegten. Vielleicht kann man, wenn auch nicht mit gleicher Bestimmtheit behaupten, der Verfasser habe am Studium des Diophant sich gebildet. Bei diesem Schriftsteller nämlich ist, wie mit Recht betont worden ist!), die erste Quelle jener Aufgabe von den drei in arithmetischer Progression stehenden Quadratzahlen, ist zugleich eine Auflösung mit Hilfe rationaler rechtwinkliger Drei- ecke zu finden?). Abü Mahmüd Alchodschandi aus der Stadt Chodschanda in Chorasan, der uns (8. 748) als Trigonometer bekannt geworden ist, war im Jahre 992 noch am Leben, da uns eine von ihm herrührende astronomische Beobachtung aus diesem Jahre bekannt ist”). Von ihm rührt ein Beweis des merkwürdigen zahlentheoretischen Satzes her, daß die Summe zweier Würfelzahlen nicht wieder eine Würfelzahl sein könne, daß z°+y°= 2° rational unlösbar sei. Leider kennen wir den Beweis nicht. Es wird uns nur gesagt, daß derselbe mangel- haft gewesen sei, ebenso wie Untersuchungen des gleichen Verfassers über rationale 'reehtwinklige Dreiecke. Der Berichterstatter ist der Schaich Abü Dscha‘far Muhammed ibn Alhusain, welcher nach dem Tode Alchodschandis — denn es ist von ihm mit dem Zusatze „Gott sei ihm barmherzig“ die Rede — seine eigene Abhandlung über rationale rechtwinklige Dreiecke ver- ') Woepckel. ce. 8. 252. 2°) Diophant (Tannery) II, 19, S. 182 und V,8,8.330. ©®) Woepcke, Recherches sur plusieurs owvrages de Leonard de Pise in den Atti dell’ Accademia Pontifiecia de nuovi Lincei 1861, XIV, 301—302. Suter 74, Nr. 173. Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. 753 öffentlicht hat!), in welcher er übrigens nicht sehr weit über den anonymen Arithmetiker, mit welchem wir es eben erst zu tun hatten, hinausgeht, in mancher Beziehung sogar hinter ihm zurückbleibt. Auch diese Abhandlung ist vermutlich von Asidschzis Hand abge- schrieben?), doch müßte, wenn die verschiedenen Jahreszahlen, die uns berichtet sind, namentlich die der astronomischen Beobachtung Alchodschandis, welche doch seinem Tode beziehungsweise der Ab- fassung der erst nach seinem Tode vollendeten Abhandlung des Ibn Alhusain vorangegangen sein müßte, auf Richtigkeit Anspruch er- heben, ein weiter Zwischenraum von mehr als 20 Jahren die in einem Bande vereinigten Abschriften aus derselben Feder trennen, deren eine 972 datiert ist, die andere erst später als 992 entstanden sein könnte. Wenn wir sagten, daß Ibn Alhusain nicht selten hinter dem Anonymus zurückbleibt, so bezieht sich dieses auf einige offen- kundige Fehler, die bemerkt worden sind, wo er ‚höchst wahrschein- lich eine Vorlage, nach welcher er arbeitete, nicht verstanden hatte?). Sollte, fügen wir fragend bei, diese Vorlage die uns unbekannte Schrift Alehodschandis über rationale rechtwinklige Dreiecke gewesen sein, an welcher das nach Ihn Alhusains Meinung Mangelhafte eben darin zu suchen wäre, daß der Tadler es nicht richtig auffaßte? Sollte gerade die Schrift des Alchodschandi nach Verlust der Anfangs- paragraphe als anonymer Traktat übrig geblieben sein? Mehr als diese Fragen können wir nicht äußern, doch scheinen sie nicht schlechterdings verneint werden zu können. Ibn Alhusain unter- scheidet, wie der Anonymus, primitive und abgeleitete Dreiecke, be- nutzt aber andere Wörter, um diese Unterscheidung auszusprechen. Bei dem Anonymus heißt das primitive Dreieck asl, bei Ibn Alhusain awwali; das abgeleitete Dreieck heißt dort far‘ oder mafrü‘, hier täbi“*). Ibn Alhusain gibt ausdrücklich als Zweck der ganzen Unter- suchung die Lösung der Aufgabe an: ein Quadrat zu finden, welches um die gegebene Zahl vergrößert oder verkleinert wieder ein Quadrat werde’). Es ist bemerkenswert, daß eine geometrische Erläuterung der gegebenen Auflösung von ähnlichen Grundgedanken Gebrauch macht, wie wir sie bei Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi verfolgen konnten, da wo es um die Auflösung der unreinen quadratischen Gleichung mit einer Unbekannten sich handelte. Es ist weiter be- merkenswert, daß Ibn Alhusain bei dieser Auseinandersetzung sich ausdrücklich auf den 7. Satz des II. Buches der euklidischen Ele- %) Woepcke l. c. 301—324 und 343—356. Suter 80, Nr. 183 und Ab- handlungen zur Geschichte der Mathematik XIV, 168. ?) Woepcke l.c. 324. ») Woepckes Bemerkungen pag. 307, 317, 323. *) Woepcke, Recherches etc. pag. 320. °) Ebenda pag. 350 figg. : CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 48 754 35. Kapitel. mente bezieht. Bei der den Arabern am Schlusse des X. S. ganz allgemeinen Verehrung des Werkes ist freilich mit einer gelegent- lichen Anführung desselben nichts weniger als ein Ursprungszeugnis für dasjenige, um dessenwillen Euklid beigezogen ist, verbunden; aber wenn wir die Beweisführung selbst ansehen, so kann die mehrfach benutzte Figur des Gnomon uns mindestens zweifelhaft lassen, ob wir für den Ursprung nach Indien, ob wir nach Griechenland zurück- schauen, ob wir an Abü’l Wafäs dem Augenschein genügende Kon- struktionen denken sollen, um so mehr als, wie wir schon bemerkten, ähnliche Aufgaben bei Diophant, bisher aber nicht in indischen Schriften aufgefunden worden sind und Abu’] Wafä (8. 742) der Erläuterung der diophantischen Schriften seine beste Kraft zugewandt zu haben scheint: Die Katheten zZ Z Ab=c, und BÜ=c, eines rationalen | rechtwinkligen Dreiecks (Fig. 103), dessen Hypotenuse h heißen soll, werden aneinander gesetzt und über ihrer Summe, aber auch über der größeren c, wird ein Quadrat be- schrieben. Die beiden freiliegenden Seiten BE, DE des letzteren Qua- drates werden bis zum Durchschnitte mit den Seiten des Quadrates über der Summe AÜ=c,+ «, verlängert. Aus dieser Konstruktion geht die Zerfällung des großen Quadrates in folgende 4 Teile hervor: AE (das Quadrat von c,), EH (das Quadrat von «,) und CE sowie ZE (die beiden Rechtecke zwischen c, und c,). Ist nun 2c,c, = k, so folgt wegen (+ —=R, daß (4, +6)” =h?+k sei. Aber auch W”’— k ist ein Quadrat. Schneidet man nämlich von B gegen A hin und von D ebenfalls gegen A hin Stücke BT=DK=«, ab, so ist das Quadrat AE zerlegt in das Quadrat KT und die beiden Rechtecke DM, BL, von welchen das Quadrat LM abzuziehen ist. Mit anderen Worten, es zeigt sich AE+LM-2BL=KT l B e7 e Fig. 103. oder +9 —-2,9= (4, — 6%) oder (GG —- 6” = (+) —- 24a =M—k und man findet also Zahlen, welche die verlangte Eigenschaft be- sitzen in den Quadraten der Summe der beiden Katheten, der Hypo- tenuse und der Differenz der beiden Katheten eines rechtwinkligen NEO ER RREE Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. 755 Dreiecks, während das doppelte Produkt der beiden Katheten die Zahl ist, um welche das erstere Quadrat größer, das letztere kleiner als das mittlere ist. Entsprechend heißt es bei Diophant: „In jedem rechtwinkligen Dreieck bleibt aber das Quadrat der Hypotenuse auch dann noch ein Quadrat, wenn man das doppelte Produkt der Katheten davon abzieht oder dazu addiert“'). Nun gibt es Methoden aus zwei beliebigen Zahlen a und b ein rationales rechtwinkliges Dreieck ent- stehen zu lassen, und solche Methoden werden in der anonymen Ab- handlung, werden von Ibn Alhusain gelehrt; z. B. a+b Bla de aan 2A ae. ; = i b)ab Setzt man diese Werte ein, so wrdk=26% = 2a wa und fe bin na EL Borna 2 .+0— 2(a — b) eh oder indem alle Seiten mit 2(@ — b) vervielfacht werden G=0.—0,.6= 200, 4’ + D und die beiden ganzzahligen Endgleichungen (a? — b? + 2ab)? = (a? + b?)? + 4ab(a? — b°) nebst (a? — b? — 2ab)? = (a? + b?)? — Aab(a? — b}). Beide Abhandlungen stimmen noch in einer weiteren Beziehung über- ein. "Sie enthalten Zahlentabellen, gebildet infolge von Versuchen — freilich von auf eine theoretische Betrachtung gestützten Ver- suchen — welche der zunächst in Behandlung tretenden Aufgabe rationale rechtwinklige Dreiecke zu finden genügen. In keinem der bisherigen Abschnitte dieses Bandes haben wir das Vorhandensein genau solcher Tabellen erwähnen können, wenn wir auch auf manche eine Vergleichung gestattende Dinge stießen. Vergleichen läßt sich schon die altägyptische Zerlegungstabelle der Brüche mit ungeradem Nenner und dem Zähler 2 als Summe von Stammbrüchen; vergleichen lassen sich die Tabellen der Quadrat- und Kubikwurzeln in Senkereh, vergleichen die Einmaleinstafel bei Nikomachus, die kleine Liste der Diametralzahlen bei Theon von Smyrna; und auch bei den Indern fehlt es nicht an nächstverwandten Vergleichungsstücken, denn die den Qulvasütras entlehnten Beispiele rechtwinkliger Dreiecke ($. 638) sind vielleicht ein Auszug aus einer solchen Tabelle, von deren Vor- handensein wir sonst nichts wissen. Das sind Anhaltspunkte, welche ‘) Diophant (Tannery) pag. 182, (Wertheim) $. 110 und fast gleich- lautend (Tannery) pag. 326, (Wertheim) $. 203. 48* 756 55. Kapitel. man, wenn es einst gelingen soll auf Grundlage reichhaltiger Quellen- kunde die Frage nach, dem ersten Ursprunge dieser arabischen Unter- suchungen zur Entscheidung zu bringen, nicht wird übersehen dürfen. Endlich gehört ebendahin das, was wir eine Art von Kenntnis qua- dratischer Reste genannt haben, und was uns (8.632) bei Indern schon bekannt geworden ist, was von einem Araber ausdrücklich als indisch benannt worden ist. Wir meinen den berühmten Arzt und Naturforscher Ibn Sinä, gewöhnlicher in abendländischer Umformung Avicenna genannt. Wir haben (8. 730) über die Erziehung dieses merkwürdigen Mannes gesprochen und über den Rechenunterricht, welchen er zwischen 990 und 995 von einem Gemüsehändler erhielt. Unter den zahllosen bändereichen Schriften, welche Avicenna trotz seines häufig wechseln- den Aufenthaltes, trotz der Staatsgeschäfte, welche er als Wezir des Emirs Schams ed Daula zu Hamadän auszuüben hatte, trotz seiner großartigen ärztlichen Tätigkeit verfaßt hat, befindet sich eine hand- schriftlich in Leiden aufbewahrte spekulative Arithmetik'), d. h. also nach unserer früheren Erläuterung dieses Wortes eine Art Zahlen- theorie nach griechischem Muster. Zwei Stellen derselben sind allein in Übersetzung veröffentlicht, beide dem III. Buche angehörend. „Will man nach der indischen Methode“, besagt die eine Stelle, „Quadratzahlen auf ihre Richtigkeit untersuchen, so ist unvermeidlich 1, 4, T oder 9. Dem 1 entspricht 1 oder. 8; dem 4 entspricht 2 oder 7; dem 7 entspricht 4 oder 5; dem 9 entspricht 3, 6 oder 9. Die andere Stelle fügt dann hinzu: „Eine Eigenschaft der Kubik- zahlen besteht darin, daß ihre Untersuchung nach der indischen Rechenkunst, ich meine die Probe, von welcher diese Rechenkunst Gebrauch macht, immer 1, 8 oder 9 ist. Ist sie 1, so sind die Ein- heiten der zum Kubus erhobenen Zahl 1, 4 oder 7; ist sie 8, so sind sie 8, 2 oder 5; ist sie 9, so sind sie 3, 6 oder 9.“ Beide an sich nicht ganz leicht verständliche Stellen sind gewiß richtig dahin er- klärt worden, es handle sich in ihnen um die Neunerprobe bei Potenzerhebungen, und man hat sie dementsprechend verwertet, um in Übereinstimmung mit der Aussage des Maximus Planudes (5. 611) aber ohne unmittelbare Bestätigung durch einen der indi- schen Schriftsteller, welche uns bekannt sind, eben diese Probe als ı) Woepcke im Journal Asiatique für 1863, 1. Halbjahr pag. 501—504. H. Eneström (Biblioth. Mathem. 3. Folge VII, 81) macht darauf aufmerksam, daß Avicenna auch als Verfasser eines zweiten arithmetischen Traktates be- zeichnet wird, dessen Anfang in französischer Sprache im Dictionnaire des sciences mathematiques von A. S. de Montferrier I, 141—143 (Paris 1835) ab- gedruckt ist. FF) — — nn rin Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. 757 indisch zu erweisen. Man kann auch auf eben diese Stellen sich be- ziehen, um die Kenntnis quadratischer und kubischer Reste bei den Indern zu bestätigen. Offenbar sagt nämlich Avicenna zuerst nichts anderes, als was wir in modernen Zeichen (9r+1P’=1, (n+2’= Ir+3’=(m+N=9, (n+4N=17 immer für den Modulus 9 schreiben würden; und in der zweiten Stelle sind nach dem gleichen Modulus 9 die Kongruenzen enthalten (9r+1P’=(m +4’ = (In + T) = (Ir +8’ = (In +2)’ = (Ir +5’=8$, (9n +5)’ = (9n + 6)’ = (In + NY = Zurückverweisung nach Indien wird uns auch bei Albirüni ge- wiß nicht in Erstaunen setzen, der ein Zeitgenosse des Avicenna lange Reisen in Indien, wie wir wissen ($. 710), gemacht hat. Albirüni nimmt gegen die bisher besprochenen Persönlichkeiten ins- gesamt eine Ausnahmestellung ein. Er gehörte nämlich nicht zu den gelehrten Hofkreisen von Bagdad, sondern ruhte in Gazna von seinen Reisen, am Hofe des en Fürsten Mahmüd des Gaznawiden, pin an Machtfülle wie an RER für die Wissenschaften mit den Herrschern von Bagdad wetteiferte. Albirüni hat in seiner Chronologie ganz gelegentlich die Summe der geometrischen Schach- felderprogression, die mit 1 beginnend auf jedem folgenden Felde Verdopplung vorschreibt, angegeben!) als Beispiel, wie man eine und dieselbe Zahl, um jeden Irrtum unmöglich zu machen, in drei ver- schiedenen Arten niederschreiben Ein. mit en Ziffern, um- gerechnet in das Sexagesimalsystem und durch die hurüf alas, mal oder (8. 709) Buchstaben mit Zahlenwert. Jene Zahl sei ((16%°)?)? — 1 und betrage 18 446 744 073 709 551 619. Man finde sie nach folgenden beiden Regeln. Erstens: Das Quadrat der Zahl eines von den 64 Feldern ist gleich der Zahl des Feldes, welches von dem vorgenannten eben so weit entfernt ist als jenes von dem ersten. Ist also 16 die Zahl des 5. Feldes, so muß 16° — 256 die Zahl des 9. Feldes sein wgn 9-5 =-5-—1. Zweitens: Die um 1 verringerte Zahl eines Feldes ist die Summe der Zahlen der vorhergehenden Felder. Wenn 32 die Zahl des 6. Feldes ist, so muß 31 die Summe der Zahlen der 5 früheren Felder sein, oder 3=1-+2 +4-+383+16. In einem anderen ') Ed. Sachau, Algebraisches über das Schach bei Biruni. Zeitschr. der deutsch. morgen]. Gesellsch. (1876) XXIX, 148—156. 758 35. Kapitel. Werke, dem Buche der Ziffern, kommt Albirüni auf den gleichen Gegenstand zu reden und lehrt die Berechnung nach einem Kunst- griffe, der sich an die obigen beiden Regeln anschließt, welche auf den Fall des ganzen Schachbrettes angewandt nichts anderes besagen als man solle die Zahl eines gedachten 65. Feldes berechnen und von ihr 1 abziehen. Wenn Glieder einer geometrischen Reihe a, ae, ae, ... ae” vorliegen, so kann die Gliederzahl gerad oder ungerad sein, je nachdem n ungerad oder gerad ist. Im ersteren Falle ist das Produkt der äußersten Glieder a >< LXV = (XXXI?. Aber die Zahl I ist 1, ver- vielfacht also nicht, und somit ist LXV = (XXX)? und XXXII heißt das erste Mittel. Ebenso findet man XXXII = (XVID? und XVII heißt das zweite Mittel. Ferner ist XVII= (IX)?, IX = (V)? und IX und V heißen drittes und viertes Mittel. Auch ein fünftes Mittel III, ein sechstes II wird durch V = (1D”, III = (ID)? gefunden und nun gerechnet. Das sechste Mittel II ist 2, das fünfte UI ist 2?— 4; das vierte V wird 4° = 16, das dritte IX demnach 16? = 256; weiter wird das zweite Mittel XVII notwendig 256° = 65536 und XXXIII oder das erste Mittel 65 536? = 4294967 296. Diese Zahl endlich quadriert gibt LXV, wovon 1 abgezogen die früher erwähnte Summe liefert. Ohne diesem Kunstgriff jeden Wert absprechen zu wollen, sind wir doch nicht imstande Folgerungen daraus zu ziehen, denn eine genaue Bekanntschaft mit den Gesetzen der: geometrischen Reihe wird niemand den Griechen so wenig wie den Indern ab- sprechen können!). Ob das Buch der Ziffern, in welchem Albirüni den Kunstgriff gelehrt hat, jenes Lehrbuch der Rechenkunst ist, welches wir als von ihm verfaßt gelegentlich (S. 715) erwähnten, können wir nur vermutungsweise aussprechen. Auch in der Geometrie war Albirüni tätig und zwar auf dem Gebiete, welches, wie wir an mehreren Beispielen schon gesehen haben, die Araber um das Jahr 1000 so vielfach beschäftigt hat, auf dem ebensowohl algebraisch als geometrisch zu nennenden Ge- ı) S. Günther, Zeitschr. Math. Phys. XXI. Historisch-literar. Abteilung S. 57—61 findet in der Analogie zwischen Albirünis Kunstgriff und dem Ver- fahren in Archimeds Sandrechnung eine bedeutsame Hinweisung. Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. 759 biete der Auflösung solcher Aufgaben, für welche der Kreis und die Gerade nicht ausreichen, mit Hilfe von Kegelschnitten. Ob freilich Albirüni die Auflösungen der durch ihn gestellten Aufgaben selbst kannte, ist uns unmittelbar nicht berichtet; die Tatsache der Auf- gabenstellung aber, eine Sitte, welche jedem Leser des Archimed, der sie auch ausübte, wohl bekannt sein mußte, läßt darauf schließen. Albirünis Aufgaben haben die Dreiteilung des Winkels zum Gegenstande!). Abü’l Dschüd, mit seinem ganzen Namen Abü’l Dschüd Muhammed ibn Allait, ein tüchtiger Geometer aus derselben Zeit, hat sich erfolgreich mit der Auflösung der Albirünischen Auf- gaben beschäftigt. Durch den Durchschnitt einer Parabel mit einer gleichseitigen Hyperbel hat er die Aufgabe, gelöst?) von einem Punkte A außerhalb einer Strecke BÜ eine Verbindungslinie AD nach einem derartigen Punkte D dieser Strecke zu ziehen, daß AB» BCO+ BD? = BC? werde. Ein anderes Mal löste er die Auf- gabe?), an welcher Alkühi (S. 750) sich vergebens versucht hatte, und welche als Gleichung geschrieben x? + 13-2 +5=10.# heißt. Wieder eine andere Leistung Abü’l Dschüds bezieht sich auf die Einzeichnung des regelmäßigen Neunecks in einen Kreis*). Albi- rüni hatte im 7. Satze des 7. Ka- pitels des IV. Buches seiner Geo- metrie, wie uns berichtet wird, den Satz ausgesprochen, die Konstruk- tıon des Neunecks beruhe auf einer Gleichung zwischen einer Unbe- kannten einerseits und deren Würfel und einer Zahl andrerseits und hatte den Nachweis dieses Satzes verlangt. Abü’l Dschüd lieferte denselben wie folgt. Es sei (Fig. 104) AB die gesuchte Neunecksseite und das Dreieck gleichschenklig über ihr mit der Spitze auf dem Kreisumfang beschrieben. Dann si AB=AD=DE=EZ aufgetragen und AT BC, ZK_LAC gezogen. Der Winkel bei C ist 209; die Winkel bei B und A je = 30°. Daraus folgt X DAE = 80° — 20° = 60°, Fig. 104. ') D’algebre d’Omar Alkhayami pag. 114 und 119. ?) Ebenda pag. 114—115. Suter 97, Nr. 215. °) Ebenda pag. 54--57. *) Ebenda pag. 125—126. 760 35. Kapitel. = DEA ebenso groß, also auch X ADE=60° und das Dreieck ADE ist gleichseitig. In dem ferneren gleichschenkligen Dreiecke DEZ ist X EDZ = 180° — 60° — 80° = 40°, X EZD ebenso groß und X DEZ = 180° — 2. 40° = 100°. Folglich X ZEC = 180° — 100° — 60°= 20’= XZCE, und somit auch Dreieck OZE gleichschenklig, d. h. CZ=ZE=ED=DA=AB=AE. Aus der Ähnlichkeit der Dreiecke CZK und CAT folet 0CZ2:CK=62:7CT, daraus 0Z:20K=(CA:2CT oder AB:CE=CA:(CD+CB) und auch AB: (AB+CE)= (4A: ıCA+(CD+OCDB) oder ABZAC=AC:(CD+2AC). Nun setzt Abül Dschüd AC= BC als Einheit, AP als Unbekannte, wofür wir x schreiben und somit folgt aus dem letztgeschriebenen Verhältnisse 1=x2(2+ CD). Aus der Ähnlichkeit der Dreiecke ABC und BDA weiß man aber femer AU:AB=AB:DBD oder BD=a?”. Folglieh st O(DD=BC—BD=1-—.u°, und die Glei- chung, aus welcher x zu ermitteln bleibt, nimmt die Gestalt 1=23— 2% beziehungsweise schließlich = +1=3x an, wie Albirüni behauptet hatte. Diese Gewandtheit eine geometrische Aufgabe in eine Glei- chung umzusetzen verleiht endlich einer Angabe volle Glaubwürdig- keit, es habe Abü’l Dschüd „eine besondere Abhandlung über die Aufzählung von Gleichungsformen verfaßt und über die Art und Weise die meisten derselben auf Kegelschnitte zurückzuführen, freilich ohne vollständige Erörterung ihrer Fälle und ohne Scheidung der möglichen Aufgaben von den unmöglichen, sondern nur so, daß ‘er die Entwicklungen gab, zu welchen er durch Betrachtung be- sonderer zu jenen Formen gehörender Aufgaben geführt wurde“!). Wir werden sehen, wie es einem Nachfolger Abü’l Dschüds um 1080 gelang das Kapitel einer geometrischen Algebra zum Abschlusse zu bringen, müssen aber vorher wieder zum Beginne des XI. 8. zu- rückkehren, um zweier Schriftsteller zu gedenken, welche dem rechnenden und dem rein algebraischen Teile der Mathematik vor- zugsweise ihre Aufmerksamkeit zuwandten, Alnasawi und Al- karchi. Abü’l Hasan ‘Ali ibn Ahmed Alnasawi war aus Nasa in der Landschaft Chorasan. Wir sind in die Lage versetzt seine Lebens- ') D’algebre d’Omar Alkhayami pag. 82. Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. 761 zeit ziemlich genau angeben zu können, indem wir wissen), daß er für die Finanzbeamten des Bujiden Madschd Addaulab, welcher 997—1029 regierte, ein Rechenbuch in persischer Sprache heraus- gab, und daß er auf Wunsch von dessen Nachfolger, also wohl kurz nach 1030, eine zweite neue Bearbeitung in arabischer Sprache voll- endete, welche letztere er mutmaßlich aus dem Grunde, weil er den Fürsten damit zufrieden stellen wollte, den befriedigenden Trak- tat nannte. Wir erinnern uns, daß um 820 das .erste arabische Lehrbuch der Rechenkunst, von welchem wir Kenntnis haben, durch Muhammed ıbn Müsä Alchwarizmi verfaßt worden ist, daß dasselbe sich ungemein folgewichtig erwies. Andere Schriften ähnlicher Natur werden uns da und dort genannt, zum Teil auch in Alnasawis Vorrede. Alkindi?), der philosophischste Kopf seiner Zeit, gleich be- rühmt als Mediziner wie als Astronom und Mathematiker, ein Günst- ling der Chalifen Almamün und Almü‘tasim, der bis in das letzte Viertel des IX. S. gelebt haben muß, weil er eine Übersetzung des Kusta ibn Lükä aus dem Griechischen des Hypsikles zu verbessern den Auftrag hatte, hat, wie Alnasawi uns erzählt, ein Rechenbuch verfaßt, welches diesem jedoch einen konfusen und übermäßig breiten Eindruck machte. Dasselbe Urteil fällt er über ein Rechenbuch Alantäkis?), des Antiochiers, welcher 987 gestorben ist. Alkal- wadäni‘) am Ende des X. 8. wird als zu schwierig bezeichnet; er gebe Regeln, welche nur für solche Personen notwendig seien, welche mit den feinsten Aufgaben sich beschäftigen, und aus der gleichen Zeit nennt Alnasawi noch verschiedene andere Verfasser von Lehr- büchern der Rechenkunst, einen Abü Hanifa®), einen Küschjär®), welchen er bei allem Lobe doch diesen oder jenen kleinen Tadel nicht erspart. Die Schriften dieser Vorgänger sind, wenn überhaupt noch vorhanden, jedenfalls nicht in Übersetzungen veröffentlicht, und nur den befriedigenden Traktat Alnasawis kennen wir aus einem kurzen Auszuge, der kaum mehr als Überschriften der einzelnen Kapitel enthält”). Wir entnehmen ihm, daß Verdoppelung und Halbierung als be- sondere Rechnungsarten gelehrt wurden. Wir entnehmen ihm die Multiplikation und Division „nach indischer Weise“, worunter die ') Woepcke im Journal Asiatique für 1863, 1. Halbjahr, pag.492. Suter 36—97, Nr. 214. °) Wüstenfeld, Arabische Aerzte und Naturforscher 8. 21 bis 22, Nr. 57, und Flügel in den Abhandlungen für die Kunde des Morgen- landes Bd. I, Abhandlung 2. Leipzig 1859. Suter 23—26, Nr. 45. °) Suter 63—64, Nr. 140. *) Ebenda 74, Nr. 171. 5) Ebenda 31—-32, Nr. 60. 6, Ebenda 83—84, Nr. 192 und Steinschneider in Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik III, 109. 7) Woepcke im Journal Asiatique für 1863, 1. Halbjahr, pag. 496—500. 762 35. Kapitel. Methoden verstanden sind, die wir auch durch Maximus Planudes als indische kennen. Der Multiplikator, beziehungsweise der Divisor rückt unter dem Multiplikandus oder dem Dividendus weg von der Linken zur Rechten. Beide Operationen beginnen dort, d. h. an der höchsten Stelle, die Teilprodukte werden nach und nach addiert oder subtrahiert und die nötigen Verbesserungen und Veränderungen ent- sprechend angebracht, beim wirklichen Rechnen vermutlich so, daß man die unrichtige Zahl wegwischte und die richtige dafür hinschrieb, in den Beispielen des Lehrbuches so, daß die richtigen Zahlen über die unrichtigen gesetzt sind, welche dadurch selbst für vernichtet gelten. Die Zahlzeichen sind die ostarabischen. Auf diese, sagt Alnasawi, hätten die meisten Personen, welche mit der Rechenkunst sich beschäftigten, sich geeinigt, doch sei volle Übereinstimmung nicht vorhanden. Mit Bruchteilen verbundene Zahlen werden in drei Zeilen untereinander geschrieben; in der obersten Zeile stehen die Ganzen, in der zweiten der Zähler, in der dritten der Nenner des Bruches; sind keine Ganzen vorhanden, so wird, um Mißverständ- nissen vorzubeugen, eine Null in die oberste Zeile gesetzt. So heißt also a ee 1. 2ülde 7 Mae Va Eee Die Rechnungsaufgaben erstrecken sich in den drei ersten Büchern bis zur Ausziehung der Kubikwurzeln aus mit Brüchen vereinigten ganzen Zahlen. Das vierte Buch ist dem Rechnen im Sexa- gesimalsysteme gewidmet. Von komplementären Rechnungsverfahren keine Spur! Abü Bekr Muhammed ibn Alhusain Alkarchi') ist ein Schrift- steller ganz anderen Charakters. Von ihm besitzt man zwei Schriften, welche einander fortsetzen, nämlich als ersten Teil ein Rechenbuch: Al-Käfi fil hisäb, Das Genügende über das Rechnen, und als zweiten Teil eine Algebra: Al-Fachri?). Der Name dieses zweiten Teils ist mutmaßlich dem einer Persönlichkeit nachgebildet, zu welcher Alkarchi in naher Beziehung gestanden zu haben scheint. Abü Gälib war es, welcher den Beinamen Fachr al mulk, Ruhm des Reiches, führt und welcher Wezir der Wezire gewesen sein muß zur Zeit als die beiden Schriften verfaßt wurden, die zweite nach ihm den Titel Al-Fachri Il) Suter 84—-85, Nr. 193. ?°) Der Käfi fil hisäb des Alkarchi ist deutsch von Ad. Hochheim (Halle 1878—80) herausgegeben, der Fachri auszugsweise französisch von Woepcke (Paris 1853). Unsere biographischen Notizen gründen sich vorzugsweise auf Hochheims einleitende Notizen zum I. Heft des Käfi fil hisäb. Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. 763 erhielt. Dadurch ist aber die Zeit, in welcher Alkarchi schrieb, ganz genau bestimmt. Abü Gälıb nahm als Statthalter von Bagdad, wo Alkarchi lebte, die höchste Rangstufe seit 1010 oder 1011 ein. Eben- derselbe wurde, ein Beispiel orientalischen Schicksalswechsels, 1015 oder 1016 auf Befehl des Sultans hingerichtet. So bleiben nur die fünf dazwischenliegenden Jahre, in welchen Alkarchi ihm Schriften als Wezir der Wezire zugeeignet haben kann. Das hervorragend Wichtige an den Werken Alkarchis besteht darin, daß er teils einge- standenermaßen, teils mittelbar aus dem Inhalte zu erschließen der Hauptsache nach auch in der Rechenkunst nicht aus indischen, son- dern aus griechischen Quellen geschöpft hat, so einen Gegensatz bil- dend gegen die Alnasawi usw., welche indische Rechenkunst lehrten und lehren wollten. Wir müssen um so mehr hier einen be- wußten Gegensatz zweier Schulen, nicht bloß ein Abweichen des vereinzelten Alkarchi von der allgemeinen Gewohnheit erkennen, als, wie wir uns erinnern (S. 743), Abü’l Wafä in der zweiten Hälfte des X. S. ein Rechenbuch verfaßt hat, in welchem die indischen Ziffern keine Anwendung fanden und Alkarchi selbst sich Schüler des uns im übrigen unbekannten Albusti nennt!). Freilich ist die von uns ausgesprochene Behauptung selbst nicht in aller Schärfe, sondern nur in der Beschränkung anzunehmen, welche wir ihr gegeben haben. Abül Wafä, den wir zur griechischen Richtung beizuzählen die mannigfachsten Gründe haben, war, wie wir annahmen, in seiner An- schauungsgeometrie durch und durch indisch. Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi rechnete nach indischen Vorschriften, und in seinem Lehrbuche der Rechenkunst vernahmen wir griechische Anklänge (S. 717). Vollständig den gegenseitigen Einfluß auszuschließen, ge- lang es weder der einen noch der anderen Schule, wenn sie es über- haupt beabsichtigte. So wird uns trotz der vorwiegend griechischen Schulung Alkarchis Indisches in seinen Schriften nicht in Erstaunen setzen dürfen, vorausgesetzt, daß es in homöopathisch kleinen Mengen auftritt, und diese Voraussetzung trifft ein. Indisch müssen wir vielleicht die Neunerprobe nennen?), indisch das was von quadratischen Resten, wir meinen von den Endziffern, welche eine Quadratzahl be- sitzen kann, gesagt ist?), indisch ist uns die Lehre von der Regel- detri?). Aber damit schließt die Summe nachweisbaren indischen Ein- ı) Käfi fil hisäb Heft I, S. 4. Suter 57, Nr. 122 nennt zwar einen be- deutenden Gehrten Muhammed ibn Ahmed ibn Hibbän Abü Hätim Albusti. Da aber dieser 965 starb und Alkarchi vor 1015 seinen Al-Fachri verfaßte, so lägen etwa 50 Jahre zwischen Alkarchis Lehrzeit und seiner schriftstellerischen Tätig- keit; möglicherweise war also sein Lehrer ein anderer Albusti. 2) Käfi fil hisäb I, 8. ®) Ebenda II, 13. *, Ebenda II, 16. 764 35. Kapitel. flusses ab, wenn wir nicht etwa den Ursprung von Multiplikations- methoden!), welche auf Zerlegung eines Faktors in Unterfaktoren oder auf Betrachtung derselben als Summe oder Differenz von Zahlen, welche eine leichte Multiplikation zulassen, hinauslaufen und welche allerdings bei den indischen Schriftstellern uns ebenso begegneten, aber einem Griechen nicht minder einfallen konnten, ausschließlich nach Indien verlegen wollen. So bedeutsam diese Dinge sind, so stellen sie doch nur einen geringfügigen Teil des Inhaltes des Käfi fil hisäb uns dar, geringfügig namentlich gegen das, was mit größter Zuver- sicht auf griechische Quellen zurückgeführt werden muß. Da finden wir Multiplikationsmethoden, welche an die des Apollonius, des Ar- chimed, wie sie von Pappus, von Eutokius uns berichtet werden, welche an die des Heron vielfach erinnern?). Da finden wir die De- finition der Multiplikation selbst fast wörtlich wie bei Euklid?®). Da finden wir wieder genau nach Euklid die Aufsuchung des größten gemeinschaftlichen Divisors*), genau nach ihm eine ausführliche Pro- portionenlehre°), welche gewissermaßen als theoretische Grundlage der nachher vom Standpunkte praktischen Geschäftsbedürfnisses erörterten Regeldetri vorausgeschickt ist. Da finden wir Stammbrüche und Brüche von Brüchen, wie sie bei Heron nicht zu den Seltenheiten gehören‘), und wobei, beiläufig bemerkt, zwischen jenen stummen und aussprechbaren Brüchen unterschieden wird, deren Bedeutung wir bereits (S. 718) erörtert haben. Da ist die Rechnung mit Sexa- gesimalbrüchen, insbesondere die Ausziehung von Quadratwurzeln aus solchen, wie sie bei Ptolemäus und bei Theon von Alexandria in Übung war”). Da finden wir in dem geometrischen Kapitel auf Schritt und Tritt griechische Definitionen und Sätze), den ptolemäi- schen Satz vom Sehnenviereck®), die heronische Dreiecksformel aus den drei Seiten!") usw. Da finden wir einzelne Wörter, welche geradezu Übersetzungen griechischer Ausdrücke sind, wie die aussprechbaren und nicht-aussprechbaren Quadratwurzeln (6nr0v und &4oyov)''), wie die Grenze (000g, lateinisch limes, auch terminus)"?) um bei Sexa- gesimalbrüchen die Ordnung zu bezeichnen, oder sagen wir vielleicht entsprechender um das Reihenglied anzugeben, bei welchem man stehen zu bleiben wünscht. In diesem Lehrbuche nun, dessen Reichhaltigkeit aus unseren nur besonders für den Ursprung zeugende Dinge berücksichtigenden Notizen zur Genüge erhellt, ist von Verdoppelung und Halbierung 1) Käfi fil hisäb I, 6 figg. 2) Ebenda I], 5, 6; I, 7. 3%) Ebenda I, 4. *, Ebenda I, 10—11. °) Ebenda II, 15—16. °) Ebenda I, 7, 14 und häufiger. ”) Ebenda II, 10 und 15. °) Ebenda II, 18flgg. °) Ebenda II, 26. !°) Ebenda. II, 23. 1) Ebenda II, 12. 1?) Ebenda II, 4. Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. 765 als besonderen Rechnungsarten nirgend die Rede und wird, was noch weit merkwürdiger ist, nicht ein einziges Mal von Ziffern irgend- welcher Art gesprochen. Alle und jede Zahlen, welche in dem Texte vorkommen, sind vielm>hr in ganzen ausgeschriebenen Worten ange- geben. Selbst die umständlichsten Rechnungen führt Alkarchi nur in dieser Weise aus, so daß eine rasche Übersicht ganz und gar nicht möglich ist, man sich vielmehr immer in die Lage eines durch das Ohr allein Lernenden versetzt fühlt. Die Frage, wie Alkarchi, ein Mann von glänzendem Scharfsinne, wie uns insbesondere sein zweites Werk beweisen wird, die indischen Kechenmethoden, deren Unkenntnis bei ihm, dem Zeitgenossen und Ortsgenossen des Alna- sawi, zur Unmöglichkeit sich gestaltet, so sehr unterschätzen konnte, daß er nicht mit einem Worte ihrer erwähnte, enthält eine so schwere Anklage, daß uns eben die Notwendigkeit ihr zu begegnen, auf die oben ausgesprochene Vermutung führte. Wir glauben nicht Unkenntnis oder Unterschätzung der indischen Methoden bei einem Alkarchi annehmen zu dürfen. Wir sehen hier bewußten, grund- sätzlichen Schulgegensatz, der aus Verbissenheit selbst das Vortreff- lichste sich entgehen läßt, wenn es seinen Ursprungsstempel so deutlich auf der Stirne trägt, wie dieses bei den indischen Zahl- zeichen der Fall war. i Ist es die’ Heimatszugehörigkeit gewesen, welche den einen in diese, den anderen in jene Schulrichtung bannte? Wir wissen es nicht. Vielleicht müssen wir an eine unerwartete Rückwirkung theo- logischer Streitigkeiten denken, an den Gegensatz von Sunniten und Schi‘iten, von Orthodoxen und Mu‘tazeliten, der die ganze arabische Geschichte beeinflußt hat und zwischen 1020 und 1030 öffentliche Disputationen veranlaßte, die so regelmäßig in große Raufereien ausarteten, daß sie gänzlich verboten wurden). Wir würden uns nicht übermäßig erstaunen dürfen und es keines- wegs als Beweis gegen den von uns vermuteten alexandrinisch- römischen Ursprung gelten lassen, wenn die komplementären Rech- nungsverfahren der Multiplikation und der Division Alkarchi bekannt geworden wären in einer Zeit, zu welcher, wie wir sehen werden, diese Methoden auch im christlichen Abendlande an Verbreitung ge- wannen. Dem ist indessen nicht so, und nur zwei leise Spuren, welche zwar nicht an jene Verfahren selbst, aber an den Weg, der zu ihnen führt, etwas erinnern, sind uns aufgestoßen. Wir führen die Stellen, weil Gegner unserer Meinungen sie vielleicht in ihrem Sinne verwerten möchten, wörtlich an. ) Weil S. 225. 766 35. Kapitel. „Wisse nun, daß man die Zahlen in zwei Klassen teilt, nämlich ın einfache und zusammengesetzte. Die einfachen Zahlen sind solche, Jie nur einer Ordnung angehören, und die zusammengesetzten solche, _ die zwei oder mehreren Ordnungen angehören“!), Das klingt ungemein nach dem Fälscher der Geometrie des Boethius und ganz und gar nicht nach der 13. und 14. Definition des VII. Buches der Euklidischen Elemente, wo die Primzahlen ein- fach heißen, und zusammengesetzt solche Zahlen, die in Faktoren sich zerlegen lassen. Die zweite Stelle ist um ein Blatt früher in der Handschrift des Käfi fil hisäb zu finden. Dort heißt es: „Was die Ordnungen anlangt, so sind diese drei: Einer, Zehner und Hunderter. Das aber, was über diese hinausgeht, ist auf sie aufgebaut wie die Eintausender, die Zehntausender, die Hundert- tausender, [die Eintausendtausender], die Zehntausendtausender, die Hunderttausendtausender. Alle diese ruhen auf dem Fundamente der drei ersten, indem mit der Eins der Ausdruck Tausend entweder ein- mal oder zweimal oder dreimal verbunden ist, indem dann zweitens mit der Zehn der Ausdruck Tausend entweder einmal oder zweimal oder mehrmal verbunden ist. Und so ist jede Zahl, welche einer anderen als diesen drei Ordnungen angehört, wenn Du den Ausdruck Tausend von ihr wegnimmst, entweder ein Einer, Zehner oder Hunderter‘‘?). Das sind offenbar Triaden, wie der Römer sie besaß, wie das christliche Abendland sie nachahmen wird, und nicht griechische Tetraden. Man darf aber nicht vergessen, daß diese zweite Ähn- lichkeit auf sprachlichem Boden beruht, daß die Araber gleich dem ‚ Römer, gleich dem Deutschen Zehntausend zusammensetzen mußten, während die Griechen noch ihre einfache Myrias gebrauchten, und daß so Triaden gar wohl an den verschiedenen Orten und unab- hängig voneinander sich ausbilden konnten, Tetraden nur in Griechenland. Alkarchi hat auch mancherlei, was bei ihm zuerst unseren Blicken sich darbietet und vielleicht seiner eigenen Erfindung angehört. Er benutzt neben der Neunerprobe eine Elferprobe?). Er nimmt als angenäherte Quadratwurzel für Va? -+r, wo der Rest r übrig bleibt, nachdem die nächste Quadratzahl abgezogen wurde, mithin jeden- falls r<2a+1 ist, den Wert Ben Er hat unter den geometrischen Rechenbeispielen Formeln*), welche zwar an heronische Beispiele etwas erinnern, aber doch nicht mit denselben zur Deckung zu bringen sind, oder sich aus ihnen ableiten lassen’). Der Grund 1) Käfi fil hisäb I, 5. ?) Ebenda I, A. °) Ebenda I, 9. *) Ebenda II, 14. 5) Ebenda II, 24, 25, 26, 28 die Formeln für Kreissegmente, für Kreisbögen, für Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. 767 der Näherungsformel Ya t+r=a+. = at dürfte, wie allerdings erst im 41. Kapitel im nächsten Bande genauer erwiesen werden kann, folgender sein. Wenn a und die nächste ganze Zahl a +1 beide quadriert werden, so ist die Differenz der Quadrate (a +1’ —-— ®=2a-+l. Wächst also die Quadratzahl um 2« + 1, so wächst die Wurzel um 1, und Anwendung einer Proportion läßt weiter folgern, daß einem Wachstum der Quadratzahl um r ein Wachstum der Wurzel um r Ei . dartı entsprechen müsse. Neueste Forschungen!) haben es in hohem Grade wahrscheinlich gemacht, daß schon Be von geo- metrischer a aus den Näherungswert a + ,- 571 ebensowohl als dn a-+ en kannte, ja daß er sogar der fortlaufenden Ungleichung a+,,.>Ve - Er sich bediente, um die in der Kreismessung vorkommenden Quadrat- wurzelwerte zu erhalten. Die ganze Bedeutsamkeit des Mannes, mit welchem wir uns be- schäftigen, tritt in seinem zweiten Werke, im Al-Fachri, hervor, in welchem er andrerseits auch wieder als unbedingten bewundernden Schüler der Griechen, insbesondere des Diophant sich erweist, welch letzterer an häufigen Stellen mit Namen erwähnt ist. Al-Fachri besteht selbst aus zwei Abteilungen, einer ersten, welche die Theorie, wenn man so sagen darf, enthält, nämlich die Lehre vom algebraischen Rechnen und die Auflösungen sowohl bestimmter als unbestimmter Gleichungen, und einer zweiten, welche eine Aufgabensammlung dar- stellt. In beiden Abteilungen finden wir, wie gesagt, Diophant in umfassendster Weise benutzt, aber in beiden Abteilungen auch Dinge, welche über Diophant hinausgehen. Indische Methoden zur Auflösung der unbestimmten Gleichungen ersten wie zweiten Grades wird man dagegen vergebens suchen. Diophant hat z. B. Namen der 2. bis zur 6. Potenz der Unbe- kannten additiv aus Övvauıs und xUßos zusammengesetzt. Ganz ähnlich verfährt Alkarchi, dem mäl das Quadrat der Unbekannten — mitunter auch allerdings irgend eine Größe?) — bezeichnet, ka‘b den die Durchmesser des Um- und des Innenkreises regelmäßiger Vielecke, für den Körperinhalt der Kugel. ‘) Hultsch, Die Näherungswerthe irrationaler Quadratwurzeln bei Archi- medes. Nachrichten von der königl. Gesellsch. der Wissensch. und der Georg- Augusts-Universität zu Göttingen vom 28. Juni 1893, besonders 8.399. ?) Fakhri 48. 768 35. Kapitel. Würfel und dann weiter durch sich regelmäßig wiederholende Addition mäl mäl, mäl ka‘b, ka’b ka‘b, mäl mäl ka‘b, mäl ka’b ka‘b, ka‘b ka‘b ka‘b usw. ins Unendliche die folgenden Potenzen der Unbekannten. Wir bemerken hier beiläufig, daß wenn in arabischen Schriften mäl bald das Quadrat der unbekannten Größe, bald eine erste Potenz bezeichnet, diese Zweideutigkeit auch dem lateinischen Worte census in mittelalterlichen Übersetzungen aus dem Arabischen beigeblieben ist!). Alkarchi lehrt das Rechnen mit solchen allgemeinen Größen, zu welchen genau so wie bei Diophant auch die Brüche mit der 2., 3., usw. Potenz der Unbekannten als Nenner treten, in ausführlicher und klarster Weise. Diophant hat solches Rechnen mehr’ vorausgesetzt als gelehrt. Alkarchi behandelt nach den Rechnungsverfahren an den Potenzen der Unbekannten oder den ihnen inversen Ausdrücken auch Irratio- nalitäten?). Freilich bleibt er hier bei den einfachsten Fällen stehen und nähert sich nicht von weitem den von den Indern auf diesem Felde erzielten Ergebnissen, so daß man nicht nötig hat, an einen fremden Einfluß zu denken, um das Vorkommen von Gleichungen wie VY8-+Y18= YV50 oder v4 — v2 = V16 zu erklären. Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich mit Reihensummierungen?). Die hier auftretenden Sätze sind Alkarchi offenbar von anderer Seite zu- gegangen, und er hat nur für manche derselben Beweise geliefert, sei es algebraische, sei es geometrische, für manche künftige Beweise versprochen, ein Versprechen, welches er in einem Kommentare zum Al-Fachri zu lösen gedachte, den er selbst zu schreiben beabsichtigte?). Der fremde Ursprung der Summenformeln geht z. B. unzweifelhaft aus der Summierung der Quadratzahlen 2 P+243°4...+4r=-(1+4243+4. +4n)(Gr+ 5) hervor, welche Alkarchi mitteilt, aber nicht beweisen zu können ein- gesteht. Als Anhaltspunkt zur Beantwortung der Frage nach der Heimat dieser Formel weisen wir darauf hin, daß es genügt, ee en zu setzen, um sofort P+24+3° 4. 4r=-(5+7)e+Dr zu erhalten, eine Form, welche Archimed nicht, wohl aber Epaphro- ditus benutzt hat’). Für die Summierung der Kubikzahlen BB Br +HrAlHIHSHn) 1) Vgl. solche Übersetzungen bei Libri, Histoire des mathematiques en Italie I, 276—277 und I, 305. ?) Fakhri 57—59. °) Ebenda 59—62. *) Ebenda 6—7. °) Agrimensoren 8. 128. es nn en Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. 769 gibt Alkarchi einen geometrischen Beweis, dessen Gedankengang folgender ist!). Im Quadrate AC (Fig. 105) sei die Seite AB=1+2+3+-- +r, und nun schneidet man von diesem Quadrate einen Gnomon BBODD'CB ab, dessen Breite BB’ =r ist. Die Fläche desselben ıst offenbar -AB- rar ID _ Reid. Es ist einleuchtend, daß, wenn HP D’=r—1 e gewählt wird, ein zweiter Gnomon losgetrennt werden kann, dessen Fläche (r — 1)? sein muß, # E und daß in dem ganzen Quadrate r— 1 der- #7" ga! artige immer kleiner werdende Gnomone s entstehen, deren letzter von der Fläche 2° ist, und weggenommen noch ein Quadrat- chen 1? übrig läßt. Da aber 1?=1?, so ist auch A 2’DpD 2 Fig. 105. ELSE LA (+2 FIH- Ir. Jetzt kommt Alkarchi zu den sechs Gleichungsformen, welche wir (S. 719) bei Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi besprechen mußten, und setzt bei dieser Gelegenheit auseinander, was dschebr und mukä- bala sei?). Er versteht dabei das Wegheben gleichartiger Größen auf beiden Seiten der Gleichung, welches wir im Einverständnisse mit späteren Schriftstellern mukäbala genannt haben, bereits unter dschebr. Ihm ist mukäbala vielmehr nur die endgültig zur Auflösung vorbe- reitete Gleichung in einer der sechs Formen. Unter den Beispielen, welche Alkarchi behandelt, ist auch &+102=39 und =+21=10x, deren beider, wie wir uns erinnern, Alchwarizmi sich bedient hat. Alkarchi hat für sie eine doppelte Auflösung, die eine geometrisch, die andere nach Diophant, wie er sich ausdrückt, und diese letztere besteht in der Ergänzung zum Quadrate. Die Gleichung x? + 10x — 39 wird also aufgelöst durch die Umwandlung in +10 +5°—=-39+5?%, oder (+5) = 8, woraus 2<+5=8, x£=3 gefolgrt wird. Bei der Gleichung x + 21 = 10x ist das Verfahren folgendes: =” +21 + (= — 102 + 25) = 10x + (2? — 10x + 25), (x? — 102 + 25) = 102 + (a? — 102 + 25) — (2? +21) =4 = 2°. n Fakhri 61. Vgl. Hankel $S. 192 Anmerkung, der in dem Beweise ein durchaus indisches Gepräge erkennen will. ?) Ebenda 63—64. CAnToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 49 7170 35. Kapitel. Aber 2? — 10 +25 ist ebensowohl (x — 5)? als (5 — x)?, also ist x—5=2 undd5—-zr=2 eine Auflösung und entsprechend = 1 und <=3. Das Auffallende bei der Behandlung dieser letzteren Gleichung ist, daß Alkarchi auch von ihr des Ausdrucks „nach Diophants Art“ sich bedient. Wenn wir (8.476) wahrscheinlich machen, um nicht zu sagen zur Gewißheit erheben konnten, daß Diophant nicht wußte, daß die Gleichung ax? +c=bx zwei voneinander verschiedene Wurzel- werte besitzt, so ist jener Ausdruck ganz unverständlich. Nicht griechisch war unter allen Umständen die eine geometrische Dar- "stellung Alkarchis für die Auflösung der Gleichung x? + 10x = 39. Alkarchi gibt zwei geometrische Darstellungen unmittelbar ein- ander folgend. Zuerst läßt er (Fig. 106) die Strecken x und 10 ge- radlinig aneinander setzen und den a 4 . se: 2 | 2 Mittelpunkt der letzteren Strecke an- Fig. 106. geben. Unter Berufung auf einen „be- kannten Satz des Euklid“!), worunter der 6. Satz des II. Buches der Elemente verstanden ist (S. 263), folgert er sodann 10\ 2 10 x IE per Nun sei aber (10 +2)x = 39, also 10 5 64 ( + 2) Diese Beweisführung kann sehr wohl alter griechischer Überlieferung sein, kann bis auf Euklids nächste Nachfolger, wenn nicht auf ihn Z 4 selbst, zurückgehen. Nun läßt aber Alkarchi eine zweite geometrische Dar- stellung folgen. Die Strecken (Fig. 107) I R% z 2 CD=», DE=10z, Fig. 107. -5+27.. 73. T Zu A deren Summe 39 sein muß, werden geradlinig aneinander gesetzt. Über DE wird das Quadrat ABED errichtet, dessen Fläche folglieh 100%? ist. Nun bildet man über OD ein Rechteck ODTZ = 100°, d.h. man macht CZ = 100, das Rechteck ÜZIE ist folglich 100(2? + 10x) = 100 - 39 = 3900 und ebenso groß ist das Rechteck ABIT. Ist jetzt 5 die Mitte von IE, so ist ähnlich wie im vorigen Beweise ı, Fakhri 65. Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algehraiker von 950 etwa bis 1100. 771 IB>) +b in die Summe zweier Quadrate erkannt hat!). Die Auflösung von + (ae -b)- = y nach x liefert nämlich +3 + VG r)-V, wo die oberen, beziehungsweise die unteren Vorzeichen in der Auf- gabe und in der Auflösung zusammengehören. Kann man nun ® Xb in zwei Quadrate zerlegen, so setze man diese y? +2? und bekommt dadurch | ıi=H+ 5 HH In zwei Aufgaben bedient sich Alkarchi zweier Unbekannten, welchen er besondere Namen beilegt?). Das eine Mal heißt ihm die erste Unbekannte Sache, die zweite Maß; das andere Mal benutzt er neben Sache noch Teil. Ganz Ähnliches findet sich auch in einem anonymen mutmaßlich gleichfalls dem XI. 5. entstammenden arabi- schen Aufsatze über Winkeldreiteilung®).. Daß hierin ein Hinaus- gehen über Diophant enthalten ist, leuchtet ein, da dieser, wenn er auch unter Umständen Hilfsunbekannte eingeführt hat, für dieselben stets nur die gleiche Benennung und Bezeichnung wählte wie für die Hauptunbekannte und durch den verbindenden Text dafür sorgte, daß eine Verwechslung nicht eintrete. Den Buchstaben gegenüber, welche die Inder für voneinander zu unterscheidende Unbekannte in fast be- liebiger Anzahl zu setzen gewohnt waren, ist Alkarchis Verfahren ein untergeordnetes. Ob auch hier ein absichtliches Vernachlässigen dessen, was die Inder über die Griechen hinaus geleistet haben, ob ein wirkliches Nichtwissen anzunehmen sei, dürfte schwerlich ermittelt werden können. Wahrscheinlicher ist uns jedoch das letztere, weil auch in solchen arabischen Schriften, die ausgesprochenermaßen indischen Schriften nachgebildet sind, die Methoden der Inder, Gleichungen mit mehreren Unbekannten aufzulösen, mag es um bestimmte oder um unbestimmte Aufgaben sich handeln, regelmäßig fehlen. Wir haben gesagt, daß die bestimmten Gleichungen, welche Alkarchi löst, sofern sie den 2. Grad übersteigen, stets solche sind, welche auf Gleichungen des 2. Grades sich zurückführen lassen. Bestimmte kubische Gleichungen hat er nicht behandelt, und eben- ") Fakhri 113 (Aufgabe IV, 32). 2) Ebenda 139—143 (Aufgaben III, 5 und 6). °) Journal Asiatique für Oktober und November 1854 pag. 381—383. 774 35. Kapitel. sowenig läßt sich eine Spur finden, daß irgend ein anderer Araber dieser Zeit sich in algebraischer Weise erfolgreich mit denselben beschäftigt hätte. Nur geometrisch treten sie mit Glück an diese Aufgabe heran. Wir haben an der Wende des X. zum XI. S. Männer wie Abül Dschüd mit kubischen Gleichungen sich abarbeiten sehen, bald in einzelnen Fällen ein Ergebnis erzielend, bald der Schwierigkeiten, die sich ihnen entgegenstellten, nieht Meister werdend.. Auch andere etwas frühere Schriftsteller wie Almähani') am Ende des IX. S. und Abü Dscha’far Alchäzin?) am Ende des X. S. haben sich im Chalifenreiche ähnliche Aufgaben gestellt und wurden für ihre Be- mühungen von einem, wie wir gleich sehen wollen, sehr befugten Berichterstatter gelobt. Ersterer versuchte vergebens die archimedische Aufgabe, eine Kugel in Abschnitte von gegebenem gegenseitigem Raum- verhältnisse zu teilen, welche er in eine Kuben, Quadrate und Zahlen enthaltende Gleichung umgesetzt hatte, durch Auffindung der Gleichungs- wurzeln zu lösen’). Letzterer fand, daß Kegelschnitte genügten das zu zeichnen, was zu errechnen nachgerade als Unmöglichkeit galt). Unser Berichterstatter ist Alchaijämi d. h. der Nachkomme des Zeltenverfertigers, und er wußte endlich die Lehre zum Abschlusse zu bringen. Er gehört schon einer Zeit an, die jenseits der Periode liegt, bis zu welcher wir (S. 741) der Schicksale des Chalifates in flüchtigen Umrissen gedacht haben. Die Dynastie der Abbasiden dauerte unter dem Namen und dem Scheine des Chalifates noch fort, aber die Bujiden, die eigentlichen Machthaber, waren seit der Mitte des XI. S. gestürzt, und an ihre Stelle traten Männer aus dem Geschlechte Seldschuks, die aus der Steppe der Kirgisen gekommen neue frische Kräfte mitbrachten, noch unverbraucht in der Verfeinerung und Verweichlichung städtischen und höfischen Lebens’). Togrulbeg der Enkel Seldschüks zog 1050 halb gerufen von dem Chalifen Alkä’im und achtlos des Widerspruchs des Bujidensultans Al-Melik Ar-Rahim in Bagdad ein. Mehrjährige Kämpfe endeten zu seinem Gunsten, und der ihm verliehene Ehren- titel „König des Ostens und des Westens“ gewann wenigstens für die Umgegend der Hauptstadt einige Wahrheit. Auf Togrulbeg folgte 1063 sein kriegerischer Neffe Alp Arslan, auf diesen 1073—1092 dessen Sohn Melikschäh. Den beiden letztgenannten Sultanen stand als Wezir Nizäm Almulk zur Seite, und dieser war der Jugendfreund unseres Omar Alchaijämi®). Noch ein dritter Jüngling, Al-Hasan ibn As-Sabbäh, war mit beiden zusammen aufgewachsen. It) Suter 26—27, Nr. 47. ?) Ebenda 58, Nr. 124. °) L’algebre d’Omar Alkhayami pag. 2. ) Ebenda pag. 3. 5) Weil S. 226 flgg. 6) L’algebre M’Omar Alkhayami Preface pag. IV—VI. f Zahlentheoretiker, Rechner, geometrische Algebraiker von 950 etwa bis 1100. 775 Die jungen Männer hatten sich gegenseitige Unterstützung zu- geschworen, wenn einer von ihnen zu Ehren und Ansehen käme. Nizäm Almulk war in der Lage, sein Versprechen einzulösen, und es lag nicht an ihm, wenn es anders kam, als die Phantasie der Freunde es sich ausgemalt hatte. Al-Hasan ibn As-Sabbäh, der eine Stelle als Kämmerer erhalten hatte, suchte seinen beginnenden Einfluß zum Schaden Nizäm Almulks selbst zu verwenden, wurde durch diesen wieder vom Hofe verdrängt, begab sich nach Ägypten und kehrte von dort später ais schiitischer Parteiführer nach Persien zurück, woher er stammte. In der Burg Alamüt, deren er sich 1090 be- mächtigte, gründete er den Orden der Haschischesser (Haschischin), welche unter dem berückenden Einflusse jenes gefährlichen Reizmittels zu allen Verbrechen bereit waren, die ihr Führer ihnen anbefahl, den Märtyrern ewige paradiesische Genüsse versprechend, und welche so den Namen ihres Ordens gleichbedeutend mit Meuchelmördern machte, eine Bedeutung, die der abendländischen Verketzerung ihres Namens Assassini beigeblieben ist. Alchaijämis!) Leben war weniger stürmisch. Eine eigentliche Hofstellung scheint er ausgeschlagen zu haben und nur als Astronom für Melikschäh tätig gewesen zu sein, in welcher Eigenschaft er 1079 eine Kalenderreform zuwege brachte. Sie bestand darin, daß man zum persischen Sonnenjahre von 365 Tagen zurückkehrte und alle vier Jahre ein Schaltjahr von 366 Tagen eintreten ließ, zum 8. Schalt- jahre aber nicht das 4, sondern das 5. Jahr nach dem letzten Schaltjahre wählte So bekam man für 33 Jahre die Dauer von 25 x 365 + 8>< 366 Tagen und mithin 1 Jahr = 365° 5* 49” 5°, 45 in einer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, welche größer ist als bei allen sonstigen Kalendereinrichtungen?). Auch Alchaijämi scheint in die religiösen Zwiespalte zwischen Schi‘iten und Sunniten etwas verwickelt gewesen zu sein. Wenigstens berichtet eine ihm freilich nicht freundliche Feder, er habe, nicht aus Frömmigkeit, sondern durch ein fast zufälliges Zusammentreffen, die jedem Moslim gebotene große Pilgerfahrt gemacht, sich aber bei der Wiederkehr nach Bagdad gegen allen wissenschaftlichen Verkehr abgeschlossen und habe dann in die Heimat nach Chorasan sich zurückgezogen. Sein Ruhm als großer Mathematiker blieb unbeeinträchtigt, und noch in der Mitte des XVII. S. hat Hadschi Chalfa, welcher sich sonst begnügt, den Titel der Bücher nur anzugeben, welche er in seinem ; N) Suter 112— 113, Nr. 266. ®), R. Wolf, Geschichte der Astronomie 8. 331, wo der Name Alchaijämis als Omar-Cheian angegeben ist, eine ältere Lesart, deren wir uns in Anschluß an Woepcke nicht bedienen. 776 35. Kapitel. umfassenden bibliographischen Werke aufzählt, ein nicht unbedeuten- des Stück der Algebra Alchaijämis zum Abdrucke gebracht. “Omar Alchaijämi rechtfertigt durch seine Algebra vollständig den Ruhm, welcher bei seinen Landsleuten ihm nachblieb. Er war der erste, welcher die Unterscheidung der Fälle, die dadurch, daß nur positive Glieder in den Gleichungen vorkommen dürfen, sich ergeben, auch für die kubische Gleichung durchführte, und sodann, nicht, wie es die Griechen schon mehrfach getan hatten, diese oder jene geometrische Aufgabe löste, sondern mit diesen Gleichungen als solchen sich vollbewußt beschäftigte. Es ist wahr, er blieb hinter dem Erreichbaren in manchen Beziehungen zurück. Er sah nicht, daß es kubische Gleichungen von der Form # +bz = aa? +c gibt, welche durch drei positive Wurzeln erfüllt, eine Ähnlichkeit mit jenem Falle ax®+c=bx der quadratischen Gleichung an den Tag legen, welcher zwei positive Wurzeln zuläßt!). Er glaubte, die kubi- schen Gleichungen könnten überhaupt nicht durch Rechnung gelöst werden, sondern man müsse mit der Konstruktion von einander durch- schneidenden Kegelschnitten sich begnügen”). Ihm entgingen manche Wurzelwerte, welche durch Zeichnung sich eigentlich hätten kund- geben müssen, dadurch, daß er von den Kegelschnitten, die er zur Konstruktion verwandte, immer nur einen Arm zu zeichnen pflegte?). Er nahm es auch nicht sehr genau mit dem Diorismus der einzelnen Fälle®), d. h. mit der Untersuchung der Zahlenwerte, welche die ein- zelnen in den Gleichungen vorkommenden Koeffizienten annehmen müssen, um die Möglichkeit einer Konstruktion, wir würden sagen um eine positive Gleichungswurzel hervorzubringen. Er hielt bi- quadratische Gleichungen auf geometrischem Wege für unlösbar?). Aber diese Mängel sind doch nur geringfügige gegen den ungemein großen Fortschritt, überhaupt Gleichungen von höherem als dem zweiten Grade systematisch bearbeitet und in Gruppen zerlegt zu haben. Fragen wir, welcher Mathematiker irgend eines Volkes noch vor dem Jahre 1100 trinome kubische Gleichungen von quadrinomen unterschied, unter jeden wieder zwei Gruppen bildend, je nachdem dort das Glied 2. oder 1. Grades fehlte, hier die Summe von drei Gliedern einem, oder die Summe von zwei Gliedern der der beiden anderen gleichgesetzt war, so wird man uns sicherlich nur den einzigen Namen “Omar Alchaijämi als Antwort zu nennen wissen, und das genügt, dem Manne seine hervorragende Stellung in der Ge- schichte der Algebra zuzuweisen. t) L’algebre d’Omar Alkhayami XVI und 65, Anmerkung. ?) Ebenda pag. 11 und 12. °) Ebenda pag. 68. *) Ebenda XVII—XVII. °) Ebenda pag. 79. in. a. Der Niedergang der ostarabischen Mathematik. Ägyptische Mathematiker. 777 Es scheint, als sei noch ein anderes Verdienst ihm zuzuschreiben, die Kenntnis der Binomialentwicklung für den Fall ganzzahliger positiver Exponenten. Er sagt nämlich: „Ich habe gelehrt, die Seiten des Quadratoquadrats, des Quadratokubus, des Kubokubus etc. bis zu beliebiger Ausdehnung zu finden, was man vorher noch nie getan hatte. Die Beweise, welche ich bei dieser Gelegenheit gab, sind einzig arithmetischer Natur und gründen sich auf die arıthmetischen Abschnitte der euklidischen Elemente“!). Diese Behauptung kann kaum anders verstanden werden, als daß die Ausziehung der Quadrat- wurzel sich stütze auf die Entwicklung von (« + 5b)’, die der Kubik- wurzel auf die Entwicklung von (a + 5)’, die der mten Wurzel auf die Entwicklung von (a + 5)”, eine Auffassung, zu deren Bestätigung es dienen kann, daß Alchaijämi unmittelbar vor der angeführten Stelle von den Methoden der Inder die Quadrat- und Kubikwurzel zu finden geredet hat und nur deren Art vermehrt zu haben sich rühmt. Wir reihen diesen Bemerkungen noch eine geometrische Aufgabe an, welche von einem Ungenannten bearbeitet worden ist, der nach der ganzen Behandlungsweise jedenfalls der Zeit und der Schule an- gehört, deren Hauptvertreter wir soeben kennen gelernt haben. Es handelt sich um die Konstruktion?) eines Paralleltrapezes von drei ein- ander gleichen gegebenen Seiten und von zugleich gegebenem Flächen- inhalte. Diese an griechische wie an indische Vorbilder (S. 651—652) erinnernde Aufgabe führt zu einer Gleichung des 4. Grades von der Form #+bxz=ax®-+c und wird mittels des Durchschnittes eines Kreises und einer Hyperbel. gelöst. 36. Kapitel. . Der Niedergang der ostarabischen Mathematik. Ägyptische Mathematiker. Wieder verlangen die politischen Ereignisse, daß wir einen Augenblick bei ihnen verweilen. Wir stehen an dem Zeitpunkte, von welchem an durch zwei Jahrhunderte, in runden Zahlen von 1100 bis 1300, jene Kämpfe wüteten, welche in ihrer Gesamtheit die Kreuzzüge genannt worden sind, welche aber mehr als einmal durch Zeiten unterbrochen waren, in welchen friedlichster Verkehr zwischen den Feinden stattfand. Das waren die Zeiten, in welchen ') L’algebre d’Omar Alkhayami pag. 13. 2) Ebenda pag. 115. 778 36. Kapitel. die europäische Christenheit in dauernde unmittelbare Beziehung zur ostarabischen Bildung trat, eine Beziehung, welche von größter Wichtigkeit werden mußte. Nicht für die Kultur der Araber tritt uns die ganze Bedeutung der Kreuzzüge hervor. Wenigstens in den Wissenschaften, um deren Geschichte wir uns zu kümmern haben, sind die Araber von 1100 den Gelehrtesten des christlichen Abend- landes so ungemein überlegen, daß sie nichts, wir würden noch schärfer betonen gar nichts, von jenen lernen konnten, wenn nicht vielleicht eine an sich unbedeutende Kleinigkeit uns nachher noch die Vermutung erwecken dürfte, es habe auch hier sich bewährt, daß keine Wirkung ohne Gegenwirkung zu denken ist. Jedenfalls aber werden wir an den Einfluß der Kreuzzüge vorwiegend in Europa zu erinnern haben. Die Kriege gegen die Andersgläubigen, vornehmlich in Palästina und Agypten ausgefochten, waren nicht die einzigen, welche das arabische Ostreich in diesem Zeitraume beschäftigten. Daneben dauerten wie unter allen Dynastien unaufhörliche Kämpfe gegen die Provinzen fort, die unter kühnen Feldherren und Gegenfürsten bald sich losrissen, bald zu Paaren getrieben wurden. Daneben hatte man des Andranges der Mongolen sich zu erwehren!), die im ersten Viertel des XIII. S. unter Dschingiz-chän die östlichen Grenzen des Reiches überfluteten. Wieder war es der Hilferuf eines ohnmächtigen Chalifen, der dem Eroberer den kaum mehr notwendigen Vorwand gab, sich in dieser Richtung weiter auszudehnen. Schon 1220 wurde Chorasan, jene Geburtsstätte zahlreicher Mathematiker, von den Mongolen be- setzt. Wieder 36 Jahre später, 1256 drangen die Mongolen unter Hülägü abermals weiter vor, und 1258 fiel Bagdad. Der Chalife Almusta'sim wurde mit vielen Prinzen seines Hauses getötet, das Chalifat hörte auch dem Namen nach auf, ‘wie es seit lange schon der Tat nach so gut wie nicht bestand. In diesen Zeitraum fällt Kemäl Eddin?), einer der größten Ge- lehrten unter den Arabern. Er ist 1156 in Mosul geboren und hat ebenda das nach ihm benannte Kemälische Kollegium gegründet. Er war es, der nach einem arabischen Berichterstatter die mathemati- schen Fragen zu beantworten wußte, um deren Erledigung willen der Frankenkönig Imbarür — eine Verketzerung von Imperator, unter welcher Friedrich II. verborgeu ist — eine besondere Gesandt- schaft nach Mosul geschickt hatte. Unter Hülägüs Begleitern war ein Mann, der einst vom Chalıfen schwer beleidigt vielleicht zu den Anstiftern jenes Kriegszuges ge- Weil 8.249—255. °) Suter 140, Nr. 354. Der Niedergang der ostarabischen Mathematik. Ägyptische Mathematiker. 779 hörte, jedenfalls unter die Günstlinge des mongolischen Führers zählte und auch für uns von hervorragender Bedeutung ist: Nasir Eddin!). Der Name Nasir Eddin d. h. Verteidiger der Religion ist nur Bei- name. Eigentlich hieß er Abü Dscha‘far Muhammed ibn Hasan al Tüsi aus Tüs, wo er 1201 geboren wurde. Er starb 1274. Seine Gelehrsamkeit umfaßt die allerverschiedensten Gegenstände. Philo- sophie und Arzneikunde, Naturgeschichte und Geographie haben ihm Stoff zu Abhandlungen gegeben, neben welchen ein Gesetzbuch der Perser sich kaum sonderbarer ausnimmt als ein Werk über die Punktierkunst. Die Ilehänischen Tafeln, welche den Titel von den Fürsten erhalten haben, unter welchen Nasir Eddin die 12jährigen in den Tafeln verwerteten Beobachtungen anstellte, von den soge- nannten Großchänen, sind das Werk, um dessen willen Nasir Eddin in seiner Heimat den größten Ruhm genoß. Die Beobachtungen sind auf der Sternwarte in Maräga angestellt, deren Gründung 1259 un- mittelbar nach der Einnahme von Bagdad auf Nasir Eddins Rat voll- zogen wurde. Die dort erbeuteten Schätze des letzten Chalifen fanden zum Teil ihre Verwendung bei der Erbauung der großartigen Anstalt, deren Kostspieligkeit nahezu imstande gewesen wäre, noch im letzten Augenblick die Inangriffnahme zu verhindern, wenn nicht Nasir Eddin es verstanden hätte, Hülägü zu bereden. Nach Fertigstellung der Sternwarte diente sie als Sammelplatz zahlreicher Astronomen, welche Hülägü herbeirief, und soll mit einer Bibliothek von über 400000 Bänden ausgerüstet gewesen sein, Beutestücke aus Plünderungen ın Bagdad, Syrien und Mesopotamien. Von mathematischen Schriften Nasir Eddins werden solche über Algebra, über Arithmetik und über Geometrie genannt. Von großer Bedeutung ist die Abhandlung Nasir Eddins über die Figur der Schneidenden?), d. h. über den Satz des Menelaos. Er hat auf denselben eine ganz vollständige ebene und sphärische Trigonometrie aufgebaut, welche hier zum ersten Male als Teile der reinen Geometrie erscheinen, d. h. nicht mehr bloß als Einleitung zur Astronomie dienen. In der ebenen Trigono- metrie kennt er den Sinussatz, in der sphärischen sind ihm die sechs Hauptformeln des rechtwinkligen Dreiecks vertraut, er löst aber auch ») Über Nasir Eddin vgl. einen Aufsatz von Wurm in v. Zachs Monat- licher Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde (1811) Bd. XXIH, 8. 64— 78 und 341—361. Suter 146—153, Nr. 368. 2) Nasir Eddins Schakl al kattä, wie der arabische Name lautet, ist 1892 durch Ale- xander Pascha Karatheodory herausgegeben worden. Suter gab ein Referat in der Bibliotheca mathematica 1893, 1—8, an welches wir uns teilweise wörtlich anschließen. Vgl. ganz besonders A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Ge- schichte der Trigonometrie I, 65—71. 780 36. Kapitel. alle sechs Fälle des schiefwinkligen Dreiecks, sofern man nicht ge- schmeidige Formeln verlangt, sondern sich damit zufrieden gibt, daß gezeigt wird, man könne, wenn diese oder jene Stücke gegeben sind, diese oder jene andere Stücke finden. In diesem Sinne führt Nasir Eddin auch den Fall der drei Winkel auf den der drei Seiten zurück. Er bildet nämlich zu dem gegebenen Dreiecke dasjenige neue Dreieck, welches erst drei Jahrhunderte später in Europa einer abermaligen Erfindung bedurfte, um von da an als Polardreieck ein geschätztes Hilfsmittel der sphärischen Trigonometrie zu bleiben. Über die wichtige Frage, welche Verbreitung diese Trigonometrie fand, und ob sie im ÖOriente den ganzen Einfluß übte, den sie zu üben im- stande war, fehlen noch Untersuchungen. Sicher ist, daß etwa ein Jahrhundert nach Nasir Eddin Levi ben Gerson als Fortsetzer seiner Lehren auftrat, der selbst wieder abermals ein Jahrhundert später einen neuen Fortsetzer in Regiomontanus fand. Zu den grundsätzlich weniger wichtigen aber immerhin der Erwähnung wür- digen Stellen bei Nasir Eddin gehört diejenige, an welcher er be- weist, daß wenn ein Kreis einen anderen von doppelt so großem Halbmesser innerlich berührt, und wenn beiden Kreisen drehende be- ziehungsweise rollende Bewegung erteilt wird, die entgegengesetzt ge- richtet und für den kleinen Kreis doppelt so groß als für den großen Kreis ist, der anfängliche Berührungspunkt alsdann eine gerade Linie, und zwar den Durchmesser des großen Kreises beschreibt'). Weit bekannter als Nasir Eddins Trigonometrie war jedenfalls seine Be- arbeitung der Euklidischen Elemente. Er hat an seiner Vorlage mancherlei zu ändern gewagt, und insbesondere findet sich bei ihm ein Versuch, die Parallelentheorie von den ihr innewohnenden Schwächen zu befreien?). Erläuterungen zu Euklid wurden dagegen auch später noch ge- schrieben, und als Verfasser von solchen wird der Perser Kädizä- deh Ar-Rümi genannt”), der auch den Namen Maulänä Salaheddin Müsä ibn Muhammed führte, und von welchem ein Leben des Euklid nach griechischen Quellen herrührt, welches handschriftlich noch vor- handen sein soll. Kadizädeh Ar-Rümi starb 1412 oder 1413. Er ge- hörte zu den Astronomen, welche wieder ein neuerer Eroberer an einen neuen Mittelpunkt zusammenrief. Timür®), gewöhnlich Tamerlan genannt, ein Häuptling des Tar- tarenstammes Berlas, schuf sich am Schlusse des XIV. S. ein neues !) Curtze in der Bibliotheca Mathematica 1895, 8. 33—34. 2) Wallis, Opera II, 669—673. Kästner, Geschichte der Mathematik I, 374—381. °) Gartz, De interpretibus et explanatoribus Huchdis Arabieis etc. pag. 30—31. Suter 174—175, Nr. 430. *) Weil S. 421 figg. NE ONLEER Der Niedergang der ostarabischen Mathematik. Ägyptische Mathematiker. 781 Reich. Wenn er auch 1393 in Bagdad einzog, seine Hauptstadt hatte er in Samarkand, welche rasch emporblühte und Sammelplatz für Handel und Gewerbe, für Künste und Wissenschaften wurde. Timür selbst, noch mehr sein Sohn Schähruch bemühten sich, dieses Er- gebnis hervorzubringen, und nun gar der Enkel Muhammed ibn Schähruch Ulüg Beg, geboren 1395, ermordet 1449, war selbst ein hervorragender Astronom und verfertigte in Gemeinschaft mit anderen astronomische Tafeln von hohem Werte!). Zu seinen Hilfsarbeitern gehörte vorzugsweise Ar-Rümi, der auch als Lehrer des Ulüg Beg angeführt wird. Der Enkel Ar-Rümis Mahmüd ibn Muhammed ibn Kädizädeh Ar-Rümi genannt Miram Tschelebi schrieb 1498 Er- läuterungen zu jenen Tafeln ?). | Zu dem Ulüg-Begschen Gelehrtenkreise ist auch Dschamschid ibn Mas‘üd ibn Mahmüd der Arzt mit dem Beinamen Gijät eddin Al- Käschi zu zählen, welcher eine Abhandlung „Schlüssel der Rechen- kunst“ verfertigte, welche handschriftlich vorhanden ist, und deren Vorrede auch übersetzt worden ist?). Der Verfasser kündigt in der Vorrede einige der Sätze an, welche er mitteilen wird. Dazu gehört die Summenformel der aufeinander folgenden Kubikzahlen von 1 an, wie sie unter den Arabern uns bei Alkarchi bekannt geworden ist (8. 769), aber auch die Summenformel für die mit der 1 beginnenden aufeinander folgenden Biquadratzahlen, welche hier überhaupt zum ersten Male auftreten dürfte. Gijät eddin Al-Käschi setzt ante - [HH FE PNTI 42434... +] x[1?+22+3°? + z + r?], eine allerdings sehr umständliche Form, deren Zurückführung in die einfachere Gestalt 6r?’ + 15r! + 10r?—r 30 er nicht zu vollziehen imstande gewesen zu sein scheint, jedenfalls nicht vollzogen hat. In jener Vorrede rühmt sich der Verfasser auch eine Methode erfunden zu haben, um die Sehne, die zu dem Bogen von 1° gehört, in beliebiger Annäherung zu erhalten, weil es doch nicht möglich sei, in genauer Weise die Sehne eines Bogens aus der Sehne des dreifachen Bogens abzuleiten. Die Unmöglichkeit der algebraischen Auflösung kubischer @leiehungen galt also damals auch bei den Arabern noch für ausgemacht. ') Sedillot hat 1853 die Einleitung zu diesen Tafeln in französischer Übersetzung herausgegeben. ?) Journal Asiatique für 1853, serie 5, T. II, 333 bis 356. Suter 188, Nr. 457. ®) Woepcke, Passages relatifs a des sommations de series de cubes. Roma 1864, pag. 22—25. 7182 36. Kapitel. Die Näherungsmethode” Al-Käschis ist uns höchst wahrscheinlich bekannt, denn sein Name dürfte in der wohl durch falsche Stellung der sogenannten diakritischen Punkte veränderten Lesart Atabeddin Dschamschid zu erkennen sein, von welchem Miram Tschelebi in dem obengenannten Kommentare zu den Ulüg Begschen Tafeln uns eine solche Methode mitteilt!). Inu modernen Zeichen stellt die Me- thode sich etwa folgendermaßen dar. Es sei #+0Q= Px aufzu- lösen, wo P und @ positive Zahlen und P gegen Q sehr groß sein soll, woraus alsdann folgt, daß x entsprechend klein, also auch x? gegen Q sehr klein gewählt, die Gleichung zu erfüllen vermag. Dem entsprechend wird, indem’ wir das Ähnlichkeitszeichen &) benutzen, um angenäherte Gleichheit auszudrücken, neben — -—. auch 2 = sein. Liefert jene Division einen Quotienten « und den Rest R, so ist Q=a-P+ KR. Der genaue Wert von x wird jedenfalls > a sein, etwa =a-+ ß. Alsdann ist x R+(a+P’ 2 Die Division an möge den Quotienten b, den Rest S liefern, so daß R=bP+5-—.a?. Weiter setzen wr<=a+b-+y. Daraus folgt b . b Y he Er +2 ae Tl, en ne) ern Die letztere Division S+a+b’—a’ Ey wird nun abermals vollzogen. Sıe liefere den Quotienten c mit dem Reste 7 oder T=S+(a+b’—a?—cP. Ein weiterer Annäherungsversuch =a+b+c+0d führt dem- nach zu a+b+c+d= QL+a+b+c+N _ , „Rt+a+b+e+9) P‚ 2 + Sta+b+c+)’—a® P una u A ET ER ER mer Lee nkdr 2 Suhl n Ch ud naher an eh le en Frl a: ı) Journal Asiatique von 1853, serie 5, T. II, pag. 347. Die Vermutung Atabeddin — Gijät Eddin hat gestützt auf die Ansicht mehrerer Orienta- listen Hankel S. 292, Anmerkung * ausgesprochen. Die Näherungsmethode selbst hat er S. 291 an einem Beispiele durchgeführt. Suter 173—174, Nr. 429. Der Niedergang der ostarabischen Mathematik. Ägyptische Mathematiker. 783 Die Brauchbarkeit dieser Methode, bei welcher es nur auf Divi- sionen durch einen und denselben Divisor P und auf Berechnung der dritten Potenzen von a, von a-+b, von «+b-+c usw., also von den aufeinander folgenden Näherungswerten von x, ankommt, ist eine ziemlich bedeutende und hat nur, wie man, um allzuhoch- gespannten Meinungen entgegenzutreten, hervorheben muß, den einen Mangel, daß ein einzig auf die gegebene Gleichungsform unter der Bedingung eines gegen Q sehr großen P beschränktes Verfahren damit gelehrt ist. Ist letztere Bedingung nicht erfüllt, oder ist die Form der Gleichung nicht «+ @ = Px, so läßt die Methode sich nicht anwenden. Es muß vielmehr alsdann wesentlich anders ver- fahren werden, und ob ein Araber, der, wie wir wissen, nur mit posi- tiven Zahlen rechnete und deshalb so viele verschiedene Gleichungs- formen unterscheiden mußte, auch in jenen abweichenden Fällen sich zu helfen wußte, ist uns im höchsten Grade unwahrscheinlich, da nicht einmal andeutungsweise von solchen anderen Fällen die Rede ist. Der Ursprung der hier behandelten besonderen Gleichung dritten Grades war, wie wir (8. 781) gesagt haben, ein trigonome- trischer. Man sollte aus dem bekannten Sinus von 3° den von 1° ermitteln. Hieß letzterer x und der Kreishalbmesser r, so fand sich an einer Figur + sin und das war die zu lösende Gleichung. Man hat nun die Meinung ausgesprochen'), die Herstellung dieser Gleichung werde schon Abül Dschüd gelungen sein, welcher ähnliche Aufgaben behandelte (S. 759). Alsdann habe es sich um die Auflösung einer einmal bekannten Glei- chung gehandelt, die vermutlich nicht so lange auf sich habe warten lassen. Man habe also nur einen späten Bericht über eine wahr- scheinlich ältere Leistung. Das ist eine vollkommen in der Luft schwebende rein persönliche Meinung, der wir uns um so weniger anschließen können, als ja Al Käschi sich ausdrücklich der Erfindung der Methode rühmt. So tief wir schon herabgerückt sind, bis zu einer Zeit, welche schon später als die Einnahme von Byzanz durch die Türken liegt und eigentlich erst im folgenden Bande dieses Werkes besprochen werden dürfte, so wollen wir doch in ähnlicher Weise, wie wir dieses für die Mathematik der Chinesen uns gestattet haben, lieber jetzt eine zeitliche als später eine räumliche Abweichung von einem ein- ') A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie I, 72, Note 2. 784 36. Kapitel. heitlich angelegten Plane uns gestatten. Man muß nun einmal die Entwicklung der Mathematik auf asiatischem Boden unter die zu betrachtenden Dinge vollwertig einrechnen, wird aber entschieden besser daran tun, sie ein für allemal von Anfang bis zu Ende zu verfolgen, als sie der Entwicklung auf europäischem Boden je und je einzureihen. Jahrhunderte hindurch haben die Araber des Ostens einen mächtigen Vorsprung vor den Europäern, die teilweise bei ihnen in die Schule gehen. Mit den Männern, welche wir zuletzt genannt haben, hört jeder Fortschritt bei den einen auf, während er bei den anderen zu immer rascherer Gangart sich gestaltet. Und auch die Empfänglichkeit der Araber auf mathematischem Gebiete war dahin. Das zeigt uns der letzte orientalische Schriftsteller, von dem wir nunmehr zu reden haben, Behä Eddin!). Dieser Mathematiker lebte, wie ein in arabischer Sprache verfaßtes biographisches Wörterbuch berichtet, 1547—1622. Er war, was aus einzelnen Stellen seines Rechenbuches mit Bestimmtheit hervorgeht, Schilite und demnach wahrscheinlich geborener Perser oder doch in Persien ansässig, was mit der Angabe, er sei in Ispahan gestorben, im Einklang steht. Der Titel des von ihm herrührenden Werkes lautet Essenz der Rechen- kunst, Chuläsat al hisäb, weil es die Essenz der Bücher älterer Schrift- steller sei, die er vereinigt habe. Den Inhalt bildet ein Gemenge von arithmetischen, algebraischen, geometrischen Dingen in bunter Reihenfolge, und nicht minder bunt ist das Gemenge, wenn wir die einzelnen Dinge auf ihren Ursprung uns ansehen und Griechisch- abendländisches mit Indischem, mit Arabischem regellos wechselnd erkennen. Nur eines muß man nicht erwarten: daß Behä Eddins Sammelgeist es verstanden hätte, jeder Heimat die edelste Frucht zu entnehmen, welche sie zeitigte. Griechisch erscheint die Behauptung, die Einheit sei keine Zahl, erscheint das ganze Kapitel der Messungen mit einer Ausnahme. Griechisch ist die Auffindung der vollkommenen Zahlen, der Summe von Quadrat- und Kubikzahlen. Ebendahin weist uns wohl die komplementäre Multiplikationsmethode (S. 528), welche Behä Eddin kennt und folgendermaßen lehrt: „Addiere die beiden Faktoren und nimm den Überschuß über 10 zehnfach und dazu das Produkt der Überschüsse der 10 über jeden Faktor“?). Er dehnt die Regel, welche, wie er ausdrücklich hervorhebt, nur für zwei Faktoren zwischen 5 und 10 Geltung hat, auch mit einigen geringfügigen Ab- '), Beha Eddins Essenz der Rechenkunst, arabisch und deutsch heraus- gegeben von Nesselmann. Berlin 1843. Biographisches in den Anmerkungen auf S. 74—75. Suter 194, Nr. 480. ?) Beha Eddin S. 9. Der Niedergang der ostarabischen Mathematik. Ägyptische Mathematiker. 785 änderungen auf andere Faktoren aus. Die komplementäre Division ist dagegen auch in Behä Eddins Essenz nicht eingedrungen, und an abendländische Zutat erinnert bei der Division nur das Ziehen von Vertikallinien, welches freilich zur Vermeidung von Irrtümern jeder- mann erfinden konnte, welches aber auch ein Überbleibsel von Kolumnen sein kann, welche in Europa benutzt wurden. An Heron werden wir in dieser spät entstandenen Sammlung durch Höhen- messungen aus Schattenlängen und mit Hilfe von Beobachtungsvor- richtungen!) erinnert, an ihn durch die Aufgabe die Breite eines Flusses zu messen. Die Ausführung dieser Messung selbst erfolgt in einer uns noch unbekannten Art: „Stelle Dich an das Ufer des Flusses und beobachte sein anderes Ufer durch das Diopterlineal; dann kehre Dich um, so daß Du durch dasselbe eine Stelle des Bodens siehst, während das Astrolabium an seinem Platze bleibt; nun ist der Abstand zwischen Deinem Standpunkte und jener Stelle ‘ gleich der Breite des Flusses“). An Indien erinnert uns das Ziffer- rechnen, die Neunerprobe, die Regeldetri, die Rechnung des doppelten falschen Ansatzes, die Rechnung durch Umkehrung der Reihenfolge und Ausführung der zu vollziehenden Operationen, die Netzmulti- plikation?), welche letztere besonders deutlich gelehrt wird, während zwei andere Multiplikationsmethoden nur genannt, aber nicht erläutert werden, so daß der Sinn, der mit der Multiplikation des Umgürtens und des Gegenüberstellens zu verbinden ist, rätselhaft bleibt. Wenn wir diese Dinge griechisch-abendländisch, beziehungsweise indisch nannten, so ist unsere Meinung keineswegs die, als habe Behä Eddin aus jenen entfernten Quellen selbst geschöpft. Er hat zuverlässig nur Schriften seiner Heimat benutzt. Aber in jene sind früher oder später die Einschiebungen schon erfolgt und zwar, wie es uns wenigstens vorkommt, die der Kolumnenüberbleibsel, mög- licherweise der komplementären Multiplikation, vielleicht auch der praktisch-feldmesserischen Aufgaben erst nach den Kreuzzügen. Ara- bische ÖOriginalquellen lieferten daneben die Unmöglichkeit, der Glei- chung «+ y?°—= 2? zu genügen?) oder eine Quadratzahl zu finden, welche um 10 vermehrt oder vermindert wieder eine Quadratzahl liefere. Einheimisch war, soweit wir wissen, Ve+tr=a+ R 2atı ') Beha Eddin $. 35—36. ?) Ebenda 9. 36—37. °) Ebenda S. 12. *) Ebenda 8.56, Nr. 4. Diese Nummer bezieht sich auf sieben von Behä Eddin in seinen Schlußworten 8. 55—56 zusammengestellte Aufgaben, welche er als solche bezeichnet, die „seit alter Zeit als unauflösbar übrig blieben, sich empörend gegen alle Genies bis zu dieser Frist“. Mit der Beleuchtung jener CANToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 50 786 36. Kapitel. Einheimisch kann auch die Vorschrift sein, den Kreisumfang durch einen Faden zu messen!), sowie wir die falsche Regel den Raum einer Kugel vom Durchmesser d durch ea) Al] zu berechnen?) einheimischem Mißverständnisse später Zeit zur Last legen möchten. Augenscheinlich ist nämlich der für den Kugelinhalt 11 rn angegebene Ausdruck gleichbedeutend mit Ge = >) d.h. mit dem Kubhus des vierten Teils des Kreisumfanges, und bei aller Ver- wandtschaft mit der falschen Berechnung des Kugelinhaltes durch Aryabhatta (S. 646) ist doch die Verschiedenheit wieder zu bedeutend, um ein Abhängigkeitsverhältnis anzunehmen. Weit eher möchten wir an die spätrömische Kreisflächenausmessung (8. 591) uns erinnert fühlen. Einige geometrische Namen sind sowohl nach Bedeutung als Ursprung zweifelhaft, einige wenigstens in letzterer Beziehung. Einer Art von Trapez, welche Gurke genannt wird, stehen wir ebenso rat- los gegenüber wie der Kommentator, der da sagt: „Eine Beschreibung dieser Art von Trapezen ist in keinem Buche zu finden, die es er- läuterte; vielleicht wird Gott nach dieser Zeit es lehren“?),. Woher stammt die Spitzenfigur, das ist ein Sternzehneck, dessen Seiten nur bis zu ihrem gegenseitigen Durchschnitt, nicht darüber hinaus gezeichnet sind, so daß das Innere der Figur leer bleibt? Hängt der Name Figur der Braut, welcher dem pythagoräischen Dreiecke beigelegt wird*), etwa mit talismanischer Verwendung desselben zu- sammen, ähnlich wie wir solche von magischen Quadraten berichtet bekommen? Das sind Fragen, die ihrer Beantwortung noch harren. Im ganzen aber dürften unsere Leser von 'Behä Eddins Essenz der Rechenkunst den Eindruck erhalten haben, daß hier ein Rückschritt, oder jedenfalls mindestens ein Stehenbleiben der Wissenschaft zu be- merken ist, welche vorher ruckweise vorgeschritten war. Man hat mit Fug und Recht als ein kennzeichnendes Merkmal der arabischen Mathematik den Umstand hervortreten lassen’), daß sie durchaus von Fürstengunst abhängig war, daß es einzelne Herrscher waren, die zur Astronomie eine Vorliebe an den Tag legten, und daß unter ihnen Astronomen und Mathematiker erstanden, sonst nicht. Es ist vielleicht nicht minder kennzeichnend, daß keine einzige Herrscherfamilie ohne solche der Wissenschaft huldigende Aufgaben hat sich gelegentlich Genoechi beschäftigt in Tortolini, Annalk di scienze matematiche e fisiche VI, 297—304 (1855). ') Beha Eddin 8. 31. ?) Ebenda S. 33. °) Ebenda $. 29 und 66, An- merkung 17. *) Ebenda S. 71, Anmerkung 33. °) Hankel S$. 252. Der Niedergang der ostarabischen Mathematik. Ägyptische Mathematiker. 787 und dienende Vertreter war. Die ersten Abbasiden wie die Bujiden, seldschukische wie mongolische Fürsten, wie endlich jenen Enkel Tamerlans haben wir rühmend zu nennen gehabt. Es war, als wenn der auch nur vorübergehende Besitz von Bagdad die Geister mit Wissensdrang erfüllte und Bagdad so wirklich die Stadt des Heils war, als welche ihr Name sie bezeichnete. Und in anderer Beziehung war es, als wenn derselbe Besitz, jenem Kleinode der nordischen Sage vergleichbar, für den, der sich desselben bemächtigte, den Keim des Unheils in sich getragen hätte, so rasch verfielen die aufeinander folgenden Herrscherfamilien dem Fluche der Zwietracht und des Ver- wandtenmordes. . Folgende Zeitpunkte traten uns in unserer ausführlichen Dar- stellung vor Augen, deren wir nur noch einmal unter Erwähnung der wichtigsten Namen uns erinnern wollen. Unter den Abbasiden in dem etwa 150 Jahre dauernden Zeitraum vom letzten Viertel des VII. bis zum ersten Viertel des X. S. ist es der Hauptsache nach Aneignung indischer und mehr noch griechischer Mathematik, letztere in zahlreichen Übersetzungsarbeiten sich äußernd, welche wir einem Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi, einem Täbit ibn Kurrah, einem Albattäni nachzurühmen haben. Bei ihnen beginnt daneben eine zahlentheoretische und eine trigonometrische Selbsttätigkeit, welche indessen gegen den Übersetzungseifer zurücktritt. Ihm sind wir zu besonderem, zu um so größerem Danke verpflichtet, als, wie wir noch sehen werden, die griechische Mathematik höherer Natur dem Abendlande wesentlich durch arabische Kanäle zugeführt wurde, jeden- falls von da aus weit früher bekannt wurde, als die Neuentdeckung der Originaltexte es ermöglichte. Ja in einzelnen Fällen sehen wir uns heute noch auf arabische Übersetzungen zum alleinigen Ersatze für die verloren gegangenen ÖOriginalien angewiesen. Um das Jahr 1000 herum gruppieren sich sodann unter bujidischem Schutze die großen Schriftsteller, welche wieder durch zahlentheoretische, aber auch durch geometrische und vorzugsweise durch algebraisch -geo- metrische Forschungen die Wissenschaft vermehrten, ein Abül Wafä, welcher daneben noch eine gewisse Stetigkeit nach rückwärts her- stellend zu den Übersetzern gehört, ein Alkühi, ein Assidschzi, ein Alchodschandi, ein Abül Dschüd, ein Alkarchi. Ihnen gleichzeitig vertrat Albirüni uns die Blüte des gaznawidischen Hofes. Im letzten Viertel des XI. S. begünstigen seldschukische Sultane “Omar Alchai- jämi, den systematischen Algebraiker, dem zuerst mit vollem Bewußt- sein die Schwierigkeit der kubischen Gleichung entgegentrat, und dem die Geometrie nur dienendes Werkzeug für seine Zwecke wurde. Die Schule Nasir Eddins knüpfte in der Mitte des XII. S. an die von 50* 788 36. Kapitel. mongolischen Fürsten errichtete Sternwarte zu Maräga ihr Bestehen, und eine Schule des XV. S. hatte zu Samarkand in dem tartarischen Fürsten Ulüg Beg Gönner und Mitglied zugleich. Die beiden letzten Schulen gehörten mehr der Geschichte der Astronomie als der der Mathematik an, und nur Gijät eddin Al-Käschi verdiente für uns be- sondere Berücksichtigung wegen einer sinnreichen Näherungsrech- nung zur Auflösung kubischer Gleichungen von einer gewissen ge- gebenen Form. Der Höhepunkt der Mathematik war für die Araber des Ostens etwa auf 1050 zwischen die Namen Alkarchi, Alchaijämi anzusetzen. Von da an ging es bergab, erst mit teilweise neuen kleinen Er- hebungen, dann in trostlose Öde sich verflachend, als deren Sohn allein Behä Eddin am Ende des XVI. und Anfang des XVII S. uns noch beschäftigen durfte. Die äußersten Grenzen des ostarabischen und des westarabischen Kulturbereiches sind durch ungeheure Entfernungen voneinander ge- schieden und gewähren dadurch und durch die politische Trennung, mitunter verstärkt durch religiöse Gegensätze, die Möglichkeit und die Notwendigkeit gesonderter Betrachtung der beiderseitigen Ent- wicklungen. Minder streng läßt sich aber die Sonderung für die an- einander stoßenden Bezirke beider Reiche durchführen, und insbe- sondere hätte von den beiden Persönlichkeiten, welche jetzt noch die ägyptische Mathematik uns vertreten sollen, mindestens die zweite als im Osten geboren und herangebildet mit gleichem Rechte wie hier im vorigen Kapitel behandelt werden können. Das macht, daß die ägyptischen Fürsten Schi‘iten waren und darum den sunnitischen Abbasiden viel schroffer, den gleichfalls schi‘itischen Bujiden dagegen kaum feindlich gegenüberstanden, so daß unter diesen allmählich Be- ziehungen vorkommen, welche noch unter den ersten Bujiden zu den Unmöglichkeiten gehören. Ibn Jünus von Kairo, seinem ausführlichen Namen nach Abü’] Hasan ‘Ali ibn Abi Said “Abderrahmän, starb 1008, war also in der Blütezeit seines Wirkens Zeitgenosse des Abü’l Wafä, ähnelte in seinen astronomisch-trigonometrischen Leistungen ebendemselben und scheint doch von dessen Arbeiten in keiner Weise Notiz genommen zu haben, sei es, daß er sie wirklich nicht kannte, sei es, daß er sie nicht kennen wollte. Die ägyptischen Herrscher Al-"Aziz, 375—996, und Al-Häkim, 996— 1021, waren für Ibn Jünus frei- gebige Gönner. Sie sorgten für seine wissenschaftlichen Bedürfnisse durch Erbauung und Ausstattung einer Sternwarte, durch Anlage einer Büchersammlung usw. Er arbeitete auf ihr Geheiß seine astronomischen Tafeln aus, welche Al-Häkim zu Ehren die häkimi- Der Niedergang der ostarabischen Mathematik. Ägyptische Mathematiker. 789 tischen Tafeln genannt wurden!) und in der Geschichte der Astro- nomie eine rühmliche Stellung einnehmen. Für die Geschichte der Mathematik ist weniger daraus zu entnehmen, höchstens die Auf- lösung einiger Aufgaben der sphärischen Trigonometrie unter Ein® führung von gewissen Hilfswinkeln und die unbewiesene Näherungs- formel { > sin = 5.5: sin (2) +30 (15) Die erstere Neuerung hätte wichtig werden können, fand aber keine Nachahmung. Ob Ibn Jünus bei Benutzung des Wortes Schatten um den Quotienten des Sinus eines Winkels durch den Kosinus des- selben Winkels zu benennen wirklich vollständig unabhängig von Abü’l Wafä verfuhr, mag dahingestellt sein. Gewiß ist, daß er in- sofern unter jenem blieb, als er seine Schattentafel nie zur Berechnung anderer Winkel als wirklicher Sonnenhöhen verwertete, während Abü’l Wafä, dessen Tod fast 10 Jahre früher als die letzte von Ibn Jünus angestellte Beobachtung eintrat, die Verallgemeinerung des Schatten- begriffes, wie wir wissen (8. 748), vollzogen hat. Der zweite Schriftsteller, welchen wir hier der Besprechung unterziehen, ist in Al-Basra geboren und nur im Mannesalter in Ägypten eingewandert. Sein vollständiger Name lautet Abü ‘Ali al Hasan ibn al Hasan ıbn Alhaitam, kürzer als Ibn Alhaitam be- zeichnet, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit derselbe große Gelehrte, dessen Optik von lateinischen Übersetzern mit dem Verfassernamen Alhazen überschrieben ist?.. Dürfen wir diese Identität festhalten, so bleibt allerdings aus der Optik, so bedeutend ihr Wert für die Geschichte der angewandten Mathematik ist, für uns nur eine Aufgabe merkwürdig, nämlich die den Spiegelungs- punkt eines kugelförmig gekrümmten Spiegels zu finden, von welchem aus das Bild eines an einem gegebenen Orte befindlichen Gegen- standes in ein gleichfalls an einem gegebenen Orte befindliches Auge geworfen wird, eine Aufgabe, welche analytisch behandelt zu einer Gleichung des 4. Grades führt?). Den aus Al-Basra gebürtigen Ibn ") Der Anfang ist von Caussin übersetzt und erläutert in den Notices et extraits de la bibliotheque nationale T. VII, pag. 16— 240. Die ungedruckte Übersetzung der späteren Kapitel durch S&edillot hat Delambre für seine Histowre de Pastronomie dw moyen-dge benutzt. Vgl. Hankel S. 244, 282, 288. Suter 77—78, Nr. 178. ?) Wüstenfeld, Arabische Aerzte und Naturforscher S. 76—77, Nr. 130. L/algebre d’Omar Alkayami pag. 73—76, Anmerkung ***, und Narducei, Intorno ad una traduzione italiana fatta nel secolo deeimo- quarto del trattato d’ottica d’Alhazen, matematico del secolo undecimo ed ad altri lavori di questo sceienziato im Bullettino Boncompagni IV, 1—48 (1871). Suter 91—95, Nr. 204. °) Chasles, Apergu hist. pag. 498, deutsch S. 576. 790 36. Kapitel. Alhaitam haben wir jedenfalls, und zwar noch zur Zeit als er im Osten lebte, als Verfasser einer in einem Vatikankodex noch vor- handenen Abhandlung über die Quadratur des Kreises anzuer- *kennen!). Sie ist allerdings herzlich unbedeutend und zeigt nur die Quadratur der gewöhnlichen Mondehen des Hippokrates, in deren eines ein kleiner Kreis einbeschrieben ist, welcher zu dem Mondchen, also auch zu dem ihm flächengleichen Dreiecke, in einem gewissen Verhältnis stehe. Ein Hinausgehen über Archimed in dem Sinne, daß eine nähere Bestimmung der Zahl x versucht wäre, ist nicht vorhanden. Ebenderselbe Ibn Alhaitam hat auch ungemein zahlreiche sonstige ‘Schriften zustande gebracht, von welchen wenigstens eine geometrische zur Übersetzung gelangt ist, die zwei Bücher der gegebenen Dinge?). Der Verfasser sagt darüber in der Ein- leitung: „Das I. Buch enthält vollkommen neve Dinge, deren Gattung nicht einmal von den alten Geometern gekannt war, und das Il. enthält eine Reihe von Sätzen, welche denen ähneln, die in dem I. Buche von den gegebenen Dingen des Euklid zu finden sind, ohne jedoch selbst in jenem Werke vorzukommen.“ Was hier von dem II. Buche gerühmt ist, entspricht allerdings der Wahrheit, nicht so was Ibn Alhaitam als den Wert des I. Buches ausmachend schildert. Allerdings sind solche Sätze, wie sie im I. Buche enthalten sind, und welche kurzweg als Ortstheoreme, wenn nicht gar als Porismen im euklidischen Sinne des Wortes bezeichnet werden müssen, den Alten, d. h. den Griechen bekannt gewesen. Die euklidischen Porismen sind aber den Arabern bekannt gewesen, wenn sie auch von ihnen für unecht, d. h. nicht von Euklid verfaßt, gehalten wurden?). Wir wissen nicht, ob das Gleiche von den kleineren Schriften des Apol- lonius von Pergä gilt, welche sonst auch der Ruhmredigkeit Ibn Alhaitams ihr Verbot entgegenzustellen berechtigt gewesen wären, jedenfalls aber ist seine Überhebung keine minder unerlaubte an- gesichts der Sammlung des Pappus, von der wir wiederholt gesehen haben, daß sie Arabern des X. S. bekannt war. Wir müssen daher, wollen wir einen so tüchtigen Gelehrten, wie Ibn Alhaitam es jeden- falls war, nicht der absichtliehen Unwahrheit verbunden mit großer ') Bullettino Boncompagni IV, 41 sqq. Suter hat die Abhandlung in der Zeitschr. Math. Phys. XLIV, Histor.-literar. Abtlg. 8. 33—47 (1899) im Urtext mit deutscher Übersetzung herausgegeben. ?) Nouveau Journal Asiatique XII, 435 figg. (1834). Sedillot, Materiaux pour servir a V’histoire comparee des sciences mathematiques chez les Grecs et les Orientaux pag. 379—400. Chasles, Apergu hist. pag. 498 — 501, deutsch S.577—581. °) Fihrist 17 unter Vergleichung von Suters Anmerkung 49 (Fihrist 49). Der Niedergang der ostarabischen Mathematik. Ägyptische Mathematiker. 791 Unvorsichtigkeit bezichtigen, zu der Annahme uns bequemen, die Sammlung des Pappus sei für die große Mehrzahl auch der arabı- schen Gelehrten doch zu hoch gewesen und sei darum wenig bekannt geworden, beziehungsweise bald wieder in Vergessenheit geraten. Die Örter, von welchen Ibn Alhaitam handelt, sind übrigens aus- schließlich Kreise und gerade Linien, gehören mithin zu den ein- fachsten, welche überhaupt vorkommen. Wir nennen einige von den Sätzen des I. Buches: 6. Zieht man von zwei gegebenen Punkten aus Gerade, die beim Durchschnitte einen gegebenen Winkel bilden, so liegt der Durchschnittspunkt auf einer gegebenen Kreislinie. — 7. Zieht man von zwei gegebenen Punkten aus Gerade, die bei ihrem Durehsehnitt einen gegebenen Winkel bilden, verlängert man darauf die eine Gerade so, daß das Verhältnis der Strecke vom Anfangs- punkte bis zum Durchschnitte zu ihrer Verlängerung ein gegebenes sei, so liegt der Endpunkt auf einer der Lage nach gegebenen Kreis- liniee — 8. Zieht man von zwei gegebenen Punkten gleichlange sich in ihrem Endpunkte treffende Strecken, so liegt der Durch- schnittspunkt auf einer der Lage nach gegebenen Geraden. — 9. Zieht man von zwei gegebenen Punkten aus Gerade, deren Längen bis zum Durchschnittspunkte in gegebenem Verhältnisse stehen, so befindet sich der Durchschnittspunkt auf einer der Lage nach gegebenen Kreislinie. — 19. Zieht man an einen Punkt der kleineren von zwei sich innerlich berührenden Kreislinien eine Berührungslinie bis zum Durchschnitt mit der umgebenden Kreislinie und verbindet man diesen Durchschnittspunkt geradlinig mit dem Berührungspunkte der beiden Kreise, so ist das Verhältnis der beiden Strecken gegeben. Mit dem II. Buche mögen folgende Muster uns bekannt machen: 2. Die Gerade, welche von einem gegebenen Punkte aus gezogen von einem gegebenen Kreise ein der Größe nach gegebenes Stück ab- schneidet, ist der Lage nach gegeben. — 5. Zieht man von einem gegebenen Punkte eine Gerade zum Durchschnitt mit einer gegebenen Strecke, so daß das begrenzte Stück der Geraden mit dem einen Ab- schnitte der Strecke eine gegebene Summe bilde, so ist die Gerade der Lage nach gegeben. — 12. Zieht man an einen gegebenen Kreis eine Berührungslinie bis zum Durchschnitte mit einer gegebenen Geraden, und ist die so begrenzte Berührungslinie der Länge nach gegeben, so ist sie es auch der Lage nach. Ibn Alhaitam wurde nicht wegen seiner theoretisch-wissenschaft- lichen Leistungen, sondern um praktischer Dinge willen nach Kairo berufen. Er hatte sich nämlich geäußert, er halte es für leicht, am . Nil solehe Einriehtungen zu treffen, daß der Fluß jedes Jahr gleich- mäßig austrete, ohne daß Witterungsverhältnisse einen Einfluß üben 7192 | 37. Kapitel. könnten. Diese Zusage zu erfüllen, ließ Al-Häkim ihn kommen, ging ihm bis zur Vorstadt von Kairo entgegen und empfing ihn überhaupt mit den größten Ehren. Ibn Alhaitam zog hierauf guten Mutes mit zahlreichen Gefährten nilaufwärts, bis er zu den ersten Nilfällen bei Syene gelangte, wo er erkannte, daß er zu voreilig Sicherheit an den Tag gelegt hatte, und daß die Verwirklichung seines Planes unmöglich war. So mußte er sich zu entschuldigen suchen, so gut es eben ging, und als er, nunmehr in anderen Staatsarbeiten beschäftigt, sich auch hier Fehler zuschulden kommen ließ, mußte er sich verbergen, um Al-Häkims Zorne zu entgehen. Erst nach dessen Tode kam er wieder zum Vorschein und führte ein wesentlich schriftstellerisches Leben. Er starb 1038. Das sind die beiden Männer, welche die ägyptische Mathematik für uns kennzeichnen sollten. Wir gehen zu der Entwicklung unserer Wissenschaft in Spanien und in dem gegenüberliegenden westlichen Teile der afrikanischen Nordküste, in Marokko, über. 37. Kapitel. Die Mathematik der Westaraber. Von der Entstehung eines selbständigen arabischen Reiches in Spanien im Jahre 747 unter dem Omaijaden ‘Abd Arrahmän haben wir gelegentlich (S. 707) gesprochen. In unaufhörlichen Kämpfen gegen die westgotischen Christen sowie gegen afrikanische Araber erhob sich seine Dynastie bei 300jährigem Bestande zu unsterblichem Ruhme, rieb sich aber auch vollständig auf!). In die Zeit der Omai- jaden fällt die Entstehung aller jener glänzenden Überreste maurischer Baukunst, die noch*heute den Anschauer mit Bewunderung erfüllen sollen, und die nach den Berichten solcher Schriftsteller, welche sie in ihrer ganzen Pracht sahen, die Wundermärchen der Tausend und eine Nacht zur Wahrheit stempelten. Besonders ‘Abd Arrahmän II. und sein Sohn Al-Hakam II., welche von 912 bis 976 regierten, spielten eine glänzende Rolle in der Geschichte der Entwicklung west- arabischer Kultur. Von allgemein kulturgeschichtlichem Interesse ist es vielleicht, daß der letztgenannte Herrscher eine Geheimschreiberin Lubnä?) beschäftigte, welche als sehr bewandert in Grammatik, Metrik, Diehtkunst und Rechenkunst gerühmt wird und eine sehr schöne Schrift hatte. Eine Bibliothek von 600000 Bänden entsteht ) Aschbach, Geschichte der Omaijaden in Spanien Bd. II. Frankfurt a. M. 1830. *) Suter 61, Nr. 135. | Die Mathematik der Westaraber. 7193 in dem Palaste in Cordova. Ein Bibliotheksverzeichnis in 44 Bänden unterstützt die Benutzung. Gelehrte sammeln sich, aber, wie wir nicht für überflüssig halten, besonders zu betonen, ausschließlich Moslims, denn ‘Abd Arrahmän, der Verteidiger des Glaubens, wie er sich nennen ließ, würde so wenig wie sein Sohn fremde christliche Schüler geduldet haben. Dieselben beiden Fürsten fanden ihre Freude in der Herstellung baulicher Denkmale ihres Glanzes und der hohen Vollkommenheit, bis zu welcher arabische Kunstfertigkeit gelangt war Mag manches nach früheren praktisch gewordenen und ihres geo- metrischen Grundes verlustig gegangenen Regeln hergestellt worden sein, so ist doch schlechterdings nicht möglich, daß eine solche Architektur sich nur empirisch entwickelte Die Baumeister, und wenn nicht sie selbst, so doch diejenigen, bei welchen sie sich in ge- gebenen Fällen Rats erholten, mußten Mathematiker sein. Freilich steht uns mehr als dieser zwingende Schluß nicht zu Gebote. Von westarabischen mathematischen Schriften bis zum XI. S. ist nichts veröffentlicht. Von Namen sogar steht uns kein älterer als Abü’l Käsim Maslama ibn Ahmed Almadschriti') zu Gebote, der uns schon zweimal gelegentlich vorgekommen ist. Er wollte (8. 735) die befreundeten Zahlen in ihrer Wirkung kennen gelernt haben. Er oder sein Schüler Alkarmäni, von welchem letzteren Reisen in den Orient bekannt sind, sollen die Abhandlungen der lauteren Brüder in Spanien eingeführt haben (S. 738). Alkarmäni war übrigens vorzugsweise Chirurg. Die mathematische Lehrtätigkeit Almadschritis in Cordova, der Residenz der Emire, fällt in die Re- gierung Al-Hakam II. und dessen Nachfolgers. Er starb 1007. Von seinen Schülern haben Ibn as-Saffär und Ibn as Samh el Muhandis Al-Garnäti, der erste in Öordova dann in Dänia, der zweite in Granada eigene Schulen eröffnet, in welchen Mathematiker und Astro- nomen gebildet wurden). Der Geometer von Granada starb 1035 in einem Alter von 56 Jahren, hatte aber schon vieles geschrieben, worunter eine Einleitung in die Geometrie zur Erklärung Euklids, das große Buch über die Geometrie, die er nach geradlinigen und nach krummlinigen Gebilden einteilte, ein Buch über das Geschäftsrechnen, ein solches über das Luftrechnen d. h. Kopfrechnen lobend erwähnt werden. Die Tatsache, daß die letztgenannten außerhalb Cordova sich niederließen, beruht gewiß zum Teil auf den Unruhen, welche seit !) Wüstenfeld, Arabische Aerzte und Naturforscher 8. 61, Nr. 122. Stein- schneider, Pseudoepigraphische Literatur usw. 8.28 figg. und 73flgg. Suter 76—77, Nr. 176. ®, Wüstenfeld, Arabische Aerzte und Naturforscher $. 62, Nr. 123 und S. 64, Nr. 127. Suter 85, Nr. 194 und 86, Nr. 196. 794 37. Kapitel. 1008 in Cordova an der Tagesordnung waren und mit wechselndem Glücke der Parteien bis 1036 dauerten, um mit dem Tode Hischäms des letzten Omaijaden zu endigen. Ein einheitliches spanisch-ara- bisches Reieh hat es seit dieser Zeit nicht mehr gegeben!). Kleine Gebiete, teils als Freistädte, teils unter besonderen Fürsten, bildeten sich und gingen zugrunde, sich gegenseitig befehdend und dabei die christlichen Nachbarn wechselweise zu Hilfe rufend, welche bei solcher Gelegenheit nicht ermangelten, eine Stadt, eine Provinz nach der anderen den Moslimen abzunehmen und für sich zu behalten. Seit der Mitte des XII. S. war nur noch das Königreich Granada dem Islam unterworfen. Später als um diese Zeit wird uns aber auch kein westarabischer Mathematiker in Spanien begegnen. Nur von Be- wohnern der afrikanischen Küstengegenden werden wir in jener späten Zeit zu reden haben und brauchen uns deshalb um die langjährigen Kämpfe nicht zu kümmern, welche erst kurz vor dem Jahre 1500 mit dem gänzlichen Sturze arabischer Herrschaft auf spanischem Boden, mit der Einnahme von Granada am 2. Januar 1492 durch Ferdinand den Katholischen endigten, denselben Fürsten, für welchen Christoph Columbus Amerika entdeckte. An diesem Tage entstand, wenn man so sagen darf, das Sultanat von Marokko als Ersatz für das west- arabisch-spanische Reich. Der erste Schriftsteller, von welchem wir seit dem Beginne der Zersplitterung zu reden haben, lebte im XI. S. in Sevilla. Es war Abü Muhammed Dschäbir ibn Aflah?), gewöhnlich Geber genannt, von dessen Namen man, wie wir uns erinnern ($8. 722), eine Zeitlang das Wort Algebra herzuleiten sich gewöhnt hatte. Die Araber nannten ihn auch wohl Alischbili d. h. den von Sevilla. Er gehörte zu den hervorragendsten Astronomen seiner Zeit, verfaßte aber, wie so viele seiner Zeitgenossen, auch mystische Schriften, an deren In- halt er nicht minder fest glaubte als seine Leser. Seine Lebenszeit ist dadurch festgestellt, daß sein Sohn in Spanien mit dem berühmten Moses Maimonides persönlich verkehrte, was nur um das Jahr 1100 herum möglich war. Ibn Aflah selbst muß also in der zweiten Hälfte des-XI. S. am Leben gewesen sein. Sein Hauptwerk, eine Astronomie in 9 Büchern, wurde im XII. S. durch Gerhard von Cremona ins Lateinische übertragen”), und diese lateinische Bearbeitung erschien 15354 im Drucke. Das erste Buch*) enthält eine vollständige Tri- gonometrie, welche mit Vorbedacht an die Spitze gestellt wird, um ı) Weil 8. 284—296. ?) Steinschneider, Pseudoepigraphische Lite- ratur usw. S. 15 flgg. und 70flgg. Suter 119—120, Nr. 284. °) B. Boncom- pagni, Della vita e delle opere di Gherardo Cremonese. Roma 1851, pag. 13. ‘) Delambre, Histoire de Vastronomie du moyen-äge pag. 179—185. Hankel Die Mathematik der Westaraber. 795 Wiederholungen zu vermeiden. Der Verfasser, der fast 200 Jahre vor Nasir Eddin (S. 779) lebend von ihm nicht beeinflußt gewesen sein kann, aber auch aus (S. 788) angeführten Gründen ohne Einfluß auf diesen blieb, legte eine Probe geistiger Selbständigkeit ab, indem er es wagte, in dieser Trigonometrie von dem althergebrachten Gange des Ptolemäus, von der Regel der 6 Größen (8.413 und 420) ab- zuweichen und sogar polemisch gegen den alten Meister der Stern- kunde an den verschiedensten Stellen vorzugehen, was die Albattänı, die Abü’l Wafä, die Ibn Jünus, welche in ihrer Lebenszeit Ibn Aflah vorangehen, niemals auch nur versuchten. Ibn Aflah stützt sich bei seinen Beweisen — und daß er solche gibt, ist eine weitere rühm- liche Eigentümlichkeit, durch welche er von den übrigen arabischen Astronomen sich unterscheidet — auf eine Regel der vier Größen, welche in folgendem Satze besteht und von welcher eine Vorahnung sich in der Schrift des Täbit ibn Kurrah über den Satz des Menelaus (5. 736) vorfand. Diese arabische Schrift dürfte aber Ibn Aflah ge- kannt haben, wie daraus geschlossen worden ist, daß hebräische Über- setzungen des Täbit und des Ibn Aflah in einer und derselben Hand- 4 2 N u Q e Fig. 108. Fig. 109. Fig. 110. schrift vereinigt vorkommen. Es seien (Fig. 108) P,P, sowie 9, zwei Bögen größter Kreise, welche in A sich schneiden. Von P, und P, werden die Bögen größter Kreise P,Q, und P,Q, senkrecht zu AQ, Q, gezogen, so verhält sich sin AP, :sın P, Q, =sin A P,:sın P, Q;. Nun sei (Fig. 109) das bei H rechtwinklige sphärische Dreieck ABH vorgelegt, in welchem X BAH=«, BH=a, AB=h heiße. Man verlängert Ab und AH bis zur Länge von 90° nach © und E, so ist A der Pol von CE, also der Bogen OE das Maß des Winkels « und der Bogen AE senkrecht auf EC. Die Regel der vier Größen liefert jetzt als 13. Satz das Verhältnis sn AC:snOE=sinAB :sin DH oder sin 90°: sin«=sinh:sina, mithin sina = sinh- sin «. An einer anderen Figur (Fig. 110), bei welcher wieder ABH ein bei S. 285— 287. A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigono- metrie I, 81—83. 796 87. Kapitel. H rechtwinkliges sphärisches Dreieck darstellt und AH =b und X ABH= ß genannt ist, werden BA und BH bis nach E und F verlängert, so daß BE=BF=%W’, EF=ß und XBFE=BEF=-%? werden. FE und HA treffen sich verlängert in D, so ist wegen & BHD= BFD= % jener Punkt D der Pol von FH, also DH=%0°. Die Regel der vier Größen liefert, weil jetzt AE und HF senkrecht zu EF sind, das Verhältnis: sin DA:sın AE= sin DH: sin HF oder sin (90° — b) : sin (90° — h) = sin 90°: sin (90° — a), also cosh= cosa-cosb der Inhalt des 15. Satzes. In derselben Figur ist aber das Dreieck DEA bei E rechtwinklig, die Anwendung des 13. Satzes ergibt deshalb sin DE=sinDA-sinDAEd. h. sin (90° — ß) = sin (90° — b)-sin« oder cosß = cosb- sin« als Inhalt des 14. Satzes. Letzterer Satz ist weder bei Ptolemäus noch bei einem arabischen Vorgänger des Ibn Aflah zu finden und wird deshalb häufig unter Anwendung des Namens, unter welchem dieser Gelehrte, wie wir sagten, bekannt zu sein pflegt, der Geber- sche Lehrsatz genannt. Daß wir vorzogen, hier regelmäßig von Ibn Aflah zu reden, hat seinen Grund darin, daß es mehrere nach Zeit, Ort und wissenschaftlicher Tätigkeit ungemein verschiedene Persönlichkeiten gegeben hat oder gegeben haben soll, welche alle (Geber genannt werden, so daß Verwechslungen sehr leicht sind. Es ist mit großem Rechte als überraschend bezeichnet worden, daß Ibn Aflah, in der sphärischen Trigonometrie ein geradezu kühner Neuerer, in der ebenen Trigonometrie um keinen Schritt weiter gegangen ist als Ptolemäus, daß er sogar Sinus und Kosinus anzuwenden hier ver- meidet und noch in griechischer Weise mit den Sehnen der doppelten Winkel sich begnügt. So war noch für Ibn Aflah offenbar die sphärische Trigonometrie weitaus die Hauptsache und eine eigentliche ebene Trigonometrie nur zur Vollständigkeit der Betrachtungen vor- handen, aber nicht der wichtige Teil der Mathematik, zu welchem sie erst durch Nasir Eddin werden sollte. Wir haben gesagt, daß Gerhard von Cremona die Astronomie des Ibn Aflah etwa in der zweiten Hälfte des XII. S. übersetzte. Er hat die dazu nötigen Kenntnisse in dem den Arabern bereits ab- gerungenen Toledo sich erworben, wo um jene Zeit eine wahre Über- setzungsschule vorhanden war. Raimund, Erzbischof von Toledo zwischen 1130 und 1156, stand geistig an ihrer Spitze. Nicht als ER IETEENE HN LET Die Mathematik der Westaraber. 797 ob er selbst dabei tätig gewesen wäre, aber er veranlaßte Dominieus Gondisalvi in Gemeinschaft mit einem jüdischen Schriftgelehrten, Johannes von Luna oder Johannes von Sevilla (Johannes His- palensis) genannt!), arabische Bücher und zwar hauptsächlich solche, die sich auf aristotelische Philosophie bezogen, zu bearbeiten. Die Bearbeitung erfolgte auf einem Umwege, der nicht ohne Folgen blieb. Man mußte den arabischen Text durch einen der kastilianischen wie der arabischen Sprache kundigen Mittelsmann verdolmetschen lassen, bevor ein anderer oder auch mehrere dem Gelehrtenstande angehörende Männer nun wieder einen lateinischen Wortlaut herstellten, der nach- mals irgend einem unter den Mitwirkenden zugeschrieben wurde?). Überlegt man nun, daß der arabische Text durch nicht über alle Zweifel erhabene Übersetzungskunst dem Griechischen entnommen war, so läßt sich denken, welcherlei aristotelische Philosophie aus solchen dreifacher Verpfuschung ausgesetzt gewesenen lateinischen Darstellungen dem Mittelalter zur Kenntnis kam. Weniger schlimm waren die Veränderungen, welche solche Schriften erlitten, die wenig- stens von Ursprung her arabisch waren und ihrem Inhalte nach nicht so dunkel wie philosophische Gegenstände, selbst in der Sprache eines Aristoteles, es einem Laien gegenüber immer sein mußten. Gar keinen sinnentstellenden Veränderungen waren solche Schriften unterworfen, bei deren Übertragung in die lateinische Sprache der Verfasser selbst mitwirken konnte. Wie unsere Leser sofort bemerken, haben wir bei dem zuletzt Ausgesprochenen ein ganz bestimmtes Werk eines bestimmten Ver- fassers im Auge. Abraham bar Chijja ha Nasi?’), d.h. Abraham Sohn des Chijja der Fürst, war ein gelehrter Jude in Barcelona, von wo er zu gelegentlichem Aufenthalte wohl auch nach der Provence kam. Er stand bei Königen und Fürsten in hohem Ansehen, welches er vermutlich astrologischer Tätigkeit verdankte. Er unterstützte einen Übersetzer Plato von Tivoli bei dessen Übersetzungen aus dem Arabischen, und da ebenderselbe auch ein Werk Abrahams über- setzte, so ist es mindestens wahrscheinlich, daß auch hierbei der Ver- t) Nowvelle Biographie universelle XXVI, 565 (Paris 1858). Jourdain, Recherches eritiques sur Väge et Vorigine des traduetions latines d’Aristote. 2. edition. Paris 1843, pag. 115flgg. hält den Namen Johannes Hispalensis für entstellt aus Johannes Hispanensis de Luna d. h. Johannes der Spanier aus Luna. Ebenda pag. 117, Anmerkung 1 ist eine Stelle aus einer Widmung des Johannes an Raimund abgedruckt, durch welche seine Lebenszeit gesichert ist. ?) Darin hat man den Grund erkannt, warum die gleiche in mehreren Hand- schriften erhaltene Übersetzung bald einem, bald einem anderen Übersetzer zu- geschrieben ist. Vgl. H. Bosmans, Revue des Questions scientifiques. Octobre 1904. ?) Steinschneider in der Bibliotheca Mathematica 1896, 3. 34—38. 798 37. Kapitel. fasser Dienste geleistet haben wird. Abraham bar Chijja ist übrigens bekannter unter dem Namen Abraham Savasorda, und darunter verbirgt sich der Ehrentitel Sa’hib al Schorta d. h. Oberst der Leib- wache. Das von Plato von Tivoli übersetzte ursprünglich in hebräi- scher Sprache verfaßte Werk führte die Überschrift Chibburta Me- schika we ha Tischboret und ist übersetzt als Liber embadorum « Savasorda in hebraico compositus et a Platone Tiburtino in latinum sermonem translatus anno Arabum DX mense saphar, wodurch die Datierung auf Juni 1116 gesichert erscheint. Das „Werk der Raum- ausmessungen“, wie man den Titel etwa verdeutschen könnte, besteht aus vier Kapiteln?). Das 1. Kapitel enthält die Erklärungen, Forderungen und Grund- sätze Euklids, soweit sie geometrischer Natur sind, aber auch die in Euklids arithmetischen Büchern vorkommenden Erklärungen der ver- schiedenen Zahlenarten bis zu den vollkommenen Zahlen, diese mit eingeschlossen, sind aufgenommen. Ferner enthält das 1. Kapitel einige der geometrischen Lehrsätze Euklids über Gleichflächigkeit von Dreiecken und Parallelogrammen und die Erklärung der Ähnlichkeit zweier Dreiecke. Das 2. Kapitel zerfällt in fünf Teile, deren erster in geometrischem Gewande und mit Anwendung von Sätzen aus dem zweiten Buche Euklids, der ausdrücklich genannt ist, die drei ver- schiedenen Formen der unreinen quadratischen Gleichung behandelt. Hier ist gezeigt, daß © +b=ax zwei Wurzelwerte besitzt, und Platos Übersetzung von 1116 ist demnach das älteste lateinisch geschriebene Buch, von welchem wir Kenntnis haben, aus welchem das Abendland die Lösung der quadratischen Gleichungen mit Einschluß des doppeldeutigen Falles zu erlernen imstande war. Fragen wir aber rückwärts woher Sava- sordas Wissen stammte, so verweist uns eine Aufgabe?), bei deren Behandlung die Summe von vier Strecken als Rechteck gezeichnet wird, auf Al Karchi, welcher (S. 770) einer ähnlichen ganz un- griechischen Versinnlichung sich bediente. Al Karchi lebte aber etwa ein Jahrhundert vor Savasorda, so daß inzwischen trotz des Gegensatzes zwischen Ost und West seine Lehren irgendwie bis nach Spanien gedrungen sein können; werden doch die spanischen Biblio- theken nicht alles ausgeschlossen haben, was im Osten entstand, wo- für die in Spanien entstandenen Übersetzungen ostarabischer Werke ') Das Liber embadorum ist durch Curtze mit deutscher Übersetzung und unter Vorausschickung einer Einleitung, deren wir uns zum Teile wörtlich be- dienen, in den Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen XII, 3—183 (Leipzig 1902) herausgegeben. Wir zitieren Savasorda. 2?) Savasorda pag. 40. Die Mathematik der Westaraber. 199 ein deutliches Zeugnis ablegen. Der zweite Teil des 2. Kapitels be- handelt die Ausmessung der Dreiecke. Wir machen hier nur auf v3 = z aufmerksam, welches bei der Fläche des gleichseitigen Drei- ecks benutzt wird!), und auf die Formel zur Auffindung der Drei- ecksfläche aus den drei Seiten, für welche kein Urheber genannt ist, und von deren Beweis gesagt ist?), er sei sehr verwickelt und könne deshalb nicht leicht auseinandergesetzt werden. Hier kann das Buch der drei Brüder (8. 734) Savasordas Quelle gewesen sein. Der dritte Teil des 2. Kapitels ist den verschiedenen Vierecken, der vierte Teil dem Kreise gewidmet. In diesem Teile ist bald mit x = ‚ bald mit m = 3 gerechnet, die Gewährsmänner Archimed und Ptolemaeus finden keine Erwähnung. Die Ellipsenfläche wird als Kreis, dessen Durchmesser das arithmetische Mittel der beiden Achsen ist, berechnet?). Außerdem findet sich hier eine Sehnentafel von geringer Ausdehnung‘), die älteste, welche in einem lateinisch geschriebenen Buche hat nachgewiesen werden können. Der fünfte Teil des 2. Ka- pitels mißt Vielecke, welche zu diesem Zwecke in Dreiecke zerlegt werden, und dann noch Felder, welche an Bergabhängen gelegen sind, wobei mittels einer Nivellierungs-Vorrichtung die senkrechte Höhe des Berges gemessen wird’). Im 3. Kapitel, der Darlegung der Felder- teilung, sehen wir die geometrische Abteilung der oft erwähnten arabischen Erbteilungsaufgaben vor uns, welche in dem euklidischen Buche von der Teilung der Figuren ihr Vorbild besitzt. Das 4. Ka- pitel endlich ist überschrieben als Ausmessung der Körper nach Länge, Breite und Höhe. Unter den dort befindlichen Sätzen heben wir den hervor®), der die Diagonale eines rechtwinkligen Parallelepipedon von den Abmessungen a, b, c als Ya? + b? + c? finden lehrt. Den Schluß bilden einige sehr einfache Aufgaben praktischer Feldmessung. Der hier gegebene Überblick über das Werk der Raumaus- messungen zeigt uns Savasorda als einen nicht gerade gelehrten, aber gewandten Lehrer, der ohne eigne Zutaten aus den ihm in arabischen Übersetzungen bekannt gewordenen Schriften des Euklid, des Archimed, des Ptolemaeus, aber auch aus arabischen Originalwerken Wissens- wertes auszuziehen verstand. Um so auffallender erscheint es, daß an einer Stelle”) eine Berufung auf die Arithmetik des Boethius sich vorfindet. Man hat, wie uns scheint mit Recht, die Vermutung aus- gesprochen, diese Stelle habe gar nicht im hebräischen Urtexte ge- ') Savasorda pag. 52. ?) Ebenda pag. 74. °) Ebenda pag. 108. *) Ebenda pag. 108. °) Ebenda pag. 122. °) Ebenda pag. 162. ”) Ebenda pag. 16, letzte Zeile und Curtzes Anmerkung 1 auf pag. 18. 800 37. Kapitel. standen, sondern sei die einzige Zutat Platos von Tivoli, der sein Licht auch einmal leuchten lassen wollte. Eine sichere Entscheidung wäre allerdings nur dann möglich, wenn es gelänge den Urtext Sava- sordas aufzufinden. Die geschichtliche Bedeutung des Werkes der Raumausmessungen kann erst in unserem ll. Bande im 42. Kapitel erkannt werden, wo es sich zeigen wird, wie sehr Savasorda einem viel höher stehenden Nachfolger als Vorlage gedient hat. Gehört Savasorda und seine in hebräischer Sprache verfaßte Raumausmessungslehre nur uneigentlich in dieses der Mathematik der Westaraber gewidmete Kapitel, so verhält es sich nur wenig anders mit einigen Schriften, welche durch Johannes von Sevilla, welche etwas später durch Gerhard von Uremona aus dem Arabi- schen in das Lateinische übertragen wurden. Von wem die Originalien herrühren, wissen wir nicht. Wo sie verfaßt wurden, ob im Westen ob im Osten, ist uns gleichfalls un- bekannt. Ebensowenig wissen wir, ob wir gut daran tun gerade in diesem Zeitpunkte, also gegen die Mitte des XII. S., von ihnen zu reden. Unsere Berechtigung entnehmen wir einzig dem Umstande, daß sie damals in Toledo vorhanden gewesen sein müssen und jeden- falls zu den geschätzten Schriften gehörten, weil sonst doch wohl nicht sie übersetzt worden wären, wenn eine Auswahl auch berühm- terer Werke zu Gebote gestanden hätte. Die übersetzten Schriften sind ein Lehrbuch der Rechenkunst und eine Algebra. Jenes wird in scheinbarem Widerspruche zu unseren eben ge- äußerten Bemerkungen von dem Übersetzer Johannes von Sevilla dem Alchwarizmi zugewiesen. Jncipit prologus in libro alghoarismi de practica arismetrice a magistro Johanne yspalensi lautet der Anfang). Ist aber, woran wir zu zweifeln keinen Grund haben, die Schrift, welche wir früher als Rechenbuch des Muhammed ibn Müsä Alch- warizmi geschildert haben, echt, so kann es diese nicht sein. Der gleiche Schluß gilt freilich auch in umgekehrter Reihenfolge, allein wir glauben jene schon besprochene als die ältere, die von Johannes von Sevilla bearbeitete als die jüngere betrachten zu müssen, weil jene einfacher und kürzer, diese mehr als dreimal umfangreicher, weitschweifiger, ausführlicher ist, und somit eher den Charakter einer späteren Bearbeitung einer älteren Vorlage aufweist, während jene nicht wohl als Auszug aus dem größeren Buche gedacht werden kann, weil sie einzelne die unmittelbare Abhängigkeit ausschließende Ab- weichungen von demselben wahrnehmen läßt. So heißt es z. B. in ') Trattati d’aritmetica pubblicati da Bald. Boncompagni II (und letztes Heft) pag. 25 (der durch beide Hefte durchlaufenden Pagination). Die Mathematik der Westaraber. 801 der kürzeren Fassung die Zahlzeichen für 5, 6, 7, 8 würden ver- schiedentlich gebildet; in der längeren wird dasselbe von 7 und 4 behauptet. In der kürzeren Fassung ist die Algebra des Verfassers erwähnt; und dieses Zitat, auf welches wir uns (S. 715) stützen durften, um die Persönlichkeit des Verfassers festzustellen, fehlt in der längeren Fassung usw. Das Rechenbuch des Johannes von Se- villa, wie wir es von jetzt an mit dem Namen des Übersetzers be- nennen wollen, da der eigentliche Verfasser nicht zu ermitteln zu sein scheint, enthält nun sehr mannigfache interessante Dinge, teils solche, welche schon gegenwärtig für uns von Interesse sind, teils solche, welche ihre Bedeutung für uns erst gewinnen, wenn es sich um die Entwicklung der Wissenschaft im christlichen Abendlande handelt. Wir werden alsdann, im 40. Kapitel, auf die Schrift des Johann von Sevilla zurückverweisen, schildern sie aber gegenwärtig schon, um nicht eine Zersplitterung eintreten zu lassen. Der Verfasser lehnt sich durchweg so viel als möglich an die Inder an, welchen er z. B. die Erfindung der Sexagesimalbrüche zu- schreibt. Von ihnen hat er wohl auch die näherungsweise Aus- ziehung der Quadratwurzel mit Hilfe von Dezimalbrüchen?), natürlich nicht in einer Schreibart, wie sie den modernen Dezimalbrüchen zur erhöhten Bequemlichkeit ihres Gebrauches anhaftet, aber dem Ge- danken nach damit übereinstimmend. Es werden der Zahl, aus welcher die Wurzel gezogen werden soll, 2» Nullen angehängt, und die sodann gefundene Wurzel gilt als Zähler eines Bruches, dessen Nenner aus einer mit n Nullen versehenen Einheit besteht. Die Auflösung quadratischer Gleichungen?) wird an drei Beispielen ge- lehrt, den drei bekannten Fällen entsprechend. Das erste Beispiel ist wieder das althergebrachte 2? + 10x = 39. Für den zweiten Fall ist dagegen ©” +9 = 6x als Beispiel aufgestellt, eine merkwürdige Wahl insofern als bei dieser Gleichung wegen 2 (y-- nur eine einzige Wurzel = auftritt, so daß man wohl fragen möchte, ob die Wahl eine absichtliche, ob eine durch eigentümlichen Zufall dieses Ergebnis liefernde war? Am Schlusse der Schrift®) ist das magische Quadrat ') Trattati d’aritmetica pubblicati da Bald. Boncompagni II, pag. 49. ”) Ebenda pag. 87—90. °) Ebenda pag. 112. *) Ebenda pag. 136. CANTOoR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 51 802 37. Kapitel. mit die einzelnen Zahlen in Beziehung zueinander setzenden Strichen hergestellt, aber ohne jeden erklärenden Text. Negativ heben wir hervor, daß komplementäre Rechnungsverfahren, wie wir sie schon mehrfach vergeblich gesucht haben, nicht vorkommen. Einige latei- nische Ausdrücke scheinen zwar an jene Rechnungsverfahren zu er- innern, aber es ist nur Schein. Da kommt das Wort differentia mehrfach vor, auch bei der Division, aber es bedeutet nur die Stelle, bis zu welcher man vor- beziehungsweise zurückrückt. Das gleiche Wort im gleichen Sinne hat auch der Übersetzer der kleinen Abhandlung, welche wir als die des Alchwarizmi selbst anerkennen, angewandt. Da braucht Johannes von Sevilla die Wörter digitus und artieulus, Finger- und Gelenkzahl, genau in dem gleichen Sinne, in welchem diese Wörter in der gefälschten Geometrie des Boethius zur Anwendung kamen (S. 583). Wir könnten als Ergänzung darauf hinweisen, daß auch in einer mittelalterlichen Übersetzung der Algebra Alchwarizmis das Wort articulus für Gelenkzahl im antiken Sinne, aber ohne das Wort digitus vorkommt!). Aber es wären Trugschlüsse, aus diesen Über- setzungen, von deren Entstehungsweise wir gesprochen haben, den Wortlaut des Urtextes wiederherstellen zu wollen und dabei an jeden einzelnen Ausdruck sich festzuklammern. Jene Übersetzer des XII. S., die anderen so gut wie Johannes von Sevilla, benutzten eben die Wörter, welche in ihrer Zeit die weiteste Verbreitung hatten, sofern sie mit dem Sinne des Arabischen, hier z. B. mit Einern und Zehnern, sich deckten. Sie wollten ja nicht historische Untersuchungen an- stellen und darum den Wortlaut des Gegebenen so genau als möglich festhalten. Sie beabsichtigten vielmehr den verbreitungswerten Inhalt zur Kenntnis ihrer des Arabischen nicht mächtigen Landsleute zu bringen und mußten darum danach streben, bereits bekannter leicht verstandener Ausdrücke sich zu bedienen. Nur wo etwas dem Be- griffe nach ganz Neues vorkam, wurde mit mehr oder weniger Geschick dem Wortlaute nach übersetzt. So nennt Johannes von Sevilla bei den quadratischen Gleichungen das Quadrat der Unbekannten res, die Unbekannte selbst radix*), ersteres eine schlechte Übersetzung von mäl, letzteres eine gute von dschidr. Wir könnten schließlich noch rätselhafter Buchstabenfolgen ge- denken, welche nur dadurch zu lesbaren Wörtern werden, daß man annimmt, es sei jeder Vokal durch den ihm nachfolgenden Konso- 2 Libri, Histoire des sciences mathematiques en Italie I, 265. Die Stelle entspricht in Rosens englischer Übersetzung pag. 21. °) Trattati d’aritmetica II, pag. 112. Die Mathematik der Westaraber. 803 nanten ersetzt worden, und man müsse die entsprechende Rück- verwandlung z. B. von znzm in unum, von dxp in duo vor- nehmen). Gerhard von Uremona hat sicherlich die Algebra des Alch- warizmi übersetzt, allein es ist fast mehr als wahrscheinlich, daß die Bearbeitung, welche als jene Übersetzung gedruckt worden ist?), nicht von Gerhard herrührt und nicht die Algebra des Alchwarizmi ist?), daß man dagegen als die genannte Übersetzung jene anzuerkennen hat, welche als anonyme Übersetzung‘) zur Veröffentlichung gelangte (vgl. S. 719 Anmerkung 1), und welche auch in einer Madrider Hand- schrift als von Gerhard von Cremona herrührend bezeichnet ist. ' Die andere nach dieser Auffassung nicht von Gerhard von Cre- mona sondern von irgend einem uns Unbekannten übersetzte Ab- handlung kündigt sich selbst an als das Buch, welches nach dem Gebrauche der Araber algebra und almucabala und „bei uns“ (apud nos) Buch der Wiederherstellung (liber restauracionis) genannt wird, zu Toledo aus dem Arabischen in das Lateinische übersetzt durch Magister Gerhard von Cremona. Das Original muß als eine andere Bearbeitung des von Alchwarizmi in seiner ähnlich betitelten Schrift behandelten Stoffes angesehen werden. Die Beispiele +10 e89, air 2l=10r, letzteres mit seinen beiden Wurzelwerten =]7 und «=3 treten auf. Geometrische Beweise der drei Fälle der quadratischen Glei- chungen fehlen nicht. Sonstige bedeutsame Verschiedenheiten nötigen aber an einen anderen Verfasser des arabischen Textes als an Alch- warizmi zu denken. Sehr wichtig erscheint z. B. der Umstand, daß die Auflösungen der drei Formen quadratischer Gleichungen in Ge- stalt von Gedächtnisversen gelehrt sind’). Das ist durchaus indische Sitte, während sie den Arabern, so viele uns deren bisher zur Rede kamen, fremd ist. Und doch können gerade diese Verse nicht aus indischen Mustern übersetzt sein, denn die Inder — wir wiederholen hier früher Gesagtes — wußten gar nichts von drei Formen quadrati- scher Gleichungen, weil sie vermöge ihrer Fähigkeit mit negativen Zahlen zu rechnen nur eine quadratische Gleichung ac +br—=c mit bald positiven, bald negativen Koeffizienten in Behandlung ') Tratiati d’aritmetica II, pag.126. °) B. Boncompagni, Della vita e delle opere di Gherardo Oremonese pag. 28—51. °) Axel Anthon Björnbo in der Bibliotheca Mathematica 3. Folge, VI, 239—241. *) Libri, Histoire des sciences mathematiques en Italie I, 253—297. 5) B. Boncompagni, Della vita e:delle opere di Gherardo Oremonese pag. 31, 32, 34. 63 804 37. Kapitel. nahmen. Dieser Widerspruch scheint zu der Annahme zu nötigen, der Verfasser des hier übersetzten Buches sei ein Gelehrter gewesen, welcher selbständig vorgehend die indische Sitte auf arabische, um nicht geradezu zu sagen auf griechisch-arabische Gegenstände an- wandte. Er muß mit indischen Werken bekannt gewesen sein, muß ihnen das entnommen haben, was er für besonders brauchbar hielt, während er gleichzeitig von den unter den Arabern längst einge- bürgerten drei Fällen nicht ließ, sei es, daß er sie wirklich für not- wendig hielt, sei es, daß er als echter Araber anhängend an dem durch Alter der Überlieferung Geheiligten doch nicht allzu große Neuerungen wagte. Waren es doch neben den Gedächtnisversen noch andere ungemein überraschende Dinge, welche er seinen Landsleuten bot: eine algebraische Schrift durch Abkürzungen und übereinkomm- liche Zeichen, wie die Inder sie benutzten. Fast ganz indisch ist die Bezeichnung abzuziehender Größen durch einen unter die Benennung angebrachten Punkt!), indisch da- rum wahrscheinlich auch die Darstellung der Benennung selbst durch den Anfangsbuchstaben des Benannten, sei ‚es, daß es um die Un- bekannte, oder um ihr Quadrat, oder um die absolute Zahl der Auf- gabe sich handelte?). Welcher Buchstaben das Original sich bediente, ist nicht mit voller Sicherheit zu behaupten, indem der Übersetzer einen Beweis scharfsinnigen Verständnisses ablegend, oder aber irgend- wie und irgendwo über den abkürzenden Ursprung der im Urtexte gebrauchten Buchstaben richtig belehrt, die Anfangsbuchstaben der lateinischen Wörter gewählt hat, deren er selbst sich bedient, der Wörter: radix für die Unbekannte, census für das Quadrat der- selben, dragma für die absolute Zahl, doch ist die Wahrscheinlich- keit eine bedeutende, es seien diese Wörter die Übersetzungen von dschidr, mäl, dirham, deren Abkürzungen uns noch im Laufe dieses Kapitels in westarabischen Werken begegnen werden. In dem Gebrauche von census für mäl hat der Übersetzer richtiger über- setzt als Johannes von Sevilla, welcher res dafür sagte, während eine Übereinstimmung beider in den Wörtern digitus und artieulus herrscht ?). Wer der arabische Gelehrte war, welcher Gedächtnisverse, welcher Abkürzungen und fast algebraische Zeichen zuerst anwandte, ist uns, wir wiederholen es, nicht bekannt, denn die Vermutung, er habe Said geheißen®), steht auf nicht so festen Füßen, daß wir ihr Ver- trauen schenken möchten. Dagegen kennen wir die Namen west- ') B. Boncompagni, Della vita e delle opere di Gherardo Üremonese pag. 38—39. ?) Ebenda pag. 36sqq. °) Ebenda pag. 388. *) Ebenda pag. 56. Die Mathematik der Westaraber. 805 arabischer Schriftsteller, welche vor dem Ende des XII. 5. — ob vor oder nach dem Aufenthalte Gerhards von Cremona in Toledo wissen wir nieht — lebten und welche ähnlich verfuhren. Der Be- richterstatter über die Namen ist Ibn Chaldün, jener Schriftsteller des XIV. S.,, von dem wir eine Stelle über befreundete Zahlen schon (S. 735) benutzt haben. Er erwähnt!) ein algebraisches Werk, welches unter dem Titel: Der kleine Sattel im Magrib, also im afrikanischen Nordwesten geschrieben worden sei, und aus welchem Ibn Albannä einen Auszug verfertigte habe. Von diesem Auszuge von der Hand des in der zweiten Hälfte des XIII. S. wirkenden Ge- lehrten haben wir nachher zu reden. Vorläufig bleiben wir bei dem Berichte Ibn Chaldüns, welcher fortfahrend erzählt, Ibn Albannä habe auch einen Kommentar: Die Aufhebung des Schleiers zu dem kleinen Sattel geschrieben. Dieses Werk sei ungemein wertvoll, aber schwierig für Anfänger. Ibn Albannä habe sich dabei an zwei Vorgänger angelehnt: an „die Wissenschaft des Rechnens“ von Ibn Almun‘im und an „den Vollkommenen“ von Alahdab. Er habe die Beweisführungen dieser beiden Werke zusammengefaßt und noch anderes, nämlich die technische Anwendung von Symbolen bei diesen Beweisen, welche zu gleicher Zeit einen doppelten Zweck erfüllen, die abstrakte Schlußfolge und die sichtbare Darstellung, worin eben das Geheimnis und die Wahrheit der Erklärung von Lehrsätzen der _ Rechenkunst durch Zeichen bestehe. Es kann nicht wohl ein Zweifel obwalten, daß diese an sich etwas dunklen Worte richtig auf Dinge bezogen worden sind, wie sie etwa in der Vorlage des Gerhard von Cremona vorkamen, und daß diese in mindestens mittelbarer Ab- hängigkeit von Ibn Almun’im oder Alahdab stehen müßte, wenn der Beweis erbracht werden könnte, daß diese Schriftsteller bis auf das XI. $. also bis reichlich hundert Jahre vor Ibn Albannä zu- rückgreifen. Ibn Albannä, d. h. der Sohn des Baumeisters”?), ist 1252 oder 1257 in Marokko geboren. Der Vater stammte, wie es scheint, aus Granada. Der vollständige Name unseres Gelehrten war Abü’l Abbäs Ahmed ibn Muhammed ibn ‘Otmän Al-Azdi Al-Marräkuschi ibn Albannä Algarnäti. Er hat eine große Zahl von ınathematischen und anderen Schriften verfaßt, welche in seiner Lebensbeschreibung auf- gezeichnet sind. Auffallenderweise fehlt in diesem von einem Lands- ı) Journal Asiatique für Oktober und November 1854, pag. 371—372. ?) Aristide Marre, Biographie d’Ibn Albanna in den Atti dell’ Accademia pon- tificia de’ Nwovi Lincei unter dem Datum des 3. Dezember 1865 (Bd. XIX). Steinschneider, Rectification de quelques erreurs ete. Bullettino Boncompagni X, 313—314 (1877). Suter 162—164, Nr. 399. 806 "37. Kapitel. manne Ibn Albannäs herrührenden Verzeichnisse die durch Ibn Chaldün so hoch gestellte Aufhebung des Schleiers, fehlt in ihm auch der Auszug aus dem kleinen Sattel. Gerade dieser letztere Auszug, talchis nennt ihn Ibn Chaldün, dürfte uns aber erhalten sein. Ein arith- metisch-algebraisches Werk unter dem Titel „Talchis des Ibn Albannä“ ist nämlich in der Bodleyanischen Bibliothek aufgefunden und in französischer Übersetzung des arabischen Textes dem Drucke über- geben worden!,. Da Name und Inhalt mit der von Ibn Chaldün er- wähnten Schrift in vollem Einklange stehen, so ist an der tatsäch- lichen Übereinstimmung kaum zu zweifeln, eine Zweifellosigkeit, welche sich nur noch steigert, wenn dem Leser von Zeile zu Zeile zwingen- der die Notwendigkeit erläuternder Zusätze sich aufdrängt, so daß er begreift, daß Ibn Albannä selbst die Aufhebung des Schleiers unternahm. Spätere Gelehrte folgten seinem Beispiele, erläuterten aber nicht das ursprüngliche Hauptwerk des kleinen Sattels, sondern den Aus- zug, den Talchis, wie wir von nun an mit dem jetzt gebräuchlich gewordenen Fremdnamen sagen wollen. Es gibt mehrere Kommen- tare zum Talchis, es gibt auch Werke, welche ohne sich als Kom- mentare zu geben als solche benutzt werden können, weil sie dessen Auseinandersetzungen weiter ausführen, und von diesen ist eines, dem XV. $. angehörend, durch eine gedruckte Übersetzung zugäng- lich. Wir werden über manches Dunkle im Talchis besser aus jenem späten Werke uns unterrichten, vorher aber wenigstens einige Stellen des Talchis selbst reden lassen. Ibn Albannä unterscheidet Rangordnungen der Zahlen unter dem Namen mukarrar und takarrur?). Der Sinn ist der, daß Gruppen von je 3 Ziffern von rechts nach links abgeteilt werden, die Gruppe der Einheiten, der Tausender, der Tausendtausender usw. Bildet man lauter einzelne Kolumnen für jede Ziffernordnung und begrenzt die- selben oben durch einen kleinen Bogen ER PT N isn Tausend- | Uessad Tausend EN alte N are "ne aa Fan” aan 9 EREEREIGE | | ') Le Talkhys d’Ibn Albannäa publie et tradwit par Aristide Marre. Rome 1865. ?) Talkhys pag. 3 und 9. Die Mathematik der Westaraber. 807 (ein kleines Gewölbe oder Dach), so sind größere Dächer über drei Kolumnen zu spannen und damit jene Gruppeneinteilung versinnlicht. Jede vollständige Gruppe von drei Kolumnen bildet einen takarrur; mukarrar dagegen ist die Gesamtzahl der Kolumnen, in welche eine gegebene Zahl sich einträgt. Der mukarrar ist der dreifache takarrur einer Zahl nebst der Zahl der links überschießenden Kolumnen, welche nur 2, 1 oder O0 betragen kann. So ist der mukarrar von 5 000 000, welches 2 takarrur und noch 1 Kolumne braucht =3 x 2+1=[1. Der mukarrar von 30000 isst =53 >x<1+2=5, der mukarrar von 400 000 000 ist 3x3 +0-19. Wir sehen hier aufs deutlichste Kolumnenrechnen und Ziffer- rechnen vereint, aber wir sehen es erst hier gegen Einde des XII. S., und es ist uns persönlich kaum fraglich, daß wir statt von einer Vereinigung der beiden Verfahren von einem Übergreifen des Kolumnenrechnens in das Zifferrechnen zu reden haben, daß hier abendländischer Einfluß erhärtet ist, der gerade an der afrikanischen Küste unabweisbar war. Hatten doch z. B. in Bugia die großen italienischen Kaufleute schon vor dem Jahre 1200 eigene Handels- komptoire, eigene Zollbeamte, und war doch damit die Anwesenheit von im Rechnungswesen geübten Persönlichkeiten mit Notwendigkeit verbunden. Was aber dasselbe Bugia den Arabern war, schildert ein spanischer Araber aus Valencia, welcher 1289 jene Gegend bereiste, mit beredten Worten!): „Bugia ist ein großer Seehafen und eine be- festigte Stadt, deren Name in der Geschichte berühmt ist. Sie ist auf steilen Höhen und in einer Schlucht angelegt, die Mauern ziehen sich bis ans Meer. Die Festigkeit der Häuser kommt der Zierlich- keit ihrer Formen gleich. Vorwerke schützen sie, so daß der Feind vergebens einen Angriff versuchen würde. Die Wut der kriegerischen Horden würde an diesen Mauern zerschellen. In Bugia steht eine Moschee, deren Pracht alle bekannten Gotteshäuser übertrifft, und deren Minaret sowohl von dem Meere als von dem Land aus gesehen wird. Gleichsam Mittelpunkt der Stadt erfreut dieses entzückend schöne Bauwerk ebensosehr den Blick, wie es die Seele mit einem Gefühle unsäglicher Glückseligkeit erfüllt. Die Einwohner versäumen nie ihren fünf durch das Gesetz vorgeschriebenen Gebeten dort zu genügen, und sie unterhalten die Moschee mit größter Sorgfalt, weil sie ihnen gewissermaßen als Versammlungsort dient, und selbst gleich einem belebten Wesen den Menschen Gesellschaft leistet. Bugia ist ') Einen Auszug aus dem Reisebericht des Al’Abderi hat Cherbonneau in dem Journal Asiatique für 1854, II. Halbjahr, pag. 144—176 herausgegeben. Die Beschreibung von Bugia 8. 158. 808 37. Kapitel. eine der ältesten Hauptstädte des Islams und ist bevölkert mit be- rühmten Gelehrten.“ Wir kehren zum Talchis zurück. Bei Gelegenheit der Addition werden die Summenformeln für die Reihen der Quadrat- und der Kubikzahlen angegeben!). Bei Gelegenheit der Subtraktion kommt der Rest zur Rede, welcher entsteht, wenn von irgend einer Zahl 9, 8 oder 7 so oft als möglich abgezogen wird?). Die Auffindung dieser Reste, welche alsdann als Proben bei Rechnungen angewandt werden, wie wir es von der Neunerprobe schon wissen, beruht bei der 9 auf dem Satze 10”= 1 (mod. 9), bei der 8 auf den drei Sätzen 10!=2, 19? =4, 10°?=0 (mod. 8). Somit ist der Rest einer Zahl nach 9 ihrer Ziffernsumme gleich, der Rest nach 8 der Einerziffer nebst dem Doppelten der Zehnerziffer noch vermehrt durch das Vierfache der Hunderterziffer.. Umständlicher ist das Verfahren den Rest nach 7 zu finden. Ibn Albannä begründet es mit den Sätzen, welche nach moderner Schreibweise 101=3, 1%=2, 1%=6, 10!=4, 1% =5, 10°=1 (mod. 7) heißen und setzt hinzu „von da an beginnt die Reihenfolge aufs neue“. Man hat also von der Rechten zur Linken fortschreitend unter die einzelnen Ziffern der zu prüfenden Zahl der Reihe nach 1, 3, 2, 6, 4, 5 sich stets wiederholend niederzuschreiben, die be- ARE Ziffern mit diesen Werten zu multiplizieren und die Summe: dieser Produkte zu bilden, welche dann selbst wieder nach 7 zu prüfen ist. Die Zahlen 1, 3, 2, 6, 4, 5 besser zu behalten ersetzt man sie durch die gleichwertigen Buchstaben des älteren arabischen Alphabetes, welche durch Einschiebung von Vokalen zu zwei nicht ganz richtig geschriebenen Wörtern sich verbinden lassen, deren Bedeutung etwa die eines ein Aufzubewahrendes bergenden Grabens ist. Bei der Quadratwurzelausziehung unterscheidet Ibn Albannä zwei Fälle?), ob nämlich, nachdem Ya?+rcna gefunden ist, der Rest sich als kleiner beziehungsweise als gleich, oder aber als größer als. der schon Bann Wurzelteil erweist. Isttr «a lieber Ve+tr-atzarı setzen. Wir erinnern daran, daß Alkarchi (S. 766) der letzteren Formeb sich bedient hat, ohne auf das Größenverhältnis zwischen a und r Rücksicht zu Höhen; Die Methode des doppelten falschen Ansatzes. lehrt Ibn Albannä als das Verfahren mit Hilfe der Wagschalen. ” Talkhys pag. 5—6. ?) Ebenda pag. 9. °) Ebenda pag. 53. REEL ER DREH Fehler e, und e, werden auf derselben j Die Mathematik der Westaraber. 809% und sagt, es beruhe auf Geometrie‘). Er zeichnet eine Figur (Fig. 111), welche bei einem Kommentator die etwas abweichende Gestalt Fig. 112 besitzt, und welche die eigentümliche Schreibweise gestattet, auf welche wir (8. 732) zum voraus hingewiesen haben. Seine Vorschrift ist, wenn wir uns unserer früheren Buchstaben bedienen, folgende. Die Zahl b, welche der Gleichung ax = b | zufolge herauskommen muß, schreibt | ge man in die obere Einbiegung. Die Zahlen n, und m, welche die beiden Ansätze für die Unbekannte | ey sind, schreibt man zwischen die Fig. 111. "Parallelen rechts und links, oder, wie Ibn Albannä sagt, man legt sie auf die beiden Wagschalen. Die \ Fig. 112. Seite, wo schon n,, beziehungsweise N, steht, über oder unter die beiden die Wagschale darstellenden Parallelen geschrieben, je nachdem sie positiv oder negativ sind. Dann wird der Fehler rechts mit der Annahme links, die Annahme rechts mit dem Fehler links vervielfacht und beide Produkte addiert, wenn die Fehler von entgegengesetzter Natur waren, das kleinere vom größeren subtrahiert, wenn die Fehler gleichartig waren. Wie man mit den Produkten verfuhr, verfährt man ferner mit den Fehlern, man addiert ungleichartige, man bildet die Differenz von gleichartigen. Man dividiert endlich die aus Fehlern und ‘Annahmen gebildete Zahl durch die aus den Fehlern allein erhaltene, so ist der Quotient die Unbekannte. Der Ausspruch, daß die Methode des doppelten falschen Ansatzes auf Geometrie beruhe, ist einigermaßen auffallend. Man hat versucht, denselben zu erklären und hat zwei sehr voneinander abweichende Auswege ermittelt. Entweder erklärt man die Sache mit der Klangverwandtschaft des Wortes handasa, welches Geometrie heißt, und hindi indisch?); beide hießen ursprünglich „indische Kunst“, wie denn auch in der Tat die Methode des doppelten falschen Ansatzes indischen Ursprunges sei. Oder aber man scheut den gewichtigen Einwurf, daß sodann übrig bleibe die unleugbar vorhandene Bedeutung von Geometrie für handasa zu rechtfertigen, und zwar aus derselben Klangverwandtschaft zu rechtfertigen, während die arabische Geometrie nichts weniger als indischen Ursprunges ist, und man gerät alsdann auf den Versuch, die Methode graphisch, also geometrisch zu ver- ') Talkhys pag. 26—27. 2) Woepcke in dem Journal Asiatique für 1863, I. Halbjahr, pag. 505 fleg. 810 37. Kapitel. sinnlichen‘. Von A aus trage man (Fig. 113) nach P, und nach P, die falschen Annahmen AP, =n, und AP,=n, auf. Ist nun der Sinn der beiden Fehler e, und e, derselbe, so errichtet man P,Q,=e, und P,Q, = & senkrecht zu AP,P, nach derselben Seite; sind e, und e, ungleichartig, so zieht man jene Senkrechten nach entgegengesetzten Seiten der Geraden AP,P,. Jedenfalls verbindet man Q,% geradlinig und bestimmt den A ZZ B Durchschnittspunkt 5 mit der AP, P,. 5 Alsdann ist AB der richtige Wert 0 Es Z der Unbekannten. Das ist gewiß g * ungemein scharfsinnig und im Er- pP 5 ee gebnisse auch richtig, auch in eine 4 2, Formel umgesetzt übereinstimmend Di e mit der gegebenen Vorschrift. Ob g aber in der Figur wirklich eine zwin- Zahn gende Ähnlichkeit mit der von Ibn Albannä gezeichneten Wage zu finden ist, ob, wenn Ibn Albannä oder einem seiner Vorgänger eine solche geometrische Begründung zu eigen gewesen wäre, sie sich nicht bei einem Kommentator hätte erhalten müssen, das sind Fragen, deren erste ebensowenig unbedingt bejaht, wie die zweite unbedingt verneint werden dürfte Wir selbst sehen daher keinen der beiden Auswege als den richtigen und begnügen uns mit dem Eingeständnisse, keine Erklärung für Ibn Albannäs Aus- spruch, das Verfahren mit Hilfe der Wagschalen beruhe auf Geometrie, zu wissen. Es ist kennzeichnend für den Talchis, daß für alle in ihm ent- haltene Regeln keinerlei Zahlenbeispiele gegeben sind, daß vielmehr nur in ganz allgemeinen Worten die Vorschriften ausgesprochen werden, ein wissenschaftlicher Vorzug dieses Werkes, welchen in solcher Ausschließlichkeit kein anderes von denen, welche uns bisher zur Kenntnis gekommen sind, teilt. Um so nötiger aber, wir wieder- holen es jetzt, war für die gleichzeitigen Leser, und noch für Leser späterer Jahrhunderte ein Kommentar zum Talchis oder eine. schein- bar selbständige weitere Ausführung des gleichen Gegenstandes. Zu einer solchen gehen wir jetzt über. Sie ist verfaßt von Alkalasädi?), geboren in Baza, ansässig in-Granada, von wo er aus- wanderte, als die Christengefahr immer drohender herannahte. Fern ') Matthiessen, Grundzüge der antiken und modernen Algebra der lit- teralen Gleichungen S. 924—926. 2?) Woepcke im Journal Asiatique für Ok- tober und November 1854 pag. 358—360. Hädschi Chalfa nennt ihn überall Alkalsäwi. Suter 180—182, Nr. 144. . Die Mathematik der Westaraber. 811 von der Heimat starb er 1486. Ebenderselbe hat auch einen Kom- mentar zum Talchis verfaßt, aus welchem aber nur eine Stelle ver- öffentlicht ist!), auf welche wir uns (S. 712) bezogen haben, um zu beweisen, daß bei Arabern die Erinnerung stets wach blieb, daß die Pythagoräer die Männer der Zahl gewesen seien. Der Titel des Werkes, mit welchem wir es gegenwärtig zu tun haben, ist in ver- schiedenen Angaben bekannt. In der einen Handschrift heißt es „Aufhebung der Schleier der Wissenschaft des Gubär“, in einer anderen „Enthüllung der Geheimnisse der Anwendung der Zeichen des Gubär“, in einem Verzeichnisse von Handschriften „Enthüllung der Geheimnisse der Wissenschaft von den Zeichen des Gubär“, Gubär, ursprünglich Staub, wie wir uns erinnern ($. 712), heißt hier so viel wie Tafelrechnen mit Ziffern im Gegensatze zum Kopfrechnen. Ob dabei die Gubärziffern des Westens oder ob die ostarabischen Ziffern in Anwendung kommen, ist sehr gleichgültig, wenigstens gibt es in der Pariser Bibliothek eine Abschrift des Alkalasädi, in welcher nur ostarabische Ziffern vorkommen, und die gleichwohl das Wort Gubär in ihrem Titel an der Spitze trägt. Das Werk, oder vielmehr der Auszug aus dem Werke von Alkalasädi selbst angefertigt, welchen wir allein besitzen, besteht aus vier Büchern, deren erstes die Arıth- metik der ganzen Zahlen enthält, das zweite die Brüche, das dritte die Wurzeln, das vierte die Auffindung der Unbekannten. Es ist in französischer Übersetzung gedruckt ?). Gleich das erste Buch ist ungemein lehrreich für jeden, welcher sich mit der Form des arabischen Rechnens bekannt machen will, die vielfach von dem heute gebräuchlichen abweicht, z. B. darin, daß die Rechnungsergebnisse bei der Addition, der Subtraktion und der Multiplikation nach oben angeschrieben werden, der neueren Gewohnheit geradezu entgegengesetzt und ein unbefangenes Weiter- schreiben an einem Blatte, wenn der Text durch eine Rechnung unterbrochen wird, verhindernd, weil der Araber vor Beginn der Rechnung erst im Kopfe überschlagen muß, wieviel Raum er etwa gebrauchen werde, wie weit unten auf der Seite also er die Rechnung werde beginnen müssen. Folgende Beispiele dürften nunmehr leicht verstanden werden, wenn wir noch bemerken, daß bei der Addition das Überschießende unter die Ziffer nächsthöheren Ranges ange- schrieben, nicht im Kopf behalten wird, und daß ähnlicherweise bei der Subtraktion ein für den Minuenden zu borgendes 10 dem Sub- ) Woepcke im Journal Asiatique für 1863, I. Halbjahr, pag. 58—62. ”) Woepcke, Traduction du traite d’arithmetique d’Abul Hasan Ali ben Moham- med Alkalsadi in den Atti dell’ Accademia pontifieia de’ Nuovi Lincei 1859, Bd. XII, pag. 230—275 und 399—438. s12 37. Kapitel. trahenden als Einheit der nächsten Ordnung wieder zugesetzt wird) (S. 610). Die Addition 48 + 97 = 145 schreibt sich demnach: 145 48 97 1 Die Subtraktion 725 — 386 = 339 schreibt sıch: 339 725 386 11 Die Subtraktion heißt tarh, einem von taraha = wegwerfen abge- leiteten Stammworte, also gleichen Stammes mit Tara, welches als Verpackung, die bei der Berechnung des Wertes oder des zu ver- zollenden Gewichtes einer Ware usw. nicht mit eingerechnet, sondern abgezogen wird, in Gebrauch geblieben is. Die Multiplikation 73 x 52 =3796 erfolgt „in geneigter Weise“, wenn zunächst 70x50 +3><50 dann unter Weiterrückung des Multiplikators 73 auch 70><2+3><2 gebildet und alles addiert wird. Das Exempel sieht dann so aus: 31796 ee 14 15 35 _| 52 73 73 Es werden noch mancherlei andere Multiplikationsverfahren ge- lehrt. Ohne auf alle eingehen zu wollen, erwähnen wir nur, daß die sogenannte netzförmige Multiplikation als Multiplikation dschadwal vorkommt?) und daß bei einem Verfahren der Stellenzeiger der mit- einander zu vervielfachenden Einzelziffern, ihr ass oder Exponent berücksichtigt wird?). Die komplementäre Multiplikation, welche wir bei Behä Eddin nachweisen konnten, findet sich dagegen bei Alkalasädi nicht. Ebensowenig findet sich bei ihm die komplementäre Division. Die Division ist überhaupt gegen die Multiplikation etwas dürftig behandelt und nur nach der einen uns von früher bekannten Weise *) Additionen vgl. l. c. pag. 233, Subtraktionen pag. 235, Multiplikationen pag. 237. ?*) Alkalasadi pag. 244. °) Ebenda pag. 239. a en Kal a LE rl 6 le ara 1 LEBE Bu Ze a un un 22 Die Mathematik der Westaraber. 813 gelehrt‘), daß der fortrückende Divisor unter, die Teilreste über den Dividend geschrieben werden, der Quotient wieder unter den Divisor, nachdem ein Strich dazwischen gezogen wurde. Das Beispiel 924: 6 — 154 sieht also so aus: 32 924 666 154 Ob man dabei den Divisor auf einmal oder in Faktoren nachein- ander berücksichtigt, ob man also gleich durch 15 dividiert, oder erst durch 5 und dann nochmals durch 3, übt auf das eigentliche Ver- fahren eine Wirkung nicht aus. Aus dem IH. Buche von den Brüchen sind die voneinander abhängigen Brüche besonders bemerkenswert, eine Art von Zahlen- verbindung, welche die neuere Mathematik aufsteigende Kettenbrüche zu nennen pflegt. Auch frühere Schriftsteller haben dieselben Formen, aber Alkalasädi setzt ihre Entstehung durch wiederholte Division mit Hilfe der Faktoren eines Divisors am deutlichsten auseinander?). 253 Soll etwa Pe 9 in eine solche abhängige Bruchform gebracht werden, so zerlegt man zunächst 280 in 5>< 7 8 und dividiert mit 8 in 253. Das geht 31mal und läßt 5 als Rest. Man schreibt den Rest als Zähler, den Divisor 8 als Nenner. In den früheren Quotient 31 wird wiederholt mit 7 dividiert und der Quotient 4 nebst dem Reste 3 er- halten. Dieser neue Rest nebst dem eben gebrauchten Divisor kommen über und unter dem schon gezogenen Bruchstriche rechts, aber durch einen kleinen Zwischenraum getrennt neben die von vorhin vorhan- denen Zahlen zu stehen. Nun dividiert man mit 5 in den Quotient 4, das geht Omal und 4 bleibt Rest, worauf man mit diesem Reste und dem Divisor 5 nach der schon einmal befolgten Regel verfährt. Es ist also 2° —? _°_* oder, wie man gegenwärtig schreibt 280 875 „2 ers Abe 5 « Vermutlich dürfen wir hier, wie bei den Brüchen des Diophant mit gemischtzahligen Zählern (S. 478) eine späte Nachwirkung altägyptı- scher Gewohnheit (8. 71) erkennen. Bruchbrüche?) sind solche RE 3 5 BUS 5/1314 wie — von — — W San — z„ von — von —, dessen Wert „,, ist und welcher | | geschrieben wird. ı) Alkalasadi pag. 249—252. ?) Ebenda pag. 256 De la denomination und pag. 265 F'ractions relative. °) Ebenda pag. 265 Fraction divisee en parties. 814 37. Kapitel. Im III. Buche von den Wurzelausziehungen begegnen wir inter- essanten Näherungsverfahren!). Auch Alkalasädi unterscheidet, ob bei Ausziehung der Quadratwurzel VeR+r der erste Rest r a. Im ersteren Falle setzt auch er wie Ibn Albannä (S. 808) ut r Va +r=4+ Fr. aber im zweiten Falle nicht wie jener —. S ya A sondern Ve +r=a+ Bu Als noch genaueren Näherungswert gibt er, ohne Fälle zu unter- scheiden, Verrat - = (a + 2) an. Alkalasädi weiß auch, daB p+Yg mit p— YVg sich zu einem rationalen Produkte vervielfacht und benutzt diese Kenntnis zur Um- wandlung?) von ee in Mm (» MR Ve) : P+V4 RE Weitaus das Wichtigste in diesem Buche ist aber für uns das Auf- treten eines Wurzelzeichens, insbesondere wenn man es mit den Zeichen des IV. Buches zusammenhält, und an die früher begründete Annahme denkt, daß diese symbolischen Bezeichnungen bis jenseits Ibn Albannä hinaufreichen. Wurzel, insbesondere Quadratwurzel heißt bei den Arabern dschidr (8. 723) und dieses Wort wurde vor den betreffenden Zahlen, aus welchen die Quadratwurzel zu ziehen war, ausgeschrieben. Jetzt tritt statt des ganzen Wortes der Anfangsbuch- stabe dschim desselben auf. Das würde freilich allein eine eigent- liche Zeichenschrift nicht begründen, sondern eine Abkürzung sein können. Aber der Buchstabe > steht nicht vor — d.h. also, da wir es mit arabischen Texten zu tun- haben, zur Rechten — der be- treffenden Zahl, sondern über derselben und durch einen Horizontal- strich von derselben getrennt?). Die Horizontalstriche fehlen auch mitunter, wenn nicht in der Mehrzahl der Fälle, und insbesondere die beiden Beispiele Y204 und 3Y6 entbehren denselben im Origi- nale. Ein die Wurzelgröße allenfalls vervielfachender Zahlenkoeffizient ') Alkalasadi pag. 402—405. ?) Ebenda pag. 413. °) Ebenda pag. 407 bis 414 und Journal Asiatique für Oktober und November 1854, pag. 362—364. Die Mathematik der Westaraber. 815 steht noch über dem Wurzelzeichen. Mit Anwendung unserer Ziffern sieht also ein derartiger Ausdruck so aus: vB-3 vV204-720 3V6=6. Symbole finden sich, sagten wir, noch häufiger im IV. Buche, welches dem Aufsuchen der Unbekannten gewidmet ist Schon bei der Regeldetri!) werden drei ein Dreieckchen bildende Punkte zwischen je zwei Zahlen der Proportion gesetzt und die unbekannte Größe durch ein dschim bezeichnet. Man vermutet, es sei dieses dschim nicht als Anfangsbuchstabe von dschidr gedacht, sondern als Anfangsbuchstabe des Zeitwortes dschahala = nicht kennen, des Stammwortes für madschhül, welches gewöhnlich in dem Sinne „un- bekannte Größe“ gebraucht wird. So ist 7:12 = 84:x geschrieben: > ..84.12..7. In der eigentlichen Algebra kommen folgende Symbole vor?): Die Unbekannte selbst, schai oder dschidr genannt, wird durch ein schin %, das Quadrat der Unbekannten mäl durch ein mim #%, der Kubus der Unbekannten ka‘b durch ein käf $f geschrieben, welche über den zugehörigen Zahlenkoeffizienten stehen. Ein Zeichen der Addition ist nicht vorhanden, unvermittelte Aufeinanderfolge genügt, um die additive Vereinigung der so geschriebenen Glieder zu veranlassen. Die Subtraktion bedient sich des Wortes illä (außer) %, links von welchem der Richtung der Schrift gemäß das Abzuziehende ge- schrieben wird. Das Merkwürdigste endlich ist ein Gleichheitszeichen. Wir erinnern uns, daß in manchen Handschriften des Diophant der Anfangsbuchstabe ı von ioo: gleich hieß (8. 472). Gleichsein heißt auf Arabisch ‘adala, wird aber nicht etwa durch seinen Anfangs- buchstaben, sondern durch ein finales läm J, mit welchem das Wort abschließt, ersetzt, eine Bezeichnung, welche noch mehr als die übrigen das Wesen bloßer Abkürzung abgestreift und das eines Sym- bols angenommen hat. So schreibt also Alkalasädi 32? = 12x + 63 in folgender Weise: rw. a und ng +1:-1 = in folgender Weise: ') Alkalasadi pag. 415. Journal Asiatique 1. c. pag. 364. 2) Ebenda. pag. 420—429. Journal Asiatique 1. c. pag. 365—367. 816 37. Kapitel. ‘endlich den Ausdruck 2x + 82° — (5 + 6x?) durch A IE 65482 In einzelnen Handschriften ist auch das illä (außer) ähnlich wie das “adala (gleich sein) durch eine auffallende Abkürzung, durch die End- silbe lä % ersetzt, wodurch das algebraische Aussehen der Formeln noch erhöht wird. Wir haben schon des Stellenzeigers oder des Exponenten ass erwähnt, der bei Alkalasädi vielfach vorkommt. Er tritt auch bei der Multiplikation von Potenzen der Unbekannten in Gebrauch, und zwar immer in der Einzahl des Wortes, nicht in der Mehrzahl isäs. Es heißt also nicht „der ka’b hat 3 isäs“, sondern „der ass des kä’b ist 3“ und ähnlich auch bei höheren Potenzen. Einer nicht genau bestimmbaren Zeit gehört noch ein kleines Rechenbuch an, dessen Übersetzung ebenfalls veröffentlicht ist‘). Jedenfalls ist es später als die Lebenszeit des darin zitierten?) Ibn Albannä entstanden, und vor Ende des XVI. S., da die Handschrift, aus welcher es übersetzt ist, am 26. Januar 1573 vollendet wurde). Das Schriftehen heißt Einleitung zum Staub- (gubäri) und Luft- (hawä’i) Rechnen. Letzterer Ausdruck ist uns früher (8. 793) schon begegnet und als Kopfrechnen im Gegensatze zum Zifferrechnen ver- standen worden, wenn auch sonderliche Kopfrechnungsmethoden nicht beschrieben werden. Abgesehen von der sehr geringfügigen Abände- rung, daß bei der Addition wie bei der Multiplikation nicht nur ein Horizontalstrich über den untereinandergestellten Zahlen sich findet, sondern auch ein zweiter Horizontalstrich unter jenen Zahlen, während das Rechnungsergebnis doch wieder oben hingeschrieben wird, ist nur eine kleine Neuerung bei der Subtraktion zu bemerken®). Soll nämlich eine Ziffer höheren Wertes g im Subtrahenden von der im Range ent- sprechenden Ziffer niedrigeren Wertes k im Minuenden abgezogen werden, wo man also 10 borgen muß, so sei es gleichgültig, ob man g von 10 + k abziehe, oder aber % von g und den Rest von 10. Mit anderen Worten der Verfasser weiß, daß (10 +M)—-g=10 —(g—k). Fassen wir wieder in Kürze zusammen, was wir von westarabi- scher Mathematik kennen gelernt haben, so ist ein Unterschied gegen die ostarabische Mathematik namentlich in dreifacher Beziehung wahr- nehmbar. Sie ist erstens einseitiger. Sie hat zweitens erst in späterer ') Introduction au caleul gobäri et hawäi traduit par F. Woepcke. Atti dell’ Accademia pontificia de’ Nuovi Lincei (1866) XIX. 2) pag. 5 des Sonder- abzugs. °) pag. 18 des Sonderabzugs. ‘) pag. 3 des Sonderabzugs. Die Mathematik der Westaraber. 817 Zeit Schriftstücke geliefert, welche auf uns gekommen sind. Sie wurde drittens mindestens seit dem XII. S. dem christlichen Europa durch in Spanien angefertigte Übersetzungen bekannt. Ihre einseitige arithmetisch-algebraische Entwicklung, welche hauptsächlich unser Augenmerk fesselte, ließ sie auf diesem Gebiete Fortschritte machen, von welchen bei den Östarabern nichts zu bemerken ist. Es bildete sich allmählich eine förmliche algebraische Schreibweise aus, welche auch den Übersetzungen in die lateinische Sprache sich mitteilte, und welche somit den Europäern gestattete, schon im XII. S. die Lehre von den Gleichungen in größerer Vollkommenheit kennen zu lernen, als wenn sie deren Entwicklung einzig im Oriente bei dem durch die Kreuzzüge hervorgerufenen Zusammentreffen mit arabischer Kultur verfolgt hätten. Was die Rechenkunst, den elementareren aber weitest verbreiteten Teil der Mathematik betrifft, so sehen wir, wie sie im Westen immerhin einige äußere Verschiedenheiten von Zeit zu Zeit sich aneignete, wie wahrscheinlich durch italienische Kaufleute Elemente nichtarabischer Methoden, Spuren des Kolumnen- rechnens oder mit anderen Worten eines gezeichneten Abacus, sich eingemischt zu haben scheinen, Spuren, welche wir aber freilich erst vom XI. S. an bemerken konnten. Eines nur finden wir in keiner Weise, und dieses negative Ergebnis ist zu wichtig, um nicht fort und fort darauf aufmerksam zu machen: wir finden kein komple- mentäres Rechnen, nicht die komplementäre Division, nicht einmal die komplementäre Multiplikation, während doch gerade die Multipli- kation emsig gepflegt und nach verschiedenartigeren Verfahrungsweisen gelehrt wurde, als sie es eigentlich verdient. “ »CAnToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 52 VIII. Klostergelehrsamkeit des Mittelalters. ae , Ka) rg 10 EI a era 38. Kapitel. Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. Wir müssen den Faden wieder anknüpfen da, wo wir ihn abge- brochen haben, um aus Europa hinüberzuschweifen nach dem Osten und die Summe zu ziehen aus dem, was asiatische Völkerschaften im Laufe der Jahrhunderte aus dem mathematischen Wissen zu machen wußten, von welchem ihnen, wie wir in verschiedenen Kapiteln nach- zuweisen gesucht haben, wenigstens was die geometrischen Teile und nicht unwesentliche Bruchstücke der algebraischen Teile be- trifft, mancherlei von Griechenland aus überkam. Die Araber, das haben wir insbesondere gesehen, mit ihrer frischen Wüstenkraft, sie, die sich, zum Unheile ihres Reiches, zum Heile für die Wissenschaft, in den verschiedensten Zeiträumen mit nicht minder empfänglichen, nicht minder geistig unverbrauchten Elementen vermischten und ihnen sich unterwerfen mußten, waren die treuesten Erben. Sie haben das ihnen anvertraute Gut nicht nur zu bewahren, auch zu vermehren gewußt. Wohin die Araber, solange ihr Reich im Wachsen begriffen war, der Eroberungspfad führte, dahin nahmen sie ihre Wissenschaft mit, Krieger und Lehrer zugleich. Wo die Araber sich eindringenden Herrschern beugten, gaben sie diesen als ersten Tribut ihre Bildung. Wo die Araber aber nicht unterjocht, sondern verdrängt wurden, da nahmen sie auf der Flucht ihre Kennt- nisse wieder mit fort, welche rasch sich anzueignen die Sieger noch nicht fähig waren. Das deutlichste Beispiel zeigt uns Spanien, wo mathematische Wissenschaft verkümmerte, nachdem die letzten Araber vom spanischen Boden verdrängt waren. Jenen mittelasiatischen Steppenvölkern, die dem Dschingizchän und Tamerlan gehorchten, fehlte es an Bildungsfähigkeit keineswegs, und die Möglichkeit war einmal vorhanden, daß Stamm- oder Sitten- verwandte derselben verhältnismäßig frühe in Griechenland selbst mit altgriechischer Bildung bekannt geworden wären. Eine andere Mög- lichkeit war die, daß der fränkische Stamm von griechisch-arabischer Bildung durchdrungen worden wäre. Beide Möglichkeiten haben sich nicht erfüllt. Theodosius der Große wehrte am Schlusse des IV. 8. 822 38. Kapitel. den Strom der Völkerwanderung von den Balkanländern ab, so daß er erst bei der apenninischen Halbinsel den westlichen Lauf in einen südlichen verwandeln konnte. Die Scharen Attilas, Dschingizchäns Mongolen am nächsten verwandt, blieben gleichfalls nördlich in ihrer Überflutung Europas, die im V. S. kurz aber gefahrdrohend sich ergoß. Und als 732 ein westarabisches Heer die Pyrenäen überschritten hatte und eine Schlacht darüber zu entscheiden hatte, ob Christentum ob Islam siegen sollte, da gelang es Karl Martel bei Poitiers seine Fahnen aufrecht zu erhalten. Wir haben keineswegs die zwecklose Absicht, Vermutungs- geschichte zu schreiben und darüber in Ausführungen uns zu er- gehen, welche Wendung die Entwicklung der Wissenschaften, in erster Linie der Mathematik, genommen hätte, wenn nur eines jener Ereignisse anders ausgefallen wäre, genug, es war so, wie wir sagten. Griechischer Einfluß, unmittelbarer wie durch Araber vermittelter, blieb den in Europa außerhalb Griechenland und Italien angesiedelten Stämmen fremd, wenn wir von Spanien absehen, dessen Ausnahme- stellung wir oben einige Worte gewidmet haben. Nur was durch römische Zwischenträger eingeführt werden konnte, kam der nordi- schen Mathematik, um uns dieses wenn auch im einzelnen nicht immer zutreffenden Sammelnamens zu bedienen, zugut. Wir wissen aus den Kapiteln, in welchen wir mit den Römern uns besonders be- schäftigten, wie blutwenig das war, wenn auch immerhin mehr, als man lange Zeit meinte. Wir müssen jetzt verfolgen, wie jenes Wenige in fast noch absteigender Reihenfolge da und dort zu erkennen ist, bis seit den Kreuzzügen, also seit dem XH. S., die europäische Wiß- begier sich hungrig abwandte von den stets leereren Säcken römisch- klösterlicher Speisekammern, um an den vollen Speichern arabischer Gelehrten sich so zu sättigen, daß die Überladung merklich wird, daß nicht alles verdaut werden konnte. Vorläufig befinden wir uns noch in der Zeit, welche an unseren römischen Abschnitt sich anschließt, am Ende des VI. S. Damals wurde 570 in Carthagena Isidorus geboren!). Seine Mutter war die Tochter eines gotischen Königs, eine seiner Schwestern soll den Thron des Königs Levigild geteilt haben. Seine übrigen Geschwister waren sämtlich hohe kirchliche Würdenträger. Bei solchen Ver- bindungen kann es nicht Wunder nehmen, daß Isidorus schon nach kaum zurückgelegtem 30. Lebensjahre im Jahre 601 Bischof von Sevilla wurde, eine Stellung, die er bis zu seinem Tode 636 bekleidete. Aber Isidorus Hispalensis, wie er von seinem Wohnsitze heißt, recht- ‘) Math. Beitr. Kulturl. S. 277—279. Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 823 ° fertigte nachträglich die Wahl, die ihn getroffen hatte. Seine Bered- samkeit machte, um das Wort eines Schülers über ihn zu gebrauchen, seine Zuhörer erstarren. Beinamen wie „Zierde der katholischen Kirche“, wie „der hervorragende Gelehrte“ wurden ihm beigelegt, und zweimal 619 und 633 wurde ihm die Ehre zuteil, bei einem Konzil den Vorsitz zu führen. Seine Schriften waren zahlreich, doch haben wir es nur mit einem Werke zu tun, einer Art von Enzyklo- pädie in 20 Büchern, welche er verfaßte, und in welcher er sich wenn .nicht der Form so doch dem Inhalte nach streng an die schon vorhandenen römischen Enzyklopädien eines Martianus Öapella, eines Cassiodorius Senator anschloß, welche er von nun an ersetzte, fast verdrängte. Die Ursprünge, Origines, oder auch die Etymologien ist der Titel des Werkes. Isidorus liebt es nämlich, die Erklärung des Sinnes eines Ausdruckes aus dessen sprachlichem Ursprunge zu entnehmen, und so bilden Wortableitungen einen großen Teil des umfassenden Werkes. Gleich zu Anfang ist die Wissenschaft als aus 7 Teilen bestehend angegeben. Es sind dieselben Teile, dieselbe Reihenfolge, welche wir bereits kennen. Es ist das Trivium: Grammatik, Rhe- torik, Dialektik und das Quadrivium der mathematischen Wissen- schaften: Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie. Die Kapitel 21 bis 24 des I. Buches handeln von den Abkürzungszeichen der Alten, doch würde man fehl gehen, wenn man hier die Apices suchen wollte. Sie sind ebensowenig behandelt wie gewisse musikalische Zeichen, deren die Römer sich doch unzweifelhaft bedienten. Nur im: XV, Buche, Kapitel 15 und 16 von den Ackermaßen und von den Reisemärschen und im XVI. Buche, Kapitel 24, 25, 26 von den Gewichten, von den Maßen, von den Zeichen der Gewichte!) finden sich Maßvergleichungen und in dem letztgenannten Zeichen von Gewichtsteilen. Es sind das dieselben von den altrömischen sich unterscheidenden Namen und Zeichen, deren auch Vietorius sich. be- dient hatte (S. 531), die auf dem Abaeus in der gefälschten Geo- metrie des Boethius vorkommen, dem man also um dieser besonderen Zeichen wegen nicht ein späteres Datum als die Lebenszeit des Isi- dorus zuschreiben müßte”), sondern nur als die des Vietorius, eine Notwendigkeit, welche durch die Lebenszeit des Boethius selbst reichlich erfüllt wäre. Jene vorerwähnten Kapitel des I. Buches der Origines enthalten dagegen Erklärungen von mancherlei grammati- ') Diese 5 Kapitel sind abgedruckt bei Hultsch, Metrologieorum Seripto- rum Reliquiae II, 106-123. Auf pag. 114 lin. 6—12 findet sich eine Ableitung von siclus aus dem hebräischen sicel. °) Friedlein, Zahlzeichen und elemen- tares Rechnen usw. S. 59. 824 38. Kapitel. schen Zeichen, von Sternchen, von besonderen Anführungszeichen für biblische Stellen und dergleichen mehr. Das Ill. Buch handelt von den vier mathematischen Wissenschaften, unter welchen, wie Isidorus sagt, die weltlichen Schriftsteller alle mit Recht die Arithmetik vor- angestellt haben; denn sie bedürfe zu ihrer Darlegung keiner ander- weitigen Vorkenntnisse, wie es bei der Musik, der Geometrie, der Astronomie der Fall sei. Diesem Beispiele folgend schiekt auch Isi- dorus die Arithmetik voraus, deren Ursprung und Übergang zu den Römern er in den vielfach angeführten Worten schildert: „Man hält dafür, daß Pythagoras bei den Griechen die Wissenschaft der Zahl zuerst aufgeschrieben habe, daß sie alsdann von Nikomachus weit- läufiger behandelt wurde; den Römern wurde sie durch Appuleius und Boethius bekannt.“ Im 3. Kapitel erklärt Isidorus die lateinischen Zahlennamen in einer Weise, welche dem Leser mitunter als Spott erscheinen müßte, könnte man nicht die feste Überzeugung von dem ernstesten wissenschaftlichen Streben des Isidorus haben. Da soll decem, zehn, von dem griechischen dsousvswv, zusammenbinden, her- kommen, weil die Zehn alle niedrigeren Zahlen erst vereinige Da stammt centum, hundert, von x«vdds, das Rad, warum, wird nicht gesagt. Da wird mille, tausend, aus multitudo, die Menge, erklärt. Glücklicherweise wird der undankbare Gegenstand bald wieder ver- lassen, und die folgenden Kapitel bringen die bekannten Unterschei- dungen der Zahlen in gerade und ungerade, in vollkommene und überschießende, in nach gegebenen Verhältnissen proportionale, in lineäre Zahlen, Flächenzahlen und Körperzahlen usw. Die Zahl hat für Isidorus eine solche Würde, daß er einem anderen kirchlichen Schriftsteller folgend in die Worte ausbricht!), welche von ihm aus sich durch die verschiedensten Schriftsteller weiter vererbt haben: „Nimm die Zahl aus allen Dingen weg, und alles geht zugrunde. Raube dem Jahrhundert die Rechnung und die Gesamtheit wird von blinder Unwissenheit ergriffen, und nicht kann von den übrigen Tieren unterschieden werden, wer die Verfahren des Kalkuls nicht kennt“ Wir haben hier computus mit Rechnung übersetzt. Sollte es nötig sein zu beweisen, daß das Wort diese allgemeine Bedeutung besitzt, so könnten wir auf den Astrologen Julius Firmicus Ma- ternus verweisen, wenn er sagt: Siehst Du, wie die welche die ersten Rechnungsverfahren (computos) lernen in langsamer Bewegung ihre Finger biegen?)? ') Origines Lib. III, cap. 4, $4: Tolle numerum rebus ommibus et omnia pereumt. Adime seculo computum et cuncta ignorantia caeca complectitur, nee differri potest a ceteris animalibus qwi caleuli nescit rationem. 2) Firmicus Maternus, Mathesis Liber I, cap. V, $ 14 (ed. Sittl, Leipzig 1894, pag. 13 8 Ü er a Ba & % Ru we de R Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 825 Aber wie hat man denn gerechnet? wird im stillen jeder Leser fragen. Darüber gibt Isidorus keinerlei Auskunft. Nur an einer Stelle sagt er uns, wie uns scheint, wie zu seiner Zeit nicht mehr gerechnet wurde. Im X. Buche, welches nicht weiter in Kapitel ab- geteilt bestimmt ist, Wörter zu erklären, welche selbst in ziemlich alphabetischer Ordnung aufeinander folgen, heißt es in der 43. Nummer unter caleulator: a caleulis i. e. lapillis minutis, quos antiquwi in manu tenentes componebant numerum, also Rechnen von Rechenpfennigen d. h. kleinen Steinehen, welehe die Alten in der Hand zu halten und die Zahlen daraus zusammenzulegen pflegten. Was in dem III. Buche von Geometrie, Musik und Astronomie vorkommt, ist noch dürftiger als das Arithmetische, auch in dieser Beziehung an die Vorgänger des Isidorus erinnernd. Die große Menge, auch der berühmten Gelehrten, wußte von diesen Teilen der Mathematik wenig mehr als einige Wort- und Sacherklärungen und mußte es dabei bewenden lassen. Auch Isidorus macht hierin keinerlei Ausnahme. Das war, wie wir schon gesagt haben, das Werk, welches für lange Zeit die eine Hauptquelle des Wissens bildete, aus welcher die Nachkommen schöpften, während die Werke des Martianus Capella, des Cassiodorius Senator in den Hintergrund traten und nur Maecro- bius und Boethius einer Gunst sich erfreuten, welche dem einen für seine größere Selbständigkeit, dem anderen für seine größere Aus- führliehkeit in der Tat gebührte. | Mehr vielleicht als durch seine Schriften machte sich Isidorus durch seine Fürsorge für den Unterricht verdient. Die Regel des heiligen Benedikt von Nursia hatte die Aufnahme von Kindern als Klosterzöglingen vorgesehen und Klosterschulen zum Bedürfnisse ge- macht. Isidorus stiftete seit seiner Erhebung zum Bischofe gleich- falls eine Art von Schule, in welcher die notwendigsten Lehrgegen- stände eingeübt wurden. Etwa ein Jahrhundert nach der Geburt von Isidorus von Sevilla erblickte der Mann das Licht der Welt, zu welchem wir uns jetzt zu wenden haben, und der uns nach dem fernsten Norden von Europa führen wird: Beda, genannt der Ehrwürdige, venerabilis!). Die Ge- lin. 30—31) Vides ut primos discentes computos digitos tarda agitatione deflectant? Die Mathesis ist, wie Mommsen (Hermes XXIX, 468-472. Berlin 1894) ge- zeigt hat, zwischen dem 30. Dezember 335 und dem 22. Mai 337 verfaßt. ‘) Karl Werner, Beda der Ehrwürdige und seine Zeit. Wien 1875. Vgl. daneben auch die Vorreden von Giles zu dem I. und VI. Bande seiner Ausgabe von Bedas Werken: Venerabilis Bedae opera quae supersunt omnia. London 1843. 12 Bände 8°. 826 38. Kapitel. schichte dieses Mannes und seiner folgereichen Leistungen ist so un- trennbar mit der Geschichte der Bekehrung der britischen Inseln ver- bunden, daß wir notwendig etwas weiter ausholen und bei dieser einen Augenblick verweilen müssen. Irland war schon in der ersten Hälfte des V. S. von Gallien aus bekehrt worden. Klöster entstanden dort, in welchen, getreu den Überlieferungen des heiligen Benedikt und des Cassiodorius (S. 569), geistliche und weltliche Schriftsteller, lateinische sowohl als grie- chische, zum Gegenstande des Studiums gemacht wurden. Dazu ge- hörte besonders das Kloster Bangor, von welchem in der zweiten Hälfte des VI. S. der heilige Kolumban auszog, neue Klöster an ver- schiedenen Orten gründend, so das Kloster Luxeuil in Burgund, so Bobbio in Oberitalien, wo er selbst 615 starb. Andere irische Mönche zogen dieselbe Heerstraße des Glaubens durch Jahrhunderte hindurch. Die Klöster, welche von Kolumban, von seinen Landsleuten Gallus, Pirmin und anderen in Deutschland, in der Schweiz, in Norditalien eingerichtet worden waren, erhielten so immer frischen Zuzug, und in zierlichen irischen Buchstaben entstanden an den verschiedensten Orten saubere Abschriften des gemischtesten Inhaltes. Die Klöster irischen Ursprungs wetteiferten so in ihren bildungsfreundlichen Be- strebungen mit denen der Benediktiner, da und dort mit ihnen ver- schmolzen. Gleichfalls von Irland aus ging ein früher Zug von Missionären hinüber nach der nahe gelegenen größeren Insel, nach Schottland und England. Allerdings war ihr Wirken dort nicht von nachhaltigem Erfolge. Nachdem am Anfange des V. S. bereits Ninian im südlichen Schottland das Christentum verbreitet hatte, wurde es nach der erobernden Einwanderung der Angeln und Sachsen um 450 teils wieder vernichtet, teils in die Gebirge zurückgedrängt. Unter Papst Gregor dem Großen begann von Rom aus 596 der wiederholte Ver- such, jene Lande zu bekehren, und bald war Canterbury der Sitz eines Erzbischofs, und der König von Kent nahm den neuen Glauben an. So gab es auf der britischen Hauptinsel zwei Kirchen, die ältere und die jüngere, örtlich voneinander getrennt, in Gewohnheiten und Einrichtungen mehrfach voneinander abweichend, namentlich in einem Punkte, der von Wichtigkeit wurde, so geringfügig der Streit- punkt an sich uns erscheinen mag. Die südliche, römische Festordnung verlangte, daß die-Feier des . Österfestes als des Festes der Auferstehung frühestens am Abend des 14. Nisan, spätestens am Abend des 20. Nisan jüdischer Rechnung beginne. Die nordische, britische Ordnung wollte das Fest zwischen um einen Tag früher gelegenen äußersten Grenzen feiern. Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 827 Es kam im Jahre 664 zu einer Öffentlichen Disputation über diesen Gegenstand unter dem Vorsitze Königs Oswin, und dieser ent- schied zugunsten der römischen Auffassung. Es läßt sich denken, daß solche Vorgänge ein reges Interesse für den Gegenstand erwecken mußten, über den man öffentlich gestritten hatte, ein Interesse, das in letzter Linie dem Rechner und seiner Kunst zugute kommen mußte. Der nun geeinigten Kirche festeren Zusammenhalt zu geben schickte Papst Vitalian, nachdem der Bischofssitz in Canterbury 669 erledigt war, zwei neue hochbegabte Männer, Theodor als Bischof, Hadrian als seinen Ratgeber. Theodors persönliche wissenschaftliche Neigungen begegneten sich mit dem eben hervorgehobenen Interesse, sei es, daß wir darin eine Gunst des Zufalles zu erblicken haben, sei es, daß bei seiner Wahl Rücksicht darauf genommen worden war. Er achtete streng darauf, daß für den ihm untergebenen angel- sächsischen Klerus neben der heiligen Schrift und den mit dem Stu- dium derselben zusammenhängenden sachlichen und sprachlichen Unter- weisungen auch Metrik, Astronomie und kirchliche Festrechnung Gegenstände des klösterlichen Unterrichts wurden. Sprachstudien waren nicht weniger gefördert. Es gab zu Bedas Zeiten, also wenige Jahrzehnte nach Theodors um 690 erfolgtem Tode, Männer in Eng- land, welche des Griechischen und Lateinischen eben so gut wie ihrer. eigenen Muttersprache kundig waren. Leider waren die grie- chischen Werke, welche sie lasen, nicht solche, wie wir sie zum Besten der mathematischen Wissenschaften wünschen müßten. Wie wir früher gesagt haben, alles, auch das Griechische, kam von Rom, und griechische Mathematik war in Originalwerken darunter offenbar gar nicht vertreten. Es war schon verhältnismäßig sehr viel, daß überhaupt eine gewisse Neigung zur Erledigung kirchlich- mathematischer Fragen anders als auf von auswärts eingetroffene Anordnung hin in den damals an der schottisch-englischen Grenze gegründeten Klöstern großgezogen wurde, eine Neigung, die von da aus, wie wir sehen werden, durch Schüler jener Klöster über Frank- reich und Deutschland sich: fortsetzte, während in den älteren irischen Klöstern z. B. an solche Fragen kaum gedacht wurde. Um jene Zeit 674 und 682 war es, daß durch Biscop, einen edeln Than, der als Mönch und Abt den Namen Benedikt erhielt, dicht an der Grenze Schottlands, wo Tyne und Were unweit von- einander in das Meer sich ergießen, zwei Klöster erbaut und St. Peter und Paul geweiht wurden. Der Einrichtung der Klöster war durch Biscop, der vielfach Reisen nach Rom machte und stets neue Bücherschätze, Reliquien, Gemälde zur Ausschmückung der Kirche von dort mitbrachte, die Regel des Benediktinerordens zugrunde ge- 828 38. Kapitel. legt. In dieser Gegend ist Beda 672 geboren, in diesen Klöstern wurde er erzogen, hier verbrachte er den Verlauf seines ganzen Lebens in ruhiger Emsigkeit, hier starb er am 26. Mai 735, am Feste Christi Himmelfahrt. Beda hat als ein Hauptwerk eine Kirchengeschichte hinterlassen, welche bis zum Jahre 731 hinabreicht, und an deren Ende er das Verzeichnis derjenigen Schriften gibt, welche er bis dahin — bis zu seinem 59. Lebensjahre, wie er sagt — verfaßt hat. Dadurch ist einer- seits die Zeit seiner Geburt genau bestimmbar geworden!), anderer- seits auch möglich geworden, viele ihm früher wohl beigelegte und unter seine Werke aufgenommene Schriften als unecht wieder zu ent- fernen, da er unmöglich neben den Pflichten eines Messepriesters, die er zu erfüllen hatte, neben dem Unterrichte der zahlreichen Schüler, welche er heranbildete, in den vier Jahren, um welche er nur die Anfertigung jenes Verzeichnisses überlebte, vieles schriftstellerisch geleistet haben kann. Zwei Werke sind in dem Verzeichnisse als von Beda herrührend anerkannt, die in einem gewissen geistigen Zu- sammenhange stehen. Das eine, eine physische Weltbeschreibung, führt den Namen De natura rerum, über die Natur der Dinge. Es ist nach Plinius bearbeitet, wie Beda selbst an einzelnen Stellen er- klärt. An die Weltkunde schließt sich sodann die Zeitkunde an, der die Abhandlung De temporibus, über die Zeiten, gewidmet ist. Diese Schrift gibt im 14. Kapitel selbst ihr Datum an, sie ist 703 verfaßt. Eine ausführlichere Bearbeitung führt den Titel: De temporum ratione, über Zeitrechnung. Sie ist mindestens 14 Jahre später als die kürzere Fassung vollendet, da sie dem Abte Huaetberct zugeeignet ist, welcher erst 716 in diese Stellung eintrat. In der Vorrede beruft sich Beda ausdrücklich auf die beiden genannten Schriften von der Natur der Dinge und von den Zeiten. Sie seien nach dem Urteile derjenigen, welche sie zu benutzen Gelegenheit hatten, allzugedrängter Schreibweise gewesen, als daß sie den Nutzen hätten stiften können, den er beabsichtigte. Namentlich die Osterrechnung scheine einer weitläufigeren Auseinandersetzung zu bedürfen, und so habe er sich denn entschlossen, ein derartiges Lehrbuch der Zeitrechnung seinen Schülern zu übergeben. Als Quellen, welche Beda dabei benutzte, hat man Macrobius und Isidorus nachweisen können?). Für anderes sind uns seine Quellen unbekannt, wo er der älteste Schriftsteller ist, von welchem eine ausführlichere Darstellung des Gegenstandes sich erhalten hat. Wir meinen damit gleich das 1. Kapitel der Zeitrech- ') Werner, Beda $. 81. ?) Ebenda S. 122 und 125. N N Ei Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 829 nung, von welchem wir schon (S. 527) ankündigend gesprochen haben. Es galt sonst auch wohl für eine selbständige Abhandlung unter dem Titel „Über die Fingerrechnung“, bis es auf Grund einiger Hand- schriften des britischen Museums an diesen seinen rechtmäßigen Platz gebracht wurde. Das gleiche Schicksal teilte das 4. Kapitel, welches für eine Abhandlung „Über die Rechnung mit Unzen“ galt!). Das erste Kapitel beziehungsweise die ganze Schrift über Zeitrechnung leitet Beda mit den Worten ein: „Wir hielten es für nötig, erst in Kürze die überaus nützliche und stets bereite Geschicklichkeit der Fingerbeugungen zu zeigen, um dadurch eine möglich größte Leichtig- keit des Rechnens zu geben; dann, wenn der Geist des Lesers vor- bereitet ist, wollen wir zur Untersuchung und Aufhellung der Reihe der Zeiten mittels Rechnung kommen.“ Und einige Seiten später heißt es: „Bezüglich der oben bemerkten Rechnung kann auch eine gewisse Fingersprache gebildet werden teils zur Übung des Geistes, teils als Spielerei“ Man’ sieht hier einen scharfen Gegensatz?). Die Fingersprache ist, wenn auch Geistesübung mit ihr verbunden ist, nicht mehr und nicht weniger wie Spielerei. Das Fingerrechnen ist eine Notwendigkeit. Man hat gewiß mit Recht mehrfach aus diesen Stellen gefolgert, daß zu Bedas Zeiten ein Fingerrechnen, man würde wohl besser sagen ein Kopfrechnen mit Unterstützung durch die zur besseren Erinnerung an die allmählich sich ergebenden und im Gedächt- nisse festzuhaltenden Zahlen vorgenommenen Fingerbeugungen, all- gemein in Übung war. Beda lehrt in ausführlicherer Darstellung, wie man von der linken Hand beginnend und zur Rechten fort- schreitend die einzelnen Zahlen darstellen solle. Er lehrt es im großen und ganzen in Übereinstimmung mit Nikolaus von Smyrna (5. 514—515), in Einzelheiten von ihm abweichend, so daß eine un- mittelbare Abhängigkeit dieses letzteren Schriftstellers von Beda, an und für sich nicht recht wahrscheinlich, nur um so weniger anzunehmen sein dürfte?). Allein wenn nun der Schüler so vorbereitet ist, wenn er seinem Gedächtnisse überall, wo er geht und steht, mit den Fingern zu Hilfe kommen kann — denn das ist ja die Bedeutung der solertia promptissima, der stets bereiten Geschicklichkeit — wie ver- fuhr man dann eigentlich? Wir sind nicht imstande, aus Bedas Schriften diese gewiß ) Beda (ed. Giles) VI, 139—342 das Werk De temporum ratione. Dessen Caput 1. De computo vel loquela digitorum pag. 141—144 und Caput 4. De ratione unciarum pag. 147—149. ?) Stoy, Zur Geschichte des Rechenunter- richtes I, 38 (Jena 1878) hat wohl zuerst durch Nebeneinanderstellung der beiden Ausdrücke darauf aufmerksam gemacht. ®) Auch diese Bemerkung hat Stoy l. c. 8. 36—37 gemacht. 830 38. Kapitel. wichtigste Frage zu beantworten. Beda sagt nicht eine Silbe über die Rechnungsverfahren selbst. Nur zweierlei können wir als Schluß- folgerung ziehen. Erstens, daß Beda bei seinem Schweigen nur an die verhältnismäßig sehr einfachen Rechnungen (hauptsächlich Addi- tionen, Subtraktionen, Multiplikationen und Divisionen durch 4) dachte, welche bei der kirchlichen Zeit- und Festrechnung vorkamen, und welche in der Tat leicht im Kopfe auszuführen waren. Zweitens können wir ihm unmittelbar entnehmen, daß es eine weitverbreitete Sitte war, die er schilderte. Er sagt nämlich, der heilige Hieronymus müsse schon das Verfahren des Fingerrechnens gekannt haben, da gewisse Anspielungen desselben nicht anders zu verstehen seien. Beda hat demgemäß bei Hieronymus das Fingerrechnen wieder- erkannt, mit welchem er vertraut war und seine Schüler vertraut zu machen beabsichtigte. Eine Quelle muß also vor dem Tode des Hieronymus d. h. vor 420 vorhanden und wahrscheinlich in latei- nischer Sprache vorhanden gewesen sein. Eine anderer Frage ist die, ob die Lehren sich an eine geschriebene Quelle anknüpften. Uns scheint es fast natürlicher, an eine durch Jahrhunderte sich fort- setzende mündliche Überlieferung der Fingerbeugungen zu glauben, wie das Rechnen unter Anwendung der Finger sich unzweifelhaft nur durch mündliche Lehre fortpflanzte. Diese unsere letztere Behauptung ist in der Natur der Dinge begründet, hat aber außerdem eine wesentliche Unterstützung in der Tatsache, daß wie Beda und Nikolaus von Smyrna so auch jener Araber, der in Versen die Fingerstellungen lehrte (8. 710), über das wirkliche Rechnen keine Silbe verliert. Ist diese Lücke schon für das Rechnen mit ganzen Zahlen vor- handen, so kann man zum voraus versichert sein, daß ein umfassendes Bruchrechnen erst recht nicht gelehrt wird. In der Tat findet sich in dem 4. Kapitel über die Rechnung mit Unzen kaum mehr als die Einteilung des aus 12 Unzen bestehenden Asses und der Unze selbst, ein Beleg, wenn ein solcher verlangt würde, für den unmittelbar römischen Ursprung des Ganzen. Beda bemerkt, der Begriff als Ge- wicht habe den Ausgangspunkt gebildet, dann aber sei abgeleitet davon nur der Begriff des Ganzen und seiner Teile übrig geblieben. Wenn man von einem Ganzen sein Sechstel wegnehme, so nenne man den Rest dextans usw. Auch die Zeichen für die Brüche fehlen nicht. Solche waren, wie wir wiederholt zu bemerken hatten, seit Jahr- hunderten in Gebrauch. Es hat wohl die Bedeutung des einen oder des anderen Bruchnamens sich verändert; es haben neue Namen sich eingeschoben; die Zeichen haben sich abgerundet, sind neuen Namen entsprechend neu hinzugetreten, aber begrifflich Neues tritt uns nicht entgegen. 1ER ae ee Euch) Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 831 Die Osterrechnung, der eigentliche Mittelpunkt der Zeitrechnung, gründet sich bei Beda wie bei Cassiodorius, wie bei anderen (8. 573) auf die 19jährige Wiederkehr des Zusammenfallens von Sonnen- und Mondzeiten und stellt, wie wir oben andeuteten, an die Rechenkunst des Schülers, der nur diese Aufgabe zu lösen beabsichtigte, keine übermäßige Anforderung, so daß die Erfüllung der auf einem Aus- spruche des heiligen Augustinus beruhenden Vorschrift‘), es müsse in jedem Mönchs- und Nonnenkloster wenigstens eine Person vorhanden sein, welche es verstehe, die Ordnung der kirchlichen Feste und damit den Kalender für das laufende Jahr festzustellen, nicht gerade schwer war. Dasselbe Jahr 755, in welchem Beda starb, war das Geburtsjahr Aleuins?). Er war ein vornehmer Angelsachse und hieß mit heimatlichem Namen Alh-win, d. h. Freund des Tempels, woraus eben Alceuin entstanden ist. Fast noch häufiger nannte er sich selbst Albinus. Sein Lehrer war Egbert von York, ein naher Freund Bedas, wie aus einem vertrauten Briefe Bedas an ihn über kirchliche Verhältnisse hervorgeht. Egbert legte an der mit einer reichen Bi- bliothek ausgestatteten Schule seines Bischofssitzes das neue Testa- ment aus, die übrigen Fächer waren seinem Verwandten Aelbehrt anvertraut, zu welchem Alcuin in enge Beziehungen trat. Er be- gleitete ihn noch als Jüngling auf einer wissenschaftlichen Reise nach Rom, dem Hauptmarkte für die Erwerbung von Handschriften, er wurde sein Nachfolger in der Leitung der Yorker Schule, als Ael- behrt 766 nach Egberts Tode den erzbischöflichen Stuhl bestieg. Aleuin erzählt uns selbst, worin der Unterricht an der Schule bestand. Die Geheimnisse der heiligen Schrift wurden erläutert. Daneben wurden Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Musik und Poesie gelehrt. Auch die exakten Wissenschaften kamen nicht zu kurz. Astronomie und eigentliche Naturgeschichte, die Osterrechnung bil- deten besondere Lehrgegenstände, die in gleichem Inhalte uns auch bei Beda begegnet sind, und die von Alcuin mutmaßlich nicht viel anders gelehrt wurden als es bei seinen Vorgängern aufwärts bis zu Isidorus, zu Cassiodorius, zu Vietorius der Fall gewesen war. Er wurde durch die gleichen Werke römischer Gelehrsamkeit - unterstützt, welche in der Büchersammlung von York sämtlich vor- \) Histoire litteraire de la France par des religieux Benedietins VI, 70, und Sickel, Die Lunarbuchstaben in den Kalendarien des Mittelalters. Sitzungsber. d. Wiener Akademie. Philosoph.-histor. Klasse XXXVII, 153 (1875). °%) Karl Werner, Alcuin und sein Jahrhundert. Paderborn 1876. Kurz, aber übersicht- lich ist Dümmlers Artikel „Alkuin‘ in der Allgemeinen deutschen Biographie I, 343—348 (1875). 832 38. Kapitel. rätig waren. Hat doch Alcuin in dem Gedichte!), in welchem er der Unterrichtszweige gedenkt, auch ein Verzeichnis von solchen Schriften gegeben, die in York zu finden waren: Finden wirst dort du die Spur der alten Väter der Kirche, Finden was für sich der Römer im Erdkreis besessen Und was Griechenlands Weisheit lateinischen Völkern gesandt hat. Auch was das Volk der Hebräer aus himmlischem Regen getrunken, Oder was Afrika hat hellfließenden Lichtes verbreitet. Natürlich ist bei dem letzten Verse vorwiegend an Augustinus zu denken, bei dem auf Griechenland bezüglichen an ihn selbst den scharfsinnigen Aristoteles — ?pse acer Aristoteles — welche beide im weiteren Verlaufe ausdrücklich genannt sind. Kaum festzustellen dürfte freilich sein, ob aristotelische Originalschriften, ob, worauf die Bemerkung Griechenlands Weisheit sei den Lateinern zugesandt eher zu deuten scheint, nur die lateinischen Bearbeitungen durch Boethius vorhanden waren. Von römischen Schriftstellern waren nach Aleuins Aussage unter vielen anderen Vietorinus, wahrscheinlich der Grammatiker dieses Namens aus dem IV. S., vielleicht aber auch der Schriftsteller, den wir als Vietorius kennen gelernt haben, Boethius, Plinius vertreten. Beda wird neben diesen als ebenbürtiger Schriftsteller genannt. | Erzbischof Aelbehrt starb 780, und nun wurde Alcuin nach Rom gesandt, um für dessen Nachfolger die päpstliche Bestätigung einzu- holen. Auf dieser Reise traf er in Parma mit Karl dem Großen zusammen, welcher ihn schon vorher sei es persönlich, sei es durch den Ruf der Gelehrsamkeit, der um den Yorker Schulvorsteher sich weiter und weiter verbreitete, kennen gelernt hatte. Karl wünschte ihn bei sich zu haben, um den Stand des Wissens in Deutschland auf eine bessere Stufe zu bringen, und nach Einholung der Erlaub- nis seiner Vorgesetzten folgte Alcuin der kaiserlichen Einladung 782. Nach achtjährigem Aufenthalte an dem Kaiserhofe, der übrigens nicht an einem und demselben Orte sich aufhielt, sondern bald da, bald dort seinen Sitz hatte, kehrte Aleuin nach der Heimat zurück, dann wieder zu Karl, der ihn nicht missen wollte, und als Alcuin ge- brechlich und von häufigen Krankheiten heimgesucht das beschwer- liche ‚Leben eines wandernden Hofstaates nicht länger mitmachen konnte, wurde ihm die ersehnte Zurückgezogenheit in einer Art, wie ') Poema de Pontificibus et Sanetis ecclesiae Eboracensis (d. h. von: York) in den Monumenta Alcwiniana (ed. Wattenbach et Dümmler). Berlin 1873 als VI. Band der Bibliotheca rerum Germanicarum. Der Studienplan ist ge- schildert v. v. 1431 sqq. (8. 124—125), das Bücherverzeichnis v. v. 1534 sqg. (S. 128). nt a mL a FF Be a a 2 Ber SE 2 Se ab ı u nn ir eie Facn a Bd a 0 an Ba Aa Er ER DE Een a Ba ar Sr 2 Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. , 833 er sich dieselbe keineswegs gedacht hatte. Karl der Große schickte ihn 796 als Abt nach dem Kloster St. Martin in Tours, dessen Mönche einer strengeren Zucht als unter dem gerade verstorbenen Abte in hohem Grade bedürftig waren. Alcuin hat hier eine be- rühmte Klosterschule gegründet, aus welcher zahlreiche Lehrer her- vorgingen, die alsdann in gleichem Sinne, wie sie erzogen und unterrichtet worden waren, an anderen Orten wirkten. Alcuin hat auch die großartige Büchersammlung in Tours ins Leben gerufen. So waren seine letzten Lebensjahre reich erfüllt. Er starb den 19. Mai 804. Die Bedeutung, welche Aleuin für die Geschichte der Mathematik besitzt, liegt auf zweifachem Gebiete. Sie ist zu suchen in seinen Verdiensten um das Unterrichtswesen und in seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Wir haben Aleuin am Morgen seines Lebens als Lehrer in York wirken sehen. Wir haben von den nachhaltigen Erfolgen andeutungs- weise gesprochen, die seine Lehrtätigkeit in Tours am Abende seines Lebens. gehabt hat. Lehrer war er auch am Hofe Karls des Großen. War doch der Kaiser selbst, der an Wissenslust es allen zuvortat, kaum des Schreibens kundie, und so der Schule nur dem Alter nach entwachsen. Die Roheit der Zeit brachte das nun einmal mit sich, und ihr müssen wir es auch zuschreiben, wenn wir dem Gelehrtesten der Gelehrten, wenn wir Alcuin selbst fast nichts nachrühmen können als eine Aneignung fremden Stoffes. Der Verkehr Alcuins mit den hochgestellten Schülern und Schülerinnen mußte selbstverständlich ein anderer sein als er in der Klosterschule gebräuchlich war, ein anderer auch als er zwischen denselben Persönlichkeiten und sonstigen Hofbeamten herrschte. Damit größere Zwanglosigkeit gestattet war, legte Alcuin allen Mitgliedern der Schule, den Kaiser und sich selbst nicht ausgenommen, Beinamen bei, die der Bibel oder dem Alter- tum entnommen waren. Der Kaiser war König David oder König Dalomo, Alcuin war Flaccus, die geistreiche Guntrada, Karls Ge- schwisterkind, war Eulalia genannt usw. Damit aber der mitunter trockene Lehrgegenstand den Schülern nicht zuwider würde, kleidete der Lehrer die an sich ernsthaft gemeinten Fragen nicht selten in das Gewand scherzhafter Rätsel, mitunter sogar dem derben, unfeinen Ton huldigend, welcher am Karolingerhofe zu Hause war. Der von Alcuin auf solche Weise erteilte Unterricht fand begeisterten Anklang. Um so dringender wurde Karls Wunsch ähnlich gebildete Lehrer seinem Volke zu geben. Ein Kapitulare von 789 aus Aachen datiert bestimmt, die Domstifte und Klöster sollen öffentliche Knabenschulen unterhalten, in welchen der Unterricht in den Psalmen, in Noten, im CANToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 53 854 38. Kapitel. >» Gesang, im Computus, in der Grammatik erteilt werden solle’). Wir haben absichtlich das Fremdwort Computus hier beibehalten, um es zweifelhaft zu lassen, ob nur der vorzugsweise so genannte computus, d. h. die von uns mehrfach besprochene Osterrechnung gemeint sein mag, oder, wie es uns viel wahrscheinlicher däucht, da von einem Lehrgegenstande für irgend welche Knaben, nicht für angehende Mönche die Rede ist, das Rechnen überhaupt. Wenige Jahre später beruft Karl Theodulf als Bischof von Mainz (794) aus Italien, ihn an die Spitze einer Domschule zu stellen. Für den Unterricht darf nichts genommen werden, als was von den Eltern freiwillig gegeben wird. Daß die Kinder aber zur Schule geschickt werden, bleibt nicht dem freien Willen der Eltern überlassen. Mit Strafen werden diese zur Erfüllung ihrer Pflicht angehalten. Mit der Volksschule tritt der Schulzwang ins Leben’). Wir haben von Alcuins schriftstellerischer Tätigkeit zu reden und bringen unter diesem Titel Aufgaben zur Sprache, von denen es allerdings nicht sicher ist, ob sie Aleuin angehören. Daß sie ein altes Gepräge tragen, mag schon daraus entnommen werden, daß sie früher in den Druckausgaben nicht bloß von Alcuins, sondern auch von Bedas Werken Aufnahme fanden, während sie diesem letzt- genannten wohl unter keinen Umständen angehören?). Die Zuweisung an Alcuin beruht auf mehreren Gründen, deren jeder einzeln für sich nicht sonderlich schwerwiegend ist, die jedoch in ihrer Gesamtheit vielleicht genügen, den Ausschlag zu geben. Wir haben erst davon gesprochen, daß Alcuin es liebte, bei seinem Unterrichte eine gefällige, oft scherzhafte Form der Fragestellung oder der Beantwortung zu wählen, letztere Form insbesondere nach griechischem Muster des Atheners Secundus aus dem I. und II. S. n. Chr., von welchem einige Aleuinische Fragen und Antworten ethischer und kosmographischer Art wörtlich entlehnt erscheinen*). Die Rätselform ist aber auch die der Aufgaben zur Verstandesschärfung, propositiones ad acuen- dos iwvenes. Man hat ferner darauf aufmerksam gemacht, daß deren Schreibweise überhaupt mit der Aleuins übereinstimme?°). Man hat weiter auf einen Brief Aleuins an Karl den Großen sich bezogen, in welchem der Briefsteller sagt, er schicke gleichzeitig einige Proben arıthmetischen Scharfsinnes zur Erheiterung‘) und hat vermutet diese Proben seien eben jene Aufgaben, insgesamt oder teilweise. Dem ı) Werner, Alcuin $. 35. ?) Lorenz von Stein, Das Bildungswesen des Mittelalters, II. Auflage, S. 66 (Stuttgart 1883). ®) Bedae Opera (ed. Giles) Bd. VI. Vorrede 8. XIL. *) Werner, Alcuin $. 18. 5) Giles lc. °) Monumenta Alewiniana, Epistula 112, pag. 459: Misi aliquas figuras Arith- meticae subtilitalis laetitiae causa. RR EEE Be le BE a ke Se ne Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 835 gegenüber hat man freilich einzuwenden gewußt!), unter Proben arithmetischen Scharfsinnes zur Erheiterung habe Aleuin ganz anderes verstanden, nämlich Anwendung zahlentheoretischer Begriffe auf Bibelerklärung, wie sie in einzelnen seiner Briefe und Schriften vor- kommen. So habe, nach ihm, Gott, der alles gut schuf, sechs Wesen geschaffen, weil 6 eine vollkommene Zahl sei; 3 aber ist eine mangel- hafte Zahl, 1+2+4=17<$8, und „deswegen geht der zweite Ursprung des Menschengeschlechtes von der Zahl 8 aus. Wir lesen nämlich, daß in Noahs Arche acht Seelen gewesen, von welchen das ganze Menschengeschlecht abstammt, um zu zeigen, der zweite Ursprung sei unvollkommener als der erste, welcher nach der Sechszahl geschaffen wurde“?). Beispiele solcher Zahlenmystik könnten gehäuft werden. Man könnte an einen Brief Aleuins erinnern, in welchem von den Zahlen 1 bis 10 gesagt wird, welche Beziehungen zu Gegenständen der Heiligen Schrift sie haben’). Man könnte bis auf Isidorus zurück‘) merkwürdige Gedankenver- knüpfungen verfolgen, in deren Nachahmung Aleuin die Zahl 153 der Fische, welche Petrus auf einen Zug fing’), zu erklären weiß, ausgehend von 15=3-3-7=1+2+53+--:-+17 in Verbindung mit-51 =50 +1 usw.°). Wir lassen es dahingestellt, ob diese Verweisungen, mögen sie selbst dem, was Alcuin an Karl schickte, einen anderen Inhalt geben können als nach der zuerst aus- gesprochenen Vermutung, in Widerspruch stehen zu der Annahme, Alcuin habe die Aufgaben zur Verstandesschärfung zusammengestellt. Wir geben zu bedenken, daß, wer nach der einen Richtung mit Zahlenspielereien, die ihm freilich mehr als das, die ihm heiliger Ernst waren, sich beschäftigte, auch nach der anderen Seite Freude an Zahlenbetrachtungen haben und erregen konnte. Wir wenden uns zur Erörterung dessen, was die Handschriften zur Entscheidung der Frage, von wem die Aufgaben der Verstandes- schärfung herrühren, beizutragen vermögen? KRechenrätsel, welche einander insgesamt ähnlich sehen, finden sich in den allerverschieden- sten Handschriften vor‘). Wohl die älteste solche Handschrift ist %) Hankel S. 310—311. ?) Monumenta Alcuiniana, Epist. 259, pag. 818 bis 821. ®) Ebenda Epist. 260, pag. 821— 824. ® Isidorus, De numeris cap. 27. Auf diese Quelle ist zuerst aufmerksam gemacht bei Werner, Gerbert von Aurillac. Wien 1878, 8.66, Anmerkung 2. ) Evangelium Johannes XXI, 11. 6%) Werner, Alcuin 8. 153. ”) Herm. Hagen, Antike und mittelalterliche Rätselpoesie. II. Ausgabe. Bern 1877. S. 29-34. 53* 836 38, Kapitel. diejenige, aus welcher die uns hier beschäftigenden Aufgaben zum Abdrucke gelangt sind!). Sie gehört, wenn nicht alle Zeichen der Scehriftvergleichung trügen, dem Ende des X. oder Anfange des XI. S., in runder Zahl dem Jahre 1000 an, und stammt aus dem Kloster Reichenau, welches auf einer Rheininsel am Ausgange des Bodensees durch den Irländer Pirmin um 725 gegründet worden war und wie wir uns erinnern (S. 577) schon 821 im Besitze einer schönen ord- nungsgemäß aufgezeichneten Büchersammlung sich befand. Die Hand- schrift ist eine Sammelhandschrift und beginnt mit Alcuins Erläute- rungen zur Genesis, welche durch den in einer Widmungsformel ent- haltenen Namen ihren Verfasser selbst verraten. Die Erläuterungen schließen mitten auf der Vorderseite eines Blattes, und nun folgen ohne irgend welche Raumunterbrechung enge sich anschließend die Aufgaben zur Verstandesschärfung: ineipiunt capitula propositionum ad acuwendos iuvenes von dem gleichen Schreiber auf das Pergament gebracht. Ein Verfasser ist nicht angegeben, aber eben deshalb hat man gefolgert, Alcuin sei es, weil die Unmittelbarkeit des Anschlusses zu dieser Behauptung aufmunterte, welche in den schon angegebenen allgemeinen Betrachtungen Unterstützung fand. Eines kann mit Bestimmtheit gesagt werden: die Handschrift rührt nicht von dem sachverständigen Sammler der Aufgaben her, möge er Alcuin oder wie immer geheißen haben, sondern von einem Mönche, der als Schreibkünstler geschickter war.denn als Rechner, sonst würde er nicht so verhältnismäßig häufige Fehler in den Zahlen sich zuschulden haben kommen lassen, wie sie nur einem Abschreiber, nicht einem, der selbst rechnet, vorkommen können. Auch dieser Umstand dient dazu, die Entstehung der Sammlung in eine Zeit hinaufzurücken, die älter ist als das Jahr 1000, und wir machen darum von der nun einmal durch den Herausgeber?) von Aleuins Werken hergestellten Überlieferung Gebrauch, jene Aufgaben, die in einer Geschichte der Mathematik unter allen Umständen be- sprochen werden müssen, unter Aleuins Namen einzureihen. Sollten spätere Untersuchungen je einen anderen Verfasser an das Licht ziehen, so werden sie den Umstand doch sicherlich nieht zu ent- kräften imstande sein, daß er vor 1000 gelebt haben muß, daß also die Aufgaben ein Bild klösterlicher Gelehrsamkeit vor diesem Jeitpunkte uns bieten. Glänzend freilich ist das Bild nicht, aber 1) Über die Handschrift vgl. Agrimensoren 8.139 —143. °) Abt Frobenius von St, Emmeran in Regensburg 1777. Sein weltlicher Name war Frobenius Forster. Er lebte 1709—1791. Vgl. Allgemeine deutsche Biographie VII, 163. Die Propositiones ad acuendos iwvenes sind abgedruckt in Aleuini Opera (ed. Frobenius) II, 440-448, ERERETETN a Dietz tn ERDT re BERN TE VE IV TER SS EIHRRRN > EV nah Bu Beh 1 a nd Aa Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 837 doch nicht so farblos wie nach den dürftigen Nachrichten, welche wir über das mathematische Wissen eines lsidorus, eines Beda allein zu geben imstande waren, erwartet werden möchte. Vielleicht ist zum Vergleiche darauf hinzuweisen, daß auch in einer Veroneser Handschrift des IX. Jahrhunderts eine poetisch eingekleidete arith- metische Aufgabe gefunden worden ist!). Es sind algebraische und geometrische Aufgaben, welche hier auftreten, daneben solche, die nicht durch Rechnung, sondern mehr durch einen witzigen Einfall gelöst werden können, und überall, wo es möglich ist von einer Geschichte der betreffenden Aufgaben zu reden, d. h. ihr früheres Vorkommen zu bestätigen, sind es immer römische Quellen, auf welche man hinweisen muß. Von diesen Auf- gaben seien einige hier erwähnt. Die 6. Aufgabe ist eine von denen mit nicht mathematischer Auflösung. Zwei Männer kauften für 100 solidi Schweine, je 5 Schweine zu 2 solidi. Die Schweine teilten sie, verkauften dann wieder 5 für 2 solidiı und machten dabei ein gutes Geschäft, wie ging das zu? Sie hatten die 250 Schweine, welche sie gemeinschaftlich besaßen, in zwei gleiche Herden von je 125 Schweinen geteilt, so daß der eine alle fetteren, der andere alle weniger fetten Schweine vor sich hertrieb. Der erste verkaufte 120 von seiner Herde, indem er 2 für einen solidus gab, der zweite verkaufte gleichfalls 120, indem er 3 für einen solidus gab. Tat- sächlich wurden 5 Schweine für 2 solidi hergegeben. Der Erlös des ersten betrug 60, der des zweiten 40 solidi, und damit war die Aus- lage gedeckt, während den Händlern noch 10 Schweine, je 5 von jeder Wertsorte, übrig blieben. — Die 8. Aufgabe ist eine Brunnen- aufgabe, wie sie so häufig seit. Heron uns begegneten. — Die 23. und 24. Aufgabe lehren die Fläche eines viereckigen und eines drei- eckigen Feldes nach denselben Näherungsregeln messen, deren die gefälschte Geometrie des Boethius (3. 586) und die Vorschrift zur Juchartausmessung (S. 591) sich bedienen: das Viereck gilt als Pro- dukt der halben Summen einander gegenüberliegender Seiten, das Dreieck als Produkt der halben Summe zweier Seiten in die Hälfte der dritten Seite. — An die Juchartausmessung erinnert auch die 25. Aufgabe von dem runden Felde, dessen Fläche gefunden wird, indem der Umfang 400 durch 4 geteilt und der Quotient quadriert, d.h. x —=4 angenommen wird. — Wir könnten noch recht vielerlei Aufgaben vergleichen und meistens Dinge erkennen, welche den römi- schen Ursprung wahrscheinlich machen. Nur drei Aufgaben heben wir noch hervor. Die 26. Aufgabe führt die Überschrift De cursu ') E. Dümmler in der Zeitschr. f. deutsch. Altert. XXIII, 261 fig. (1879). 838 38. Kapitel. ebnks be fugb lepprks.. Nach Vertauschung von Konsonanten mit ihnen im Alphabete unmittelbar vorhergehenden Vokalen, wie sie (S. 803) auch bei Johannes von Sevilla an gewissen Stellen sich als notwendig erwies, wird daraus De cursu canis ac fuga leporis. Es ist die allbekannte Aufgabe von dem Hunde, welcher dem Hasen nachläuft, während der Hase 150 Fuß voraus ist, dagegen nur 7 Fuß weite Sprünge macht, der Hund aber 9 Fuß weit springt. Zum Zwecke der Auflösung wird 150 halbiert und daraus mit Recht ge- folgert, daß der Hund den Hasen in 75 Sprüngen einholen werde. — Die 34. Aufgabe lautet wie folgt: Wenn 100 Scheffel unter ebensoviele Personen verteilt werden, so daß ein Mann 3, eine Frau 2 und ein Kind = Scheffel erhält, wieviele Männer, Frauen und Kinder waren es? Die Antwort ist 11 Männer, 15 Frauen, 74 Kinder. Das ist die erste unbestimmte Aufgabe in lateinischer Sprache, die uns vorkommt. Es ist dabei bemerkenswert, daß der Text der Aufgabe die Möglichkeit nicht ganzzahliger Auflösungen ausschließt,‘ daß von den ganzzahligen Auflösungen nur eine ange- geben ist, daß die Art wie dieselbe gefunden worden sei, auch nicht einmal angedeutet ist. — Noch interessanter ist die 35. Aufgabe. Ein Sterbender verordnet letztwillig, daß, wenn seine im schwangeren Zustande zurückgelassene Witwe einen Sohn gebäre, der Sohn ;, 3 i A 3 1 r . oder 7, die Witwe „„ oder _ des Vermögens erben solle; gebäre * ” * Fi . [3 5 sie aber eine Tochter, so solle diese „„, die Witwe ., des Ver- mögens erben. Das ist dem Inhalte, wenn auch nicht den bestimmten Zahlen nach, die in den Pandekten- enthaltene Teilungsfrage, deren römische Auflösung wir (S. 562) kennen gelernt haben. Der Sammler der Aufgaben zur Verstandesschärfung hat sich in der von ihm ge- gebenen Auflösung als einen Mann erwiesen, der in den Sinn letzt- williger Verfügungen einzudringen nicht imstande war, als einen Nachahmer der Römer, der unmöglich selbst Römer gewesen sein kann. Er löst deshalb auch die Aufgabe so verkehrt, als sie über- haupt allenfalls gelöst werden kann. Er sagt: Um Mutter und Sohn zu befriedigen, bedarf es 12 Teile, um Mutter und Tochter zu be- friedigen, gleichfalls, zusammen also 24 Teile. Davon erhält in erster Linie der Sohn 9, die Mutter 3, in zweiter Linie die Mutter 5, die Tochter 7, die Teilung vollzieht sich also in dem Verhältnisse, daß die Mutter Ir TE . der Sohn 4-3 ‚ die Tochter u der Hinterlassenschaft zu beanspruchen hat. — Wir haben unsere Aus- wahl mit einer Scherzfrage begonnen, welche durch Rechnung allein GE a dr a NE A a as u an 2 ne De nn a Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 839 nicht zu lösen ist. Mit der Erwähnung ähnlicher Aufgaben wollen wir schließen, nachdem wir die mathematisch interessanteren durch- gesprochen haben. Da dürfte vor allem die 18. Aufgabe unsere meisten Leser wie eine Erinnerung aus der Kinderzeit anheimeln. Es ist die Aufgabe von dem Wolfe, der Ziege und dem Krautkopfe, welche in einem Boote, dessen Fährmann nur einen Reisenden gleich- zeitig befördert, über einen Fluß gesetzt werden sollen, so daß nie- mals Ziege und Krautkopf oder Ziege und Wolf, also niemals zwei Feinde allein auf einem Ufer sich befinden sollen, während der Führer mit dem Boote unterwegs ist!. Noch ein zweites Rätsel, welches mit einigen anderen zusammen unter der besonderen Über- schrift: „Rätsel zum Lachen“ am Schlusse der Handschrift vereinigt ist, hat bis auf den heutigen Tag sich erhalten; es bezieht sich auf die von der Sonne verzehrte Schneeflocke, welche an dem im Winter blattlosen Baum haftete?). So bergen die Aufgaben zur Verstandesschärfung mannigfachen Stoff in sich, der unverwüstliche Lebenskraft in Volkskreisen wie in halbwegs wissenschaftlichen Schulbüchern an den Tag gelegt hat. So befinden sich unter ihnen Aufgaben, welche auch nach rückwärts . eine verfolgbare Geschichte besitzen, andere, welche zu immer erneuten Versuchen auffordern, die noch nicht gelungene Rückverfolgung zu vollziehen. Fragen wir uns, welche mathematische Anforderungen die Aufgaben an den, welcher der Lösung sich befleißigte, stellten, so sehen wir, daß er geometrisch nicht mehr zu wissen brauchte, als einige wenige dem praktischen Feldmesser gebräuchliche Formeln, algebraisch nicht mehr: als die Behandlung der Gleichungen vom ersten Grade, daß Wurzelausziehungen nicht vorkommen, sondern nur die vier einfachen Rechnungsarten und diese fast ausschließlich an ganzen Zahlen. Aber wie führte jene Zeit, wie führte Alcuin, wenn wir voraus- setzen dürfen, die Sammlung rühre von ihm her, die Rechnungen aus? Wir haben (5.329—830) bei Beda die gleiche Frage mit dem Zeug- nisse des Nichtwissens abgelehnt, wir sind bei Alcuin bis zu einem gewissen Grade in derselben Lage, aber nur bis zu einem gewissen Grade. Zwei Stellen aus Aleuins Schriften führen nämlich zur Ver- mutung, er habe das Kolumnenrechnen und die Apices gekannt, welche wir bei Gelegenheit der gefälschten Geometrie des Boethius !) Wenn Hagen |. c. S. 31 und Anmerkung 22 dieses Rätsel als in den Annales Stadenses vorkommend bezeugt, so ist damit für dessen Alter gar nichts gewonnen, da diese Annalen erst um 1240 geschrieben worden sind. 2) Vgl. Max Curtze in einer Rezension unserer Agrimensoren in der Jenaer Literatur- zeitung vom 12. Februar 1876. 840 38. Kapitel. beschrieben haben. Beide Stellen finden sich in Schriftstücken, welche wir schon angeführt haben, ohne jedoch diese bestimmten Sätze und deren Bedeutung hervortreten zu lassen. Wir haben den Unterrichts- plan, welchen Egbert an der Yorker Domschule einhalten ließ, aus einem Gedichte Aleuins, welches zwischen 780 und 796, wahrschein- lich sogar zwischen 780 und 782 entstand'), angegeben. Den 1445. Vers dieses langatmigen Gedichtes haben wir nachholend hier noch anzugeben: Egbert lehrte „diversas numeri species variasque figuras“, auseinandergehende Arten der Zahl und deren verschiedene Gestalten. Wir möchten so übersetzen, weil wir entschieden glauben, daß der Genitiv numeri nicht minder zu variasque figuras als zu diversas species gehört, und ist diese Meinung richtig, so kannte nicht bloß Aleuin verschiedene Gestalten der Zahlen, so waren dieselben ein regelmäßiger Unterrichtsgegenstand in York, mutmaßlich wenn nicht zuverlässig auch später in Tours. Was aber konnten jene ver- schiedenen Gestalten der Zahlen sein? Wir sehen nur zwei Mög- lichkeiten der Erklärung. Entweder sind die Apices gemeint, wie sie in der gefälschten Geometrie des Boethius beschrieben sind, oder und vielleicht wahrscheinlicher die Dreiecke, Vierecke, Vielecke der Zahlen, die man aus der Arithmetik des gleichen Verfassers kannte. Beide Möglichkeiten sind vorhanden, und eine endgültige Entscheidung wird wesentlich von der Auffindung neuen Materials abhängen. Die zweite Stelle könnte allerdings die Deutung auf die Apices begünstigen. Wir haben eines Briefes gedacht, in welchem Alcuin von arithmetisch-mystischen Erklärungen zu biblischen Texten Ge- brauch macht. In eben diesem Briefe heißt es?): „Ebenso sehen wir die Reihenfolge der Zahlen in Gelenken, gleichsam gewissen Ein- heiten, durch endliche Gestaltungen zum Unendlichen wachsen. Denn die erste Reihenfolge der Zahlen ist von 1 bis zu 10, die zweite von 10 bis zu 100, die dritte von der Hundertzahl bis zur Tausendzahl.“ Das ist die älteste bestimmt nachweisbare Anwendung des Wortes articulus, Gelenk, für Zahlen, und zwar für Zahlen, welche die Rolle von Einheiten gleichsam spielen, d. h. etwas anders ausgesprochen runde Zahlen sind. Das ist zugleich die Hervorhebung der drei Hauptordnungen, in welche die Zahlen von 1 bis 1000 zerfallen, oder wieder etwas anders ausgesprochen der römischen Triaden. Beide !) Über die Datierung vgl. Wattenbach in den Monumenta Aleuiniana S. 80, ?) Monumenta Alcuiniana, Epist. 259, pag. 820. Item progressionem numerorum articulis, quasi quibusdam unitatibus, ad infinita erescere per quasdam finitas formas videmus. Nam prima progressio numerorum est ab uno usque ad decem. Secunda a decem usque ad centum. Tertia a centenario numero usque ad millenarium. Tale a aa na 2 un Zen Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 841 Kenntnisse sind dadurch bis vor das Todesjahr Aleuins 804, in welchem allerspätestens jener Brief geschrieben ist, hinaufgerückt, und es entstünde wenigstens die Frage, ob das Wort artieulus für älter als die Apices zu halten ist? Sei dem, wie da wolle, Eines können wir fortfahrend feststellen: eine Stetigkeit der Lehren, welche von dem Kloster St. Martin bei Tours ausgingen und an bestimmte Persönlichkeiten als Träger der- selben sich anknüpften. Sehen wir, auf welche Weise dieselben nach Deutschland gelangten. In der Mitte des VIII. S. war in Fulda ein Kloster, begleitet von einer Klosterschule entstanden. Ratgar, der dritte Abt dieses Klosters 802—814 schiekte, um die Schule auf die Höhe der Zeit zu bringen, drei junge Mönche nach St. Martin bei Tours, daß sie dort Alcuins Unterricht genössen und so zu voll- endeten Lehrern würden. Einer dieser jungen jedenfalls unter den begabtesten Klosterzöglingen ausgesuchten Männer war Hrabanus Maurus!), der erste Lehrer Deutschlands, primus praeceptor Ger- maniae, wie er genannt worden ist. Die Verdienste desselben um die deutsche Sprache, welche er zu einem lateinisch-deutschen Bibel- glossar anwandte, wie die meisten seiner zahlreichen Schriften liegen weit außerhalb des Bereiches unserer Untersuchungen. Wir würden uns nur mit den Schriften über die sieben freien Künste zu be- schäftigen haben, welche er in mindestens ebensovielen Teilen be- handelt hat, wenn dieselben uns erhalten wären. Leider ist dieses nicht der Fall. Die Arithmetik, die Musik, die Geometrie sind ver- loren gegangen. Statt einer eigentlichen Astronomie ist ein in Ge- sprächsform gehaltener Computus auf uns gekommen?), welcher, wie zahlreiche Stellen beweisen?), im Jahre 820 verfaßt ist. Dieser Computus ist ziemlich genau nach Bedas chronologischen Arbeiten gebildet und enthält kaum etwas für die Geschichte der Mathematik Wissenswertes, so daß man ihn wohl in negativer Weise verwertet hat, um zu schließen, ein Abacus und dergleichen könnten damals nicht Lehrgegenstände gewesen sein, weil auch gar nicht davon die Rede sei. Wir überlassen es unseren Lesern, wieviel Gewicht sie auf das Nichtvorhandensein einer Beschreibung in einer Schrift legen wollen, welche in innigem Zusammenhange mit anderen Schriften stand, die sämtlich verloren gegangen sind. Zu einer Bemerkung nötigt uns die Unparteilichkeit. In einem Kapitel des Computus des Hrabanus erscheinen in auffallendem Zusammenhange die Wörter ') Werner, Alcuin S. 101—109. Dümmler, Hrabanusstudien in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie 1898, S. 24 fige. ?) Abgedruckt in Baluze, Miscellanea I, 1—92. Paris 1678. °) Ebenda pag. 43, 51 und häufiger. 842 38. Kapitel. digitus und articulus'). Sie betreffen nicht, wie man zunächst ver- muten könnte, Finger- und Gelenkzahlen, sondern eine eigentümliche Gedächtnishilfe an den Knöcheln der Hand. Von älteren Schriften sind bei Hrabanus genannt: die Arithmetik des Boethius?), die Origines des Isidorus®), die Österrechnung des Anatolius*). Zwei Jahre, nachdem Hrabanus seinen Computus verfaßt hatte, wurde er zum Abte seines Klosters gewählt und stand ihm 20 Jahre hin- durch bis 842 mit wirksamem Eifer vor. Dann zog er sich in ein stilleres Leben zurück, welches er jedoch 847 wieder aufgeben mußte, _ um Erzbischof von Mainz zu werden. Als solcher starb er 856. Männer der Fuldaer Schule trugen ihrerseits die Wissenschaft weiter, welche Hrabanus Maurus und seine Genossen aus Tours mit- gebracht hatten. Walafried Strabo, 806 in Allemanien geboren, wurde 842 Abt zu Reichenau. Aus den Schriften dieses 849 ver- storbenen Mannes und anderen gleichzeitigen Werken ist 1857 durch Pater Martin Marty in Einsiedeln eine Abhandlung „Wie man vor 1000 Jahren lehrte und lernte“ zusammengestellt worden, worin die Stelle vorkommt: „Im Sommer 822 begann ich unter Tattos Leitung das Studium der Arithmetik. Zuerst erklärte er uns die Bücher des Konsuls Manlius Boethius über die verschiedenen Arten und Eintei- lungen, sowie über die Bedeutung der Zahlen; dann lernten wir das Rechnen mit den Fingern und den Gebrauch des Abacus nach den Büchern, welche Beda und Boethius darüber geschrieben haben.“ Leider stammt diese Erzählung nicht aus einem wirklich vorhandenen Tagebuch, sondern wurde vom Verfasser als seinen persönlichen ge- schichtlichen Ansichten entsprechend Strabo in den Mund gelegt?), so daß man eine Beweiskräftigkeit dieser, wenn auf Angaben aus dem IX. S. gestützten, unwiderlegbaren Erzählung nicht zu behaupten vermag. Ein anderer Schüler Hrabans war Heirie von Auxerre, der selbst wieder in Remigius von Auxerre*) seinen Nachfolger sich heran- bildete. Schon vorher hatte Remigius in dem Kloster Ferrieres den Unterricht von Servatus Lupus, einem Zöglinge des Klosters St. Martin bei Tours, genossen und so aus doppelter Vermittlung die wissen- schaftlichen Anregungen Alcuins in sich aufgenommen. Remigius muß daher, wenn einer, als mittelbarer Schüler Aleuins gelten, und er selbst trat nach 877 an die Spitze einer Schule, deren spätere ") Abgedruckt in Baluze, Miscellanea I, pag. 70—T1. De reditu et com- puto articulari wutrarumque epactarum solis et lunae. ®) Ebenda pag. 7. ®) Ebenda pag. 8. *) Ebenda pag. 33. 5) Vgl. einen Brief von P. Marty an H. Suter in Zeitschr. Math. Phys. XXIX. Histor.-literar. Abtlg. °) Werner, Aleuin S. 110. Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 843 große Bedeutung uns nötigt, ihres Stifters zu gedenken. Es war eine Schule zu Paris, und zwar eine Schule, die nur als solche, nicht in Verbindung mit einem Kloster eingerichtet wurde. Aus ihr ent- wickelte sich später die Pariser Universität. Aber vor seiner Pariser Lehrtätigkeit machte sich Remigius um das Schulwesen einer Stadt verdient, welche uns im nächsten Kapitel von Wichtigkeit sein wird, um das Schulwesen von Rheims, wohin er durch den Erzbischof Fulco berufen worden war. Remigius starb 908. Führten diese Männer die Lehren und das Lehrverfahren der Schule von St. Martin bei Tours in östlicher und nördlicher Rich- tung weiter, freilich ohne daß ihre Bemühungen von glänzendem Erfolge begleitet gewesen wären, indem vielmehr von der Mitte des IX. S. an die Zahl derer, welche realen Lehrgegenständen sich zu- wandten, mehr und mehr wieder abnahm, zuletzt aus einzelnen Per- sönlichkeiten nur bestehend, so knüpft sich an einen anderen Zög- ling derselben Mutteranstalt eine südlich gewandte Fortleitung, an Odo von Cluny‘!). Ein Edelmann, der am Hofe Wilhelms des Starken des Herzogs von Aquitanien lebte, hatte lange kinderlos seine Nachkommenschaft, wenn ihm solche würde, dem Dienste des heiligen Martin zugelobt, und so war über die Bestimmung des jungen Odo schon verfügt, als er um 879 geboren wurde. Im Knaben- alter in das Kloster St. Martin aufgenommen, genoß er den Unter- richt des Scholastikus, d. i. des Stiftslehrers Odalrie. Nicht ganz im Einklang mit seinen Lehrern, welche ihn länger bei weltlichen Lehr- gegenständen festhalten wollten als es ihm behagte, verließ er Tours und begab sich zu Remigius nach Paris. Nach einiger Zeit kehrte er nach Tours zurück, wo aber das zügellose Leben, welches unter den dortigen Mönchen eingerissen war, ihn mit Widerwillen erfüllte. Nun zog er sich in die Zisterzienser-Abtei Baume zurück, welche mit verschiedenen anderen Klöstern im engsten Zusammenhange stand, und wurde 927, als der gemeinsame Abt Berno dieser Klöster starb, auf die letztwillige Verordnung des Verstorbenen hin zum Abte von Cluny gewählt. Mit eiserner Strenge führte er dort die Herrschaft, so daß sein Kloster und die damit verbundene Schule bald allgemein als Musteranstalten an Zucht und Ordnung galten, und er selbst bald da bald dorthin gerufen wurde, um gleiche Reformen einzuführen (wie z.B. nach dem am Anfange des X.S. in der Auvergne gegründeten Kloster Aurillac, dessen dritter Abt er war, wie 937 nach dem Mutterkloster des Ordens auf Monte Casino), oder um mannigfache Streitigkeiten zu schlichten. Odo starb 942 oder 943. 1) Math. Beitr. Kulturl. $. 292—302. Werner, Alcuin $. 112—114. 844 38. Kapitel. Ein wahrscheinlich dem XI. S. angehörender unter dem Namen des Anonymus von Melk bekannter Schriftsteller, welcher in 117 Kapiteln in überaus trockenem aber dadurch nur um so vertrauenswerterem Tone einzelne Mönche nennt und deren Werke angibt, hat im 75. Kapitel zwei Schriften Odos gerühmt!): ein Werk über die Be- schäftigungen von höchster Trefflichkeit und ein ziemlich brauchbares Zwiegespräch über die Kunst der Musik. Als Datum jener Schrift gilt 926, also die Zeit, welche der Erwählung Odos zum Abte vor- anging, was die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit der Angabe nur erhöht. Viele mittelalterliche Abhandlungen über Musik haben hand- schriftlich sich erhalten, nicht gerade wenige davon sind auch ge- druckt, und daunter sind, mehrere, welche Odo von Cluny als Ver- fasser beigelegt werden. Eine solche Abhandlung, in verschiedenen Abschriften erhalten, entspricht der von dem Anonymus von Melk gegebenen Beschreibung insofern, als sie allein von allen in Gesprächs- form abgefaßt und wirklich „ziemlich brauchbar“ ist. Eine Hand- schrift dieser musikalischen Abhandlung stammt aus dem XIII. S. und gehört der Wiener Bibliothek an. In demselben Bande, in welchem das Gespräch über Musik zum Abdrucke kam?), ist auch eine andere Schrift nach demselben dem XIII. S. entstammenden Wiener Kodex ‘2503, welcher jenes Gespräch über Musik enthält, veröffentlicht. Diese andere Schrift führt den Titel: „Regeln des Abacus von dem Herrn Oddo“ und würde, wenn sie wirklich mit Recht Odo von Üluny beigelegt werden dürfte?), von ungemeiner geschichtlicher Bedeutung sein. Leider ist eine Ge- wißheit dafür so wenig vorhanden, daß die meisten Geschichts- forscher weit mehr der Auffassung sich zuneigen, die Regeln des Abacus seien nicht so gar lange vor Entstehung ihrer Niederschrift aus dem XIII. S. von irgend einem anderen späteren Oddo oder Odo nicht vor dem XI. oder XII. S. zusammengestellt, eine Meinung, für welche man allenfalls auch auf den Umstand sieh beziehen könnte, daß Odo von Üluny, wie wir oben sahen, bei seinem eigenen Bildungs- gange dem Verweilen bei ähnlichen Dingen sich widerwillig zeigte. ') Dialogum satis utilem de Musica arte composuit. Seripsit praeterea librum praestantissimum monachisque utilissimum, lbrum videlicet Occupationum. Als Randzahl steht daneben 926. ?) Scriptores ecclesiastiei de musica herausgegeben durch Abt Martin Gerbert von St. Blasien. St. Blasien 1784. I, 252 — 264 der Dialog über Musik, ibid. 296— 302 Regulae Domini Oddonis super abacum. Ambr. Sturm in der Bibliotheca Mathematica 3. Folge III, 139 (1902). °) Th. H. Martin, Origine de notre systeme de numeration eerite in der Revue archeo- logique von 1856, S. 33 des Sonderabzuges hat wohl zuerst diese Autorschaft ver- treten, eine Ansicht, der wir uns in den Math. Beitr. Kulturl. anschlossen. u ah rl Tl Kahn RE Lu ar ra DE Eee el Zu E20 2m un Klostergelehrsamkeit bis zum Ausgange des X. Jahrhunderts. 845 Ohne diese Gründe als zwingend anzuerkennen, da man gar oft als Schüler andere Ansichten von dem zu Erlernenden oder zu Vernach- lässigenden hat als später als Lehrer, können wir doch ebenso wenig eine unbedingte Widerlegung führen. Wir wollen daher diese Regeln erst im 40. Kapitel unter dem XII. S. näher beschreiben. Wir wenden uns gegenwärtig zu einer Schrift, welche gesicher- terer Entstehung eine Anzahl von Jahren vor 985 geschrieben ist und von Abbo von Fleury herrührt!),. Abbo ist in Orleans ge- boren, hat an den uns bekannten Schulen von Paris und Rheims, zuletzt in seiner Vaterstadt Orleans studiert, und trat darauf in das Benediktinerkloster Fleury ein. Nachdem er ihm eine Anzahl von Jahren angehört hatte, trat er eine zweijährige Reise nach England an, und von dort zurückgekehrt wurde er Abt seines Klosters. Als solcher scheint er zu Gewaltmaßregeln, die sein leicht aufbrausender Zorn ihm eingab, geneigt gewesen zu sein, und er starb wirklich ' eines gewaltsamen Todes auf einer Reise, wie die einen sagen auf Anstiften eines seiner Mönche ermordet, wie die anderen sagen in einem auf dem Wege entstandenen Raufhandel. Sein Todesjahr war 1003 oder 1004. Auch die Angaben über die Reise nach England wechseln von den Jahren 960—962 bis zu den Jahren 985—987. In England hat Abbo grammatische Untersuchungen angestellt, welche er als Quaestiones grammaticales niederschrieb. Unter die gramma- tischen Untersuchungen gerieten auch Betrachtungen über die ge- heimnisvolle Bedeutung der einzelnen Zahlen, welche aber Abbo ziemlich kurz abtut, weil er, wie er sagt, ausführlich darüber in einem Büchlein gehandelt habe, welches er einst durch die Bitten seiner Klosterbrüder bezwungen zu dem Rechenbuche des Victorius über Zahl, Maß und Gewicht herausgegeben habe?). Da nun ein Kommentar zu dem Rechenknechte des Vietorius (S. 531) sich auf- gefunden hat, welcher zwar namenlos ist, aber in den ersten Ein- leitungszeilen genau dieselbe Redewendung von den nötigenden Bitten der Klosterbrüder, dieselbe Inhaltsangabe über Zahl, Maß und Gewichte aufweist, welcher Zahlenmystik bis zum Überdrusse breitschlägt, welcher handschriftlich nicht später als im XI. S. ent- standen sein kann, welcher aber auch nicht früher als in karolin- gischer Zeit verfaßt sein kann, weil darin von dem Grammatiker Virgil von Toulouse und von der erst unter Pipin eingeführten Ein- ') Christ, Ueber das Argumentum caleulandi des Vietorius und dessen ‘ Commentar (Sitzungsberichte der k. bair. Akademie der Wissenschaften zu München, 1863, I, 100—152). Über Abbos Persönlichkeit 8. 118. 2?) In libel- lulo quem preeibus fratrum coactus de numero mensura et pondere olim edidi ‚super calculum Vietoriü. 846 38. Kapitel. teilung des Solidus in 12 Denare die Rede ist, so hat man aus allen diesen scharfsinnig entdeckten Merkmalen die Folgerung ge- zogen, daß man es nur mit dem Kommentare des Abbo von Fleury zu tun haben könne, von welchem dieser spätestens 987 sagte, daß er ihn einst, olim, also gewiß ziemlich viele Jahre früher verfaßt habe. Man konnte mit einigen Erwartungen an diesen Kommentar eines Mannes herantreten, welchen ein Zeitgenosse, Fulbert von Chartres, den hochberühmten Lehrer des ganzen Frankenlandes genannt hat!), und welcher in den einleitenden Worten sich seiner Eigenschaft als Rechenlehrer gewissermaßen rühmt. Seit seiner frühesten Jugend beklage er, daß die Kenntnis der freien Künste schwinde und kaum noch auf wenige sich beschränke, die habsüchtig ihrem Wissen einen Preis stellen. Daraus, nicht aus Stolz noch aus Neid möge man es ableiten, wenn er auf die Gemüter der weniger Unterrichteten durch Rechenunterricht wirke?). Abbo nennt an ver- schiedenen Stellen die älteren Schriftsteller, deren Werke ihm ge- dient haben. Martianus Capella und Boethius werden des öfteren angeführt, neben ihnen Chalkidius und Macrobius. Er war mit Schriften des Priscian bekannt, in welchen von den Zahlen die Rede ist, mit Isidorus und Beda, wohl auch noch mit anderen Quellen, die uns nicht mehr erhalten sind. Leider sind nur einzelne Stellen des umfassenden Kommentars abgedruckt, und in diesen ist die Ausbeute keineswegs den Erwartungen entsprechend. Man kann allenfalls einen Abschnitt über Zahlenbezeichnung an und mit den Fingern erwähnen, in welchem der sprachliche Ausdruck reiner sei als bei Beda, von welchem überdies einzelne Abweichungen stattfinden; es scheine, daß Abbo hier eine ältere Quelle ausschrieb?). Was das Rechnen mit ganzen Zahlen betrifft, so hat Abbo dem Multiplizieren, aber nicht dem Dividieren seine Aufmerksamkeit zugewandt. Er lehrt?) an einem gezeichneten Abacus mit senkrechten Kolumnen, daß Zehner mit Zehnern vervielfacht Hunderter geben, deren eigene Gelenkzahlen (artieuli) dann Tausender sind. Er lehrt tabellarisch geordnete Viel- fache von 7, von 59 kennen. Wir erfahren ferner, daß das Hersagen des Einmaleins in Wörtern der Vulgärsprache untermengt mit deutschen Klängen — z. B. cean, wohl für zehn — noch immer in den Schulen stattfand’), eine an sich ganz wissenswürdige Be- merkung, welche aber für die Frage, die wir schon wiederholt ge- ') Summae philosophiae Abbas et omni divina et saeculari auctoritate totius Franeiae magister famosissimus. ?) Christl. ce. 8. 121. °) Ebenda $. 125—126. ‘) Vgl. einige Bruchstücke aus Abbos Kommentar, welche von Bubnov, @erberti Opera mathematica (Berlin 1899) pag. 199—204 zum Abdruck gebracht sind. ®) Christ l. ce. S. 108-109. Gerbert. 847 stellt haben, ohne sie jemals sicher beantworten zu können, für die Frage, wie die Klosterschule jener Zeit mit ganzen Zahlen rechnen lehrte, kaum einen Beitrag zu einer Beantwortung liefert. Das Ein- maleins war stets und ist zu einem bequemen Rechnen notwendig, es ist seit den Griechen immer dabei benutzt worden, aber es ist nicht das Rechnen selbst. Es gibt uns nicht einmal Auskunft darüber, wie man Zahlen vervielfachte, deren eine mindestens größer als 10 ist, geschweige denn, daß es von den anderen Rechnungsverfahren uns unterrichte. | Über dieses Rechnen mit ganzen Zahlen erhalten wir erst Aus- kunft, wenn wir zu einem Schriftsteller uns wenden, der viel be- sprochen einen geistigen Mittelpunkt seiner Zeit gebildet hat, und der unsere ganze Aufmerksamkeit nunmehr in Anspruch nehmen soll: @erbert. 39. Kapitel. Gerbert. So interessant das Leben Gerberts ist!), werden wir uns mit einem nur sehr kurzen Überblicke über dasselbe begnügen müssen, und würden noch kürzer uns fassen, wenn seine Leistungen nicht zum Teil nur dann verständlich wären, wenn man die Kenntnis der Verhältnisse, unter welchen sie entstanden sind, besitzt. Gerbert muß in der ersten Hälfte des X. S. wahrscheinlich von armen Eltern in der Auvergne unweit des Klosters Aurillac geboren sein. Dort wuchs er dann auf, erzogen durch den Scholastikus Raimund, der selbst ein Schüler Odos von Cluny war, und durch den nachmaligen Abt Gerald. Etwa 967 verließ Gerbert das Kloster mit Einwilligung seiner Obern, um den Grafen Borel von Barcelona, den eine politische Reise an dem Kloster vorbeigeführt hatte, in seine Heimat zu be- gleiten, und dort in der spanischen Mark gewann er sich in Hatto, dem Bischof von Vich, einen väterlichen Freund, bei welchem er weitere Studien machte, sich auch in der Mathematik vielfach mit Nutzen beschäftigte?). !) Math. Beitr. Kulturl. Kapitel XXI und XXII, S. 3083—329. Olleris, Oeuvres de Gerbert, Clermont-Fd, et Paris 1867. XVII—-CCV. Karl Werner, Gerbert von Aurillac, die Kirche und Wissenschaft seiner Zeit. Wien 1878. Nicol. Bubnov, @erberti Opera mathematica. Berlin 1899. ?) Richerus, Histor. III, 43 (Monument. German. Seript. II, 617)... Hattoni episcopo instru- endum commisit. Apud quem etiam in mathesi plurimum et efficaciter studuit. 843 39. Kapitel. Das ist alles, was wir über den Unterrichtsgang Gerberts aus dem Munde seines Schülers Richerus wissen, der, so wenig zuver- lässig er als Geschichtsschreiber im allgemeinen sich erweist, doch in dieser Beziehung unser Vertrauen verdient, da er seinen Lehrer aufs höchste verehrend lieber zu viel als zu wenig gesagt haben würde, wenn er mehr gewußt hätte. Er hätte uns z. B. nicht verschwiegen, wenn Gerbert sich bei Hatto Kenntnisse in der arabischen Sprache erworben hätte, wenn er die Gefahren nicht scheuend, welche den Christen in den arabischen Städten bedrohten und gerade damals unter den glaubenseifrigsten Emiren unvermeid- liche und unübersteigliche Hindernisse bildeten (S. 793), unter die Gelehrten jenes Volkes sich gemischt hätte, um deren Wissen sich anzueignen. So zerfällt von selbst die Notiz, welche einen Zeitgenossen Gerberts, den Chronisten Adhemar von Chabanois, zum Verfasser hat. Dieser erzählt nämlich: „@erbert war aus Aquitanien von niederer Geburt. Er war seit seiner Kindheit Mitglied des Klosters des heiligen Geraldus von Aurillac. Er durchwanderte der Weisheit wegen erst Frankreich, dann Cordova. Er wurde dem König Hugo bekannt und mit dem Bistume Rheims beschenkt. Dann lernte Kaiser Otto ihn kennen, worauf er das Bistum Rheims verließ und Erzbischof von Ravenna wurde Als später Papst Gregor, der Bruder des Kaisers, starb, wurde derselbe Gerbert scheinbar seiner Weisheit wegen vom Kaiser zum römischen Papste erhöht. Da veränderte er seinen Namen und hieß seit der Zeit Sylvester“'). In dieser fast mehr als kurzen Lebensgeschichte ist Wahres und Falsches in buntem Wechsel ge- mengt, und falsch ist offenbar die Durchwanderung von Üordova, welche zu der Frankreichs in Gegensatz gestellt ist. Man hat eine Erklärung dazu darin gefunden), daß für Adhemar, der, ähnlich wie es auch bei Richer der Fall ist, in Frankreich erträglich, außerhalb Frankreich ganz und gar nicht Bescheid wußte, Cordova das ge- samte Land jenseits der Pyrenäen bezeichnete, die spanische Mark mit eingeschlossen, in welcher Gerbert tatsächlich seinen Aufenthalt nahm, so daß also ein eigentlicher Widerspruch gegen das von Richer uns wahrheitsgetreu Bezeugte nicht vorhanden sei. Wohl liegt dagegen ein ausdrücklicher Widerspruch gegen die Beschränkung des Aufenthaltes Gerberts auf die spanische Mark in den Worten eines anderen Chronisten: @erbert habe mit. Bestimmt- heit den Abacus den Sarazenen geraubt und die Regeln gegeben, ') Monument. German. VI, 130. ®) Büdinger, Ueber Gerberts wissen- schaftliche und politische Stellung. Marburg 1851, 8.8. JE tms ln a a ne aa a a it ro L Be Gerbert. 849 welche von den schwitzenden Abacisten kaum verstanden werden'). Allein dieser Berichterstatter ist aus mancherlei Gründen zu verwerfen. Wilhelm von Malmesbury lebte als englischer Chronist aus der Mitte des XII. S. nach Zeit und Ort in einer Umgebung, in welcher durch die Übersetzungen arabischer Schriftsteller z. B. des Rechenbuchs des Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi die Vermutung nahe gelegt wurde, ein irgendwie vereinfachtes Rechnen könne nirgend anders als bei den Arabern entstanden sein. Ferner ist seine Glaubwürdig- keit, soweit es um Gerbert sich handelt, eine so geringe als nur irgend möglich. Er verbrämt die Geschichte von dem Raube des Abacus mit den tollsten Zaubermärchen, die deshalb nicht wahrer sind, weil sie später da und dort Glauben fanden?). Er verwechselt mitunter sogar Gerbert mit Papst Johann XV. Kurz er ist alles eher als ein zuverlässiger Zeuge, wo er allein und gar in Widerspruch zu den zahlreichsten sonstigen Erwägungen aussagt. Um 970 begleitete Gerbert den Bischof Hatto und den Grafen Borel nach Rom, wo er durch den Papst Johann XIll. dem deutschen Könige Otto I. vorgestellt wurde, und auf dessen Wunsch ihn als Lehrer irgendwo anzustellen erwiderte, er wisse zu diesem Zwecke in der Mathematik zwar genug, aber nicht in der Dialektik. Um darin sich weiter auszubilden ging nun Gerbert mit Ottos Einwilligung nach Rheims, wo er vermutlich zehn Jahre, von 972 bis 982, ver- weilte und eine anfangs gemischte Stellung einnahm, welche bald vollständig in die eines Stiftslehrers überging. Zu den Männern, welche ihn damals in der Dialektik, vielleicht auch noch in der Grammatik unterrichteten, welchen er aber dafür schon mathematischen Unterricht erteilte, gehörte nach aller Wahrscheinlichkeit Constan- tinus, der von einem späteren Aufenthaltsorte den Namen Constan- tinus von Fleury erhalten hat. Wir sind wieder durch Richerus in die Lage versetzt, den Lehr- plan genau schildern zu können, welchen Gerbert als Scholasticus in Rheims einzuhalten pflegte”). Zuerst wurden die Schüler an philosophische Auffassung gewöhnt. Die Hilfsmittel waren griechische Werke in lateinischer Übersetzung, zumeist in der des Konsul Manlius, d. h. des Boethius. Darauf folgte die Rhetorik verbunden mit dem Lesen lateinischer Dichter, und nach ihr eigentlich dialek- tische Übungen, die unter der Leitung eines besonders dazu an- gestellten Lehrers stattfanden. Von dieser Abteilung der Unterrichts- ) Abacum certe a Saracenis rapiens regulas dedit quae a sudantibus aba- eistis vix intelliguntur. ?) Doellinger, Papstfabeln des Mittelalters. München 1863. ») Richerus, Histor. II, 46—54. Das letzte dieser Kapitel handelt vom Abacus (Monument. German. Script. III, 618). CANTOoR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 54 850 39. Kapitel. gegenstände unterscheidet Richerus alsdann ganz besonders die mathematischen Fächer, auf welche Gerbert viele Mühe verwandte. Er begann mit der Arithmetik als dem ersten Teile, ließ darauf die Lehre vom Monochorde und die ganze Musik folgen, ein für Frankreich fast ganz neues Kapitel der Wissenschaften, und lehrte alsdann die Astronomie, deren schwer verständlichen Inhalt er durch mancherlei Vorrichtungen zu erläutern wußte. Richerus nennt die wichtigsten astronomischen Apparate, deren Gerbert sich bediente. Sie weisen ebenso wie das beim Unterrichte in der Musik gebrauchte Monochord ausschließlich auf griechisch-römische Quellen hin?). Die dem mathematischen Unterrieht von Gerbert zugrunde gelegten Bücher nennt Richerus nicht. Sollen wir daraus den Schluß ziehen, es seien überhaupt Bücher dabei nicht benutzt worden? Es will fast so scheinen. Wenigstens wird sonst einigermaßen unbegreiflich, wie in späterer Zeit jener Constantinus, den wir eben genannt haben, an Gerbert die Bitte um schriftliche Mitteilung des früher Gelehrten richten konnte. Damit ist freilich keineswegs ausgeschlossen, daß Gerbert selbst, als Lehrer, sich an schon vorhandene Schriften anlehnte, Schriften jedenfalls griechisch-römischen Ursprunges gleich den Kenntnissen, welche ihren Inhalt bildeten. Wir müssen annehmen, es sei die Arithmetik des Boethius darunter gewesen, nicht aber die übrigen Schriften des gleichen Verfassers, sondern nur Auszüge und Bearbeitungen derselben von uns freilich nicht näher bekannten Persönlichkeiten. Diese Meinung wird wesentlich unterstützt in ihrem negativen Teile durch den Um- stand, daß Gerbert, wie wir noch sehen werden, erst viel später mit der Astronomie und vielleicht mit der @eometrie des Boethius be- kannt wurde, in ihrem positiven Teile durch das letzte Kapitel von Richers Erzählung, in welchem von der Geometrie und von dem Rechenunterrichte die Rede ist. „Bei der Geometrie wurde nicht geringere Mühe auf den Unter- richt verwandt. Zur Einleitung in dieselbe ließ G@erbert durch einen Schildmacher einen Abacus, d. h. eine durch ihre Abmessungen ge- eignete Tafel anfertigen. Die längere Seite war in 27 Teile ab- geteilt, und darauf ordnete er Zeichen, 9 an der Zahl, die jede Zahl darstellen konnten. Ihnen ähnlich ließ er 1000 Charaktere von Horn bilden, welche abwechselnd auf den 27 Abteilungen des Abacus die Multiplikation oder Division irgendwelcher Zahlen darstellen sollten, indem mit deren Hilfe die Division oder Multiplikation so kompen- dıös vonstatten ging, daß sie bei der großen Menge von Beispielen ı) Büdinger l. ce. 8. 38—42. Gerbert. 851 viel leichter verstanden als durch Worte gezeigt werden konnte. Wer die Kenntnis davon sich vollständig erwerben will, der lese das Buch, welches Gerbert an C. den Grammatiker schrieb. Dort findet er es zur Genüge und darüber hinaus beschrieben.“ Fragen wir uns sogleich, bevor wir weitergehen, ob diese Stelle in Einklang zu bringen wäre mit der Annahme, Wilhelm von Malmes- bury hätte mit seiner allein dastehenden Behauptung von dem ara- bischen Ursprunge des Abacus doch recht. Wir müssen mit ent- schiedenstem Nein antworten. Das Rechnen als Teil der Geometrie ist nicht arabisch. Kolumnen sind, wenigstens in der zweiten Hälfte des X. S. soweit wir irgend wissen, nicht arabisch. Der Gebrauch von nur neunerlei Zeichen, also ohne die Null, ist nicht arabisch. Das alles stimmt aber vollkommen zur Geometrie des Boethius, wenn dieselbe echt wäre, stimmt also auch vermutlich selbst in der Zu- gehörigkeit des Rechnens zur Geometrie mit römischen Traditionen, die sich in den Klöstern erhalten hatten, und deren der Fälscher der Geometrie des Boethius sich nachmals bediente, um seiner unzweifelhaft geschickt angelegten Fälschung den Schein der Wahrheit zu verleihen. Läßt sich doch eine ähnliche Tradition gerade in der Zeit, um welche es sich gegenwärtig handelt, auch an einem ganz anderen Orte nachweisen, wo Gerbert nicht lebte, wohin seine Lehre, die Lehre eines damals noch unbekannten einflußlosen Mönches, so rasch unmöglich gedrungen sein kann. Ein Mönch mit Namen Walther!) ist gerade damals in Speier aufgewachsen, von wo er den Beinamen Walther von Speier erhielt. Er schrieb dann dort als Subdiakonus, und zwar im Jahre 983, ein umfangreiches Gedicht über das Leben des heiligen Christoph ?). Im ersten Gesange schildert er den Studien- gang, welchen er selbst durchgemacht hatte. Die Einrichtung des- selben geht auf Bischof Baldrich zurück, der 970—987 dem Bistume vorstand und, von St. Gallen dahingekommen, die Unterrichtsweise seines früheren Aufenthaltes mitbrachtee Was also Walther von Speier 983 schildert, ist nichts anderes als die Art und Weise, in welcher vor 970, mithin zu einer Zeit, während welcher Gerbert noch in der spanischen Mark sich aufhielt, in St. Gallen unterrichtet wurde. : Von dort gilt also folgendes: Et postquam planas limabant rite figuras Intervallorum mensuris et spatiorum Ordine compositis, cubicus effingere formas Nituntur, mediumque vident incurrere triplum. ") Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter (4. Aus- gabe 1877) I, 263. 2) Abgedruckt in Bernh. Pez, Thesaurus Anecdot. II, 3, pag. 29—122. Die für uns wichtige Stelle pag. 42. 54” 852 39. Kapitel. Collatum primi distantia colligat una, Alterius numeros proportio continet aequa, Respuit haec ambo mediatrıx clausa sub imo. Ordinibus Mathesis gaudebat rite paratıs, Haeec missura tibi solatia, clare Boött. Inde Abaci metas defert Geometrica miras, Cumgque characteribus iniens certamina lusus Ocyus oppositum redigens corpus numerorum In digitos propere disperserat articulosque. Inde superficies ponens ex ordine plures Trigona tetragonis coniunxit pentagonisque, Strenua Pyramidum speciem ductura sub altum. Tum laterum miras erexit ut ipsa figuras, Arripiens radium semetretas fecit agrorum, Quos quodam refluus confudit tempore Neulus! Tradidit et varias in secto pulvere metas. Die ganze Stelle bezieht sich, wie wir um jedes Mißverständnis auszuschließen von vornherein bemerken, auf das Zahlenkampf ge- nannte Spiel, welehes Boethius im Gefängnisse zu seinem Troste er- dacht habe (8.580). Aber wichtiger als der wesentliche Inhalt der Stelle sind die für den Verfasser nebensächlichen für uns das Haupt- augenmerk bildenden Anspielungen. Wir erlauben uns, die in ent- setzlichem Latein verfaßte dem schwülstigen Stile des Martianus Capella augenscheinlich nachgebildete Schilderung zunächst zu über- setzen: „Nachdem sie die ebenen Figuren regelrecht genau auszuführen verstanden mit nach der Ordnung zusammengesetzten Maßen der Zwischenräume und der Strecken, bestreben sie sich kubische Ge- staltungen zu bilden, und sie sehen, daß dieselben auf ein dreifaches Mittel hinauslaufen. Eine und dieselbe Entfernung verbindet das, was durch das erste Mittel zusammengebracht ist; gleiches Verhältnis hält die Zahlen des zweiten zusammen; diese beiden Dinge verwirft die Mittlerin, welche unter dem letzten verschlossen ist. An regel- recht bereiteten Ordnungen erfreute sich die Mathematik, Dir, be- rühmter Boethius, diesen Trost zuschickend. Hierauf bringt die Geo- metrie die wundersamen Linien des Abacus herbei und mit den Zeichen die Kämpfe des Spieles beginnend hatte sie schnell Ordnung hineinbringend die gegenübergestellten Körper der Zahlen in Finger- und in Gelenkzahlen zerstreut. Hierauf stellte sie mehrere Ober- flächen ordnungsmäßig hin, verband Dreiecke mit Vierecken und Fünf- ecken eifrig die Gestalt der Pyramide zur Spitze zuzuführen. Dann errichtete sie Figuren der Seiten wundersam wie sie selbst, machte den Maßstab ergreifend die regellosen Grenzen der Felder, welche zu einer Zeit zurückströmend der Nil vermengt hat, und sie überlieferte die verschiedenen Linien im Staube gezeichnet.“ län un Eon nn de ab nn Gerbert. 853 Wir sehen hier die Kenntnis der. drei verschiedenen Mittelgrößen, des arithmetischen, des geometrischen und des harmonischen Mittels, letzteres allerdings nur negativ geschildert als weder gleiche Ent- fernung noch gleiches Verhältnis zu den äußeren Gliedern aufweisend. Wir hören die seit Herodot unendlich oft wiederholte Erzählung von der Verwischung der Ackergrenzen durch den aus den Ufern ge- tretenen Nil und von der so vermittelten Erfindung der Geometrie. Wir erkennen in der letzten Zeile einen Halbvers des römischen Satirendichters!), der sich in dieser Umgebung recht verlassen vor- kommen muß. Wir vernehmen, daß die Geometrie den Abacus herbeibringt und die Zahlen in Finger- und Gelenkzahlen zer- streut. Das sind aber gerade dieselben Begriffsobjekte, welche Gerbert vereinigt benutzt hat, und sie weisen mit Notwendigkeit darauf hin, daß damals an verschiedenen Orten die Erinnerung an Lehren, viel- leicht eim Werk vorhanden gewesen sein muß, welches in seiner An- ordnung an dasjenige mahnt, welches nachmals Geometrie des Boethius hieß, und daß die Quelle, aus welcher diese Erinnerung geschöpft war, eine römische gewesen sein muß. Dabei sehen wir sogar von der Anrufung des Boethius selbst in unserer Stelle ab, wiewohl man in ihr eine gewisse Gedankenbeziehung zu einem Ausspruche der Chronik von Verdun?) erkennen möchte. In dieser Chronik ist näm- lich Gerbert ein zweiter Boethius genannt, wodurch, wenn nicht die Quelle alles seines Wissens doch jedenfalls so viel gesichert ist, daß die damalige Zeit gewohnt war, Boethius als den allgemeinen Lehrer insbesondere für mathematische Gegenstände zu betrachten. Damit sind wir wieder zu Gerbert zurückgelangt, dessen Lehr- tätigkeit in Rheims, wie wir sagten, bis etwa 982 gedauert hat. Etwa ein Jahr vor dem Ende dieser Zeit, um Weihnachten 980, war Gerbert als Begleiter des Bischofs Adalbero von Rheims in Ravenna am Hofe Otto II, den er gleich seinem Vater für sich einzunehmen wußte. Er zeichnete sich in einer öffentlichen Disputation über philosophisch-mathematische Gegenstände, welche er gegen einen der ersten Dialektiker der Zeit bestand?), und aus welcher er wenn nicht als Sieger doch unbesiegt hervorging, indem der Kaiser am späten Abend wegen Ermüdung der Zuhörer den noch andauernden Rede- kampf unterbrach, rühmlichst aus, und mutmaßlich infolge dieser zum Kaiser angeknüpften Beziehungen wurde Gerbert als Abt an das Kloster Bobbio versetzt, jenes reiche Kloster an der Trebbia, wo der irische Glaubensprediger Columban gestorben ist, wo handschrift- ') Persius Satyr. I, 132: Nee qui abaco numeros et secto in pulvere metas scit. 2) Monument. German. Vl, 8. 3) Werner, Gerbert S. 46—55. 854 39. Kapitel. liche Schätze aller Art den wissensdurstigen Geist empfingen, wo insbesondere damals der Codex Arcerianus vorhanden war, die Samm- lung römischer Feldmesser, von welcher früher (8. 552) die Rede war. Gerbert hat, das werden wir noch nachweisen, diese Sammlung in Bobbio studiert und in Verbindung mit anderen römischen Schrift- stellern, deren Persönlichkeit sich nicht genau feststellen läßt, zur Grundlage einer eigenen Geometrie gemacht, welche während des Aufenthaltes in Bobbio entstand. Dieser Aufenthalt währte allerdings nicht lange. Otto II. starb am 7. Dezember 983. Er allein war Gerberts Freund gewesen, wäh- rend Papst Johann XIV. geradezu als dessen persönlicher Gegner aufgefaßt werden muß. An diesem letzteren hatte mithin Gerbert nichts weniger als eine Stütze in den Kämpfen, welche er, der auf- gedrungene Fremdling, als Abt von Bobbio zu bestehen hatte. Wider- spenstigkeit der untergebenen Mönche, Anfeindungen umswohnender Großen, welche Güter des Klosters an sich gerissen hatten, ver- einigten sich, Gerbert den dortigen Aufenthalt zu verleiden, und kurz nach dem Tode Otto II. war er wieder in Rheims, in der Umgebung seines dort lebenden Freundes, des Bischofs Adalbero. Seine äußeren Geschicke, welche mit der politischen Geschichte der damaligen Zeit im engsten Zusammenhange stehen und namentlich durch das freund- schaftliche Verhältnis, welches Gerbert an die noch lebenden weib- lichen Persönlichkeiten der deutschen Kaiserfamilie, an die Mutter Theophania und an die Großmutter Adelheid des jungen Otto III. fesselte, beeinflußt worden sind, sind ungemein wechselnd. Wahr- scheinlich im Sommer 983 schrieb Gerbert von Bobbio aus an Adal- bero über wissenschaftliche Funde, welche ihm geglückt seien!), er möge sich nur Hoffnung machen auf acht Bücher des Boethius über Astronomie und ganz Ausgezeichnetes über Figuren der Geometrie und nicht minder Bewundernswertes, was er allenfalls noch finden werde. Das ist die Stelle, auf welehe man sich zu beziehen pflegt, um das Vorhandensein der Geometrie des Boethius in jener Zeit zu begründen (S. 576), um zugleich zu begründen, daß Gerbert dieselbe in der frühen Zeit seines ersten Rheimser Aufenthaltes nicht zur Be- nutzung gehabt haben kann. Wahrscheinlich 990 im Lager Hugo Capets, welcher damals Laon belagerte, schrieb Gerbert einen anderen dem Mathematiker nicht uninteressanten Brief an Remigius von Trier?). Es ist aller- ') Oewvres de Gerbert (ed. Olleris) Epistola 76, pag.44: et quae post re- perimus speretis: id est VIII volumina Boetii de astrologia praeclarissima quoque figurarum geometriae aliaque non minus admiranda si reperimus. 2) Ebenda Gerbert. 855 dings nur eine im Texte recht sehr verderbte Antwort auf zwei ver- loren gegangene Anfragen und darum nicht mit aller Bestimmtheit herzustellen. Die wahrscheinlichste Ubersetzung lautet: „Das in bezug auf die erste Zahl hast Du richtig verstanden, daß sie sich selbst teilt, weil einmal eins eins ist. Aber deshalb ist nicht jede sich selbst gleiche Zahl als ihr Teiler zu betrachten; z. B. einmal vier ist vier, aber deshalb ist nicht vier der Teiler von vier, sondern vielmehr zwei, denn zwei mal zwei sind vier. Ferner das Zeichen 1, welches unter der Kopfzahl X steht, bedeutet X Einheiten, welche in sechs und vier zerlegt das anderthalbmalige Verhältnis gewähren. Dasselbe ließe sich auch an zwei und drei sehen, deren Unterschied die Einheit ist.“ Wieder um einige Jahre später fällt, wahrscheinlich in den Spät- sommer 994, ein Brief Otto III. an Gerbert!), der inzwischen 991 zum Metropolitan von Rheims gewählt worden war, wozu ihn schon 988 der sterbende Adalbero bezeichnet hatte, der aber seiner unter Widerwärtigkeiten der verschiedensten Art errungenen Stellung nicht froh werden konnte. Gerbert hatte offenbar an Otto geschrieben und ihm Verse zugeschickt, oder gefragt, ob Otto welche zu machen verstehe, denn nur so hat der Schluß von Ottos Brief einen Sinn, worin es ohne jeden Zusammenhang mit vorhergehendem heißt, daß er bisher keine Verse gemacht, wenn er aber diese Kunst mit Erfolg erlernt haben werde, wollte er so viele Verse senden als Frankreich Männer zähle Für uns hat nur eine frühere Stelle des Briefes Be- deutung, in welcher Otto die dringende Einladung an Gerbert er- gehen läßt, persönlich zu kommen, in ihm der Griechen lebendigen Geist zu erwecken und ihm das Buch der Arithmetik zu erklären, damit er, vollkommen durch die Beispiele desselben belehrt, etwas von der Feinheit der Altvorderen verstehe. Mit größter Wahrschein- lichkeit ist als das Buch der Arithmetik, von welchem hier die Rede ist, die Arithmetik des Boethius erkannt worden, und die Tatsache, daß jenes Werk damals am Kaiserhofe vorhanden war, ist durch das Auffinden einer etwa gleichalterigen, zwar lückenhaften aber sehr richtigen Handschrift zur Gewißheit geworden ?). Otto war 987 der Epistola 124, pag.68. Wir geben die Übersetzung aus Math. Beitr. Kulturl. S. 318 nach Friedleins Verbesserungen des lateinischen Textes. Friedleins Über- setzung dagegen [Zeitschr. Math. Phys. X, 248, Anmerkung **] halten wir am Anfange für ganz falsch, während der Schluß nicht nennenswert von dem uns- rigen abweicht. ) Oeuvres de Gerbert (ed. Olleris) Epistola 208, pag. 141—142. Vgl. Werner, Gerbert 8. 93. °) Der liber mathematicalis des heiligen Bernward im Domschatze zu Hildesheim, eine historisch-kritische Untersuchung von H. Düker. Beilage zum Programm des Hildesheimer Gymnasium Josephinum für 1875. 856 39. Kapitel. Schüler Bernwards, des Bischofs von Hildesheim. Der Domschatz dieser alten Stadt bewahrt aber unter dem Namen des liber mathe- maticalis des heiligen Bernward eine durch diesen verbesserte wenn nicht gar durchweg mit einer älteren Handschrift verglichene Ab- schrift der Arithmetik des Boethius, an deren damaligem Vorhanden- sein demnach nicht der leiseste Zweifel übrig bleibt‘). Ob Otto be- reits durch Bernward mit dem Inhalte des Werkes bekannt gemacht Gerbert noch um die nähere Erläuterung zu bitten beabsichtigte, ob er das Werk nur von Hörensagen oder durch ohne Hilfe unternommene und deshalb fruchtlos gebliebene eigene Durchsicht kannte, das sind Fragen untergeordneten Ranges, auf welche eine Antwort schwerlich gefunden werden möchte. Gerbert nahm die Einladung an und sagte dabei anknüpfend an Ottos eigene Worte: „Wahrlich etwas Göttliches liegt darin, daß ein Mann, Grieche von Geburt, Römer an Herrscher- macht, gleichsam aus erbschaftlichem Rechte nach den Schätzen der Griechen- und Römerweisheit sucht“?). Davon, daß auch andere Weisheit möglich sei, daß Araber sich um die Mathematik verdient gemacht hätten, ist hier, wo es so nahe lag, den künftigen Lehren, welche Gerbert dem jungen Fürsten er- teilen sollte und wollte, diesen erhöhten Reiz fremdartigen Ursprunges zum voraus zu verleihen, mit keinem Buchstaben die Rede, so wenig wie an irgend einer anderen Stelle der von Gerbert herrührenden Briefe oder Werke. Es ist wahr, Gerbert redet um 984 während seines zweiten Rheimser Aufenthaltes zu zwei verschiedenen Persön- lichkeiten?), zu Bonafilius dem Bischofe von Girona und zu seinem alten Lehrer dem Abte Gerald von Aurillac, von einer Schrift des weisen Josephus, des Spaniers Josephus über Multiplikation und Division der Zahlen, welche Adalbero zu besitzen wünsche, und welche ersterer oder letzterer zu besorgen gebeten wird, letzterer mit Berufung darauf, daß der Abt Guarnerius ein Exemplar in Aurillac zurückgelassen habe. Man hat in diesem Weisen, in diesem Spanier Jüsuf ibn Härün al Kindi vermutet®), weil derselbe um 970 in Cordova lebte. Allein von diesem Iüsuf weiß man nicht, daß er sich je mit mathematischen Studien beschäftigt haben sollte, und daß der ‘) Daß in der zweiten Hälfte des X. S. die Arithmetik des Boethius in Deutschland genau bekannt war, ist durch eine Stelle des Schauspiels Hadrian der Hrotsvitha von Gandersheim gesichert, welche bei Günther, Ge- schichte des mathematischen Unterrichts im deutschen Mittelalter (Berlin 1887) S. 83—85 in der Note abgedruckt ist. ?) Oewvres de Gerbert (ed. Olleris) Epistola 209, pag. 142. ») Ebenda Epistola 55, pag. 34 und Epistola 63, pag. 38. *) Suter in den Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik X, 79 (1900). Gerbert. 857 „Spanier Josephus“ ein Araber gewesen sei, ist aus seinem Namen ebensowenig wie aus sonstigen Gründen zu schließen. Die Sprache, in welcher der Betreffende schrieb, war ohne Zweifel nicht die ara- bische, sondern die lateinische, denn was hätte sonst Adalbero mit dem Buche anfangen können, weshalb hätte Guarnerius es in Aurillae zurücklassen sollen zu einer Zeit, in welcher gewiß Kenntnis der ara- bischen Sprache in den Klöstern vergeblich gesucht worden wäre? Wenn nicht alles täuscht, so ist hier der Angelpunkt, um welchen weitere Forschungen nach dem weisen Josephus sich werden drehen müssen, nachdem andere Versuche!) schlechterdings zu keinem Er- gebnisse geführt haben. Man wird Handschriftenkataloge insbesondere von spanischen und südfranzösischen Bibliotheken nach lateinisch ge- schriebenen Stücken mathematischen Inhaltes eines Josephus durch- mustern müssen. Ein solcher Katalog aus dem XVII. S. gibt z. B. an?), der Codex CXV der ehemaligen (jetzt in Paris befindlichen) Bibliothek des Erzbischofs Charles de Montchal von Toulouse ent- halte eine vielleicht von Josephus verfaßte Geometrie. Nur freilich ist gerade diese Spur nicht weiter zu verfolgen, wie an Ort und Stelle vorgenommene Untersuchungen bewiesen haben’). Auf ein arabisches Werk ist wahrscheinlich nur ein aus wenigen Zeilen bestehender Brief zu beziehen*), welcher dem gleichen Zeit- raume wie die beiden ebenerwähnten Briefe angehören dürfte, und in welchem Gerbert von einem gewissen Lupitus von Barcelona, um welchen er selbst sich keinerlei Verdienst erworben habe, ver- möge seines hohen Geistes und seiner freundlichen Sitten das von ihm übersetzte Buch über Sternkunde erbittet und sich zu jeglichem Gegendienste bereit erklärt. Jenes Buch kann nicht leicht ein anderes als ein arabisches gewesen sein. Aber auch dieses hat Gerbert wohl nie früher und ebensowenig auf seinen Brief hin zu Gesicht bekommen, wenn man diesen Schluß aus dem Umstande ziehen darf, daß, wie in früherer so in späterer Zeit mit einer einzigen weiter unten zu be- rührenden Ausnahme, keinerlei Spuren arabischer Sternkunde bei Gerbert erkennbar sind. Dergleichen bedurfte es freilich auch nicht für die Dinge, welche Gerbert vornahm, und welche von trigono- metrischen Rechnungen, einem Gegenstande, bei welchem der Gegen- satz zwischen griechisch-römischen und arabischen Lehren sich be- ') Zur Geschichte der Einführung der jetzigen Ziffern in Europa durch Gerbert. Eine Studie von Professor Dr. H. Weißenborn, Berlin 1892. ?) Bern. de Monfaucon, Bibliotheca bibliothecarum manuseriptarum I, 902. Wir wurden durch M. Curtze auf diese Angabe aufmerksam gemacht. °) Briefliche Mit- teilung von Tannery. ») Oewvres de Gerbert (ed. Olleris) Epistola 60, pag. 36. 858 39. Kapitel. sonders gezeigt haben müßte, vollkommen frei waren. Solcher be- durfte er z. B. nicht durchaus bei der Herrichtung einer Sonnenuhr in Magdeburg, welche er zwischen 994 und 995 vollzog, und zu deren Richtigstellung er Beobachtungen des Polarsternes machte!). Das Wanderleben Gerberts hatte mit der Reise nach dem Kaiser- hofe keinen Ruhepunkt erreicht. Bald sehen wir ihn nach Frankreich zurückkehren, um auf der Synode zu Mouson sein Recht auf das Bistum Rheims persönlich zu verteidigen, bald finden wir ihn in Ottos Heerlager auf einem Feldzuge gegen slavische Stämme an Elbe und Oder, bald überschreitet er im Gefolge Otto III. die Alpen, um dem wüsten Regimente ein Ende zu machen, welches in Rom herrschte und dem deutschen Könige sowohl Ärgernis bereitete als die er- wünschte Gelegenheit zur Einmischung gab. Am 9. Mai 996 starb Papst Johann XV., unter dem Drucke der Nähe des deutschen Heeres wurde Bruno aus dem sächsischen Fürstenhause als Gregor V. zum Papste gewählt, am 21. Mai krönte der neue Papst bereits Otto in Rom zum Kaiser. Gerbert blieb auch nach des Kaisers Abreise in Rom als Ratgeber des noch jugendlichen Papstes. Er erfüllte diese Aufgabe so pflichtgetreu, daß er 998 mit dem Bistume Ravenna be- lohnt wurde, und im folgenden Jahre erfüllte sich der Schicksals- spruch: Scandit ab R Gerbertus in R, post Papa viget R, der ihm in dreifacher Erhebung ein dreifaches R verheißen hatte, von Rheims nach Ravenna, von Ravenna nach Rom! Gregor V. starb am 5. Februar, Gerbert feierte am 2. April 999 seine Inthro- nisation unter dem Namen Sylvester Il. Er verwaltete den päpst- lichen Stuhl fast genau vier Jahre lang bis zu seinem Tode, der am 12. Mai 1003 erfolgte. Die letzten sieben Lebensjahre Gerberts, welche er demnach politisch und kirchlich überaus beschäftigt in Italien zubrachte, gaben ihm daneben Gelegenheit zu schriftstellerischer Tätigkeit. Er ver- faßte eine freilich nur aus zwölf Hexametern bestehende Inschrift zu einem Denkmale des Boethius, mit welchem Otto III. zu Pavia auf seine Veranlassung das Grab des in den Klosterschulen beliebtesten Schriftstellers schmückte?). Er schrieb mutmaßlich um 997 eine Abhandlung über das Dividieren, welche dem Constantinus von Fleury gewidmet ist und als jene Schrift betrachtet wird, von der Richer ) In Magdaburgh orologium feeit, illud recte constituens considerata per fistulam quadam stella nautarum duce sagt darüber Thietmars Chronik L. VI, cap. 61. Thietmar + 1019 als Bischof von Merseburg. Vgl. Werner, Gerbert 8. 281, ?) Ebenda S. 328. TS nen Ka a a ne Fr ee * Gerbert. 859 spricht, indem er diejenigen, welche die Division und die Multiplika- tion großer Zahlen erlernen wollen, auf das Buch verweist, welches Gerbert an C. den Grammatiker schrieb. Als Papst sogar fand Gerbert Zeit, einen astronomischen Brief an Constantinus, der in- zwischen im Jahre 995 Abt von Miei geworden war, zu schreiben'). Als Papst erhielt er einen Brief geometrischen Inhaltes von Adal- boldus über die Ausmessung des Kreises und der Kugel?), in dessen Schreiber man wohl berechtigt ist, Adelbold von Utrecht zu er- kennen, einen Gelehrten, der in vielen Sätteln gerecht, Schriften über Musik?), aber auch ein Geschichtswerk hinterlassen hat, welches an Thietmars Ohronik sich anlehnt*). Vielleicht in die gleiche Zeit fällt ein Schreiben Gerberts an denselben Adalboldus über einen geome- ‘ trischen Gegenstand, von dem wir noch zu reden haben. Gelegenheit bietet uns die Gesamtbesprechung der mathematischen Schriften Gerberts, zu welcher wir jetzt übergehen, und bei welcher wir erst die geometrischen, dann die arithmetischen Dinge behandeln. Die Geometrie?) Gerberts ist in mehreren lückenhaften, sodann in vollständigem dem XI. 5. angehörendem Texte‘) in der Münchener Handschrift 14836 und auch in einer bis gegen das Ende vollstän- digen dem Stifte St. Peter in Salzburg angehörenden Handschrift er- halten. Die Entstehungszeit der Salzburger Handschrift dürfte ziem- lich genau bestimmbar sein. Im Jahre 1127 wurde das Kloster St. Peter durch einen furchtbaren Brand zerstört. Damals konnten nur wenige Schriftstücke gerettet werden, und Codex a. V. 7, welcher die Gerbertsche Geometrie enthält, befindet sich nicht unter den als geborgen bekannten. Von da an wurde nur um so emsiger an der Wiederbeschaffung einer Bibliothek gearbeitet, und es existierte be- reits wieder um 1160 ein Katalog, der sich erhalten hat. In ihm kommt aber vor: Hermannus contracus (sic!) super astrolabium, d. i. dasjenige Werk, mit welchem Codex a. V. 7 beginnt. Da nun eine anderweitige Abschrift des gleichen Werkes, die mit jenem Kata- logeintrag gemeint sein könnte, in St. Peter nieht vorhanden ist, so glauben wir uns um so berechtigter, eben jenen Codex daruntgr zu verstehen und anzunehmen, er sei zwischen 1127 und 1160 ge- schrieben, als alle Zeichen der Schriftvergleichung hiermit in Ein- klang stehen. ı) Oeuvres de Gerbert (ed. Olleris) pag. 479: Gerbertus Constantino Mi- ciacensi Abbati. Über Constantinus vgl. Bubnov pag. 6, Note 3. ?) Oeuvres de Gerbert (ed. Olleris) pag. 471—475. °) Werner, Gerbert $. 69. *) Ebenda 8. 222. °) Agrimensoren 8. 150flgg. °) Curtze, Die Handschrift Nr. 14836 der Königl. Hof- und Staatsbibliothek zu München in den Abhandlungen zur Ge- schichte der Mathematik VII, 75—142 (1895). 860 39. Kapitel. Die Glaubwürdigkeit dieser sauberen, unserer Auseinandersetzung zufolge nicht später als höchstens 1150 mithin nicht ganz anderthalb Jahrhunderte nach Gerberts Tode entstandenen Abschrift, welche in ihren Anfangsworten sich selbst als Geometrie des Gerbert benennt, ist mit Rücksicht auf Einzelheiten und insbesondere auf die ungemein verschiedenartigen Gegenstände, welche in ihr zur Rede kommen, an- gezweifelt worden und auch der Münchener Handschrift hat man kein orößeres Vertrauen entgegengebracht. Die Münchener Handschrift trug ursprünglich keinen Verfassernamen. Erst nachträglich, aber immerhin in noch recht früher Zeit!) ist der Titel Geometria Gerberti dem dem Sammelbande vorausgehenden Inhaltsverzeichnisse eingefügt worden. In der Salzburger Handschrift ist die Überschrift Ineipit Geometria @Gerberti und der Text, jene in roter, dieser in schwarzer Tinte, unzweifelhaft von demselben Schreiber zu Pergament gebracht. Als feststehend ist also zu betrachten, daß in der ersten Hälfte des XI. S. als einheitliches Werk Gerberts galt was schon 100 Jahre früher, wenig mehr als 50 Jahre nach Gerbert, als ein einheitliches Werk vorhanden war. Der Geschichte der Mathematik liegt ganz gewiß mehr an diesem einheitlichen Vorhandensein als daran, ob der Verfasser, der vor 1050 in lateinischer Sprache schrieb, Gerbert hieß oder irgend einen anderen Namen führte. Um nicht an unseres Er- achtens ziemlich müßigen Streitfragen zu haften, erklären wir, daß wir Gerbertsche Geometrie nennen, dessen Verfasser möglicherweise einen anderen Namen führte. Es ist nicht zu verkennen, daß kleine Wider- sprüche, Wiederholungen und dergleichen den Eindruck hervor- bringen, es sei einzelnes vom Abschreiber verfehlt worden, der z. B. ein Kapitel, das im Urtexte zuerst an einer Stelle vorkam, dann durch den Verfasser anderswohin gebracht und an der früheren Stelle durehstrichen wurde, zweimal abgeschrieben haben kann. Dagegen sind jene großen Verschiedenheiten behandelter Dinge umgekehrt danach angetan, die Echtheit der Gerbertschen Geometrie vollauf zu beglaubigen. Wir haben (S. 554) uns darüber ausgesprochen, was bei römischen Feldmessern zu finden war. Geometrische Definitionen und einfachste Sätze der Geometrie der Ebene, Maßvergleichungen und feldmesserische Vorschriften, geometrische Rechnungsaufgaben und die Lehre von den figurierten Zahlen, das alles bildete, meistens nachweislich aus Heron übernommen, den Gegenstand ihrer unselbst- ständigen Schriftstellerei. Genau dasselbe finden wir in Gerberts Geometrie, müssen wir in ihr finden, wenn’ der Verfasser zu sammeln und durch gleichmäßige Schreibweise zu vereinigen trachtete, was ") Curtze l. ce. 8. 78 und 79. a a Gerbert. 861 ihm aus römischen Quellen sei es in Bobbio durch den Codex Arce- rianus, sei es durch andere Quellenschriften, bekannt geworden war. Namentlich für den dritten Teil der Gerbertschen Geometrie ist der Nachweis geführt worden!), daß geradezu nichts in demselben steht, was nicht dem Codex Arcerianus entnommen sein kann. Am schla- gendsten für die Benutzung des Codex Arcerianus ist wohl das Auf- treten jenes Schreibfehlers aus Nipsus (S. 556), wo das Wort hypo- tenusae hinter podismus ausgefallen ist, im 42. Kapitel der Gerbert- schen Geometrie. Aber der Verfasser war kein gewöhnlicher Ab- schreiber. Er bemerkte, daß hier nicht alles in Ordnung war, und um den Sinn der Stelle zu retten, legte er im 10. Kapitel die Definition nieder, die schräg von oben nach unten, oder von unten nach oben gezogene Linie heiße Hypotenuse oder auch Podismus?). Ja er freute sich dieser Definition so sehr, daß er im 12. Kapitel verschiedentlich Podismus sagte, wo Hypotenuse gemeint ist. Es war allerdings ein unfehlbares Mittel, die Richtigkeit einer Nipsusstelle zu wahren, wenn man ihr zuliebe eine neue Worterklärung schmiedete, wenn man, um dieser Eingang zu verschaffen, das neue Wort sofort in Gebrauch nahm. Wenn sich der Verfasser der Gerbertschen Geometrie hier nicht als hervorragenden Geometer bewährte, so ist dieses ebensowenig der Fall, wenn er im 9. Kapitel den inneren, beziehungsweise den äußeren Winkel für gleichbedeutend mit einem spitzen, beziehungsweise stumpfen Winkel hält. Er faßt den rechten Winkel mit einem wagrechten, einem zu diesem senkrechten Schenkel als ursprünglich gegeben auf. Damit ein spitzer Winkel entstehe, muß der zweite Schenkel, der ihn mit dem wagrechten Schenkel bilden soll, im Innern des rechten Winkels liegen, außerhalb dagegen wenn ein stumpfer Winkel ent- stehen soll. Das ermangelt ja nicht eines gewissen Scharfsinnes, nur zeugt es dafür, daß wer so schrieb die Euklidischen Elemente nicht kannte, wo im 16. Satze des I. Buches innere und äußere Winkel, d. h. innere und äußere Dreieckswinkel, unzweideutig erklärt sind. Wir haben die unmittelbare Quelle wenigstens einer großen Abteilung von Gerberts Geometrie im Codex Arcerianus erkannt. Andere Quellen gibt der Verfasser selbst an. Er nennt wenigstens folgende Schriftsteller: Pythagoras im 9. und 11. Kapitel, Platons Timaeus im 13. Kapitel, des Chalkidius Kommentar zu dieser letzteren Schrift im 1. Kapitel, Eratosthenes im 93. Kapitel, den Kommentar ") Agrimensoren $. 229, Anmerkung 304. 2) Oeuvres de Gerbert (edit. Olleris) pag. 417: Illa autem quae, obligqua iusum sive susum dedueta, hebetis vel acuti amguli effectrix videtur hypotenusa id est obliqua sive podismus nominatur. 862 39. Kapitel. des Boethius zu den Kategorien des Aristoteles im 8. Kapitel und endlich die Arithmetik des Boethius in der Vorrede, im 6. und im 13. Kapitel. Wir können es dahingestellt sein lassen, ob alle diese Zitate des Verfassers eigener Gelehrsamkeit entstammen oder selbst wieder zum Teil abgeschrieben sind, jedenfalls wird man andere Namen, Namen, welche nicht nach Griechenland und Rom verweisen, vergeblich suchen. Der mittlere Teil der Gerbertschen Geometrie, Kapitel 16 bis 40, dem Raume nach ein starkes Vierteil des Werkes, enthält kein Zitat und hat bisher noch nicht zurückgeführt werden können. Es ist die praktische Feldmessung, welche hier gelehrt wird, in Vor- schriften Höhen, Tiefen und Entfernungen zu messen!). Da begegnet uns, um nur einiges zu nennen, im Kapitel 16 eine Methode, nach welcher der Beobachter stehend und durch ein unter 45 Grad geneigtes Astrolabium visierend eine Höhe messen soll. Da lehren die Kapitel 21 und 22, teilweise auch 24, Höhenmessungen aus dem Schatten. Im 22. Kapitel ist als einzige (8. 857) angekün- digte Verwandtschaft zu Arabischem das auch ausschließlich in der Salzburger Handschrift an dieser Stelle vorkommende Wort halhidada zu bemerken, welches zweimal, das zweite Mal in der Form alhidada, vorkommt?) Wir deuten uns diese einzige Ausnahme als eine von den (8. 860) erwähnten kleinen Abschreibersünden. Das Wort wird in der Vorlage Randbemerkung gewesen und in den Text herüber genommen worden sein, ganz ähnlich wie es in einer Archimedhand- schrift mit dem Worte Ellipse ging, dessen Archimed sich zuverlässig nicht bedient haben kann. Daß unsere Erklärung das Richtige zu treffen scheint, geht auch daraus hervor, daß die Münchener Hand- schrift, welche gerade den feldmesserischen Abschnitt in offenbar viel zweckmäßigerer und klarerer Anordnung besitzt, als man es der Salzburger Handschrift nachrühmen kann, jenes 22. Kapitel überhaupt nicht aufweist?). | ) Agrimensoren 8. 162—165. Bubnov l.c. hält diese mittlere und die letzte Abteilung für eingeschoben, während die erste Abteilung seiner Ansicht nach von Gerbert herrühren kann. Tannery (Une correspondance d’Eeolätres du XI Siecle) hält die beiden ersten Abteilungen für nicht-Gerbertisch und schreibt die letzte Abteilung Gerbert in dem Sinne zu, es sei ein von diesem herrührender Auszug aus römischen Feldmessern. 2) Das arabische Wort al-"idäda bedeutet eigentlich einen Türpfosten, dann als technischer Ausdruck ein Lineal. Die Engländer gebrauchen seit Ende des XVI. S. das Wort in der Verketzerung athelida. Weigand, Deutsches Wörterbuch, 2. Auflage 1876, ist der Meinung, aus diesem athelida sei unter Vereinigung mit dem vorgesetzten Artikel the das sonst in seiner Ableitung unerklärliche Theodolit entstanden. Vgl. K. Zöppritz in den Annalen der Physik und Chemie, Neue Folge XX, 175—176 (1883). °) Curtzel. c. 8, 96. nat an Da LATE a ia Gerbert. 863 Im 24. Kapitel knüpft sich dann wieder ganz in römischer Weise eine Methode an, bei der von der Mißlichkeit eines Verfahrens ge- sprochen wird, welches den Beobachter zwingt, sein Gesicht glatt an die Erde zu drücken. Da erinnert an Epaphroditus (5.556) und an Sextus Julius Africanus (S. 440) eine im Kapitel 31 gelehrte Höhen- messung mit Hilfe eines massiven rechtwinkligen Dreiecks von den Seitenlängen 5, 4 und 5. Wieder eine den Hilfsmitteln nach ver- schiedene Höhenmessung ist sodann die im Kapitel 35, welche wir die Messung mittels der festen Stange nennen wollen, da sie darauf hinausläuft, eine Stange von bekannter Höhe in den Boden zu be- festigen und alsdann rückwärts gehend den Punkt aufzusuchen, von welchem aus die Sehlinie aus dem Auge des Beobachters nach der Stangenspitze in ihrer Verlängerung die Spitze des zu messenden Gegenstandes, eines Turmes oder dergleichen, erreicht. Kapitel 38 und 39 messen Flußbreiten, die Aufgabe des Nipsus wie vor ihm des Heron. Kapitel 40 endlich kennzeichnet sich selbst als militärische Methode zur Höhenmessung. Zwei Pfeile werden, ein jeder an eine lange Schnur befestigt, gegen die Mauer abgeschossen, auf deren Höhenmessung es abgesehen ist, und zwar richtet man den einen Schuß nach der Spitze, den anderen nach dem Fuße der Mauer. Die beidemal abgewickelten Schnurlängen geben Hypotenuse und Grund- linie eines rechtwinkligen Dreiecks, dessen Höhe zu berechnen nun- mehr keine Schwierigkeit mehr hat. Solche Methoden werden nicht auf einmal erfunden. Der Ver- fasser dieser Abteilung, wer es auch gewesen sein mag, ob Gerbert, ob ein anderer Schriftsteller im oder vor dem XI. S., ob ihm die ganze Gerbertsche Geometrie, ob nur deren mittlere Abteilung an- gehört, erhebt auch keinerlei Anspruch darauf als Erfinder angesehen zu werden. Er sagt stets „die Höhe usw. wird gemessen“, niemals „ich messe“ auf diese oder jene Weise, und um derartige Worte der Aneignung war das Mittelalter nie verlegen, selbst wo sie nicht voll- ständig der Wahrheit entsprachen. Sagt doch der Verfasser der ersten Abteilung, bevor er im 13. Kapitel höchst unbedeutende Bemerkungen ausspricht „Ich glaube unter keiner Bedingung schweigend an Aus- blicken vorbeigehen zu sollen, welche, während ich dies schrieb, die eigene Natur mir eröffnete“!). Ein Weiteres tritt hinzu, welches erst im folgenden Bande im 42. Kapitel zur vollen Geltung kommen kann. Am Anfang des XIII. S. finden wir einige dieser Messungsmethoden, ) Oewvres de Gerbert (ed. Olleris) pag. 425: Sed nequaquam silentio puto transeundum quod interim dum haec seriptitarem ipsa mihi natura obtulit speculandum. 864 39. Kapitel. aber nicht alle bei einem Schriftsteller wieder, von welchem kaum anzunehmen ist, er habe aus der Gerbertschen Geometrie geschöpft, so daß die unmittelbare weniger wahrscheinlich sein dürfte, als eine beiden gemeinsame Abhängigkeit von einer noch älteren, jedenfalls römischen Quelle, mag deren Urheber Frontinus oder Balbus geheißen, oder einen anderen bekannten oder verschollenen Namen geführt haben. Von dieser Annahme aus steigert sich die Wichtigkeit von Gerberts Geometrie nach zwei Seiten hin. Sie lehrt uns nicht bloß, was durch Jahrhunderte hindurch von Methoden der Feldmessung sich erhalten hat, sie füllt uns auch eine empfindliche Lücke in unserer Kenntnis der römischen Verfahrungsweisen aus, wenn wir nicht gar in Erinnerung an die Erzählung des Polybius (S. 362), es sei mög- lich die Höhe einer Mauer von weitem zu messen, für die Entstehung mancher Methoden bis in das griechische Altertum hinaufgreifen müssen. Was den ersten Teil dieser Geometrie betrifft, so haben wir schon auf die Definition von podismus aufmerksam gemacht, welche in ihm sich befindet. In ihm kommt auch das Wort coraustus für Scheitellinie vor, den griechisch-römischen Ursprung bezeugend. Andere Bemerkungen lassen sich an Definitionen und einfachste Sätze der Geometrie kaum knüpfen. Sie sind uns höchstens als Stilprobe von Wert, in welcher die dem Verfasser eigene behäbige Breite hervor- tritt, ein Bestreben, recht klar zu sein, welches er aber niemals da- durch betätigt, daß er Sätze kürzer faßte und den Sinn Verwirrendes wegließe, sondern stets so, daß er von dem Seinigen beifügt. Mit dem dritten Teile haben wir uns oben so weit beschäftigt, daß wir seine Quellen enthüllten. Einige wenige Gegenstände müssen wir noch aus ihm hervortreten lassen. Wir haben (8.377) die heronische Konstruktion des regelmäßigen Achtecks ausgehend von dem Quadrate besprochen; wir haben (S. 560) die Figur, an welcher die Richtigkeit der Konstruktion sich nachweisen läßt, bei Epaphro- ditus wiedergefunden; wir haben sie (8.586) bei dem Fälscher des Boethius auftreten sehen. Die Gerbertsche Geometrie hat die Kon- struktion selbst im Kapitel S9 aufbewahrt, die Figur dagegen nicht abgebildet, weder bei Gelegenheit der Konstruktion, noch bei Gelegen- heit der Achteckszahlen. Überhaupt fühlte der Verfasser offenbar deutlicher als die römischen Schriftsteller, die ihm als Vorlage dienten, daß die Lehre von den figurierten Zahlen nur gewohnheitsmäßig in die Geometrie aufzunehmen sei, nicht eigentlich dort ihren richtigen Platz habe; der ganze Gegenstand war ihm klarer. Er hat nicht eine einzige Figur in seinen arithmetischen Kapiteln benutzt. Er hat für die Fünfecks- und Sechseckszahlen die richtigen Formeln angegeben, wo Epaphroditus und der gefälschte Boethius sich Rechenfehler zu- an. 2 ag oa er Ah Th Br ae ee Er TE BEEL 2 ” Gerbert. 865 schulden kommen ließen. In der Gerbertschen Geometrie finden wir in Kapitel 55 die allgemeine Formel, um aus der Seite die Polygonal- zahl, in Kapitel 65 diejenige, um aus der Polygonalzahl die Seite zu entnehmen, in ihr zweimal in Kapitel 60 und 62 die Formel, welche die Pyramidalzahl aus der Seite und der Polygonalzahl entstehen läßt. Die Summierung der Reihe der Kubikzahlen ist dagegen nicht in Gerberts Geometrie übergegangen. Es kann wohl sein, daß der Ver- fasser den betreffenden Paragraphen des Epaphroditus nicht verstand, wie er im Codex Arcerianus auf ihn stieß, und wer möchte ihm das verübeln, da gerade jener Paragraph dort eine so verderbte Gestalt angenommen hat!), daß er kaum zu verstehen ist, es sei denn, man wisse schon, nach welcher Formel Kubikzahlen sich summieren und ermittle rückwärts aus dieser Kenntnis die richtige Lesart. Man hat die arithmetischen Kapitel von Gerberts Geometrie als Zeugnis für die Unechtheit der ganzen Schrift angerufen. Wir halten gerade umgekehrt diesen dritten Abschnitt für gesichertes Eigentum Gerberts. Gerbert, das haben wir in dem biographischen Teile dieser Erörterung gesagt, hat auch als Papst noch einen Brief von Adel- bold von Utrecht erhalten. In demselben ist, wie oben angedeutet, von der Ausmessung des Kreises und der Kugel die Rede, deren Körperinhalt, crassitudo, dadurch gefunden werde, daß von dem Kubus 10 ; ee ER des Durchmessers 5; abgezogen, beziehungsweise „_ genommen werden. Ein anderer Brief des Adelbold an Gerbert ist verloren gegangen, da- gegen ist Gerberts Antwort erhalten und z. B. in der Handschrift des Salzburger St. Peterstiftes, welche die Gerbertsche Geometrie enthält, hinter der Geometrie und in unmittelbarem Anschluß an jenen Brief Adelbolds über den Kugelinhalt vorhanden. Daraus hat sich die Ver- mutung gebildet, hier liege wohl die Antwort auf ein späteres Schreiben vor, und mit Rücksicht auf die Aufschrift des erhaltenen Briefes Adel- bolds „an Gerbert den Papst“ mußte man sie in die letzten Lebens- jahre Gerberts setzen. Adelbold hatte, wie wir aus Gerberts Antwort ersehen, Skrupel darüber bekommen, daß das Dreieck in seiner Fläche zweierlei Ausmessung besitzen sollte. Er konnte nicht be- greifen, wie das gleichseitige Dreieck, dessen Seite die Länge 7 be- sitzt, ebensowohl den Flächeninhalt 28 (- . ) als auch den Flächen- inhalt 21 (- „) besitze. Gerbert erläutert ihm die Sache ganz richtig. Der wirkliche geometrische Flächeninhalt, sagt er, ist 21 und er gibt dabei die Regel: die Höhe des gleichseitigen Dreiecks ) Agrimensoren $. 127—128. CAnTorR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. or or 866 39. Kapitel. sei immer um =; kleiner als dessen Seite. Die andere Zahl 28, fährt Gerbert fort, sei nur arithmetisch als Fläche zu nehmen und besage, man könne in das Dreieck 28 kleine Quadrate mit der Längeneinheit als Seite einzeichnen, freilich so, daß Überschüsse über das Dreieck erscheinen, wie der Augenschein (Fig. 114) am deutlichsten lehre. An _ N Gerbert, sagte man nun, hat also hier deutlich für die Geometrie verworfen, was in Gerberts sogenannter Geometrie gelehrt ist, mithin ist letztere unecht. Dieser Einwurf ist vollkommen nichtig. Wir wollen nicht bloß darauf hinweisen, daß es eine und dieselbe Handschrift aus der Mitte des XII. S. ist, welche beide Schriftstücke für Gerbert in Anspruch nimmt, noch darauf, daß die Geometrie, wenn sie in Bobbio unter Benutzung des dort befindlichen Codex Arcerianus geschrieben wurde, etwa 20 Jahre älter als der Brief an Adelbold ist, und daß in 20 Jahren Ansichten auch über wissenschaftliche Dinge sich klären und ändern können. Wir geben vielmehr namentlich zu bedenken, was wir oben schon auf den Inhalt der arithmetischen Kapitel selbst uns stützend gesagt haben, daß Gerbert diesen Abschnitt seiner (Geometrie als das erkannte, was er war, und ihn wohl überhaupt nur darum aufnahm, weil er auch in seinen Musterwerken sich an ähnlicher Stelle vorfand.. Ja man kann umgekehrt den Brief eine willkommene Bestätigung der Geometrie nennen, wenn Adelbold, dessen Anfrage ja verloren ist, gerade auf Gerberts Geometrie, wie wir vermuten, sich berief, um die falsche Zahl 28 neben der als richtig bekannten Zahl 21 durch ein Zeugnis zu stützen, welches von dem, an welchen er seine Anfrage richtete, nicht zurückgewiesen werden konnte. Zu dieser Vermutung führen nämlich die Anfangs- worte von Gerberts Brief hin!): „Unter den geometrischen Figuren, welche Du von uns entnommen hast, war ein gleichseitiges Dreieck, dessen Seite 30 Fuß lang war, die Höhe 26 Fuß, die Fläche gemäß der Vergleichung von Seite und Höhe 390.“ Diese Figur nebst den genannten Zahlenwerten ist nämlich in Gerberts Geometrie der Inhalt von Kapitel 49. Zugleich zeigt sich in der Tat eine Ansichtsänderung Gerberts. Während er in dem aus Epaphroditus entnommenen Kapitel der @eo- metrie noch Y3 = = rechnete, sagt er jetzt, wie wir gesehen haben, im Verlaufe des Briefes, die Höhe des gleichseitigen Dreiecks sei Fig. 114. ') In his geometrieis figuris, quas a nobis sumpsisti, erat trigonus quwidam aeqwilaterus, cwius erat latus XXX. pedes, cathetus XXVI, secundum collationem lateris et catheti area OOOXCO. li dns len ein Du Zbaeln „u Gerbert. 867 immer um = kleiner als dessen Seite, und darin steckt der Näherungs- wert Y3 = — dessen Vorkommen bei irgend einem früheren Schrift- steller wir nicht zu bestätigen imstande sind, während er (S. 225) Baumeistern der Perikleischen Zeit bekannt gewesen zu sein scheint, vielleicht auch in den Bauschulen erhalten blieb, weil er bequemerer Rechnung als der heronische Näherungswert, wenn auch weniger genau als jener ist. Der Näherungswert Y2 = 2 findet sich, um dieses gelegentlich hervorzuheben, gleichfalls in der dritten Abteilung von Gerberts Geometrie, in Kapitel 66. Diese Schriften Gerberts, von welchen wir bisher gehandelt haben, waren geometrischen Inhalte. Zwei andere beziehen sich auf Rechenkunst. Zunächst ist aus zwei dem XI. und dem XI. 8. angehörenden Handschriften durch den letzten Herausgeber von Ger- berts Werken eine Abhandlung: Regel der Tafel des Rechnens, Regula de abaco computi überschrieben und als von Gerbert her- rührend bezeichnet zum Drucke befördert worden!). Der Titel dieser ausführlichen Abhandlung ist nicht ohne Interesse in der Richtung, daß in ihm das Wort Computus unzweifelhaft nicht als Osterrech- nung, sondern als Rechnen im allgemeinen zu übersetzen ist, eine erweiterte Bedeutung, deren Möglichkeit wir (S. 834) betonten. Er findet seine Beglaubigung, wenn eine solche nötig erschiene, in einer Äußerung eines Schriftstellers des XI. S., der im folgenden Kapitel von uns besprochen werden muß, Bernelinus. Dieser redet nämlich von der „Regel“ des Papstes’). Wir werden indessen gleich nachher ausführlicher über die Verfasserfrage zu reden haben, wenn wir über den Inhalt der Regel im klaren sein werden, und über diesen kommen wir am’ raschesten hinaus, wenn wir denselben als in wesentlicher Übereinstimmung mit den seinerzeit im 27. Kapitel geschilderten rechnenden Abschnitten der Geometrie des Boethius anerkennen. Die Multiplikationsregeln sind soweit fortgesetzt, daß höchstens 27 Ko- lumnen des Abacus in Anspruch genommen werden, wodurch eine Übereinstimmung mit Richers Schilderung des Rechenbrettes, welches Gerbert in Rheims seinem Unterrichte zugrunde legte, hergestellt ist. Allerdings scheint ein nur flüchtiger Blick auf die Regel dieser Be- merkung zu widersprechen. Wo z. B. die Multiplikation von Einern in Zehner, in Hunderter usf. gelehrt wird, heißt es ausdrücklich, es ) Oewvres de Gerbert (ed. Olleris) pag. 311—348. ?) Ebenda pag. 357: Si domini papae regula de his subtilissime seripta tantum sapientissimis non esset reservata, frustra me ad has compelleres seribendas. 55* 868 : 39. Kapitel. gebe 25 Fälle, und ähnlich, wenn der Multiplikator und ihm ent- sprechend der Multiplikandus von höherer Ordnung gedacht sind. Da könnte man auf das Vorhandensein von nur 26 Kolumnen zu schließen sich versucht fühlen, wenn man zu erwägen vergißt, daß die zählen- den Ziffern beider Faktoren für sich ein zweiziffriges Produkt zu liefern imstande sind, also in der Tat das Vorhandensein einer bei manchen Multiplikationen freibleibenden, bei anderen zu benutzenden 27. Ko- lumne voraussetzen. Das Dividieren ist das komplementäre, sofern der Divisor aus Zehnern und Einern besteht. Besteht derselbe aus Hundertern und Einern, so wird wieder, wie bei Boethius, eine Einheit höchster Ordnung des Dividenden fürsorglich beseitigt und dann zu- nächst durch die Hunderter des Divisors geteilt, als wären sie von Einern gar nicht begleitet. Das Bruchrechnen bildet den Schluß und wendet diejenigen Brüche an, welche wir als ursprünglich römische Duodezimalbrüche wiederholt in Frage treten sahen. Die ganze Schrift ähnelt in ihrer breitspurigen Stilistik der Geometrie Gerberts. Sie trägt, wie wir fast überflüssigerweise be- merken, in jeder Zeile ein durchweg römisches Gepräge. Man kann sogar einiges Erstaunen darüber an den Tag legen, daß nur die ge- meinen römischen Zahl- und Bruchzeichen vorkommen, daß weder im fortlaufenden Texte, noch auf den Zeichnungen des Abacus, welche in der Handschrift jüngeren Datums sich vorfinden, jene Apices be- nutzt sind, welche doch nach Richers nicht mißzuverstehender Schilderung Gerbert in Rheims zu benutzen pflegte. Das läßt einigen Zweifel in die Meinung setzen, Gerbert habe gerade während seiner Rheimser Lehrzeit die Regel aufgeschrieben, beziehungsweise seinem dortigen Unterrichte zugrunde gelegt, eine Meinung, welche in weiterem Widerspruche gegen unsere (S. 850) begründete Ansicht steht, Gerbert habe dort überhaupt nicht nach einem den Schülern in die Hände gegebenen Buche das Rechnen gelehrt, in Widerspruch auch gegen die Worte Richers, man solle Gerberts Buch an C. den Grammatiker zu Rate ziehen. Konnte Richer so schreiben, wenn die ausführliche Regel älteren Datums als das Buch an Constantinus war, in welchem wir sogleich eine wesentlich kürzere Darstellung kennen lernen werden? Mußte Richer die Regel, wenn sie in Rheims in Gebrauch war, nicht unbedingt kennen, während seine Worte die Vermutung erwecken, er wenigstens habe nur von einer Schrift über Rechenkunst aus Gerberts Feder gewußt? Ähnliche nur noch stärkere Bedenken sind einer Berner Handschrift der Regel ent- nommen worden!), Die Vermutung, jene Handschrift gehöre dem ') Gerbert und die Rechenkunst des X. Jahrhunderts von Dr. Alfred Nagl Gerbert. 869 IX. S. an, sie sei also längere Zeit vor Gerberts Geburt geschrieben, hat sich allerdings als irrig erwiesen. Die Zeit der Niederschrift wird nicht über das X. 5. hinaufzurücken sein), und somit könnte das Original allenfalls um 970 entstanden sein. Aber aus dem Berner Kodex geht deutlicher als aus dem dem Drucke der Regel zugrunde gelegten hervor, daß man überhaupt nicht eine Abhandlung, sondern deren zwei vor sich hat, eine über das Multiplizieren und Dividieren mit ganzen Zahlen, eine zweite über das Bruchrechnen, und da nur von einer Schrift Gerberts die Rede sein könnte, so wäre mindestens die zweite Abhandlung einem Verfasser zuzuweisen, der spätestens als Gerberts Zeitgenosse lebte, der durch seine Duodezimalbrüche sich als Schüler römischer Rechenkunst zu erkennen gibt, und der mit diesen Brüchen die komplementäre Division ausübt! Wieder eine andere Auffassung ist diejenige’), welche die ganze Schrift Gerbert abspricht und sie zwar auch als aus verschiedenen Bestandteilen zu- sammengesetzt erachtet, aber Heriger von Lobbes für den Ver- fasser des ersten Hauptteiles hält. Heriger habe etwa zu gleicher Zeit in Lobbes wie Gerbert in Rheims gelehrt, so daß eine Beein- flussung des einen durch den anderen, Gerberts durch Heriger wie Herigers durch Gerbert, ausgeschlossen erscheine. Wir verzichten darauf eine Entscheidung zu treffen, wo nirgend strenge Beweise vor- liegen, vielmehr nur Vermutung gegen Vermutung steht. Uns darf die eine Behauptung genügen, in welcher, soweit wir sehen, alle über- einstimmen, daß die Regel zu Gerberts Lebzeiten verfaßt ist, und daß die komplementäre Division aus Rom stammt. Dagegen wird gegen eine andere Schrift Gerberts kein Zweifel erhoben. Büchlein über das Dividieren der Zahlen, kbellus de numerorum divisione, ist die Überschrift der Abhandlung?), welche durch einen Brief an Constantinus eingeleitet, kürzer und weniger klar, als die Regel es tut, den genau gleichen Gegenstand behandelt gleichfalls ohne der Zahlzeichen auch nur mit einer Silbe zu gedenken. Der Einleitungsbrief lautet in seinen ersten wichtigen Sätzen wie folgt*): „Der Stiftslehrer Gerbert seinem Constantinus. Die Gewalt der Freundschaft macht fast Unmögliches möglich, denn wie würde ich versuchen, die Regeln der Zahlen des Abacus zu erklären, wenn Du nicht, Constantinus, mein süßer Trost der Mühen, die Veran- (Wien 1888, Sonderabdruck aus Bd. 116 der Sitzungsberichte der phil.-histor. Klasse der Wiener Akademie). ') So das Ergebnis genauer Erwägungen von Herrn Delisle in Paris. ®) Bubnorv 8. 205, Note 1. ®) Oeuvres de Gerbert (ed. Olleris) pag. 349—356. *) Math. Beitr. Kulturl. S. 320 verbessert nach dem in der Ausgabe von Olleris abgedruckten gereinigten Texte. 870 39. Kapitel. lassung bötest? So will ich denn, obwohl etliche Jahrfünfe ver- gangen sind, seit ich weder das Buch in Händen hatte noch in Ubung war, einiges in meinem (Gedächtnisse zusammensuchen, und es zum Teil mit denselben Worten, zum Teil demselben Sinne nach vor- bringen.“ Es geht daraus hervor, daß Gerbert zu Constantinus auch wohl früher schon in dem Verhältnisse des Lehrers zum Schüler ge- standen haben muß, weil er sonst nicht den Titel Stiftslehrer mit seinem Namen in Verbindung gebracht hätte, was er außerdem nur dreimal in den uns bekannten Briefen tat!). Wir wissen auch, daß die Bekanntschaft beider aus den Jahren 972 bis 982 herrührt, aus der Zeit, in welcher Gerbert wechselweise lernend und lehrend aus der Stellung des Stiftsschülers in die des Stiftslehrers übersprang, um dann wieder für einzelne Stunden in die erstere zurückzukehren. An jene Zeit erinnert Gerbert offenbar mit den Worten, es seien etliche Jahrfünfe, aliguot lustra, vergangen, und diese Zeit von mindestens 15 bis 20 Jahren zu der des Rheimser Aufenthaltes hinzugefügt liefert etwa das Jahr 997, in welchem (8. 858) der Brief an Con- stantinus höchst wahrscheinlich geschrieben ist. Seit einigen Jahr- fünfen, sagt Gerbert, habe er weder das Buch in Händen noch irgend Übung gehabt, und der letzte Teil dieses Satzes bezieht sich zu- verlässig nicht auf Übung im Rechnen, sondern im Rechenunterrichte, denn das ist es, was Öonstantinus von ihm verlangte. Ein Buch zum Rechenunterrichte war es also auch, welches als seit vielen Jahren vermißt bezeichnet ist. Damals, als Gerbert noch in Rheims lehrte, ja da hatte er das Buch, damals ließ er auch die Vorschriften sich aber- und abermals von den Schülern hersagen, sagte er sie ihnen vor, stets dieselben Ausdrücke gebrauchend, und nur dadurch wird es ihm möglich, auch jetzt noch teils mit denselben Worten wie damals teils dem Sinne nach das Gleiche aus dem Gedächtnisse wieder herzustellen. Und so sind wir nun zu der letzten Frage gelangt: Was für ein Buch war es denn, von welchem Gerbert redet? Man hat vermutet, die „Regel“ sei damit gemeint. Wir haben die Gegen- gründe entwickelt, welche uns gegen diese Vermutung einnehmen. Sollten sie als entscheidend angesehen werden, dann muß es freilich ein anderes Buch gewesen sein, überhaupt kein von Gerbert selbst verfaßtes, für welches er auch wohl eine andere Bezeichnung gehabt hätte, als kurzweg das Buch, brum. Auch das Buch des weisen Josephs des Spaniers kann es nicht wohl gewesen sein, da dieses im ') Oewvres de Gerbert (ed. Olleris) Epistola 11: Gerbertus quondam scola- sticus Ayrardo suo salutem (pag. 7). Epistola 17: Hugoni suo Gerbertus quon- dam scolasticus (pag. 10). Epistola 142: Gerbertus scolaris abbas Remigio monaco Treverensi (pag. 78). ‚ Gerbert. 871 Jahre 984, wie wir sahen (8. 856), von Rheims aus gesucht wurde. Aber über diese negative Bestimmung, welches Buch es nicht war, das Gerbert vermißte, kommen wir freilich nicht hinaus. Die „Regel“ ist sodann von Gerbert als Papst — wie der Ausspruch des Bernelinus gleichfalls verstanden werden kann — verfaßt worden, erst nachdem das Büchlein für Constantinus aus dem Gedächtnisse zusammen- geschrieben war. Gerbert, nehmen wir an, beabsichtigte, nachdem er den Gegenstand sich wieder vollständig gegenwärtig gebracht hatte, ihn endgültig und in genügender Klarheit für jeden Leser abzuschließen. Doch gleichviel. Diese kleinen Meinungsverschiedenheiten sind im Grunde sehr geringfügig gegenüber der Aufgabe, die uns bleibt: zu zeigen, welche Bedeutung Gerberts Lehren von Anfang an besessen und mehr und mehr gewonnen haben. Die realistischen Studien!) waren mehr und mehr aus den Klöstern verschwunden, in welchen sie unter Alcuins unmittelbarem und mittelbarem Einflusse ein, wie es schien, ewiges Bürgerrecht sich erworben hatten. Nur ganz vereinzelt waren noch Mönche zu finden, welche weltliches Wissen besaßen oder nach solchem strebten. Büchersammlungen von mehr als 15 oder 20 Bänden gab es nur in den wenigsten Klöstern. Die Bücher selbst waren ihrer Seltenheit wegen einzeln an Kettchen befestigt. Der Abt hatte nicht einmal das Recht sie nach auswärts zu verleihen, außer nach bestimmten anderen Klöstern, welche einen Mitbesitz an den Büchern genossen. Nun trat Gerbert auf. Er gab dem Unterrichte zu Rheims, wo die Erinnerung an Remigius, der einst jene Schule zu Ansehen brachte, fast verloren gegangen war, ein neues Leben. Er lehrte freilich nicht wesentlich Neues, aber er lehrte es mit neuem Erfolge, und der Er- folg wuchs noch mit der Zunahme der persönlichen Bedeutung des Lehrers. Gerbert hatte allen Anfeindungen zum Trotze die höchste Stufe kirchlicher Würden erstiegen. Er war ein Papst an Sitten- reinheit einzig dastehend unter den Päpsten seines Jahrhunderts, welche in wüster Sinnlichkeit dem heiligen Charakter ihrer Stellung Hohn boten, so daß ihr Regiment mit Recht als eine Pornokratie hat verunglimpft werden Können. Ganz natürlich, daß jetzt die Gerbertsche Schule an Ansehen gewann. Der Glanz des Lehrers strahlte auf seine früheren Zöglinge zurück, gab ihnen selbst eine höhere Weihe. So würde es unzweifelhaft, wenn vielleicht auch nur mit kurz andauerndem Erfolge, gewesen sein, wenn die Lehren Gerberts weniger klar, weniger nützlich, weniger vortrefflich gewesen ') Oewores de Gerbert (ed. Olleris): Vie de Gerbert pag. XNXIV—XXXII ist eine sehr hübsche Übersicht über den Geisteszustand der Zeit. 872 39, Kapitel. wären. Um wieviel mächtiger mußte die Wirkung sein, wo der innere Wert dem äußeren Rufe gleich kam, wo unter päpstlicher Fahne zur Modesache wurde, was verdiente keiner Mode unterworfen zu sein. Jetzt regte es sich wie auf ein gegebenes Zeichen aller Orten. Die Bibliotheken wurden wieder zahlreicher. Neue Abschreiber ver- vielfältigten die selten gewordenen Schriften. Der Unterricht, und was für uns allein in Betracht kommt, auch der mathematische Unter- richt nahm an Umfang zu. Gerberts Geometrie scheint freilich trotz oder vielleicht wegen ihrer verhältnismäßig höheren wissenschaftlichen Bedeutung eine rechte Wirkung nicht erzielt zu haben. Die geometrische Unwissen- heit war, wie wir mehrfach hervorgehoben haben, bei Römern und folglich auch bei Schülern der Römer eine noch dichtere als die arithmetische. Der Boden war in diesem Gebiete noch weniger zu- bereitet fruchtbaren Samen aufzunehmen. Was wir wenigstens von mönchischen Versuchen in der Geometrie vor Gerbert kennen, be- schränkt sich auf eine Zeichnung'), welche ein Schreiber des X. oder XI. S. einem Auszuge aus der Naturgeschichte des Plinius beifügte, und in welcher man eine graphische Darstellung unter Zugrunde- legung des Koordinatengedankens erkannt hat. Wir stellen nicht in Abrede, daß hier der Anfang zu einer Betrachtungsweise vorhanden ist, die am Ende des XIV. S. an Wichtigkeit und Verbreitung ge- wann und das Wort latitudines, welches Plinius. noch als Breite braucht, mit dem Sinne der Abszissen begabte, aber in der Zeit, in welcher jene Figur entstand, fällt es uns schwer an das Bewußtsein ihrer Tragweite zu glauben. Auch von Nachfolgern Gerberts in geo- metrischen Untersuchungen ist so wenig bekannt, daß wir es füglich hier anschließen können. Da ist zunächst von Briefen zu reden, deren Schreiber teils wenig bekannt teils unbekannt sind, aber alle der ersten Hälfte des XI. S. angehören. Da überdies sämtliche zehn Briefe sich handschriftlich in Paris und nur in Paris erhalten haben, so war es durchaus gerechtfertigt, sie gemeinschaftlich dem Drucke zu über- geben?). Zuerst sind 8 zwischen Radulf von Lüttich und Regim- bold von Cöln gewechselte Briefe zum Abdruck gebracht. Dann folgt ein weiterer Brief an Regimbold, dessen Schreiber sich als Mönch B. bezeichnet, eine Bezeichnung welche vollständiger Namen- losigkeit gleichkommt. Das letzte Stück der Sammlung führt einzig ') 8. Günther, Die Anfünge und Entwieklungsstadien des Coordinaten- prineipes in den Abhandlungen der naturf. Gesellsch. zu Nürnberg VI. Separat- abdruck 8. 20 figg. und 48—49. ?) Une correspondance d’ecolätres du XI. Siecle publiee par M. Paul Tannery et M. l’abb&e Clerval in den Notices et ex- traits XXXVI, 487—543. Paris 1900. Gerbert. 873 den Titel De Quadratura Circuli. Radulf von Lüttich wird ge- meinsam mit Regimbold von Cöln als Mathematiker aus der un- mittelbar auf Gerbert folgenden Zeit gerühmt'!), allein diese Erwäh- nung ist durch keinerlei Beziehung auf ältere Schriftsteller gestützt und darum unverwertbar. Der einzige Zeuge, welchen man anrufen könnte ist Adelmann, der in seinen Versen auf berühmte Zeit- genossen Regimbold von Cöln nennt und von ihm sagt, er habe sich lange in Lüttich aufgehalten?). Alles, was wir sonst wissen, stammt aus dem Briefwechsel selbst. Regimbold hat bei vorübergehendem Besuche in Chartres dort mit dem berühmten Bischof Fulbert ver- kehrt?) und erwähnt diesen Besuch mit der Bitte Radulf möge bei Fulbert eine Erkundigung einziehen. Fulberts Todestag war der 10. April 1028, also ist der Brief vor diesem Tage geschrieben. Re- gimbold nennt ferner den Bischof Adelbold von Utrecht®), und dieser gelangte 1010 zu der ihm beigelegten Würde, also ist der Brief nach 1010 geschrieben. Mehr aber, als daß der Briefwechsel der Zeit zwischen 1010 und 1028 angehört, läßt sich nicht behaupten. Es ist ja ganz interessant, daß Regimbold sagt, er lehre seit mehr als 20 Jahren’), er werde nächstens nach Rom reisen®), daß von Wazo in einer Weise die Rede ist, als wäre er Regimbolds Lehrer ge- wesen’), aber zur genaueren Datierung der Briefe dienen diese Tat- sachen keineswegs. Der Briefwechsel selbst geht davon aus, Boethius habe in seinen Erläuterungen zu den Kategorien des Aristoteles ge- sagt: scimus triangulum habere tres interiores angulos equos duobus rectis®). Diese Behauptung wird nach verschiedenen Richtungen be- sprochen. Radulf hält den Satz von der Winkelsumme eines Be- weises wert und sucht ihn für das gleichschenklig rechtwinklige Dreieck zu liefern, indem er die Diagonale eines Quadrates zieht. Bei dieser Gelegenheit bemerkt er, das Quadrat über der Diagonale sei das Doppelte des ursprünglichen Quadrates und die Diagonale selbst sei r der Quadratseite?). Regimbold dagegen entnimmt dem Geometricum des Boethius die Diagonale sei i- der Quadratseite !9). Der Herausgeber des Briefwechsels hat mit Recht hervorgehoben, ") Karl Werner, Gerbert von Aurillac, die Kirche und Wissenschaft seiner Zeit 8. 77 (Wien 1878). ?) Correspondance d’ecolätres pag. 522 lin. 14. °) Ebenda pag. 532 lin. 22—23. *) Ebenda pag. 522 lin. 13 Trajeetensem Episcopum Adel- boldum. °) Ebenda pag. 529 lin. 24. °) Ebenda pag. 532 lin. 4. 7) Ebenda pag. 522 lin. 14 und pag. 531 lin. 8. °) Ebenda pag. 518 lin. 12. °) Ebenda pag. 515 lin. 24 suwperbipartiens quintas. "1% Ebenda pag. 525 lin. 2—4 In Geo- metrico dieit Boethius: Omne diagonium equilateri quadrati habet ipsum latus in se et eius quincuncem. 874 39. Kapitel. diese Regel oder v2 = = finde sich in keiner dem Boethius zuge- schriebenen Geometrie, auch nicht in der gefälschten, sie sei dagegen im 66. Kapitel von Gerberts Geometrie, also in deren dritten Ab- teilung vorgetragen (S. 867). Es leuchtet ein, daß hieraus nur eine einzige Folgerung gezogen werden darf, diejenige daß im ersten Viertel des XI. S. in Cöln eine ßeometrie des Boethius be- kannt war, welche nicht mit irgend einer von den Hand- schriften übereinstimmte, die heute mit Recht oder Un- recht Boethius zugeschrieben werden. Regimbold wendet nun die Regel, daß die Hypotenuse des gleichschenklig rechtwinkligen 17 12 gebenen Umfange die einzelnen Seiten zu finden. Diese Rechnung ist dadurch besonders merkwürdig, daß Regimbold sieh nicht, wie Radulf es tut, mit den römischen Duodezimalbrüchen begnügt um die Seitenlängen annähernd zu berechnen, sondern daß er den Bruch Dreiecks seiner Kathete sein muß, weiter an, um aus dem ge- En anwendet!). Einen weiteren Gegenstand des Briefwechsels bilden die Ausdrücke pedes recti, quadrati, crassi, deren Bedeutung Radulf entfallen war, bis Regimbold sie ihm als Längen, Flächen und Körper- maße in Erinnerung bringst. Da fällt es Radulf ein, daß er in Chartres die Erklärung aus dem Albinus kennen gelernt habe, und er benutzt die Gelegenheit um Regimbold dreist zu bitten, ihm den Albinus oder, wenn der nicht vorhanden sein sollte, den sogenannten Podismus zuzuschicken?). Ob Albinus irgend ein Werk Aleuins war, ob der Podismus einen Auszug aus römischen Feldmessern be- zeichnete, wenn nicht Gerberts Geometrie, darüber ist nichts bekannt, - und ebenso verhält es sich mit einer von Regimbold angerufenen Regel der Divisionen und der Brüche, welche vorschreibe, wenn der Divisor den Dividendus übersteige, solle man den Dividendus als Rest bezeichnen oder zur intellektualen Division seine Zuflucht nehmen°). Der letztere Ausdruck bedeutet offenbar einen gewöhn- A ” 17 lichen Bruch wie das vorerwähnte re Fast noch mehr Interesse als an den auf Rechnung bezüglichen Fragen hatten aber Radulf sowohl als Regimbold daran, was Boethius wohl unter inneren und unter äußeren Dreieckswinkeln verstanden habe. Wir erinnern uns, daß im 9. Kapitel der Gerbertschen Geometrie ($. 861) die gleiche Frage dahin beantwortet wurde, der spitze Winkel sei ein innerer, der ') Correspondance d’ecolätres pag. 526 lin. 3 X et VII ducentesimas qua- dragesimas sextas siliquas. _?) Ebenda pag. 531 lin. 15—20. °) Ebenda pag. 518 lin. 21—24. Gerbert. 875 stumpfe ein äußerer, bei jenem liege der mit der Grundlinie den spitzen Winkel bildende Schenkel im Inneren eines rechten Winkels, bei diesem befinde sich der den stumpfen Winkel bildende Schenkel außerhalb des rechten Winkels. Genau die gleiche Meinung besitzt Regimbold?). Auch Fulbert setzte den inneren und spitzen, den äußeren und stumpfen Winkel einander gleich, aber mit anderer Begründung: bei dem spitz- winkligen Dreiecke falle die Senkrechte von der Dreiecksspitze auf die Grundlinie in das Innere des Dreiecks, bei dem stumpfwinkligen Dreiecke falle sie außerhalb?). Radulf endlich meint, von inneren Winkeln rede man in der Ebene, von äußeren im Raume?°). Im Laufe des Briefwechsels erscheinen noch andere Deutungsversuche, auf welche wir einzugehen verzichten. Ob der Mönch B. von dem Briefwechsel zwischen Regimbold und Radulf Kenntnis hatte, läßt sich weder behaupten noch leugnen. Jedenfalls beginnt er seinen Brief an Regimbold mit der Verdoppe- lung des Quadrates, von der er behauptet sie sei durch Messung möglich, in Zahlen unmöglich‘). Man solle die Diagonale des / 17 i i R kleineren Quadrates, welche _, von deren Seite sei, als Seite des größeren Quadrates benutzen. Wir fassen die bei uns gesperrt ge- druckte Behauptung so auf, daß B. das Bewußtsein hatte Y2 könne durch Rechnung niemals genau, sondern nur annähernd, etwa in der Größe n gefunden werden, während die Konstruktion des doppelten Quadrates mittels der Diagonale des einfachen Quadrates vollziehbar sei. Als zweite Aufgabe gilt für B. die Quadratur des Kreises. Auch auf sie verweist eine Stelle aus den Erläuterungen des Boethius zu den aristotelischen Kategorien. Aristoteles hatte die Kreisquadratur als möglich aber als unbekannt bezeichnet. Boethius hatte dazu be- merkt?), jene Unbekanntschaft gelte nur für die Zeit des Aristoteles, später habe man den Kreis quadrieren lernen. Ob Boethius das z \ DR de ; ; ; x archimedische m —-—- für genau richtig hielt, ob er, wie vermutet worden ist‘), an eine Quadratur mittels eigens dazu erfundener Kurven, wie die Quadratrix, dachte, ist wohl nicht zu entscheiden. Jedenfalls rechnet B. mit der archimedischen Zahl, wenn er den Durchmesser 7, den Kreisumfang 22 wählt und = mal = als Kreisfläche findet; das sei die alte Regel für den Kreis in den geometrischen Schriften‘). ı) Correspondance d’ecolätres pag. 526 lin. 16—27. ?, Ebenda pag. 532 lin. 27—28. °) Ebenda pag. 520 lin. 14—15. *) Ebenda pag. 533 lin. 13—14: et hoc ın mensura, in numeris nunquam. 5), Ebenda pag. 534. 6) Ebenda pag. 508 in der Einleitung Tannerys. ") Ebenda pag. 534 letzte Zeile: Haee in Geometricis vetusta circuli habetur regula. 876 39. Kapitel. Welehe Schriften B. hier meint, ob vielleicht die Geometrica das gleiche bedeuten, was bei Regimbold Geometricum Boethit heißt!), darüber kann man nicht entscheiden, nur so viel scheint aus dem Wortlaute hervorzugehen, daß B. von einer ganz bestimmten, Regim- bold, an den sein Brief gerichtet ist, wie ihm bekannten älteren Schrift redet. Als Seite des —- — 38,5 großen Quadrates?) bezeichnet nn 6,205. Als weniger beschwerliche Qua- B. die Länge 6+ 2 +50 dratur des Kreises könne man sich damit begnügen = des Durch- messers als Diagonale des Quadrates zu benutzen?). Augenscheinlich entspricht diese Vorschrift dem Werte x = 3 Das letzte anonyme Stück der im Druck vereinigten Sammlung heißt De Quadratura Circuli*). Diese kleine Schrift lehrt verschiedene Quadraturen kennen, unter welchen wir nur die erste hervorheben, welche m des Kreisdurchmessers als Quadratseite wählt, d. h. = (5) setzt, wie es im Rechenbuche des Ahmes der Fall war. Da kein einziges Vorkommen dieses Wertes in den fast 3000 Jahren, um welche Ahmes von der anonymen Schrift absteht, bekannt ist, so dürfte nach unserem heutigen Wissen eine Abhängigkeit ausgeschlossen sein, man wird vielmehr an eine selbständige Nacherfindung zu denken haben’). Der Anonymus spricht nach der Quadratur des Kreises auch noch von äußeren und inneren Winkeln, welche er wie Regimbold als stumpfe und spitze Winkel deutet, und von der Winkelsumme eines gleichseitigen Dreiecks, welches er zu einem doppelt so großen Rechtecke vervollständigt, dadurch an Radulfs Beweisführung bei dem gleichschenklig rechtwinkligen Dreiecke erinnernd. ; Nächst den in der beschriebenen Sammlung vereinigten Stücken haben wir ein von Franco von Lüttich verfaßtes Werk in 6 Büchern über die Quadratur des Kreises®) zu nennen. Eine Chronik’) berichtet, die Schrift über die Quadratur des Kreises sei dem Erz- ') Correspondance d’ecolätres pag. 525 lin. 2. ?) Ebenda pag. 535 lin. 1—2. ®) Ebenda pag. 536 lin. 21—24. *) Ebenda pag. 536—538. °) Ebenda pag. 512 lin. 6—11 in Tannerys Einleitung. °®) Ang. Mai, Olassiei autores e vaticanis codieibus editi III, 346—348. Roma 1831, veröffentlichte Bruchstücke davon. Dr. Winterberg gab das ganze Werk heraus. Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik IV, 137—183 (1882). Im Anschluß ist 8. 183—190 noch eine zweite nicht von Franco herrührende kleinere Schrift über die Quadratur des Kreises zum Abdrucke gebracht. Wir zitieren Franco mit der betreffenden Seitenzahl. ‘) Sigebert Gembl. Chron. ad ann. 1047 bei Pertz Mon. VIII, 359. Vgl. Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande II, 68, Anmerkung 278. Gerbert. 877 bischof Hermann gewidmet, und da Hermann II. der allein in Frage steht, von 1036 bis 1055 Erzbischof von Cöln war, so würde da- durch die Entstehungszeit jener Schrift in sehr enge Grenzen einge- schlossen. Die in Rom erhaltene Handschrift nennt den Namen des Erzbischofs, dem das Werk zugeeignet ist, nicht, und so erscheint jene Angabe immerhin zweifelhaft. In der Vorrede sagt Franco, die Kenntnis der Kreisquadratur von Aristoteles ausgehend habe sich, wie man behaupte, unzweifelhaft bis zu Boethius erhalten?), dann sei alles so sehr verloren gegangen, daß alle Gelehrten von Italien, von Frankreich und von Deutschland hierin Fehler machten. Unter denen, welche sich vergebliche Mühe gaben, sei Adelbold gewesen, dann Wazo, der größte der Gelehrten?) und Gerbert, der Wiederhersteller der Wissenschaft. An anderen Stellen wird auf Gerbert, auf Re- gimbold und Racechin?) Bezug genommen. Auch der Arbeiten des Boethius über Kreisquadratur wird wiederholt gedacht*), an deren Vorhandensein also damals kein Zweifel obwaltetee Wir wissen, daß die Erläuterungen des Boethius zu den aristotelischen Kategorien damit gemeint sind. Franco zeigt sich in der ganzen Schrift als ge- wandten Rechner, dem namentlich die Anwendung von Brüchen — die durchweg römische Duodezimalbrüche sind — keine Schwierigkeit bereitet. Sein geometrisches Wissen dagegen ist so gering, daß nicht einmal die Kenntnis des pythagoräischen Lehrsatzes bei ihm anzu- nehmen ist. Die geschichtliche Ausbeute ist dem entsprechend eine hauptsächlich arithmetische. Wir erfahren, daß Regimbold Y2 durch 3 MR R 3 : R i 75 ersetzte °), was wir aus Regimbolds Briefen schon wissen, ein Wert, den (8.436) Theon von Smyrna kannte, den (8. 640) wahrscheinlich auch Inder benutzten. Wir hören‘), daß die Kreisfläche bald als Quadrat von u des Durchmessers, bald als Quadrat des vierten Teils der Peripherie betrachtet wurde. Beide Verfahren sind uns bekannt, jenes aus Indien (S. 641), dieses aus spätrömischen Feldmessern (5. 591). Ferner hält Franco selbst‘) z des Durchmessers für die Seite des dem Kreise flächengleichen Quadrates, rechnet also mit 9 x -(5) - 3,24., Daß die Kreisfläiche des Kreises vom Durehmesser 14 durch die. Zahl 154 dargestellt werde, zeigt Franco®), indem er den Umfang, ') Eius itaque scientiam haud dubium ferunt usque ad Boetium perdurasse. Franco 143. ?°) Wazo starb 1048 als Bischof von Lüttich. °) Franco 158 - und häufiger. *) Ebenda 166, 184. ?) Ebenda 158. 6%) Ebenda 145. ?”) Ebenda 187. °%) Ebenda 152. 878 39. Kapitel. welcher die Länge 44 habe, in 44 gleiche Teile zerlegt und jeden Endpunkt eines Teiles mit dem Kreismittelpunkt verbindet. So entstehen 44 Dreiecke, welche paarweise in entgegengesetzter Rich- tung aneinander gelegt je ein Rechteck, im ganzen deren 22 liefern mit den Seitenzahlen 1 und 7. Auch diese Beweisführung erinnert so sehr an die des Inders Ganeca (S. 656), daß man versucht wird, nach einer beiden gemeinschaftlichen Quelle zu fahnden. Wir wollen endlich noch bemerken, daß Franco von den Streitigkeiten über die Bedeutung eines äußeren und eines inneren Winkels weiß!) und sich dahin entscheidet, ein äußerer Winkel sei ein solcher der außerhalb der betreffenden Figur liege. Hier ist der Ort einzuschalten, was wir von der gefälschten Geometrie des Boethius wissen. Es ist blutwenig. Die Erlanger Handschrift gehört dem XII. 5. an. Damals spätestens ist also das ungemein geschickt gemachte Schriftstück verfaßt worden. Es war dadurch vorbereitet, daß ältere Handschriften zwar keineswegs gleichen Inhalts, aber fast gleichen Titels vorhanden waren, deren einige bis auf den heutigen Tag erhalten sind. Damit stehen wir am Ende unseres Wissens. Wer der Fälscher war, und — eine Frage, die sich aufdrängen muß — was er mit seiner Fälschung beabsichtigte, das hat noch’ niemand erörtert, noch niemand zu erörtern gesucht. Überlassen wir es anderen Forschern hier Vermutungen aufzustellen. Wir verlassen die Geometrie der Zeit vor dem Schlusse des XII. S. und kehren zu der (S. 871) unterbrochenen Geschichte der Rechen- kunst zurück. Das Kolumnenrechnen fand mit Gerberts wachsendem Ansehen allgemeine Verbreitung. Wir dürfen uns mit der so allgemeinen Behauptung nicht begnügen, wir müssen ihr näher treten. Sie wird uns die Gelegenheit geben, die Männer zu nennen, welche aus Ger- berts Schule hervorgegangen jene Verbreitung vollzogen, wird uns zugleich Gelegenheit geben, zu sehen, wie seit 1100 etwa, seit dem Beginn der Kreuzzüge, wirklich Arabisches in das Abendland ein- drang, wie ein eigentümlicher Kampf um das Dasein zwischen der alten und neuen Rechenkunst sich entspann, zwischen dem Kolumnen- rechnen und dem Zifferrechnen, deren jedes seine Vertreter besaß. Man hat sich daran gewöhnt, diese Vertreter als Abacisten und Algorithmiker zu bezeichnen, und unter diesen Sammelnamen wollen wir sie kennen lernen. ı) Franco 143—144. en ie un LS ae ua a 0 un u A ten Ann in u 5 din m fa N Abacisten und Algorithmiker. 379 40. Kapitel. Abaeisten und Algorithmiker. Bei den Versuchen den Abacus mit den eigentümlichen Zeichen, die wir Apices nennen, nach aufwärts zu verfolgen, ist in früheren Werken stets von einer rätselhaften Handschrift der Kapitular- bibliothek von Ivrea die Rede gewesen!), welche nach der An- sicht eines im allgemeinen zuverlässigen Handschriftenkenners von einer Hand des X. 8. herrührte oder gar, wie eine nachgelassene Notiz desselben Gelehrten meinte, am Hofe Karls des Großen ge- schrieben ward?). Es sei eine Anweisung zum Dividieren in arabı- schen Ziffern. Alle diese Angaben sind nun freilich wesentlichen Abänderungen zu unterwerfen. Genaue wiederholte Untersuchung der Handschrift?) hat ergeben, daß sie erst dem XI. 5. angehört, mithin in die Zeit fällt, welche wir in diesem Kapitel*) zu besprechen haben, in die Zeit nach Gerbert, wenn auch vielleicht nicht viel später als er. Der Inhalt ist ein eigentümlicher. Zuerst ist als Aufgabe gestellt, 1111111537 durch 809 zu divi- dieren, wobei der Quotient 1373438 erscheint und 195 übrig bleibt. Aufgabe und Auflösung sind teils in Worten, teils in römischen Zahlzeichen geschrieben. Dann folgen 19 Hexameter, welche auf das Rechnen auf dem Abacus sich beziehen, welche aber vollständig zu verstehen uns nicht gelungen ist. Hieran schließt sich die Wieder- holung der Aufgabe und ihre Auflösung im Kolumnensysteme ge- schrieben, aber ohne daß senkrechte Striche die einzelnen Rang- ordnungen trennten. Zwölf Kopfzahlen genügen den Abacus anzu- deuten. Über ihnen steht der Dividend, unter ihnen der Divisor, unter diesem der Rest, unter diesem wieder der Quotient, sämtlich in richtiger Ordnung, so daß also bei Niederschreibung des Divisors 809 unter der Kopfzahl der Zehner ein freier Raum blieb. Die Kopfzahlen des 12reihigen Abacus sind durch römische Zahlzeichen angegeben, die sämtlichen anderen Zahlen durch Apices. Endlich folgt wieder nur in Worten und ohne durch irgend ein Beispiel ı) Friedlein, Gerbert, die Geometrie des Boetius und die indischen Ziffern. Erlangen 1861, S. 41, Anmerkung 20 hat zuerst die Mathematiker auf diese Handschrift aufmerksam gemacht. ?) Bethmann im Archiv der Gesell- schaft für ältere deutsche Geschichtskunde, herausgegeben von Pertz IX, 623 und XI, 594. °) Reifferscheid in den Sitzungsberichten der philosoph.-histor. Klasse der k. Akademie der Wissenschaften. Wien 1871. Bd. 68, 8. 587—589 die Beschreibung des Codex LXXXIV, die dem XI. S. angehöre. Dann „f. 87. 88 Allerlei von späteren Händen“, *) Unsere Angaben beruhen auf einem Faksimile, welches Fürst Bald. ee ee die große Güte hatte, für uns in Ivrea durchpausen zu lassen. 880 40. Kapitel. Unterstützung zu finden die Vorschrift, wie man bei der Division durch einen aus Hundertern, Zehnern und: Einern bestehenden un- unterbrochen dreiziffrigen Divisor — tres sint divisores nullo inter- posito — verfahren solle in offenbarer Anlehnung an die „Regel“ Gerberts. Alles zusammen füllt nur eine einzige Seite und dürfte, wenn auch nicht so alt wie die einen hofften, die anderen fürchteten, doch einiges Interesse nicht entbehren, so daß ein vollständiger rich- tiger Abdruck des kurzen Stückes immerhin wünschenswert erscheint. Ein Schüler Gerberts war vielleicht Bernelinus, der in Paris ein durch den Druck veröffentlichtes Buch über den Abacus geschrieben hat!). Bernelinus beruft sich (S. 867) auf die Regel des Papstes Gerbert, die freilich nur für die Weisesten geschrieben sei, und darauf, daß sein Freund Amelius, auf dessen Andrängen er sein Werk verfasse, es verweigerte, an die Lothringer sich zu wenden, bei welchen diese Lehren in höchster Blüte ständen. Nur diese beiden Erwägungen vereinigt hätten ihn zum Schriftsteller gemacht. Er beginnt sodann mit der Schilderung des Abacus und zeigt darin seine Selbständig- keit, denn Gerbert selbst hat weder in der Regel, wenn die (S. 867) als solche bezeichnete Schrift wirklich von ihm herrührt, noch in der Abhandlung für Constantinus .eine solche Schilderung an die Spitze zu stellen für nötig gehalten, ein Umstand, welchen wir uns nur so erklären können, daß Gerbert den Abacus nicht als etwas Neues oder Schwieriges betrachtete, sondern als ein alt- und allbekanntes Hilfsmittel, während die Divisionsregeln allerdings wenig bekannt gewesen sein müssen. Der Abacus war, nach Bernelinus, eine vorher nach allen Seiten sorgsam geglättete Tafel und pflegte von den Geo- metern mit blauem Sande bestreut zu werden, auf welchen sie auch die Figuren der Geometrie zeichneten. Bis zur Höhe der eigentlichen Geometrie wolle er sich aber nicht erheben, er bemerke nur, daß zu rechnerischen Zwecken die Tafel in 30 Kolumnen abgeteilt werde, von welchen 3 für die Brüche aufzubewahren, die übrigen 27 nach Gruppen von je 3 zu bezeichnen seien. Die erste Kolumne wird nämlich durch einen kleinen Halbkreis abgeschlossen, die zweite und dritte zusammen durch einen größeren, alle drei gemeinsam durch einen noch größeren. Bernelinus sagt zwar nicht Kolumnen, sondern Linien, Zöneas, aber er meint es so, wie wir es ausgesprochen haben, da ja ein Abschluß von einer, von zwei, von drei Linien durch an Größe verschiedene Halbkreise nicht gedacht werden kann, sondern nur von Kolumren. In jeder Dreizahl von Kolumnen, deren es un- endlich viele geben kann, ist eine Kolumne: der Einer, eine der ') Oewvres de Gerbert (ed. Olleris) pag. 357—400 Liber Abaci. Die Anfangs- worte lauten: Ineipit praefatio libri abaci quem iunior Bernelinus edidit Parisüs. Abaeisten und Algorithmiker. 881 Zehner und eine der Hunderter zu unterscheiden, welche der Reihe nach mit $S und M, mit D, mit CO bezeichnet werden sollen. © sei nämlich Anfangsbuchstabe von centum, D von decem, M von monas — Bernelinus schreibt dafür fälschlich monos — oder von mille, S endlich von singularis. In den Zahlzeichen spiegele die Gruppierung nach drei Kolumnen sich gleichfalls ab, da ein Horizontalstrich, titulus, über dem I, dem X, dem C dieselben vertausendfache. Der Beschrei- bung der Kopfzahlen, welche über sämtliche Kolumnen sich fort- setzen und mit den Bezeichnungen der in jeder Dreizahl unter- schiedenen Rangordnungen nicht zu verwechseln sind, läßt sodann Bernelinus die Schilderung und Abbildung der neun Zahlzeichen folgen. Es sind die Apices, welche hier auftreten, wenn uns dieses Wort ein für allemal die betreffenden Zeichen vertreten soll, von denen schon soviel die Rede war. Außerdem könne man sich auch griechischer Buchstaben bedienen, und hier enthüllt Bernelinus wieder- holt, wie vorher durch Anwendung des ungriechischen monos, eine mangelhafte Kenntnis dieser Sprache. Die Zahl 6 läßt er nämlich durch & bezeichnen, während bekanntlich 5 das richtige Zeichen wäre. — Das Einmaleins schließt sich an, bei welchem eine zunächst sehr auffallende Lücke sich darbietet: die Produkte gleicher Faktoren, also 1 mal 1, 2 mal 2, 3 mal 5 bis 9 mal 9 fehlen, warum? ist nicht gesagt. Wir können nur einen Grund vermuten, darin be- stehend, daß die Quadrierung einziffriger Zahlen, und nur um diese handelt es sich, in dem Grade eine Ausnahmerolle spielte, als die so- genannte regula Nicomachi (S. 433) zur Ausführung derselben all- gemeiner bekannt war, als irgend andere Regeln. Daß freilich jene Regel besonders erwähnt werde, muß man aus unserer fast zaghaft ausgesprochenen Meinung nicht schließen wollen. Bei der Multipli- kation der einzelnen Rangeinheiten bedient sich Bernelinus der Wörter Finger- und Gelenkzahl. Eine Erklärung würde man auch hier ver- gebens suchen, doch steht dabei die Veranlassung auf festerem Boden. Wir wissen durch Beispiele aus den verschiedensten Zeiten, daß jene Wörter so bekannt waren, daß jede Erläuterung überflüssig erscheinen mußte. Als Ende des ersten Abschnittes, der also bis zur Multipli- kation einschließlich sich erstreckt, ist die Ausrechnung von 12°, von 12°, von 12%, von 12°, von 12 + 12? + 12° + 12: + 12° zu betrachten, wobei wir vielleicht in Erinnerung bringen dürfen, daß 12 die Grundzahl des römischen Bruchsystems ist. Der zweite Abschnitt handelt von der einfachen Division, d. h. von denjenigen Teilungen, bei welchen der Divisor ein Einer oder ein einfacher Zehner ist. Drei Fälle sind dabei unterschieden, CANTOR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 56 882 40. Kapitel. der erste, wenn der Divisor der Reihe nach in allen Stellen des Divi- dendus enthalten ist und nur bei den Einern allenfalls ein Rest bleibt, wie z. B. 668 geteilt durch 6; der zweite, wenn Reste auch bei früheren Stellen bleiben, beziehungsweise wenn der Divisor einen höheren Wert hat als einzelne Stellen des Dividendus, so daß zwei Stellen des Dividendus zur Vornahme der Teilung gemeinsam be- trachtet werden müssen, wie z. B. 888 geteilt durch 5 oder 333 ge- teilt durch 6; endlich der letzte Fall, wenn der Divisor ein Zehner ist, z. B. 1098 geteilt durch 20. Die Divisionen können dabei mit oder ohne Differenz, d. h. als komplementäre Division oder ge- wöhnlich vollzogen werden. Auf dem Abacus werden dabei vier Horizontallinien gezogen, welche von oben nach unten die erste, zweite, dritte, vierte Zeile heißen mögen. Auf die erste Zeile schreibe man den Divisor, beziehungsweise bei der Division mit Differenz auch seine Ergänzung zu 10, oder im dritten Falle zu. 100. Die zweite Zeile enthält den Dividendus, die dritte ebendenselben noch einmal geschrieben, die vierte den Quotienten. Die Zahl der zweiten Zeile bleibt im ganzen Beispiele unverändert. Die Zahlen der da- runter folgenden Zeilen werden, wie es der Sand des Rechenbrettes leicht gestattet, fortwährend verändert. Die Division 668:6 sieht z. B., wenn das Auslöschen und Ersetzen von Ziffern durch Durch- streichen derselben bildlich dargestellt werden darf, folgendermaßen aus: EL rs ge: ee KEN ee eIıDTs C|DTS he er, | 14 6 668 66,8 8 LzE alsıs | BrZE | a Division 668:6 28 8 1'717 Division 668:6 mit Differenz | 4 | 4,8 ohne Differenz EEE E19 du) 8, BEL er, EERERn | x ı 2 SApss Abacisten und Algorithmiker. 883 Der Wortlaut der Rechnung ist bei der Division mit Differenz folgender: 10 in 600 geht 60 mal, aber 4 mal 60 oder 240 sind wieder beizufügen; 10 in 200 geht 20 mal, aber 4 mal 20 oder 30 sind wieder beizufügen, und nun schreiben wir statt 60 + 40 + 80 ihre Summe 180 und sagen weiter 10 in 100 geht 10 mal mit einer nötigen Ergänzung 4 mal 10 oder 40, welche mit 80 zusammen 120 liefert. Jetzt ist 10 in 100 wieder 10 mal enthalten, und die Ergänzung 4 mal 10 oder 40 gibt mit 20 zusammen 60. Man dividiert weiter 10 in 60 geht 6 mal, die Ergänzung ist 4 mal 6 oder 24. Mithin sagt man geht 10 in 20 weitere 2 mal mit der Ergänzung 4 mal 2 oder 8. In der einheitlichen Kolumne sind jetzt vorrätig 8+4-+38 oder 20. Zehner sind wieder hergestellt und 10 in 20 geht 2 mal. Die Ergänzung 2 mal 4 oder 8 ist durch 10 nicht mehr teilbar, nur noch durch 6, wobei 1 als Quotient, 2 als Rest erscheint. Alle Quotiententeile vereinigt geben. so den Gesamt- quotient 60 +20 +10 +10 +6 +2 +2+1= 111 nebst dem Reste 2. Wir wollen nicht versäumen, hier gelegentlich auf die nicht unwichtige, wenn auch nur negative Tatsache hinzuweisen, daß die hier beschriebene Ordnung des Divisors, des zweimal ange- schriebenen Dividenden, des Quotienten bei keinem Araber vor- kommt. | Der dritte Abschnitt ist der zusammengesetzten Division gewidmet, welche auch wieder ohne Differenz oder mit Differenz aus- geführt wird. An neuen Gedanken ist hier so wenig zu gewinnen, als an neuen Ausführungsmethoden, es ist eben nur wieder die Unterscheidung in viele Fälle, wie sie dem Geübten, insbesondere dem ‚mathematisch denkenden Geübten sehr überflüssig erscheint, wie sie aber dem Schüler eines ersten Rechenunterrichtes wünschenswert, ja unentbehrlich sich erweisen mag. Ein vierter Abschnitt lehrt das Rechnen mit Brüchen, natürlich mit Duodezimalbrüchen der uns bekannten Art. „Lasse uns denn zu der Abhandlung über die Gewichtsteile und ihre Unterabteilungen kommen, und wundere Dich nicht, wenn darin Richtiges mir entging, denn die Unbequemlichkeit der Weinlese beschäftigt meine Seele mannigfaltig, auch habe ich als Muster kein Werk als das des Viktorius, und dieser ist bei dem Bestreben kurz zu sein, außer- ordentlich dunkel geworden“!). Wir haben diese Stelle ihrem Wort- laute nach eingeschaltet, um an ihr die Richtigkeit einer Bemerkung 1) Nune itaque ad unciarum minutiarumque tractatum veniamus, in quo si quid me veritas praeterierit minime mireris, cum et vindemiarum importunitate meus animus per diversa quaeque rapiatur, et nullius praeter Vietorii opus habeam exemplar, qui, dum brevis studuit fieri, factus est obscurissimus. 56* 884 40. Kapitel. über den Calculus des Viktorius zu erweisen. Das Vorhandensein jenes Rechenknechtes (8. 531) kann nun und nimmermehr als Zeug- nis dafür angerufen werden, daß der Zeit, in welcher er entstand, das Rechnen auf dem Abacus fremd gewesen sei. Wir finden hier in Bernelinus einen Mann, der dieses Rechnen selbst lehrt, der es mit einer Klarheit lehrt, welche die Darstellungen Gerberts über- trifft, und derselbe Bernelinus sieht in dem Calculus des Viktorius nichts weniger als einen überwundenen Standpunkt. Er findet ihn außerordentlich dunkel, also schwierig und verkennt nicht die Not- 1 wendigkeit mehr zu tun als nur hinzuschreiben, daß — mal sich 1 . u. . e .. B zu „ multiplizieren. Er erläutert vielmehr, man müsse den einen Bruch als Einheit betrachten, von welcher so viele Teile zu nehmen seien, als der andere ausspreche!), und erörtert dieses an ver- schiedenen Beispielen, darunter an solchen, bei welchen die nur be- grenzt vorhandenen Duodezimalbrüche nicht gestatten anders als nur mittels eines gesprochenen Bruches zu verfahren, wie z. B. duella multipliziert in triens. Unter duella versteht man 8 scripulae, deren 1 RUE 24 auf eine uncia oder auf -. des as als Grundeinheit gehen; unter triens versteht man 4 Unzen. Wir würden also römische Gedanken- r ya ; 1 ® AapEer | folge so viel als möglich uns aneignend sagen: zg sei mit — zu ver- i . 1 beziehungsweise Unze. ; 1 1 1 viel ar 5 Ft fachen und gebe idg oder -— voni7s, Weil ferner die Unze 24 Skrupeln hat, so ist ihr en so viel wie 2 = 22 Skrupeln. Aber zwei Skrupeln heißen emisescla und so ist das Produkt eine emisescela und ihr Drittel. Auch Bernelinus kommt zu diesem Ergebnisse. Duella in trientem ducta fit emisescla et emisesclae tertia sagt Bernelinus. Die Rechnung, die ihn dahin führt, mündet darin, es sei = der duella zu nehmen, aber gerade diese letzte Ausführung unterschlägt er. Das Bruchrechnen war in der Tat, wie an der kurzen Auseinandersetzung, die wir hier gaben, erkannt werden wird, ein schwieriges, wäre sogar für uns noch schwierig, wenn wir in derselben Gewohnheit befangen wären, die Brüche nicht durch Zähler und Nenner, sondern unter Anwendung von Namen auszusprechen, welche zwar dem Geübten beim Hören sogleich ver- ') Quaelibet uneiarum vel minutiarum in quamcumque unciarum vel minu- tiarum fuerit dueta totam partem illius in qua dueitur quaerit, quota ipsa est assis. RE A N REES Abaeisten und Algorithmiker. 885 ständlich sind, aber zur Rechnung immer erst wieder in die Begriffe verwandelt werden müssen, mit welchen sie sich decken. Ist es, fragen wir, denkbar, daß Gerbert für das ganzzahlige Rechnen, welches solchen 'erheblichen Schwierigkeiten nie ausgesetzt war, arabische Methoden sich angeeignet und in seiner Schule ver- breitet hätte, daß er dagegen das weit anlockendere Rechnen mit Sexagesimalbrüchen vernachlässigt und weder selbst angewandt noch einem einzigen Schüler mitgeteilt hätte? Wir können unseren Un- glauben damit begründen, daß die ersten Übersetzungen aus dem Arabischen sich sofort der Sexagesimalbrüche bemächtigten (8. 718), daß die ersten nachweislichen Bearbeitungen (S. 801) es ebenso machten. | Bernelinus lehrt in Anschluß an die Multiplikation der Brüche auch noch deren Division, welche er komplementär ausführt, indem er den Divisor zur nächsten ganzen Einheit ergänzt, und sodann den Quotienten jedesmal neu verbessert, nachdem die notwendige Richtig- stellung der Teilreste eingetreten ist. Wir haben nur eines noch unserer Darstellung hinzuzufügen, beziehungsweise zu verhüten, daß man ihr etwas entnehme. Berne- linus, sagten wir, bilde die neun Apices ab. Man darf daraus nicht schließen wollen, daß sie im weiteren Verlaufe der Schrift benutzt werden. Nur auf dem Abacus konnte ohne Null oder — wovon wir später auch ein Beispiel kennen lernen werden — ohne abwechselnde Verwendung von Apices und römischen Zahlzeichen ein regelmäßiger Gebrauch der Apices stattfinden. Bernelinus hat aber in seinem Werke nirgend einen Abacus gezeichnet, kann sich also in der einzig in Worte gefaßten Darstellung der Regeln und der Beispiele nur römischer Zahlzeichen bedienen. Wenn wir oben bei der Division den Abacus wirklich abbildeten, so haben wir uns damit eine Untreue der Berichterstattung zuschulden kommen lassen; wir haben zur größeren Deutlichkeit gezeichnet, was Bernelinus nur erklärt, dessen Nachahmung er seinen Lesern zumutet, ohne ihnen ein Muster vor- zulegen. Um die Zeit des Bernelinus hat auch Guido von Arezzo sich mit dem Abacus beschäftigt, der um 1028 eine Abhandlung über die Kunst der Rechnung auf der mit Sand bedeckten Tafel verfaßte!). Erhalten hat sich ferner die Abhandlung über den Abacus von Hermannus Contraetus?). Sie ist kurz und bündig, lehrt das - 1) Nouveau traite de Diplomatique par deux religieux de la congregation de S. Maur T. IV, preface, pag. VII. Paris 1759. ®), Aus einem Karlsruher und einem Münchener Kodex veröffentlicht durch Treutlein im Bullettino Boncom- pagni X, 643—647 (1877). 886 40. Kapitel. Multiplizieren und Dividieren auf dem Abacus, dessen vier wagrechte Zeilen unterschieden werden, während von einer gruppenweisen Ver- einigung der Kolumnen zu je dreien Abstand genommen ist, auch eine Beschränkung der Anzahl dieser Kolumnen nicht stattfindet, von denen vielmehr gesagt ist, daß sie, jede die vorhergehende um das Zehnfache übersteigend, in das Unendliche sich erstrecken'). Das Dividieren ist einfach oder zusammengesetzt und kann in beiden Fällen mit oder ohne Differenz vollzogen‘ werden. Hermann hat, wie wir von Radulph von Laon, einem Schriftsteller des XII. S., der uns gleich nachher beschäftigen wird, erfahren, nächst Gerbert am meisten für die Verbreitung des Kolumnenrechnens getan. Es hat darum Interesse hervorzuheben, daß von anderen Zahlzeichen als den ge- wöhnlichen römischen bei ihm mit keiner Silbe die Rede ist. Hermannus Contractus hat noch zwei andere Schriften verfaßt, deren wir trotz ihres nicht eigentlich mathematischen Inhaltes kurz gedenken möchten. Er hat über jenes eigentümliche Zahlenspiel, die Rhytmomachie, geschrieben. In der Beschreibung einer dem XI. bis XII. S. entstammenden Handschrift dieser Abhandlung ist der Anfang derselben abgedruckt”), welcher die Erfindung dem Boethius zuweist, in Übereinstimmung, wie wir uns erinnern (8. 852), mit Walther von Speier. Diese Übereinstimmung kann uns übrigens nicht verwundern, wenn wir uns ins Gedächtnis zurückrufen, daß Speier von St. Gallen her seinen Studienplan erhielt, kurz bevor Walther dort erzogen wurde, und zugleich berücksichtigen, daß auch in Reichenau ein strenger Abt ebendaher das Regiment führte kurz bevor Hermann in die Schule trat. Hermann hat ferner zwei Bücher über den Nutzen des Astro- labiums verfaßt, welche in dem Salzburger Kodex aus der Mitte des XI. S., welcher eine Haupthandschrift von Gerberts Geometrie uns darstellte (S. 859), den Anfang jenes so wichtigen Sammelbandes bildet?). Die Echtheit der Bezeichnung könnte, wenn man jenem Kodex allein Glauben zu schenken Bedenken trüge, noch besonders nachgewiesen werden. Das 2., 3. und 4. Kapitel des II. Buches‘) beschäftigt sich nämlich in einer mutmaßlich von Makrobius ab- hängigen Fassung mit der seinerzeit durch Eratosthenes vollzogenen Messung des Erdumfanges. Der Verfasser will aus dem Umfange den Durchmesser berechnen und sich dabei der archimedischen ’) Sieque in ceteris unaquaque linea decuplum aliam superante usque in in- finitum progreditur. ?) Catalogue of the extraordinary collection of. splendid manuscripts of G. Libri. London 1859, pag. 103, Nr. 483. Vgl. auch E. Wapp- ler, Bemerkungen zur Rhytmomachie in Zeitschr. Math. Phys. XXXVII, Histor.- literar. Abtlg. S. 1—17 (1892). °) Agrimensoren $. 176. *) Ebenda 8. 177. Abacisten und Algorithmiker. 887 Verhältniszahl = bedienen, d. h. er hat z des Erdumfanges von 252000 Stadien zu ermitteln. Dazu ist eine mittelbare Methode an- gewandt!), welche auch im 56. Kapitel von Gerberts Geometrie, wir wissen freilich nicht aus welcher Quelle, hat nachgewiesen werden ö eis 21 1 können?). Es wird nämlich, um ,, zu erhalten, zuerst „, des Um- der dritte Teil genommen: f. b d ien : anges abgezogen, dann von jenen „, „Gegeben ist der Umkreis 252 000. Sein = beträgt 11454 = und = Durch Abziehen bleibt 240544) und ‚,, deren Drittel mit 801815 7 Fi 1. ai . und „, den Durchmesser liefert.“ Das waren freilich Brüche, wie sie Bernelinus z. B. nie geschrieben hätte, wie sie aber auch bei einem griechischen Schriftsteller, der Stammbrüche zu brauchen, ge- wohnt war, nicht vorgekommen wären. Es waren Brüche, welche darauf hinweisen, daß, wer sie schrieb, das Bewußtsein hatte, man könne Bruchrechnungen auch anders als an den römischen Minutien oder zwölfteiligen Brüchen vollziehen, ohne jedoch vollständig in das andere Verfahren eingedrungen zu sein. Wir haben in einem Briefe Regimbolds (8. 874) ein ähnliches Beispiel kennen gelernt. Um so unverständlicher mußte das so Herausgerechnete einem Leser er- scheinen, welcher neben ganzen Zahlen nur römische Minutien kannte. Ein soleher Leser war aber Meinzo der Stiftslehrer von Kon- stanz. In einem Briefe, der, wie man Grund hat anzunehmen, spätestens im Anfange des Jahres 1048 geschrieben ist, wandte er sich um die ihm nötige Erklärung an Hermann, und damit ist der Beweis geliefert, daß Hermann wirklich der Verfasser jener Kapitel, beziehungsweise der sie enthaltenden und unter seinem Namen auf uns gekommenen Schrift über den Nutzen des Astrolabiums ist. Auf diesen Nachweis einiges Gewicht zu legen haben wir aber einen sehr triftigen Grund, indem die genannte Schrift unverkennbar unter ara- bischem Einflusse verfaßt ist, und arabischer Einfluß durch dieselben. deutlichen Anzeigen auch in einem anderen Texte der Bücher über das Astrolabium zu Tage tritt, welcher im übrigen an Verschieden- heiten gegen die auch im Druck bekannten Texte nicht arm ist?). Einigermaßen verstümmelte, aber immer noch erkennbare arabische !) Ein Schreiben Meinzos von Konstanz an Hermann den Lahmen, heraus- gegeben von E. Dümmler im Neuen Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde V, 202—206. ?) Oeuvres de Gerbert (ed. Olleris) pag. 453. ?) Catalogue of the extraordinary collection of splendid manuseripts of @. Libri. London 1859, pag. 103, Nr. 483. 885 40. Kapitel. Wörter, wie walzachora, almuchantarah, almagrip, almeri, walzagene usw. kommen nämlich an den verschiedensten Stellen jener Bücher vor!) und fordern die Frage heraus, wie Hermann dazu kam, dieser Wörter sich zu bedienen? Lassen wir Hermanns Leben rasch an uns vorüber gehen?). Dem schwäbischen Grafen Wolverad wurde 1013 ein Knabe Hermann geboren, welcher mit sieben Jahren, also 1020, der Schule, wahr- scheinlich in Reichenau, übergeben wurde, wo ein Verwandter von Hermanns Mutter mit Namen Rudpert als Mönch lebte. Hermann selbst wurde im Alter von dreißig Jahren, 1043, unter die Zahl der Mönche aufgenommen. Er lehrte mit herzgewinnender Liebenswürdig- keit, welche ihm Schüler von den verschiedensten Orten herbeizog. Er starb nur 41 Jahre alt am 24. September 1054. Von sehr früher Zeit an waren seine Gliedmaßen schmerzhaft zusammengezogen, wovon ihm der Name Hermannus Öontractus geworden ist. Er saß. immer in einem Tragstuhle, er konnte ohne Hilfe nicht einmal seine Lage ändern, ja er konnte nur mit Mühe verständlich sprechen. Es ist nicht denkbar, daß Hermann in Gesundheitsverhältnissen, wie wir sie schildern mußten, noch vor seinem 30. Jahre — später ist es gar nicht möglich — Reisen gemacht baben sollte, von welchen er die Kenntnis der arabischen Sprache mitgebracht hätte. Es ist nicht denkbar, daß von solchen Reisen nirgend, auch nicht andeutungs- weise die Rede wäre. Er müßte also das Arabische, wenn er dessen mächtig war, in Reichenau selbst sich angeeignet haben. Das setzt voraus, daß es dort entweder Persönlichkeiten gab, welche Unterricht in jener Sprache zu erteilen befähigt waren oder aber eine geschrie- bene Sprachlehre und ein desgleichen Wörterbuch, beides Annahmen, welche sich nicht wohl verteidigen lassen. Dazu kommt, daß von Kenntnissen Hermanns im Arabischen keiner seiner zahlreichen älteren Lobredner etwas weiß, daß nur seit dem XV. $. die Behauptung sich findet, Hermann habe Schriften des Aristoteles aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt, eine Behauptung, die nach aller Wahrschein- lichkeit auf einer Verwechslung beruht?). Ein solcher Übersetzer war nämlich ein gewisser Hermanus Alemannus, der unmöglich der- selbe sein kann wie der unsrige, da er von Persönlichkeiten spricht, die erst dem XIII. $. angehören. In der Vorrede zur Übersetzung ) Jourdain, Recherches critiques sur l’äge et V’origine des traductions latines d’Aristote. 2. edition. Paris 1843, pag. 146. ?°) Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter (4. Ausgabe 1877) II, 36—40 unter Benutzung von Heinr. Hansjakob, Herimann der Lahme. Mainz 1875. ®) Jourdain l. c. pag. 185—147. Chapitre III, $ XI: D’Hermann swrnomme Contractus et d’Hermann U Allemand. Erreurs des biographes a leur egard. Abacisten und Algorithmiker. 889 der Poetik des Aristoteles insbesondere nennt er den Bischof Robert von Lincoln mit dem dicken Kopfe, Robertus grossi capitis Lincol- niensis episcopus, welcher 1253 starb, zwei Jahrhunderte später als der Mönch von Reichenau. Alle diese Gründe zusammengenommen lassen die gerechtesten Zweifel obwalten, ob Hermann-der Lahme der arabischen Sprache mächtig war, mächtig gewesen sein kann, und da auf der anderen Seite kein Zweifel möglich ist, daß arabische Ausdrücke in seinen Büchern über das Astrolabium vorkommen, so ist nur ein Ausweg aus diesem Dilemma: daß Hermann jene Bücher unter Benutzung von damals bereits vorhandenen lateinischen Über- setzungen arabischer astronomischer Schriften anfertigte, denen er jene verketzerten Kunstausdrücke entnahm'!). Daß es in der Tat solche Übersetzungen gab, wenn auch vermutlich nur in sehr ge- ringer Anzahl, wissen wir. Wir wissen, daß Lupitus von Barce- lona ein astronomisches Werk übersetzt, daß Gerbert nach dieser Übersetzung Verlangen getragen hat (8. 857), und dieses oder ein ähnliches mag Hermanns Quelle gewesen sein. Dem XI. S. gehören noch verschiedene andere Schriftsteller an, welche über den Abacus und verwandte Gegenstände schrieben, oder in ihren Klöstern schreiben oder abschreiben ließen?). Zu denen, welche Abschriften aller Art anfertigen ließen, gehören Werner und Wilhelm von Straßburg, sowie Fulbert von Chartres, und es ist gar nicht unmöglich, daß unter des letzteren Einflusse jene Handschrift des Anonymus von Chartres entstand, der wir (8. 590) einige Bemerkungen gewidmet haben. Fulbert von Chartres hat selbst Verse über die Duodezimalbrüche, versus de uncia et partibus eius, verfaßt?). Als große Astronomen werden genannt Engelbert von Lüttich, Gilbert Maminot von Lisieux, Odo Stiftsherr von Tournai. Über den Abacus schrieb Heriger von Lobbes, einem bei Lüttich gelegenen vielgerühmten Kloster, von dessen hierher ge- hörenden Schrift bereits (S. 869) die Rede war. Heriger war der Freund, vielleicht der Lehrer von Adelbold von Utrecht, der jeden- falls seine Erziehung in Lobbes erhielt). Über den Abacus schrieben auch Helbert von St. Hubertus in den Ardennen, Franco von Lüttich, den wir schon (S. 876) als Geometer kennen lernten. Auch Radulf von Lüttich und Regimbold von Cöln (8. 872) ı) Jourdain ]. c. pag. 147: Il est plus naturel de croire qu'il composa ses deux traites d’apres les traductions qui avaient cours alors, mais quil ne fit aucune version de Varabe. 2, Math. Beitr. Kulturl. S. 332. ®) Werner, Gerbert S8. 64, Anmerkung 4. *) C. Le Paige, Notes pour servir & Vhistowre des mathematiques dans Vancien pays de Liege. Vgl. Bulletin de Vinstitut archeo- logique Liegeois XXI, 461. 890 40. Kapitel. wurden aus der unmittelbar auf Gerbert folgenden Zeit als Mathe- matiker gerühmt!). Viele, ja die meisten Pflanzstätten mathematischer Bildung, von welchen die hier genannten Persönlichkeiten ihren Namen, aus welchen sie ihr Wissen erhielten, liegen in ziemlich engem Kreise um Lüttich herum, damals dem geistigen Mittelpunkte von Lothringen und bestätigen so ein Wort des Bernelinus: bei den Lothringern blühe die Kunst des Abacus?). Wir überspringen nun fast ein Jahrhundert, um von einem Manne zu reden, der am Anfange des XII. S. tätig war, und dessen Schrift über den Abacus gegenwärtig veröffentlicht ist und uns Ge- legenheit zu vielfachen Bemerkungen gibt. Wir meinen Radulph von Laon, der 1131 gestorben ist?). In Laon war um 1100 eine hochberühmte Klosterschule, welche ihre Blüte namentlich Anselm verdankte, der Leuchte Frankreichs, wie seine Bewunderer ihn nannten, dem Lehrer des fast noch bekannteren Abelard. Radulph war Anselms Bruder und, wie er, Lehrer an der Klosterschule, bevor er zum Bischofe eingesetzt wurde. Er schrieb, wie gesagt, über den Abacus, und eine Einleitungsstelle beschäftigt sich mit der geschicht- lichen Entwicklung der Rechenkunst auf dem Abacus): „Jetzt ist zu besprechen, welcher Wissenschaft diese Vorrichtung hauptsächlich dient. Der Abacus erweist sich als sehr notwendig zur Untersuchung der Verhältnisse der spekulativen Arithmetik; ferner bei den Zahlen, auf denen die Tonweisen der Musik beruhen; desgleichen für die Dinge, welche durch die emsigen Bemühungen der Astronomen über den verschiedenen Lauf der Wandelsterne gefunden sind und über deren gleiche Umdrehung dem Weltall gegenüber, wenn auch ihre Jahre je nach dem Verhältnisse der ungleichen Kreise sehr ver- schiedenes Ende haben; weiter noch bei den dem Platon nach- gebildeten Gedanken über die Weltseele und zum Lesen all der alten Schriftsteller, welche ihren scharfsinnigen Fleiß den Zahlen zuwandten. Am allermeisten aber zeigt der Gebrauch dieser Tafel sich bequem und wird von den Lehrern der Kunst benutzt bei Auffindung der Formeln der geometrischen Disziplinen und bei Anwendung derselben auf die Ausmessung der Länder und Meere. Allein die Wissenschaft, von der ich eben rede, ist fast bei allen Bewohnern des Abendlandes in Vergessenheit geraten, und so wurde auch diese Kunst des Rechnens beim Aufhören der Kunst, als deren Hilfsmittel sie erfunden worden ') Werner, Gerbert S. 77. ?) Oeuvres de Gerbert (ed. Olleris) pag. 357. ®) Histoire litteraire de la France VII, 89 sqq., 143. Der arithmetische Tractat von Radulph von Laon, herausgegeben von A. Nagl, Abhandlungen zur Ge- schichte der Mathematik V, 85—134 (1890). *) Compt. Rend. XVI, 1413, An- merkung 1. Abacisten und Algorithmiker. 891 war, nicht gar groß beachtet; ja sie kam in Mißkredit, und nur Gerbert, genannt der Weise, ein Mann von höchster Einsieht, und der vortreffliehe Gelehrte Hermann und deren Schüler pflanzten einiges bis zu unseren Zeiten fort; in ihnen zeigt sich noch ein schwacher Abfluß jener Quellen der genannten Wissenschaft.“ Es sind hier, der zu Radulphs Zeit vorhandenen wissenschaft- lichen Überzeugung folgend, Sätze ausgesprochen, welche durchweg mit den Ansichten in Einklang stehen, welche wir schon die ganze Zeit her vertreten haben: Der Abacus ist sehr notwendig zum Ver- ständnis der Platoniker; die Mathematiker bedienten sich seiner hauptsächlich bei Berechnungen aus dem Bereiche der Feldmeßkunst, und als diese letztere Kunst schwand, da wurde auch der Abacus fast vergessen; Gerbert und Hermann und ihre Schulen haben nicht etwa den Abacus neu eingeführt oder gar erfunden, sie haben die halbwegs vergessene Kunst nur in einiger Erinnerung erhalten. Von Arabern, bei welchen die Kunst geblüht haben könnte, ist auch bei Radulph mit keinem Worte die Rede. Wir schalten hier vorgreifend ein, daß auch von einem anderen Schriftsteller ein sehr beredtes Schweigen zu melden ist, daß auch Atelhart von Bath, welcher, sei es vor sei es nach Radulph, jedenfalls am Anfange des XII. 8. über den Abacus schrieb, in dieser Abhandlung den Abacus wohl den Pythagoräern zuwies, dagegen der Araber keine Erwähnung tat, er, der vollkommen Arabisch konnte und Übersetzungen aus dem Ara- bischen vollzogen hat, daß er zugleich des Zusammenhanges des Abacus mit der Geometrie sich wohl bewußt war'), und daß er von Brüchen ausschließlich die römischen Minutien benutzte. Endlich ist hervorzuheben, daß sowohl bei Atelhart als bei Radulph von einer divisio aurea und einer divisio ferrea die Rede ist?), Ausdrücke, auf welche wir etwas weiter unten zurückkommen. Radulph begnüst sich nicht, der Verbreitung, des Verschwindens, des Auffrischens des Abacus zu gedenken; er spricht auch über dessen Erfindung und Einrichtung, und dabei bedient er sich der Apices, die wir nur der Bequemlichkeit halber in unserer Über- setzung durch die gewöhnlichen Zahlzeichen wiedergeben?): „Bei der Zeichnung dieser Tafel, wie wir zu sagen angefangen haben, wird die Menge der Zwischenräume in drei mal neun eingeteilt, d. i. nach !) Chasles in den Compt. Rend. XVI, 1410--1411 und XVII, 147. . Die ganze Abhandlung ist veröffentlicht im Bullettino Boncompagni XIV, 91—134 (1881) unter Vorausschickung gelehrter biographischer und bibliographischer Untersuchungen des Fürsten Bald. Boncompagni, ebenda pag. 1—90. ?°) Darauf hat H. Eneström (Biblioth. Mathem. 3. Folge VII, 83—84) aufmerksam ge- macht. °) Journal Asiatique 1863, I. Halbjahr, pag. 48--49, Anmerkung 3. 892 40. Kapitel. der Gestalt eines Würfels, welcher die Länge drei auch nach der Breite und Höhe in gleichen Abmessungen vermehrt. Und da die Assyrer für die Erfinder dieses Instrumentes gehalten werden, welche der chaldäischen Sprache und Buchstaben sich bedienten, und beim Schreiben rechts anfingen und nach links fortfuhren, so beginnt ge- mäß des den Erfindern in fortgesetzter Verbreitung schuldigen An- sehens die Zeichnung dieser Tafel zur Rechten und setzt ihre Länge nach links fort. Die Zwischenräume selbst sind aber so unterschieden, daß, während jeder einzelne seinen oberen Abschluß hat, auch je drei von dem Anfange bis zum Ende der Tafel durch obere Ab- schlüsse endigen, so daß, indem je drei Zwischenräume immer durch einen Halbkreis geschlossen sind, auf der ganzen Länge der Tafel IX obere Abschlüsse gefunden werden. Der erste Abschluß dreier Zwischenräume ist mit dem Zeichen der Einheit überschrieben, welche mit chaldäischem Namen igin heißt; 1 stellt die Gestalt eines latei- nischen Buchstaben dar. Man erkennt, daß dieses deshalb geschieht, damit jene drei Zwischenräume, welche das Zeichen der Einheit vor- bemerkt haben, bezeugen, daß sie dadurch den ersten Rang erlangt haben. Der zweite Abschluß von drei Zwischenräumen trägt dieses Zeichen der zwei 2, welches bei den vorgenannten Erfindern andras heißt, damit durch diese Wendung erklärt werde, jene drei Zwischen- räume, über welchen es geschrieben ist, nehmen den zweiten Rang für sich in Anspruch. Der dritte Abschluß von drei Zwischenräumen lehrt, daß er den dritten ‚Rang einnehme, dadurch, daß er mit folgender Gestalt der drei 3 bezeichnet ist, welche bei den Chaldäern ormis genannt wird. Ähnlich bezeugt auch der Abschluß der vierten Ordnung, daß er den vierten Rang behaupte, indem über ihn dieses Zeichen 4 der vier geschrieben ist, das bei den Erfindern als arbas gilt. Nicht weniger kündigt die fünfte Ordnung an, sie halte den fünften Rang ein, weil sie diese Gestalt 5 der fünf trägt, welche quimas heißt. Ebenso gehabt sich die sechste Ordnung als sechste, weil sie als Aufschrift das Zeichen 6 oder sechs hat, welches caltis heißt. Auch die siebente ist durch folgende Gestalt 7 der sieben bezeichnet, welche zenis heißt. Die achte hat folgende Form 8 der acht, welche man temeniam nennt; und die neunte ist mit dieser Figur 9 der neun bezeichnet, welche bei den Erfindern celentis genannt wird. Bei der letzten Ordnung wird auch die sipos ge- nannte Figur © angeschrieben, welche, wiewohl sie keine Zahl bedeutet, doch zu gewissen anderen Zwecken dienlich ist, wie im folgenden er- klärt werden wird.“ Wir werden Radulphs Beispiel folgend auch erst nachher von dem sipos und seiner Benutzung reden, anderes vorausschicken. Es Abacisten und Algorithmiker. 893 könnte zunächst auffallen, daß Radulph wiederholt von der Länge der Tafel redet, wo wir die Breite genannt erwarten. Allein wie Heron im Anschlusse an ägyptische Übung (8.395) Breite die kleinere, Höhe die größere Abmessung nannte, ohne auf die Lage selbst zu achten, so ist für Vitruvius nur derselbe Gegensatz bei der Anwendung der Wörter Breite und Länge maßgebend!), und Radulph steht mit Beibehaltung dieser altertümlichen Sitte durchaus auf römischem Boden. Der mit 27 Kolumnen ausgestattete Abacus mußte mehr breit als lang erscheinen, die Breite deshalb als Länge benannt werden. Eine zweite Bemerkung bezieht sich auf den assyrischeu oder chaldäischen Ursprung, den Radulph für den Abacus, für die Apices und für deren Namen in Anspruch nimmt. Wir pflichten entschieden der Meinung bei, welche hierin ein Anlehnen an griechische Er- innerungen findet”), die manche astronomische und anderweitige Kenntnisse von den Chaldäern ableiteten. Warum sollte Radulph statt der Assyrer nicht die Araber oder die von diesen stets als Er- finder der Zahlzeichen gerühmten Inder genannt haben, wenn er von ihnen wußte? Sein Schweigen ist mithin als Beweis anzusehen, daß ihm und mit ihm gewiß den Zeitgenossen, vor welchen er durch Gelehrsamkeit sich auszeichnete, ein Vorkommen des Abacus bei den Arabern gerade so unbekannt war wie bei uns. Drittens müssen wir zu jenen rätselhaften Wörtern uns wenden, die uns von Radulph als desselben chaldäischen Ursprunges wie der Abacus genannt werden. Wir haben (S. 584) von Wörtern gesprochen, welche nicht im Texte, aber auf dem Abacus zwischen dem I. und II. Buche der Geometrie des Boethius vorkommen und dort möglicher- weise erst nachträglich ihren Platz gefunden haben. Es sind dieselben, die wir hier nach Radulph mitgeteilt haben. Dieselben finden sich in zehn Versen eines lateinischen Pergamentkodex des Vatikan°): Ordine primigeno sibi nomen possidet Igin. Andras ecce locum previndicat ipse secundum. Ormis post numerus non compositus sibi primus. Denique bis binos succedens indicat Arbas. Significat quinos ficto de nomine Quimas. Sexta tenet Calcis perfecto munere gaudens. Zenis enim digne septeno fulget honore. Octo beatificoso Temenias exprimit umus. Terque notat trinum Celentis nomine rithmum. Hine sequitur Sipos est, qui rota namque vocatur. ‘) Agrimensoren 8.67 und 196, Anmerkung 129. °) Woepceke im Journal Asiatique für 1863, I. Halbjahr, pag. 49. 3%) Vat. Univ. 5327, wie wir freund- licher Mitteilung von Prof. L. Gegenbauer entnehmen. Die gleichen Verse 894 40. Kapitel. Der Sinn dieser Verse, welche vielleicht nur als Gedächtnisverse zu betrachten sind, welche die Einprägung jener fremdartigen Wörter erleichtern sollen, dürfte aus folgendem Ubersetzungsversuche') sich ergeben: Igin führet das Zeichen in erster Stelle zum Namen. Auf den zweiten der Plätze erhebet Andras den Anspruch. Dann als erste einfache Zahl folgt Ormis auf jene. Zweimal zeiget die Zwei das jetzt nachfolgende Arbas. Quimas bildet die Fünf mit ausersonnenem Namen. Ihrer Vollkommenheit freut sich die Calcis an sechseter Stelle. Siebenfältiger Ehre erglänzet am würdigsten Zenis. Und die glückselige Acht zeigt nur Temenias einzig. Dreimal schreibet die Drei das Zeichen mit Namen Celentis. Ähnlich gestaltet dem Rade ist, was hier Sipos ich nenne. Eben dieselben Wörter finden sich bei einem etwas jüngeren Zeitgenossen Radulphs, von dem wir noch zu sprechen haben, Ger- land, und bei verschiedenen Schriftstellern bis in das XIV. S. herab?). Meistens fehlt das Wort sipos. Hat nun Radulph recht, wenn er die Wörter aus dem Chaldäischen herstammen läßt, und sind sie in der Tat ebenso alt, ebenso lange in Gebrauch als der Abacus, oder wenigstens als die Apices? Würde die letzte Frage noch weiter ein- geschränkt auf die Zeit der Neubelebung und allgemeinen Verbreitung des Abacus- oder Kolumnenrechnens, so wäre sie entschieden mit Nein zu beantworten. Gerbert, Bernelinus, Hermann der Lahme be- nutzten jene Wörter nie, und sie sind doch als die hervorragendsten Lehrer zu betrachten. Auch aus keinem anderen Schriftsteller des XI. S. wird das Vorkommen jener Wörter uns berichtet, und erst im XL. S. scheinen sie aufzutreten. Allerdings steht diese Tatsache in Widerspruch zu den Worten Radulphs, der die Entstehung der Wörter in graue Urzeit zurückverlegt. | Vielleicht sind die Wörter selbst geeignet den Zweifel zu lösen? Ein Assyriologe will fünf derselben als assyrisch erkannt haben?); igin sei ischtin, arbas sei arba, quimas sei yamsa, zenis wohl in der nur unter Weglassung des auf celentis bezüglichen hat Chasles, Apergu hist. pag. 473, deutsch S. 540, aus dem Kodex von Chartres veröffentlicht, in welchem auch die Geometrie des Anonymus von Chartres (S. 590) steht. t) Math. Beitr. Kulturl. S. 244. ?) Oeuvres de Gerbert (ed. Olleris) pag. 578—579. ») Lenormant, La legende de Semiramis, premier memoire de mythologie comparative pag. 62 in den Memoires de l’ Academie Royale des sciences et belles-lettres de Belgique. T. XL (Bruxelles 1873). Frühere Untersuchungen vgl. bei Vincent in Liouville, Journal de mathematiques IV, 261 und in der. Revue archeologique II, 601; Math. Beitr. Kulturl. S. 245—246; Woepcke im Journal Asiatique für 1863, I. Halbjahr, pag. 51; Oeuvres de Gerbert (ed. Olleris) pag. 579—581. Abacisten und Algorithmiker. 895 gleichfalls vorkommenden Form zebis sei schibit, temenia sei schumunu. Es gehört immerhin eine gewisse Phantasie dazu, um diese Verwandt- schaften als offenkundig anzuerkennen. Arbas, quwimas, temenias sind allerdings als semitisch wohl von allen Untersuchern anerkannt worden, aber ohne daß Einigkeit darüber stattfände, ob das Arabische, das Hebräische oder das Aramäische die Grundformen geliefert habe, worauf es natürlich nicht wenig ankommt, wenn das Alter und die Überlieferungsweise der Wörter geprüft werden wollen. Mit der semitischen Ursprungserklärung der anderen Wörter geht es nicht so leicht. Man hat sie freilich ingesamt arabisch deuten wollen, aber fraget nur nicht wie, möchte man ausrufen. Caltıs, 6 und zenis, 7 sollen als cadıs und zebis aus der entsprechenden arabischen Kardinal-, igin, 1 aus der arabischen Ordinalzahl stammen; ormis, 3 und celen- ts, 9 sollen ihren Wert vertauscht haben, alsdann aber wieder arabische Klänge geben, und andra, 2 soll diesem Ursprunge gleich- falls nicht widersprechen, vorausgesetzt daß man das arabische Wort schlecht gelesen habe. Andere, weniger leicht mit Verstümmelungen und Wertvertauschungen zufrieden, haben zwar igin aus dem He- bräischen, dem Persischen, der Berbersprache, andras aus dem He- bräischen, dem Arabischen, zenis aus dem Hebräischen abgeleitet, aber, wie wir durch die Nebeneinanderstellung der beigezogenen Sprachen andeuteten, wieder in fast unlösbarem Widerspruche zu- einander, einig nur in dem Verzichte auf jegliche Erklärung für ormis, caleis, celentis. Memitisch also, den Schluß können wir allenfalls ziehen, sind die fremden Zahlwörter nicht ausnahmslos. Man hat auch versucht, einige der Wörter, welche besondere Schwierigkeiten bereiten, ormis und celentis, aus dem Magyarischen herzuleiten!). Eine andere Richtung schlugen alsdann Gelehrte ein, welche den hebräischen Ursprung von arbas, quimas, temenias als mit der alexandrinischen Heimat der sämtlichen von ihnen als neupythagoräisch vermuteten Wörter wohl vereinbarlich zugaben, dagegen die anderen aus dem Griechischen ableiteten, und zwar aus Wörtern, welche Begriffen ent- sprachen, die in der Tat in der Zahlensymbolik der späten Pytha- goräer mit den betreffenden Zahlen im Zusammenhang stehen. Igen soll aus 7 pvvr, andras aus dvöges, ormis aus Öour) entstanden sein, weil die 1 das Weibliche, die 2 das Männliche, die 3 die Vereinigung beider bedeute; calcis, welches auch in den Formen caltis und chaleus vorkommt, sei nach einer Meinung »«Adrng, weil die 6 dem Begriffe ‘) Fr. Th. Köppen, Notizen über die Zahlwörter im Abacus des Boethius (in dem VI. Bande der Melanges Greco- Romains tires du Bulletin de V’ Acad. imper. des sciences de St. Petersbourg). 896 40. Kapitel. des Vollkommenen und des Schönen entspreche, während die andere Meinung chalcus, gaAxoüg damit rechtfertigt, dab yaAxoüg und odyyia Synonyma seien, die Alten aber nach einer Behauptung des Cassio- dorius in einem Briefe an Boethius') für 6 auch Unze sagten. Eine Ableitung von zenis als Tochter des Zeus beruht darauf, daß die 7 bei Theon von Smyrna Athene genannt wird?), eine dem Sinne nach ähnliche von celentis aus osAyvn darauf, daß 9 die Zahl der Jung- frau ist?), die Mondgöttin aber sich vor allen der Jungfräulichkeit erfreut. Andere dagegen wollen celentis von OnAvvrög weibisch, oder vielmehr unter der Annahme, das Anfangs-« eines Wortes könne, auch wenn es verneinende Bedeutung habe, wegfallen, von &0nAvvrög nicht weibisch, kräftig, ableiten, weil die 9 den Begriff der Kraft in sich schließe. So steht eine nicht unbedingt zu verwerfende Anzahl von Erklärungen der fremdklingenden Zahlwörter Radulphs zu Ge- bote. Weiter aber als bis zur Ablehnung der unbedingten Ver- werfung möchten wir unsere Zustimmung doch nicht erstrecken und betrachten das Rätsel als immer noch nicht mit Gewißheit aufgelöst, gern bereit eine zuverlässigere Deutung jener Wörter freudig zu be- grüßen, welche auch die Frage nach der Zeit der Entstehung end- gültig beantworten würde. Wir gehen nunmehr mit Radulph zu dem letzten Zeichen des sipos über, zu dem Kreise mit angedeutetem Mittelpunkte, jene Figur „welche, wiewohl sie keine Zahl bedeutet, doch zu gewissen anderen Zwecken dienlich ist, wie im folgenden erklärt werden wird“ (8. 892) Radulph erfüllt das gegebene Versprechen treulich*). Der vorsichtige Abaeist — providus abacista — wird, sagt er, unter den anderen Zeichen auch ein nach Art eines Rädehens — in modum rotulae — gestaltetes sipos sich auf Marken — in caleulis — anfertigen, und nun erläutert er deren Gebrauch. Wir begnügen uns, ohne wörtlich zu übersetzen, auf den Kernpunkt hinzuweisen. Wenn die Multipli- kation mehrziffriger Zahlen miteinander vorgenommen wird, so kommt es darauf an, immer zu wissen, wo man mit dem Vervielfältigen halte. Ist dieses schon notwendig, wofern alle. Zwischenrechnungen stehen bleiben, so ist es noch weit unerläßlicher, wenn, wie wir von Bernelinus gelernt haben, Ziffern fortwährend verändert wurden. Sei es daß man auf dem Sande neue Zeichen schrieb, sei es daß man auf dem vom Schildmacher hergerichteten Abacus neue Marken auf- ') Variae I, epist. 10: Senarium vero, quem non immerito perfectum docta Antiquitas definuit, unciae, qui mensurae primus gradus est, appellatione signavit. ®) Theon Smyrnaeus (ed. Hiller) pag. 103, lin. 1—5. ®) Theologumena (ed. Ast) pag. 58, lin. 12 figg. *) Woepcke im Journal Asiatique für 1863, I. Halbjahr, pag. 246—247, Anmerkung 1. e Abacisten und Algorithmiker. 897 legte, in beiden Fällen war dem vor Augen befindlichen Teilergeb- nisse nicht anzusehen, welchem Augenblick der Rechnung es ent- stamme. Da trat das sipos in seine Rechte. Man rückte nämlich eine solche Marke längs den Ziffern des Multiplikators von der Rechten zur Linken fort, um anzugeben, mit welcher Stelle man gerade ver- vielfache; um aber auch zu wissen, welchen Abschnitt der Verviel- fältigung jeder Multiplikatorsziffer mit dem ganzen Multiplikandus man schon ausgeführt habe, ließ man gleichzeitig eine zweite sipos- Marke längs des Multiplikandus fortrücken. Man sieht somit: das sipos ist keine Null, ist, wie Radulph ganz richtig bemerkt, überhaupt kein Zahlzeichen, sondern nur ein Rechnungsbehelf ähnlich dem Pünktchen, dessen auch wohl in der heutigen Zeit Rechner beim Dividieren sich bedienen, sowie beim Multiplizieren vielziffriger Zahlen miteinander, vorausgesetzt, daß sie diese letztere Rechnung so voll- ziehen, daß alle Zwischenrechnungen bis zum Hinschreiben der ein- zelnen Ziffern des Gesamtproduktes im Kopfe vorgenommen werden. Daß beim sipos ein Kreis das Pünktchen umschließt, ist vielleicht nur die Zeichnung einer runden Marke überhaupt und die Ähnlich- keit mit dem Zeichen der Null eine durchaus zufällige. Was das Wort sipos betrifft, so ist es kaum weniger zweifelhafter Bedeutung als die anderen Wörter, von welchen wir oben gesprochen haben, denn wenn die einen es mit dem as-sifr (leer) der Araber, andere es mit dem saph (Gefäß) der Hebräer in Verbindung setzen, leiten noch andere, offenbar hier weit mehr in Übereinstimmung mit der Verwendung des sipos, es von dijpog (Rechenmarke) ab. Man ist sogar so weit gegangen!) zu fragen, ob nicht das arabische as-sifr selbst als Lehnwort mit dem griechischen Yrjpog in Zusammenhang zu bringen sei. | Wir können hier einschaltend auch das Wort abacista hervor- heben, durch welches Raidulph den auf dem Abacus Rechnenden be- nennt. Der Name?) geht mindestens bis auf Gerbert zurück, der sich in seiner Geometrie desselben bedient, und seine Nachfolger ge- brauchen bald dieses Hauptwort, bald ein von demselben abgeleitetes Zeitwort abacizare?), welches Rechnen auf dem Abacus bedeutet. Die Hochschätzung Gerberts als desjenigen, welcher das Rechnen mehr als jemals früher zum Gemeingute gemacht hat, spricht sich in dem gleichfalls einmal aufgefundenen Worte gerbertista*) für Rechner aus. t) Karl Krumbacher, Woher stammt das Wort Ziffer (chiffre)? in den Etudes de philologie neogreceque publieess par M. Jean Psichari. Paris 1892. Dagegen Derselbe, Noch einmal das Wort Ziffer, in der Byzantinischen Zeitschrift. Leipzig 1893. ?) Math. Beitr. Kulturl. 8. 331. °) Franco 185. *) Oeuvres CAnToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 57 898 40. Kapitel. Jüngerer Zeitgenosse Radulphs war, wie wir schon sagten, Gerland!). Er war Schüler des von dem Bistum Besancon ab- hängigen Benediktinerklosters in der Stadt gleichen Namens. Er wirkte selbst dort als Stiftslehrer, dann als Prior in den Jahren 1131 und 1132. Im Jahre 1148 begleitete er nebst Theodorich von Chartres den Erzbischof Adalbero von Trier zu einem Reichstage nach Frankfurt und führte mit seinem Reisegefährten während der Rheinfahrt ein glänzendes Wortgefecht. Er schrieb unter anderem einen Komputus, d. h. wie wir wissen, eine Anleitung zur Öster- rechnung, und eine Abhandlung über den Abacus, die in einer Karls- ruher Sammelhandschrift aus dem XI. S., die also jedenfalls kurz nach der Abfassung der Abhandlung entstanden sein muß, sich er- halten hat?). Wir heben nur weniges als bemerkenswert aus ihr hervor. Gerland benutzt die fremdartigen Zahlwörter beim Rechnen selbst: Igin pone iuxta andram, setze igin neben andras usw. Er benutzt ferner fortwährend einen gezeichneten Abacus, dessen einzelne Ko- lumnen Bogen, arcus, heißen und einen oberen Abschluß durch einen .Kreisbogen finden. An einer einzigen Stelle vereinigt er, wie Berne- linus, wie Radulph es vorschrieben, überdies Gruppen von drei Ko- lumnen unter einem größeren Kreisbogen und von diesen dreien selbst wieder zwei unter einem mittelgroßen Bogen; allein dabei macht sich eine Verschiedenheit gegen Bernelinus geltend, denn Ber- nelinus will (8. 830) den mittelgroßen Bogen über die Zehner- und Hunderterkolumne gezeichnet haben, worin ein guter Sinn liegt, der der Unterscheidung von Einern und Nichteinern der betreffenden Gruppe, Gerland dagegen vereinigt, man weiß nicht wozu, die Einer- und Zehnerkolumne unter einem mittelgroßen Bogen. Die Zahl der Kolumnen ist 12, also auch nicht mit jenen Vorgängern in Überein- stimmung. Eine andere Handschrift von Gerlands Abacusregeln hat: 15 Kolumnen, und überhaupt ist der Wechsel in diesen Anzahlen ein sehr häufiger und nur darin beschränkt, daß die Kolumnenzahl stets durch 3 teilbar die Bildung von Triaden gestattet?); neben 27 kommen beispielsweise auch 30 Kolumnen vor, mutmaßlich so zu erklären, daß neun Gruppen von je 3 Kolumnen mit den Wörtern igin bis celentis überschrieben waren und dann noch eine zehnte Gruppe hinzugenommen wurde, um die Überschrift sipos verwerten de (@erbert (ed. Olleris) pag. XXXVII aus dem Codex von Montpellier Nr. 491. ') Boncompagni im Bullettino Boncompagni X, 6538— 656. ?, Zum Drucke befördert durch Treutlein in dem Bullettino Boncompagni X, 595—607. ®) Compt. Rend. XVI, 1405. Abacisten und Algorithmiker. 899 zu können, deren Sinn allmählich verloren ging, als man mit der wirklichen Null der Araber bekannt wurde. Beim Dividieren lehrt Gerland nicht das komplementäre, sondern das unmittelbare Verfahren sowohl an dem Beispiele 120:3 als an dem Beispiele 100: 11, bei welchem letzteren das übrig bleibende 1 zur Fortsetzung der Division in Duodezimalbrüche verwandelt wird. Greifen wir jetzt aus der zahlreichen Menge von dem Verfasser und der Abfassungszeit nach nicht genau bestimmbaren Schriften über den Abacus noch einige heraus, die uns bemerkenswerter er- scheinen und möglicherweise in die Zeit gehören, bis zu welcher wir gelangt sind. Dem XII. S. entstammen nach der Ansicht der meisten Oddos Regeln des Abacus!) (8. 845). Diese Regeln beginnen wieder mit einer an geschichtlichen Erinnerungen reichen Einleitung: „Will einer Kenntnis des Abacus haben, so muß er Betrachtungen über die Zahlen sich aneignen. Diese Kunst wurde nicht von den modernen Schriftstellern erfunden, sondern von den Alten, und wird deshalb von vielen vernachlässigt, weil sie durch die Verworrenheit der Zahlen sehr verwickelt ist, wie wir aus der Erzählung unserer Vorfahren wissen. Erfinder dieser Kunst war Pythagoras, wie uns mitgeteilt wird. Deren Übung ist bei einigen Dingen notwendig, weil ohne Kenntnis derselben kaum irgend jemand es in der Arith- metik zur Vollkommenheit bringen, noch die Lehren der Kalkulation d. h. des Komputus verstehen wird. Hätten doch unsere heiligen Weisen niemals die für die heilige Kirche notwendigen Regeln auf das Ansehen jener Heiden gestützt, wenn sie gefühlt hätten, es sei eine müßige Kunst, die jene lehrten. Will z. B. einer die Bücher Bedas des Ehrwürdigen über den Komputus lesen, so wird er ohne Besitz dieser Kunst wenig Nutzen erzielen können. Eben sie ist in dem Quadrivium, d. h. in der Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie so notwendig und nützlich, daß ohne sie fast alle Arbeit der Studierenden zwecklos erscheint. Wir glauben, daß sie vor alters griechisch geschrieben und von Boethius ins Lateinische übersetzt wurde. Aber das Buch über diese Kunst ist zu schwer für den Leser, und so haben wir einige Regeln hier auseinandergesetzt.“ Wir sehen hier in den geschichtlichen Angaben eine ziemliche Übereinstimmung mit denen Radulphs, jedoch so, daß keiner der ) Seriptores ecclesiastici de musica (ed. Mart. kerbert). St. Blasien 1784, I, 296— 302: Regulae Domni Oddonis super abacum. Vgl. Math. Beitr. Kulturl. S. 295—302. Die wichtigsten Gründe, welche für eine späte Lebenszeit Oddos ' sprechen, bei R. Peiper auf S. 216—220 des Supplementheftes zu Zeitschr. Math. Phys. XXV (1880) und bei A. Nagl, Gerbert und die Rechenkunst des X. Jahrhunderts S. 33. 57* 900 40. Kapitel. beiden Schriftsteller eine Abhängigkeit von dem anderen verrät, die Allgemeinheit der Überlieferung also durch ihre ähnlichen Behaup- tungen nur um so sicherer bestätigt wird. Wenn Radulph die Not- wendigkeit des Abacus zum Verständnis Platons betont, führt Oddo das Rechnen auf demselben auf Pythagoras zurück. Wenn Radulph ihn der Geometrie dienen läßt, ist er bei Oddo dem ganzen Qua- drivium ein nützliches Hilfsmittel. Wenn Radulph die Kunst in Mißkredit, fast in Vergessenheit geraten läßt, bis Gerbert und Her- mann sie erneuerten, spricht Oddo die Meinung aus, Boethius habe darüber eine Schrift aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt, aber dieses Buch sei zu schwierig, und deshalb setze er seine Regeln auseinander. Die letztere Bemerkung Oddos verdient unsere ganz besondere Aufmerksamkeit, da es schwer fällt, dieselbe nicht auf die gefälschte Geometrie des Boethius zu beziehen. Dann muß aber Oddo nach der Entstehung dieser Geometrie, d. h. nicht früher als im XII S. seine Regeln verfaßt haben. Die Benennung der Einer und Zehner als Finger- und Gelenk- zahlen, der Kolumnen als Bögen, die Vereinigung von je drei Bögen zu einer mit einem größeren Bogen überspannten Gruppe, das Auf- treten der Apices, das sind lauter Dinge, die Oddo mit vielen gemein hat. Die Zahlennamen igin usw. kommen bei ihm nicht vor, und das könnte Anlaß geben, ihn für einen Zeitgenossen eines früheren als des XII. S. zu halten. Bei der Multiplikation unterscheidet er die beiden Faktoren als Summe, summa, und Grundzahl, fundamentum, wovon jene oben, diese weiter unten geschrieben wird. Das Produkt kommt zwischen beide Zeilen zu stehen!). Dabei findet zwischen den Faktoren Gegenseitigkeit statt: „Mag man 5 mal 7 oder 7 mal 5 nehmen, so entsteht XXXV.“ Der Gegensatz der Schreibweise in diesem Satze, die Darstellung einziffriger Zahlenwerte durch Apices, mehrziffriger durch römische Zahlzeichen, ist die naturgemäße Folge des Nichtvorhandenseins der Null, ohne welche die Apices die längste Zeit über nur dann Stellenwert erhielten, wenn sie einem Abacus ein- gezeichnet waren. Ein einziges Beispiel vom Gegenteil ist bis jetzt bekannt ge- worden?). In einer Handschrift der alexandrinischen Bibliothek zu Rom, welche um das Jahr 1200 herum entstanden ist, findet sich ') Summa vocatur quod in summitate arcuum; fundamentum autem quid- quwid inferius disponitur. Et quod ex utroque numero procedit multiplicato inter duas lineas ponitur. ?) Enrico Narducei, Intorno ad un manuseritto della Biblioteca Alessandrina contenente gli apiei di Boezio senz’ abaco e con valore di posizione in den Memorie dell’ Accademia Reale dei Lincei, Olasse di scienze fisiche, matematiche e naturali. ‘Serie 3. Vol. 1. Seduta dell’ 8. aprile 1877. Abacisten und Algorithmiker. 901 nämlich auf zwei eigentümlichen kreisrunden Figuren eine ziemliche Menge von Zahlen, teils einziffrige, teils zweiziffrige. Sie sind mit geringfügigen Ausnahmen durch Apices geschrieben, die zu diesem Zwecke offenbar Stellungswert erhielten. Daß aber dem Schreiber die Null noch nicht bekannt war, oder, was auf das Gleiche heraus- kommt, daß er sie noch nicht zu gebrauchen wagte, geht mit Be- stimmtheit daraus hervor, daß mitten zwischen den Apices die römischen Zeichen für X und XX vorkommen. Doch wir kehren zu Oddo zurück. Nach den Multiplikations- regeln gelangt er zur Division und unterscheidet, wie wir es schon wiederholt und auch in der gefälschten Geometrie des Boethius ge- funden haben, die einfache, die zusammengesetzte und die unter- brochene Division, je nachdem der Divisor einstellig ist, mehrstellig in aufeinander folgenden Kolumnen, oder mehrstellig, aber so, daß dazwischen eine Kolumne leer bleibt. Der Dividend steht hier in ‘der Mitte, der Divisor oben, der Quotient unten‘), und es ist nicht zu verkennen, daß hier eine völlig gleichmäßige Anordnung wie bei der Multiplikation gewählt ist, die das Produkt zwischen beide Fak- toren stellt. Allerdings sind wir genötigt, die Stellung aus Oddos Worterklärungen zu entnehmen, denn die Zeichnung eines Abacus kommt bei ihm nicht vor. Er vollzieht die Divisionen unmittelbar, nicht komplementär, und überhaupt fühlt er sich bei der über- nommenen Aufgabe, die Division in ihren drei Fällen schriftlich er- klären zu müssen, nicht wohl. Schon bei der zusammengesetzten Division sagt er: „das Alles läßt sich viel leichter mit einem ein- zigen Worte mündlich als schriftlich abmachen“?). Nach der Di- vision folgen die Brüche, d. h. wie immer Duodezimalteile des as. Oddo prunkt dabei mit einer gewissen Gelehrsamkeit, er sagt dragma sei griechisch, sichel hebräisch usw., eine Gelehrsamkeit, welche er, wie richtig bemerkt worden ist?), sich leicht in dem etymologischen Werke des Isidorus von Sevilla verschaffen konnte. Er dividiert so- dann 1001 durch 1000 und verwandelt die zunächst übrig bleibende Einheit in immer kleinere Bruchteile, bis deren Anzahl 1000 über- steigt und eine Fortsetzung der Division zuläßt. Die Verwandlung selbst, aufeinander folgende Multiplikationen erfordernd, wird auf dem Abacus ausgeführt. Schließlich kann man freilich nicht weiter zu noch niedrigeren Einheiten übergehen. Da hört denn auch die Di- vision auf, und man könne am Ende sich nicht wundern, wenn bei 1) Quidquid dividendum est in abaco in medio ponitur,; divisores praepo- nuntur; denominationes autem, hoc .est partes divisae supponuntur. >) Quae omnia magis unicae vocis alloqwio quam seripta advertuntur. ®) Friedlein in der Zeitschr. Math. Phys. IX, 326. 902 40. Kapitel. den Bruchteilen etwas übrig bleibe, da auch andere Künste in vielen Punkten wacklig seien). - „Nur der die Dinge gemacht und bewahrt mit schützendem Walten Ist mit jedwelcher Macht allein für vollkommen zu halten.“ Rerum vero parens, qui solus cuncta tuetur, Cum sit cunctipotens, perfectus solus habetur. Eine anonyme Schrift über den Abacus?), einer Münchener Handschrift aus der Mitte des XII. 5. entstammend und folglich spätestens gleichzeitig mit Radulphs oder mit Gerlands Arbeiten ent- standen, zieht unsere Aufmerksamkeit dadurch auf sich, daß sie einige Kunstausdrücke enthält und deutlich erklärt, welchen wir (S. 891) bei Atelhart von Bath und bei Radulph von Laon bereits begegnet sind. Sie nennt nämlich das unmittelbare Divisionsverfahren das der goldenen Division, das komplementäre das der eisernen, jenes, weil es leicht zu verstehen und über die Annehmlichkeit des Goldes hinaus ergötzlich ist, dieses dagegen weil es allzuschwer ist und gewissermaßen die Härte des Eisens überbietet?). Die Apices sind einmal gezeichnet und griechische Buchstaben als mit ihnen abwechselnd auftretend genannt, ähnlich wie es bei Bernelinus der Fall war, und eine andere Ähnlichkeit mit diesem Schriftsteller be- steht darin, daß für 6 nicht der richtige griechische Buchstabe angegeben ist, allerdings auch nicht &, sondern ein großes latei- nisches $S. Weitere Ähnlichkeiten mit Bernelinus könnten noch darin gefunden werden, daß im ganzen Verlaufe der Schrift die Apices nicht weiter benutzt werden, daß kein Abacus gezeichnet ist, daß aber die Regeln mit ungemeiner Klarheit an Beispielen erläutert werden, bei welchen durchgängig nur römische Zahlzeichen in An- wendung kommen. Die Zahlenbeispiele selbst sind nicht die gleichen bei beiden. In dieser Beziehung sind überhaupt die Abaeisten sehr unabhängig voneinander. Es ist uns nicht erinnerlich, daß irgend zwei derselben in der Benutzung des gleichen Zahlenbeispiels zusammenträfen. Dagegen ist uns ein Beispiel Gerlands in seiner ganzen Einkleidung bei einem Algorithmiker begegnet, welcher spätestens am Ende des XI. 8. gelebt hat. Unter Algorithmikern verstehen wir diejenigen Schriftsteller, ') Nee mirandum est aliquid de minutüis superesse, cum alias artes in multis videam vacillare. ?) Abgedruckt im Bullettino Boncompagni X, 607—625. Über die Handschrift vgl. Treutlein ebenda pag. 591 unter 2. °) Ebenda pag. 609: Dicuntur aureae divisiones eo quod ad intelligendum faciles et super auri gratiam sint delectabiles; siceut contra ferreae que sunt nimis graves quasi ferri duriciam preponderantes. Abacisten und Algorithmiker. 903 welche ihre unmittelbare Abhängigkeit von arabischen Vorbildern durch Vorkommen des bald mißverstandenen Wortes algorithmus, durch Anwendung des Stellenwertes der Ziffern mit Einschluß der Null, durch Nichtanwendung des Abacus, durch den beiden letzten Eigentümlichkeiten entsprechende Rechnungsverfahren an den Tag legen. Wozu indessen in allgemeinen Sätzen die Erkennungszeichen algorithmischer Schriften erörtern, deren beide hervorragendsten wir in früheren Kapiteln einzeln besprochen haben, die lateinische Übersetzung des Reehenbuches des Muhammed ibn Müsä Alchwarizmi (8. 714 flgg) und die an dasselbe Werk sich anlehnende ausführliche Schrift des Johannes von Sevilla (5. 800 flg.)? Wir müssen einen Blick auf die allgemeinen Verhältnisse werfen, welche die Entstehung dieser Übersetzungen begleiteten. Gerbert war für uns am Ende des X. S. vor allen Dingen der glänzende Lehrer gewesen, der den Unterricht in den mathematischen Wissenschaften, so viel oder wenig aus römischen Quellen ihm davon zur Kenntnis gelangt war, neu belebte.e Auch der Geschichte der Philosophie ge- hört der Philosoph auf dem Stuhle St. Peters an). Nicht bloß das Rechnen auf dem Abacus wurde von seinen Schülern, als sie selbst zu Lehrern geworden waren, über Frankreich, Deutschland und Italien verbreitet, von wo sie einst zu den Füßen des Rheimser Stiftslehrers gepilgert waren, es machte überhaupt um die Mitte des XI. S. ein neuer Aufschwung des wissenschaftlichen Denkens sich geltend. Lan- frank, am Anfang des Jahrhunderts in Pavia geboren, in Frankreich herangebildet, führte die Dialektik in die Theologie ein und ließ den Sinn für aristotelische Schriften erstarken. Freilich kannte man sie zunächst nur aus Bearbeitungen des Boethius, aber da und dort waren doch immer einzelne Männer zu finden, welchen das Griechische ge- läufig genug war, ihnen zu gestatten, die Urquelle aufzusuchen, und so entstanden jetzt schon einige wenige neuere Übersetzungen. Die dadurch genährte und wachsende Neigung mit allem bekannt zu werden, was Aristoteles, dessen Name mehr und mehr den Inbegriff aller Wissenschaft darstellte, geschrieben hatte, trat besonders in zwei Ländern hervor: in England, wohin Lanfrank als Erzbischof von Canterbury gekommen war, und in Italien, wo gleichfalls eine be- stimmte Persönlichkeit, Anselm der Peripatetiker, nicht zu ver- wechseln mit dem Bruder Radulphs von Laon, den geistigen Mittel- punkt der neuen Bewegung bildete. Deutschland beteiligte sich erst, ı) Herm. Reuter, Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter I, 78flgg. Berlin 1875. 904 | 40. Kapitel. nachdem, man kann fast sagen, Missionsreisende für die dialektischen Studien es durchzogen hatten, wozu eben jener Anselm der Peripate- tiker gehörte. Aber wie sollte man die Begierde nach der Kenntnis aristo- telischer Schriften stillen? Griechische Texte waren nur in seltensten Handschriften zugänglich. Man erfuhr, daß die Araber eifrige Philo- sophen waren, daß auch sie keinen der Alten höher schätzten, als Aristoteles, daß bei ihnen Übersetzungen und Erläuterungen in Menge zu finden waren. Arabisches war schon früher, jedenfalls schon am Ende des X. S. ins Lateinische übersetzt worden. Wir erinnern an die Übersetzungen astronomischer Schriften, welche Lupitus von Bar- celona angefertigt, Gerbert zu besitzen gewünscht hat, wir erinnern an die Vorlage Hermann des Lahmen für seine Bücher über das Astrolabium. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, daß wir somit es keineswegs an sich für unmöglich halten, daß Gerbert bei seinem Aufenthalt in der spanischen Mark durch Übersetzungen auch mit. arabischer Rechenkunst hätte bekannt werden können, sondern daß wir nur durch den allerdings entscheidenden Umstand bewogen sind, diese Kenntnis in Abrede zu stellen, daß gar nichts zwischen Gerbert und den Arabern gemein ist, durchaus gar nichts in der Anordnung wie in der Ausführung der Rechnungen als nur neun Ziffern ohne das zehnte Zeichen der Null, und daß diese Gemeinschaft sich uns hinreichend mittels römischer Erinnerungen erklärt, während jeder andere Erklärungsversuch an der verhältnismäßigen Geringfügigkeit des Gemeinschaftlichen neben den weit überwiegenden Verschieden- heiten scheitert. Jetzt suchte man, etwa vom Jahre 1100 an, noch mehr der arabischen Bearbeitungen griechischer Schriftsteller habhaft zu werden und sie ın das Lateinische zu übertragen. Dazu kommt ein anderer Umstand, der, scheint es uns, nicht übersehen werden darf, wenn es sich darum handelt, ein geistiges Bild jener Zeit zu entwerfen und die mehr und mehr sich geltend machende Einwirkung arabischer Wissenschaft auf das Abendland zu schildern. Mit dem Jahre 1100 beginnen die Kreuzzüge. Jeder wissenschaftliche Zweck war den- selben fremd, aber wissenschaftliche Erfolge haben sie gehabt. Wir haben (8. 778) berührt, daß die Kreuzfahrer im Oriente auf eine ihnen überlegene Bildung stießen, daß zwei Jahrhunderte lang der Verkehr ein meistens feindlicher, aber in längeren Pausen auch ein nachbarlich freundlicher war. Wie ehedem nestorianische Christen die Ärzte der Chalifen gewesen waren und zur Einführung griechi- scher Wissenschaft unter die Araber das meiste beigetragen haben, so bildete jetzt wieder medizinisches und astrologisches Wissen den Abacisten und Algorithmiker. 905 Freipaß, auf welchen hin arabische und jüdische in arabischer Schu- lung gebildete Ärzte und Sterndeuter an den christlichen Höfen er- schienen. Sie kamen von Osten her, aber auch Spanien stellte seine Männer, und Sizilien lieferte für ganz Unteritalien im XII. und mehr noch im XII. S. den belebenden geistigen Sauerstoff. Für Italien waren die Kreuzzüge noch in mehreren anderen Be- ziehungen von nicht zu unterschätzenden Folgen‘). Die Menschen- masse, welche in den Kreuzzügen sich nach Osten wälzte, die einen getrieben von heiligem Glaubenseifer, die anderen beseelt von dem Wunsche die äußeren Vorteile zu genießen, zu welchen die Kreuz- nahme berechtigte, die dritten mit fortgerissen von dem allgemeinen Zug, bezifferte sich auf viele Millionen. Die meisten nahmen ihren ‚Weg über Italien; nicht wenige kehrten bis dahin, aber auch nur bis dahin zurück. Der kaufmännische Geist der Italiener wußte aus dieser Strömung vielfach Nutzen zu ziehen. Italiener — Lombarden wie man sie gewöhnlich nannte — erschienen in den Mittelpunkten, wo Kreuzfahrer sich sammelten, boten gegen wertvolles Pfand und hohen Zins ihre Geldhilfe an, welche gern in Anspruch genommen ihnen gestattete, aus dem Gewinne ganze Straßen zu bauen, die bis auf den heutigen Tag sich nach ihnen benennen. Die zurückkehren- den Kreuzfahrer ließen sich nicht minder ausnutzen. Sie brachten Beutestücke mit, die sie in Geld umsetzten, um den üppigeren Nei- gungen zu genügen, welche sie insbesondere in bezug auf Speisen und Kleidung angenommen hatten. Und wieder waren es die Italiener, die vorzugsweise es auszubeuten wußten, daß die Gewürze, die Seide des Orients zu Lebensbedürfnissen geworden waren. An der Nord- küste Afrikas, wie in Ägypten, wie an dem Strande des ehemaligen Tyrus entstanden italienische Handelsplätze, überall in nächster Be- ziehung zu arabischen Kaufleuten und, wie wir (8. 817) schon an- gedeutet haben, hier nicht ohne Einfluß auf das Wissen derselben, andererseits jedenfalls auch von ihnen Samen erhaltend, dessen Keimen wir im nächsten Bande dieses Werkes verfolgen müssen, wenn wir in den reichen italienischen Städten. uns umsehen, deren Bürger die Feder nicht bloß zum Eintrag gewinnbringender Handelsgeschäfte in ihre kaufmännisch geführten Bücher, sondern auch zu streng wissen- schaftliehen Arbeiten zu benutzen wußten und sich zu Trägern mathe- matischer Fortentwicklung machten. Wir haben einen der ersten Schriftsteller, der nachweislich mit der Übersetzung mathematischer Schriften aus dem Arabischen sich ) De Choiseul-Daillecourt, De Vinfluence des croisades sur l’etat des peuples de ’Europe. Paris 1809. 906 40. Kapitel. beschäftigte, schon einigemal genannt: Atelhart von Bath‘). Sein Hauptwerk „Fragen aus der Natur“ enthält Bemerkungen, welche vermöge der Persönlichkeiten, auf die sie sich beziehen, nur in den ersten 30 Jahren des XII. S. niedergeschrieben sein können, und so- mit zur Feststellung der Lebenszeit ihres Verfassers führten. Atel- hart hat, um zur Kenntnis der arabischen Sprache zu gelangen, weite Reisen gemacht. Er ist in Kleinasien, ın Ägypten, in Spanien ge- wesen, überall die gleichen wissenschaftlichen Zwecke verfolgend und um ihretwillen tausend Gefahren trotzend.. Wir wissen schon, daß .Atelhart die astronomischen Tafeln des Muhammed ıbn Müsä Alchwa- rizmi übersetzt hat, -daß von ihm eine lateinische Bearbeitung der euklidischen Elemente?) nach dem Arabischen herrührt (8. 713). Ob Atelhart es war, welcher die Übersetzung des Rechenbuches Alchwa- rizmis anfertigte, konnte nicht mit Bestimmtheit festgestellt werden. Merkwürdig wäre es um deswillen, weil Atelhart auch über den Abacus geschrieben hat (S. 891) und somit Abaeist und Algorithmiker in einer Person wäre. Als Schüler Atelharts bezeichnet sich selbst Ocreat der Ver- fasser eines Auszuges aus einer arabischen Schrift über Multiplikation und Division in den Einleitungsworten: Prologus H. Ocreati in Hel- ceph ad Adelhardum Baiotensem magistrum suum?). Man möchte zu- nächst an Atelhart von Bath als Lehrer denken. Dann müßte es aber Adelhardum Bathonensem heißen. Die Form Baiotensem zwingt einen im übrigen unbekannten Atelhart von Bayeux anzunehmen. Ferner hat man in Helceph den Namen des arabischen Schriftstellers erkennen wollen, von welchem die durch Oecreatus (der Gestiefelte?)*) aus- gezogene Abhandlung herrührtee Man ist jedoch zu der nachträg- lichen sehr anmutenden Meinung gekommen, es sei Helceph die Ver- ketzerung von Al käfi, die genügende Untersuchung, und Ocreatus’ Vorlage sei ähnlich betitelt gewesen wie die Schrift Alkarchis, von der wir unter dem Namen Al käfi fl hisäb gehandelt haben (8.762 flg.). Wir erinnern uns, daß wir dem Auszuge Ocreatus’ ($. 433) die Be- merkung entnahmen, Nikomachus habe das Quadrat «a? mittels einer ‘) Jourdain, Recherches sur les anciennes traduetions latines d’Aristote (2ieme edition) pag. 27, 97—99, 258—277. °) Vgl. darüber einen Aufsatz von Weißenborn in dem Supplementhefte zur historisch-literarischen Abteilung der Zeitschr. Math. Phys. Bd. XXV (1880. °) Jourdainl.c. pag. 99, Anmerkung 1 hat auf diese in einer Pariser Handschrift des XII. S. enthaltene Abhandlung hingewiesen. Zum Abdrucke gelangte sie im Supplementhefte der histor.-literar. Abtlg. Zeitschr. Math. Phys. Bd. XXV (1880) mit einer Einleitung von C. Henry, welcher wir die von L. Rodet herstammende im Texte folgende Vermutung über Helceph entnehmen. *) Auf diese mögliche Bedeutung des Namens hat uns W. Wattenbach aufmerksam gemacht. Abacisten und Algorithmiker. 907 Art komplementärer Multiplikation sich zu verschaffen gewußt. Ob diese Angabe der arabischen Vorlage entstammt, ob sie durch Ocrea- tus etwa einer damals noch vorhandenen Bearbeitung des Nikomachus von Appuleius entnommen wurde, ist durchaus nicht zu entscheiden. Ein Johannes Ocreatus wird in dem englischen Handschriftenkataloge als Euklidübersetzer genannt. Ob dieses auf einem Mißverständnisse beruht, wäre an Ort und Stelle zu untersuchen'). Am Anfange des XI1.S. lebte auch Plato von Tivoli oder Plato Tiburtinus?), der vermeintliche Übersetzer des Albattäni, durch welchen, wie man früher annahm, das Wort Sinus (8. 737) in die Trigonometrie eingeführt worden sei. Wenn nicht Albattänis Astronomie hat Plato doch verschiedene astrologische Schriften übersetzt. Eine derselben unter dem Titel: Astrologische Aphorismen von oder an Almansür hat Plato in Barcelona angefertigt und im Jahre 530 der Hidschra, d. h. 1156 n. Chr. beendigt?). Auch die aus dem Hebräischen des Abraham Savasorda dureh Plato übersetzte praktische Geometrie, welche in mehrfachen Handschriften vorhanden ist, trägt ein Datum 510 arabischer Zeit- rechnung d. h. also 1116 und ist als ältestes Zeugnis seiner Wirk- samkeit aufgefaßt worden. Unter den mittelbar aus dem Griechischen stammenden Werken ist die mathematisch wichtigste Schrift, welche Plato aus dem Arabischen übersetzt hat, die Sphärik des Theodosius. Noch ein Übersetzer, an welchen wir uns zu erinnern haben, ist Gerhard von Öremonat). Zufolge einer sehr alten biographi- schen Notiz über denselben ist Gerhard 1114 in Uremona geboren, wurde frühzeitig von philosophischen Studien angezogen und fand insbesondere an der Astronomie seine Freude Das Bedauern, der großen Zusammenstellung des Ptolemäus nicht habhaft werden zu können, vereinigt mit der, wir wissen nicht wie, erlangten Kenntnis, daß dieses Werk in arabischer Sprache vorhanden sei, führte Gerhard nach Toledo, wo er 1175 die Übersetzung des Almagestes aus dem Arabischen in das Lateinische vollendete’). Aber das war, wenn auch die Veranlassung, doch keineswegs die einzige Frucht seines Toledoer Aufenthaltes. Eine fast unglaublich große Menge von Schriften aller Art wird uns genannt, welche Gerhard aus dem Arabischen in das ») Catalog. Mss. Angl. Tom. II pag. 247 Nr. 8689. Wüstenfeld, Die Über- setzungen arabischer Werke in das Lateinische S. 23. ®) B. Boncompagni, Delle versioni fatte da Platone Tiburtino traduttore del secolo duodeecimo. Roma 1851. ®) Vgl. Steinschneider in der Zeitschr. Math. Phys. Bd. XI, S. 26. *) B. Boncompagni, Della vita e delle opere di Gherardo Oremonese traduttore del secolo duodecimo e di Gherardo da Sabbionetta astronomo del secolo decimo- terzo. Roma 1851. °) Ebenda pag. 18. 908 40. Kapitel. Lateinische übertrug!), so daß wir unter Erwägung des Todesjahres Gerhards, welches auf 1187 fiel, kaum annehmen dürfen, daß alle seine Übersetzungen erst nach der des Almagestes angefertigt worden sein sollten. Unter den mathematischen Schriften, welche Gerhard bearbeitet haben soll, sind 15 Bücher des Euklid genannt, jedenfalls seine Elemente und die beiden Bücher, welche lange als 14. und 15. Buch mitgeschleppt wurden. Von der Übersetzung der euklidischen Elemente sind teils Bruchstücke teils vollständige Handschriften in Paris, in Boulogne sur mer, in Brügge aufgefunden worden?). Deren Wortlaut läßt mit höchster Wahrscheinlichkeit darauf schließen, daß zu Gerhards Zeiten außer den arabischen Übersetzungen Euklids, deren eine ihm als Vorlage diente, auch eine ihm bekannte und von ihm mitbenutzte lateinische Übersetzung aus dem Griechischen vorhanden war, eine Tatsache, die uns nicht allzusehr in Erstaunen setzen kann, wenn wir an das Palimpsest von Verona (S.565) denken. Von Gerhards weiteren Übersetzungen werden uns genannt Euklids Buch der gegebenen Dinge, die Sphärik des Theodosius, ein Werk des Menelaus. Diese zahlreichen Übersetzungen ursprünglich griechischer Schriften bilden die geschichtliche Bedeutung Platos und Gerhards. Nur was sie in lateinischer Sprache boten, konnte zu europäischem Besitze werden und ist es geworden, wie wir ım Il. Bande uns über- zeugen werden. Gerhard übersetzte ferner auch mit gleichem ge- schichtlichen Erfolge geometrische Schriften von arabischen Ver- fassern, von den drei Brüdern, von Täbit, aber auch die Algebra des Alchwarizmi?). Da Gerhard, wie wir wissen, eine Algebra übersetzt hat (S. 803), welche erhalten ist und als von der des Muhammed ibn Müsä verschieden sich erwies, so ist entweder in jener alten Notiz ein kleiner Irrtum vorhanden, oder wir müssen annehmen, Gerhard habe neben der Algebra des Muhammed ibn Müsä auch jene andere vollkommnere übersetzt, die nur in dem genannten Verzeichnisse fehle, eine Annahme, welche darin ihre Stütze findet, daß jenes Ver- zeichnis auch sonst nicht ganz vollständig ist und medizinische Schriften des Räzi, des Ihn Sina, des Albucasis vermissen läßt, von deren Übersetzung durch Gerhard uns anderweitig berichtet wird‘). Vielleicht darf man darauf gestützt auch einen Algorithmus des Meister Gerhard, der handschriftlich in London sich befindet?), unserem Gerhard von Cremona überweisen. Das wäre alsdann der erste Algorithmus von bekanntem abendländischem Verfasser, den ') B. Bonecompagni, Gherardo Crem. pag. 4-7 und 12. ?°) Björnbo in der ‚Bibliotheca Mathematica 3. Folge VI, 242—248. °) B. Boncompagni, Gherardo Crem pag. 5: Liber alchoarismi de iebra et almucabula tractatus 1. *) Ebenda pag. 12. °) Ebenda pag. 57. Abacisten und Algorithmiker. 909 wir zu nennen hätten. Vielleicht gibt es noch eine zweite umfang- reichere Handschrift desselben Algorithmus in einem Vatikankodex, der den Tractatus magistri Gernardi') enthält. Genauer werden wir auf diesen Algorithmus, der unter dem Namen Algorithmus de- monstratus ohne Bezeichnung eines Verfassers 1533 gedruckt worden ist, erst im II. Bande und zwar im 43. Kapitel eingehen. Auch Rudolf von Brügge, der im Jahre 1144 das Plani- sphärium des Ptolemäus nebst den Erläuterungen eines gewissen Maslama al Madjriti dazu bearbeitete?), gehört unter die Übersetzer des XI. S. Den Algorithmus des Johannes von Sevilla müssen wir wiederholt an dieser Stelle in Erinnerung bringen, um nochmals ‚einige Einzelheiten zu betonen, die, wenn auch nicht so wesentlich wie das Vorkommen des Wortes Algorithmus, der Null?) und da- gegen das Nichtvorkommen eines Abacus, doch als kennzeichnend genug sich erweisen, um sofort die Verschiedenheit der Quellen für Abaecisten und Algorithmiker hervortreten zu lassen. Der Algorith- miker nennt die Inder, der Abaeist nicht. Der Algorithmiker schildert Verdoppelung und Zweiteilung als besondere Rechnungsverfahren, bevor er zur Multiplikation und Division übergeht, der Abaeist nicht. Der Algorithmiker lehrt Wurzelausziehungen, der Abacist nicht. Der Algorithmiker benutzt Sexagesimalbrüche nach indischem, der Abacist Duodezimalbrüche nach römischem Vorbilde Allen diesen Ver- schiedenheiten gegenüber, zu welchen wir noch beifügen können, dab die Zahlwörter igin usw., welche bei Abacisten vorkommen, bei Alegorithmikern, so viel wir wissen, nie gefunden worden sind, ist es nur die Übersetzung von Einer und Zehner durch digitus und articulus, welche Algorithmikern und Abacisten gemeinsam ist. Aber wir wiederholen hier, was wir früher gesagt haben (S. 802), der Algorithmiker bediente sich dieser Wörter, weil nur sie in seiner Zeit landläufige waren. Er dachte dabei so wenig an Übernahme von Ausdrücken aus einem ganz anderen Gedanken- und Bildungs- kreise, wie da wo er irgend eines Zahlwortes sich bediente. Ihm hieß digitus Einer, articulus Zehner genau mit der gleichen Unbe- fangenheit wie septem sieben, viginti zwanzig. Es gab ihm in latei- ') Björnbo in den Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik XIV, 149—150 (1902). P. Duhem in der Bibliotheca Mathematica 3. Folge VI, 9—15 (1905). ?) Chasles, Apercgu hist. pag. 51l, deutsch $. 595, hat den Namen un- richtig Molsem. Der richtige Namen wurde von Steinschneider angegeben. Bibliotheca Mathematica 3. Folge II, 76 (1902). °) Wie langsam übrigens die Null sich einbürgerte vgl. Wattenbach, Anleitung zur lateinischen Palaeo- graphie. 4. Auflage. Leipzig 1886. S. 104. 910 40. Kapıtel. nischer Sprache keine anderen Wörter für diese Begriffe als die ge- nannten, und er fühlte sich weder verpflichtet, noch berechtigt, neue Wörter einzuführen, wo es nur um alte Begriffe sich handelte Der Algorithmiker stellt, das bleibt unter allen Umständen wahr, eine spätere Entwieklung dar als der Abacist, und hat, wenn Ähnlich- keiten auch anderer Art auftreten, sicherlich aus seinen abendländi- schen Vorgängern geschöpft. | Ein Beispiel solcher Art scheint ein Algorithmus. zu gewähren, der einer nicht später als 1200 geschriebenen früheren Salemer, jetzt Heidelberger Handschrift entstammt!). Er enthält die sämtlichen wesentlichen Merkmale der Algorithmiker, aber darüber hinaus die komplementäre Multiplikation?) fast in derselben Form, wie wir sie früher (8.528) hauptsächlich der Ähnlichkeit des Gedankens mit der komplementären Division wegen als römischen Ursprunges vermutet haben. „Ziehe, so schreibt der Verfasser vor, die Differenz des einen Faktors von dem anderen Faktor ab, der Rest gibt die Zehner, dann multipliziere die Differenzen beider Faktoren mitein- ander, und Du hast die Summe der ganzen Zahl.“ Wir haben frei- lich diese komplementäre Multiplikation, die der Formel a-b=10(a — (10 —b)) + (10 — a): (10 — b) gehorcht, bei keinem älteren Schriftsteller, weder bei irgend einem Abaeisten noch bei einem Araber gefunden, nur Ocreatus’ Regel des Nikomachus ist ihr einigermaßen verwandt, aber um so gewisser scheint es uns, daß nur ein römisch gebildeter Rechner sich ihrer bedienen konnte. Darin beirrt uns auch der Umstand nicht, daß die komplementäre Division bei unserem Verfasser nicht Eingang gefunden hat. Wohl fand solchen, wie schon (S. 902) angekündigt, ein Rechenbeispiel Gerlands. Gerland stellt die Aufgabe: unter elf Krämer die Summe von 100 Mark zu verteilen?) und findet als Quotient 9 nebst Bruchteilen, die in den bekannten duodezimalen Untereinheiten ausgesprochen werden. Unser Algorithmiker hat die Divison von 100 Librae durch 11 vollzogen und jeder Teilhaber ist ihm ein Krämer, institor*). Die eine bei der Division übrig bleibende libra verwandelt er nun freilich nicht in Zwölftel, sondern er setzt sie gleich 40 solidi. Der weitere Rest von 7 solidi wird ın nummi verwandelt, deren 12 einen solöidus ausmachen. Wieder bleiben bei der Division 7 nummi übrig, und für diese solle man Eier kaufen, deren die Krämer bei der Mahlzeit sich erfreuen werden. Für jeden ') Abgedruckt in der Zeitschr. Math. Phys. X, 1—16. 2) Ebenda 8. 5. ”) Bullettino Boncompagni X, 604: Sint XI institores et dividantur inter eos C marcae. *) Zeitschr. Math. Phys X, 7: Exemplum librarum 0. Abacisten und Algorithmiker. 911 nummus erhält man 13 Eier, im ganzen also 91, und teilt man auch diese wieder durch 11, so bleibt abermals ein Rest von 3 Eiern. Die soll man dem zum Lohne geben, der die Teilung vollzogen hat, oder sie gegen Salz umtauschen, welches vermutlich zu den Eiern gegessen werden soll. Andere Algorithmiker aus der Zeit, welche wir Er besprechen, also bis etwa zum Jahre 1200, sind gewiß noch mannigfach in hand- schriftlichen Texten vorhanden, aber im Drucke nicht veröffentlicht worden. Spätere Schriften der gleichen Natur müssen wir zur Be- handlung uns aufbewahren, wenn wir das XII. S. zu schildern haben werden, und mit noch späteren Perioden fällt erst die Erinnerung an den Ursprung des Abacus zusammen, die z. B. in Bildwerken aus dem Jahre 1500 etwa nachzuweisen wäre. Wir schließen hier unsere Darstellung zunächst ab. Das Jahr 1200 ist für die Geschichte der europäischen Mathematik ein allzu- wichtiges, um nicht durch das Ende eines Bandes ihm auch äußer- lich die Bedeutung beizulegen, welche es verdient. Mit dem Jahre 1200 ist das christliche Abendland im Besitze der Rechenkunst aus den verschiedensten Quellen, im Besitze der Null und des durch sie ermöglichten vollen Stellenwertes der Ziffern. Die Algebra als Lehre von den Gleichungen ersten und zweiten Grades ist durch Gerhard von ÖUremona zugänglich geworden. Die Geometrie des Euklid, die Astronomie des Ptolemäus, Schriften des Theodosius, des Menelaus sind in lateinischen Übersetzungen vorhanden. Das Bewußtsein, wo weitere griechische Schriften erhaltbar sein müssen, die zum voraus begründete Wertschätzung derselben macht sich mehr und mehr geltend. In diesem Augenblicke auftretende mathematische Geister trafen in eine glückliche Zeit. Zum ersten Male war ihnen wieder genügender Stoff gegeben, mit welchem ihre Erfindungsgabe sich be- schäftigen, von welchem aus sie wesentliche Fortschritte machen konnten. Und wie das im Winde fliegende Samenkorn meistens ein Fleckehen Erde findet, in welchem es sich entwickelt, so hat die Schöpfungskraft dafür gesorgt, daß kaum jemals Gedanken zugrunde gehen, die dem geistigen Luftzuge einmal angehören. Es finden sich zur rechten Zeit die rechten Männer. Zwei Namen seien hier an- kündigend genannt, welche die Träger der neu sich entfaltenden Wissenschaft für uns werden: Leonardo der Pisaner und Jor- danus Nemorarius. Ergänzungen und Verbesserungen. Zu 8. 163—164. Herr Junge macht uns brieflich darauf aufmerk- sam, daß die (S. 164, Anmerkung 1) angegebenen beiden Erklärungs- versuche von Martin und Hultsch wesentlich voneinander abweichen. Ersterer habe die Timäusstelle erklärt durch die Proportion: Feuer zu Luft wie Wasser zu Erde; letzterer dagegen habe zwei aufeinanderfolgende stetige Verhältnisse angenommen: Feuer zu Luft wie Luft zu Wasser wie Wasser zu Erde, und in der Tat schließe diese Übersetzung sich dem Texte des Timäus besser an. Für die auf S. 164 gegebene Auseinander- setzung der Begriffe von Flächen- und Körperzahlen ist es allerdings ziem- lich gleichgültig, welcher Verdeutschung man den Vorzug gibt. Zu 8. 502. Herr Eneström (Bibliotheca Mathematica, 3. Folge VII, 203) rückt gestützt auf Untersuchungen von Tannery und von Hei- berg die Lebenszeit des Eutokius um etwa 50 Jahre hinauf. Dieser sei etwa 480 geboren und nicht Schüler des Isidorus, sondern des Am- monius ($. 500) gewesen. Zu 8. 717. Herr Eneström (Bibliotheca Mathematica, 3. Folge VII, 204—205) hält die Musterrechnung von 46468 : 324 für unrichtig und schlägt eine andere Anordnung derselben vor. Das Original enthält keinerlei Musterrechnung, eine solche war vielmehr nach dem beigegebenen Texte herzustellen, und da scheint in der Tat die Eneströmsche Anordnung Vorzüge vor der früher angenommenen zu besitzen. S. 760—762. Herr Suter hat von dem Leidener Ms. 556 (Warn.), in welchem Al-Nasawis Befriedigender Traktat fol. 68”—79° sich be- findet, Einsicht genommen und hat darüber (Bibliotheca Mathematica, 3. Folge VII, 113—119) berichtet. Wir entnehmen seinem Berichte folgende wichtige, vorher nicht bekannte Tatsachen. Al-Nasawi lehrt die Division von Brüchen dadurch zu vollziehen, daß er Divisor und Dividend gleichnamig macht. Er sagt also dem Sinne nach a ad, be ad 6.0 Sala Bi Er gibt aber auch die Regel von der Multiplikation mit umgekehrtem Divisor oder . BR ad dr ee Ergänzungen und Verbesserungen. 913 Die Quadratwurzelausziehung wird zuerst in allgemeinen wenig deut- lichen oder nur lückenhaft erhaltenen Vorschriften gelehrt, dann an dem Beispiele: Quadratwurzel aus 57342 erläutert. Das Verfahren ist geradezu modern. Die Zahl wird von der Rechten beginnend in zweistellige Gruppen zerlegt und 2?—=4 als der 5 nächstliegende Quadratzahl erkannt. Diese 4 zieht Al-Nasawi von der 5 ab und dividiert mit dem Doppelten von 2 oder mit 4 in 17. Der Quotient ist 3, worauf 3 mal 43 oder 129 von 173 abgezogen den Rest 44 läßt. Durch 2>xX23=46 wird nun in 444 dividiert, wodurch 9 als Quotient erscheint. Dann ist 9 mal 469 oder 4221 von 4442 abzuziehen und läßt 221 als Rest. Das um 1 ver- a 221 mehrte Doppelte von 234 ist aber 469, also 7} noch zu 239 als Quadrat- wurzel hinzuzufügen. Man erkennt in dieser Auseinandersetzung die Formel (a+b5b)?= a?’ +(2a+b)b und den für die bruchweise Annähe- rung gebrauchten Wert YA + rm A+ en . Die Kubikwurzelaus- zıehung schließt sich an und wird an dem Beispiele der Kubikwurzel aus 3652296 erläutert. Wir gehen hier rascher über unsere Vorlage hinweg und bemerken nur, daß sie den Gebrauch der Formel (a +5)’ = a? + [3a?+ (3a + b)b]b zu erkennen gestattet. Was aber die weitergehende bruchweise Annäherung betrifft, so vermutet zwar unser Berichterstatter, Bis, a sie habe sich nach der Formel YA rw 4A+ 54° 13441 kann jedoch diese Vermutung nicht durch den erhaltenen Text bestätigen. Dagegen kommt in dem 4. dem Rechnen mit Sexagesimalbrüchen gewid- meten Buche deutlich zu erkennen, daß Al-Nasawi gleich dem von Johannes von Sevilla (8. 801) übersetzten Schriftsteller den Gebrauch von Dezimalbrüchen bei der Ausziehung von Quadratwurzeln liebte. Er 1 1 ; EU RT EEE ETT 07 52 0”r’ Yu setzt z. B. Y17°— —, V 170000 = ;., : 412° — 4° 7' 12”. gerichtet, Zu 8.805. Wir haben leider versäumt in unserem Handexemplare seinerzeit anzumerken, daß die von Ibn Chaldün erwähnte Vorlage des Ibn Albannä inzwischen näher bekannt geworden ist. Wir sehen uns dadurch genötigt, noch nachträglich auf Herrn Suters ausführlichen Auf- satz „Das Rechenbuch des Abü Zakarijä el Hassar“ (Bibliotheca Mathe- matica, 3. Folge II, 12—40) hinzuweisen, welcher in unseren Text hätte hineingearbeitet werden sollen. Diese Vorlage scheint dem XII. S. anzu- gehören. CANToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 58 Register. A. Aasuchet 57. Abaciıst 511. 849. 878. 879—902. 909. 910. 911. Abacista 514. 849. 896. 897. Abacizare 897. Abacus 41—42. 88—90. 130—134. 440. 529—531. 567. 583. 584. 586. 591. 592. 609. 670—671. 718. 785. 807. 817. 823. 839. 841. 846. 850—853. 867. 868. 869. 878. 879. 881. 882. 885. 886. 889. 890.'891. 893. 896. 897. 898. 899. 900. 902. 906. 909. Abacus in Graeco 320. Abakue (für eine Persönlichkeit gehalten) 714. Abax 130—131. Abbasiden 696. 697. 706. 741. 787. Abbo von Fleury 845 —847. “Abd Almelik 464. 696. “Abd Arrahman 707. 792. “Abd Arrahmäan III 7192. 793. - Abdera 191. Abelard 890. Abmessung, größere, durch ein Kunst- wort bezeichnet 98. 394. 422. 727. 893. Abraham bar Chijja ha Nasi s. Abra- ham Savasorda. Abraham der Patriarch 32. 33. 44. 86. Abraham Savasorda 797—800. 907. Abschnitt 389. Absonderung 387. Abü Dschu’ far Alchazin 774. Abudsched 708. Abü Gaälib 762. 763. Abü Hanifa 761. Abü Hasan 702. Abü Jaküb Ishak ibn Hunein 703. Abu’l “ Abbas 696. Abu’l “Abbas Fadl ibn Hätim 701. Abü'l Dschüd 759—760. 774. 783. 787. Abulpharagius 260. 464. 508. 504. 701. 730. 742. Abü’l Wafa 704. 742—748. 754. 768. 187. 788. 795. 906. Abü Müsda Dschäbir 722. Abü Nasr 748. Abü Sahl ben Tamim 603. Abü Schudscha “Büjeh 741. Abü Zakarija el Hassar 913. Abzügliche Zahlen 471. Achmim s. Rechenbuch von Achmim. Achteck 377. 400. 401. 560. 586. 864. “ _Achterprobe 808. Acoka 596. 603. Adala = Gleichsein 815. Adalbero von Rheims 853. 854. 855. 856. 898. Adalbero von Trier 898. Adam 222. Addition, Alter derselben 8. Additionsverfahren 671. 716. 811. Adelbold von Utrecht 859. 365. 866. 873. 889. Adelheid 854. Adelmann 873. Adhemar von Chabanois 848. Adrastus 433. “Adud ed Daula 742. Adulitische Inschrift 259. Aelbehrt 831. 832 Aeschylus 190. Agana 31. Agatharchus 190. Agenor 32. Agrargeseizgebung 552. Agrimensoren 555. Agrippa 541. Ahas 50 Ahmed ibn “Abdallä Habasch Hasib. Ahmed ibn Jussuf 738. Ahmes, der König 58. Ahmes, der Verfasser eines mathemati- schen Handbuchs 58. 59. 60. 65. 68. 73. 74. 76. 78. 79. 80. 85. 90. 91. 92. 94. 98. 100. 101. 109. 163. 271. 276. 312. 394. 395. 425. 466. 480. 504. 615. 618. 642. 646. 718. 876. Aiguillon 423. Akademie 212. 213. 215. 219. 234. 251. 327. 428. Al Register. Akropolis 223. Al ‘Abderi 807. Alahdab 805. Al Antaki 761. AL “ Asiz 788. Al Basra 696. 697. 738. 789. Albategnius = Al Battäni 736. Al Battäani 736—738. 741. 747. 787. Albinus = Alcuin 831. 874. Al Birüni 597. 624. 701. 710. 715. —759. 787. Albuchsis 908. Al Büni 741. Al Busti 763. Al Buzdschani = Abü‘l Wafa 742. Alchaijami s. “Omar Alchaijami. Alchoarismus 715. Alchocharithmus 715. AL Chodschandi 748. 752. 753. 787. Al Chwarizmi s. Muhammed ibn Müsä al Chwarizmi. Alcuin 831—841. 842. 871. 874. Al dschebr 715. 719. 722. 769. Aleni 667. Alexander s. Ptolemaeus XI. — Aphrodisiacus 202. 204. 408. — der Große 33. 38. 151. 246. 251. 252. 258. — Polyhistor 644. — sSeverus 438. 562. Alexandria 110. 117. 119. 258— 259. 296. 327. 334. 361. 362. 364. 366. 381. 409. 427.428. 465—466. 491. 496. 500. 503. 592. 600. 605. 676. Alexandrinische Bibliotheken 259. 327. 329. 427. 496. 503—504. Alexandrinische Literaturperiode 259.425. Al fara id 729. Al Fazäri 697. 698. Algebra 715. 719. 721. 794. 803. Algebraische Auffassung bei den Griechen 158—159. 404. 406. 455. 466. 474. 485. Algebrista 722. Algoritmi 714. Algorithmiker 511. 878. 902—911. Algorithmus, Ableitungsversuche Wortes 714—715. 721. — demonstratus 909. — linealis 563. - Al Hakam II 792. 793. Al Hakim 788. 792. Al Harrani = Täbit ibn Kurrah. Al Hasan ibn as Sabba 775. Al Hasib 701. Alh-win = Alcuin 831. Alhazen = Ibn Alhaitam 789. Alhidada 862. Alıschbili 794. Al kafi fil hisab 708. 718. 762—767. 906. Alk’aim 774. Alkalasadi 810—816. Alkalsawi 810. Alkalwadani 761. 795. 757 des 915 Alkarchi 708. 760. 787. 798. 808. 906. Al Karmani 738. 793. Alkauresmus 715. Al Kindi 718. 761. 762—773. Alkinous 177. Al Kühi 742. 748—750. Allioli 49. Allman 107. 136. 141. 169. 185. 192. 590. Al Madschriti 735. 738. Almagest 39. 277. 318. 333. 412. 415 —422. 4353. 442. 447. 508. 599. 6092. 659. 702. 705. 742. 907. 908. 911. Al Maähani 774. Al Mahdi 696. 707. Al Mamün 694. 696. 698. 700. 702. 711. 718. 130. 783. 738. 761. Al Mansür 696. 697. 698. 700. Al Melik ar Rahim 774. Almucabala 803. Al Mukabala 715. 719. 722. 769. Almukaddasi 738. Al Muktadir 695. Al Musta‘ sim 778. Al Mu‘tadid 704. 734, 736. Al Mu‘tasim 761. Al Nairizi 386. 387. 701. 736. Al Nasawi 760—762. 765. 912—913. &Aoyov 182. 192. 269. 764. Alp Arslan 774. Alphabetische Reihenfolge 121—122. 605. 708. Al Sindschärt = As Sidschzi 750. Altai 19 Al Tüst = Nasir Eddin 719. Amardja 600. Amasis 138. Amelius 880 Amenemhat I 106. 109. 385. — III 57 59.74 106. 109. Ameristus 146. Amethistus 146. Ammonius Sukkas 457. 500. — von Alexandria 500. 501. 575. 912. “Amr ibn “Ubaid 697. Amthor 312. Amyklas von Heraklea 243. Analemma 423. 443. 660. Analogie 165. 238— 239. Analysis 220— 221. 230. 235. 241. 247. Avagpogımös des Hypsikles 360—361. Anatolius 458. 464. 842. Anaxagoras von Klazomenae 188 —190. 194.°197..2302. 212. 271. Anaximander von Milet 50. 145—146. Anazximenes 50. 146. 189. Andras 893 flgg. Andronikos II Palaealogos 508. 510. — III 510. Anfangsbuchstaben als Bezeichnung die- nend 120. 205. 470. 471. 472. 524. 604. 614. 620. 621. 709. 804. 814. 815. 68* 759. 787. 142. 144. 152. 793. 916 Angelsachsen 10. Anharmonisches Verhältnis 414. 452. Annales Stadenses 839. Anonymus von Byzanz 8. Feldmesser von Byzanz. — von Chartres 590 889. 894 — von Melk 844. Anselm der Peripatetiker 903. 904. — von Laon 8%. Ansse de Villoison 155. 188. 202. 459. Anthemius von Tralles 501. 502. Anthologie 461—462. 510. Antiphon der Historiker 150. — der Mathematiker 202—203. 204. 271. 301. 303. Antoninus 415. 428. 562. 563. Antonius 427. 596. — Diogenes 154. &ögıorov 158. 470. Apagogischer Beweis 182. 221—222. 247. 268. 301. 305. 340. Apastamba 636. 637. 639. 641 643. 644. Apepa 58. Apices 584. 585. 591. 604. 605. 609. 711. 823. 839. 840. 841. 868. 879. 885. 893. 900. 901. 902. 904. — mit Stellungswert ohne Null 901. Apollodor 136. Apollodorus der Rechenmeister 154. 180. 320, Apollodotus 180. Apollonius Epsilon 330. 333. — von Pergae 196. 227. 244. 245. 291. 333. 334. 349. 350. 380. 426. 448. 454. 502. 570. 704. 705 764. — von Pergaes Kegelschnitte 196. 244. 245. 288. 304. 334—343. 358. 444. 448. 452. 489. 496. 502. 554. 704. 749. 751. — von Pergaes kleinere Schriften 343 —349. 359. 360. 364. 380. 445. 448. 452. 453. 454. 455. 585. 790. — von Tyana 154. Apophis 58. Aporie 255. Grorsuvousvar 337. Apotome (Bedeutung als Irrationalzahl) 270. 348. &moroun (geometrische Strecke) 389. 555. Appuleius von Madaura 428. 429. 563 —564. 567. 570. 824. 907. Araber 173. 296. 307. 360. 377. 386. 387. 414. 415. 433. 464. 503—504. 516. 592. 597. 602. 607. 666. 668. 684. 686. 693— 817. 821. 822. 848. 849. 851. 856. 857. 878. 885. 887. 888. 889. 893. 895. 904. 905. 906. 907. 908. 909. 910. Arabische Übersetzungen griechischer Werke 287. 294. 298. 341. 344. 365. 412. 414. 696. 702— 706. 761. 780. 787. Aratus 362. 409. Register. Arbas 893 figg Goßnkos 298. Arcerius 551. koyal 320. Archimedes von Syrakus 195. 211. 260 261. 266. 295—326. 3534. 341. 346. 349. 350. 356. 364. 367. 378. 379. 380. 381. 387. 405. 413. 426. 465. 493. 496. 502. 521 545. 570. 575. 667. 704. 705. 764. 862 — Kreisrechnung 297. 300— 303. 316 —318. 350. 358. 372—374. 478%. 646 648. 654. 659. 767. 790. 799. 875. 886. — Kronenrechnung 310—8312. 325—326 345. 462. 544. — Kugel und Zylinder 226. 241. 261. 266. 297. 308— 309. 314. 330. 354. 412. 703. 749. 774. — Quadratur der Parabel 241. 297. 304 — 305. 323— 324. 379. — KRinderproblem 312—313. 462. — sSandeszahl 321—323. 612—613. 758. — Schneckenlinien 195. 297. 306—307 313—314. 558. 768. — Niebeneck 307. 377. — Woahlsätze 297. 298—300. 353. 414. Archimenides = Archimed 705. 706. Architas Latinus 224. 586. 589. 590. Archytas von Tarent 165. 166. 212. 215. 226. 227—229. 230. 233. 235—236. 239. 243. 254. 294. 330. 451. 589. 590. Arcufication 658. Arcus 898. 900. Ardhajia 658. 737. Arenarius 321. Argyrus s. Isaak Argyrus. Arier 595. i Artistaeus der Altere 245. 249. 335. 448. — der Jüngere 245. Aristarchus von Samos 321. 419. 447. 704. Artstonophos Vase 178. Aristophanes 130. 178. 514. Aristoteles 38. 117. 118. 138. 183. 193. 203. 219. 251—257. 259. 331. 345. 381. 422. 428. 455. 497. 501. 545. 574. 575. 701. 797. 832. 888. 889. 903. 904. — Analyt. post. 252. 271. 272. — Analyt. prot. 182. — Ethie. 201. — Kategor. 162. 575. 862. 873. 875. 877. — Mechan. Quaest. 254—256. — Metaphys. 86. 102. 154. 158. 160. 168. 169. 174. 215. 253. — Physica 161. 162. 203. 204. 253. 409. 455. 504. — Problem. 247. 253. — Sophist. 198. Aristoxenus von Tarent 153. 157. 257. 544. Arithmetica (Göttin) 527. 567. Arithmetik = Zahlentheorie 156. 225. 252. Register. Arithmetik des Boethius 570. 575. 576. 577. 578. 579. 580. 583. 587. 724. 799. 842. 3850. 855. 856. 862. Geıdunrixd des Diophant 466. Arithmetica speciosa = Buchstabenrech- nung 473. Arithmetik (praktische der Araber) 704. 716. 729—730. — (spekulative der Araber) 704. 716. 756. Arithmetisches Dreieck 687. Goıduol oynuaroygaptevreg 431. 579. koıduds — unbekannte Zahl 470. 620. 7728: Arjuna 612. Arkadius 495. Arneth 263. 291. 650. 657. conedwv 385. Arsamites = Archimed 705. Arsanides = Archimed 705. Arsinoe 327. Artabasdes 513. 514. Artes liberales 543. 569. 578. 823. Artieuli 583 802. 804. 840. 841. 852. 853. 881. 900. 909. derioı 159. Aryabhatta 598. 600. 601. 602. 605. 616. 617. 618—621. 623—624. 628. 630. 635. 645. 646. 649. 657. 786. Aryabhättiyam 598. 605. As, eine Gewichtseinheit 526. 830. Aschbach 792. Asklepius von Tralles 215. 503. Asl 753. Ass —- Stellenzeiger 812. 816. As Sagäani 742. 750. Assassin? 775. Asses 57. As Sidschzi 733. 735. 750—751 787. As sifr 711. 897. Assurbanipal 122. Assyrer, Erfinder des Abacus 892. 893. 894. Ast 429. 459. Astrolabien 750. 785. 862. 886. Astrologische Aphorismen Almansürs 907. Astronomie, Erfindung derselben 32—33. 38. 86. 103. — des Boethius 575—576. 577. 582. 587. 850. 854. Astronomische Brüche 366. Asura Maya 599. 600. Asychis 57. Koduusrgov 269. Asymptoten 192. 230. 292. 310. 337. 338. 351. Atabeddin = Güjät eddin Alküschi 782. Atelhart von Bath 713. 891. 906. — von Bayeux 906 Athbasch 122. 541. 346. 606. 625. 654. 917 Athen 119. 178—179. 188—189. 201. 213. 238. 259. 366. 496. 567. 697. 702. Athenaeus von Kyzikus 247. Athenaeus 326. Atilius Fortunatianus 297. Atomistiker 174. 175. 198. Attalus 340. 341. 427. Attila 822. Aufgabe des Pappus 452. Aufsteigende Kettenbrüche 71. 478. 813. Augur 535. 538. Augustinus 741. 831. 832. Augustus 457. 541. 543. 553. 596. Aurillac 843. 847. 856. 857. Ausmessung der Jucharte 591. Autolykus 293. 360. 447. 704. &vrög Epa 152. Avicenna 730. 756—757. 908. Auwwali 753. Axiome 222. Ayrardus 870. Azteken 9. Ägypter 20. 32. 33. 47. 55—113. 120. 121. 135. 139—140. 145. 159. 163. 170. 178. 184. 186. 205. 215. 216. . 271. 276. 310. 319. 328. 329. 381. . 404. 407. 425. 455. 464. 504. 522. . 615. 620. 635. 637. 643. 647. 651. . 1718. 723. 727. 728. 755. 788—792. „813. 876. 893. Agyptischer Aufenthalt des Anaxagoras 189. 190, des Demokritus 150. 191. 192, des Eudoxus 150. 215. 238, des Platon 150. 215, des Pythagoras 148 —151. 189. 644, des Thales 136. 138 .„—141. 189. Ahnliche Winkel 138. 140. — Zahlen 185. 224. 267. 270. Ahnlichkeit 97. 99—101. 113. 214. Ahnlichkeitspunkte 452. Arzteschulen der Nestorianer 695. 701. Athiopen 12. 55. B. Babylonier 10. 11. 19—51. 120. 132. 133. 145. 151. 159. 167. 178. 181. 186. 238. 361. 404. 416. 452. 459. 526. 600. 603. .608. 609. 613. 616. 634. 643. 645. 665. 668. 676. 689. 697. Babylonischer Aufenthalt des Pythagoras 151-—-152. 186. 238. Bachet de Meziriac 466. 472. Badie = Kubikwurzel (sumerisch) 27. Baehr 540. Bagdad 697. 778. Baillet 504. Bailly 50. Baktrien 20. Balbus (Feldmesser) 553. 555. 563. 864. — (Oberwegemeister) 541. 553. Baldrich 851. Balsam 333. 918 Baluze 841. 842. Bangor 826. Barhebraeus = Abulpharagius 504. Barlaam 509—510. Barocius 498. 506. Basylides von Tyrus 359. Baudhäyana 636. 638. 639. 640. 642. 643. Baume 843. Bayley (E. Clive) 131. 603. Beda Venerabilis 527. 825—830. 831. 832. 834. 839. 841. 842. 846. 899. Beer (E. E. F.) 123. Befreundete Zahlen 167. 225. 627. 735. 739. 793. 805. Behäa Eddin 718. 784—786. 812. Beiger 502. Belisar 568. Belos 33. Belzoni 108. Benary 9. Benecke 217. Benedict von Nursia 568. 569. 826. Benfey 595. Berenike 336. Berger 328. 362. Bergh 437. Bernard 344. Bernelinus 867. 871. 880—885. 887. 890. 894. 898. 902. Bernhardy (@.) 327. Berno 843. Bernward von Hildesheim 855. Berosus 42. 50. 145. Bertin 21. 40. Bertrand (Jos.) 669. Berührungen des Apollonius 343. 345. 448. 452. 453. Beschränkung des Zahlenbegriffes 23. 126. 133. 672. Besthorn 736. Beta als Beiname 329. Bethmann 879. bewegungsgeometrie 209. 227. 300. 330. 345. 353. 370. 734. 751. Beweisführung durch Anschauung 113. 140. 143. 656. 680. 744. 745. 754. 763. Bezold (C.) 12. 19. 27. 28. 47. Bhaskara Acarya 598. 599. 600. 608. 616—619. 623. 625. 626. 627. 628. 630. 631. 632. 633. 639. 653 — 655. 659 — 660. 680. 725. 744. 745. Bhatta Utpala 600. Bhaü Daji 599. Biancani = Blancanus 252. 253. Bianchini 467. Biblische Schriften 16. 23. 24. 34. 35. 44. 48. 49. 50. 56. 122. 125. 824. 835. Bienayme 159. Bienenzellen 740. Biering 211. Biernatzki 181. 664. 670. 671. 674. 679. 083. 684. 685. 687. 688. Register. Bikelas 505. Billeter (Gustav) 561. Binarsystem 10. 675. Binomialkoeffizienten 687. 777. Binomiale 270. 348. Björnbo (Axel Anthon) 411. 412. 803. 908. 909. Biot (Ed.) 664. 665. 666. 673. 674. 677 688. AIR Birs Nimrud 38. Biscop 827. Bissextiles Jahr 540. Blass (F.) 194. 211. 215. 219. 295. 408. Blume 532. 564. Bobbio 575. 826. 853. 854. 861. 866. Boeckh (A.) 128. 161. 166. 175. 184. 248. 336. 408. 409. — LIES Boethius 165. 429. 526. 563. 564. 570. 573—590. 592. 724. 823. 824. 825. 832. 842. 846. 349. 852. 853. 3858. 862. 873. 375. 877. 886. 896. 899. 900. 903. Boethus 409. Bogenabschluß von Kolumnen 806. 880. 892. 898. 900. Bogenlinien 212. 231. 243. Borssier 542. Boissonade (J. F') 500. Bolaner 10. Boll (Franz) 415. Bombelli (Rocco) 522. 523. 527. 529. Bonafilius 856. Boncompagni (Prinz Baldas) 415. 588. 711 und häufiger. 794. 803. 804. 879. 891. 898. 907. 908. Bongo (Pietro) 4. Bonjour 408. Bopp (Karl) 576. Borchardt (Ludwig) 99. 101. 109. Borel von Barcelona 847. 849. Borghorst (Gerhard) 458. Bosmans (Henri) 682. 797. Bräahmanas 595. 797. Brahmanismus 596. Brähma-sphuta-siddhänta 598. 699. Brahmagupta 598. 600. 608. 616. 619. 623. 625. 628. 630. 646—653. 699. Brandes 408. Brandis (Ch. A.) 254. - DRS Brandt (Samuel) 573. 575. 576. 579. Braunmühl (Adalbert von) 362. 412. 419. 423. 657. 713. 736. 738. 746. 751. 779. 783. 795. Brennpunkte 339. 344. 452. Brennspiegel 326. 344. 354. 502. Bretschneider 135. 136. 145. 146. 174. 178. 179. 185. 191. 194. 196. 197. 201. 302. 203. 210. 227. 230. 231. 237. 240. 246. 248. 360. 410. Brockhaus 603. 638. Brockmann 573. PB 1 nn 2 2.2 ade 12 y Zn ag Register. Bruchrechnungstabelle 586. 589. Bruchzerlegungstabelle 62—70. 76. — , Entstehung derselben 65—67. 70. Bruchbrüche 813. Brüche 12. 23. 31. 43. 61. 68. 70. 84. 85. 128. 165. 187. 395. 467. 525. 526. 531. 586. 587. 615. 614. 718. 762. 813. 830. 874. 912. —, aussprechbare 68. 718. 764. Brugsch 73. 74. 82. 98. 100. 104. Bruneck 461. Brunnenaufgaben 391. 462. 619. 837. Bryson von Heraklaea 203. 204. 271. Bubnov (Nicolaus) 846. 847.859. 862.869. Buchbinder (Fr.) 282. Buchstaben zur Bezeichnung unbekannter Größen 205. 253. 347. 455. 470. 620. 804. 815. Buddha 612. Buddhismus 596. 603. 666. 668. Büchel (O.) 477. 478. Büdinger 848. 850. Bürk (Albert) 636-—639. 641. Bugia 807—808. Bujiden 741. 774. Bullialdus 434. Bungus 4. Bunte 295. 326. Buramaner 10. Burgess 599. Burja 254. 255. Burnell 604. Busiris 149. 150. Busse (A.) 501. Buzengeiger 308. Byzanz 119. 201. 392. ©. Cabastlas 509. Caecilius Africanus 562. Caesar 426. 539—541. 542. 561. Caleuli 529. 825. Calceulus des Viectorius 531. 566. 845. Caltis 893 flgg. Camerer 185. Canacci (Rafaele) 722. Oanarische Inseln 422. Cappelle (J. P. van) 254. 255. Caraibische Sprachen 9. Cardo 534. 538. Carra de Vaux 365. Casiri 713. Cassiodorius 366. 428. 543. 563. 564. 568—572. 573. 575. 576. 578. 579. 8323. 825. 831. 896. Castelli (Benedetto) 269. Caturveda s. Prithudaka. Caussin 514. 701. 789. Cavedoni 537. Cean = zehn 846. Cedrenus 32. Celentis 893 flgg. 919 Oelsus, Ingenieur 553. 555. 563. 564. — Jurist s. Juventius Oelsus. Census 731. 768. 804. Ceylon 603. 604. 606. y« = Strick (ägyptisch) 104. Chafra 56. Chaignet 148. 150. 159. 161. 162. 166. 174. 175. 184. 235. Chaleis 51. Chaldaea 20. 21. 33. 39. 56. 86. Chaldäer = Sterndeuter 45. 532. Chalif = Nachfolger 694. Chalkidius 846. 861. Chalkus 132. 133. 896. Chambers (J.) 509. Chummuragas 31. Champollion 82. 83. Chang-Dynastie 664. Charistion 424. T04. Chasles (Michel) 278. 284. 288. 335. 348. 420. 449. 450. 452. 490. 588. 590. 650. 713. 789. 790. 891. 894. 909. Oheoü ly 669. Cheou sin 664. Cherbonneau 807. Cheroboskos 122. Chinesen 10. 16. 24. 41. 43. 88. 181. 456. 634. 663—690. 693. 744. 783 Chin tsong 666. Ohioniades von Konstantinopel 509. Choiseul-Daillecourt (de) 905. Chosrau I Anöscharwan 503. 697. 702. Christ 531. 845. 846. Christensen 285. Christoph Columbus 794. Chronik von Verdun 853. Chrysippus 256. 362. Chrysococces 509. Chufu 56. Cicero 120. 192. 215. 295. 308. 409. 455. 539. 542. 561. 564. 578. Cissoide 350. 354—355. Claudius 457. 596. Clausen 208. Clavius 181. Olemens Alexandrinus 104. 191. Clerval 872. Codex Arcerianus 551—560. 561. 564. S61. 865. 866. Colebrooke 467. 599. 608. 611. 616—619. 621—633. 635. 646— 649. 651. 653 — 657. 659. 698. Columban 826. 853. Columella 547—549. Commandinus 183. 287. 423. 444. 498. Computus = Rechnen 824. 834. 867. — paschalis s. Osterrechnung. Conchoide 195. 196. 350. 446. 638. Concilium von Nicaea 572. Confucius 663. 664. 665. Constantinus von Fleury (oder von Mici) 849. 851. 858. 859. 868. 369 — 870. 871. 880. 920 Conze 175. Corasprache 9. Coraustus 555. 864. Cordova 793. 848. Corssen 524: 526. Cosinus 658. 796. Cossali 463. 722. Crassitudo 865. Cribrum 332. Oridhara 600. 618. 624. 625. Oristini 535. Crönert (W.) 333. 358. Cruma 537. Cüdras 595. Qulvasütra 685—645. 755. Curtze (Max) 372. 386 und häufiger. 468. 576. 648. 734. 736. 780. 798. 799. 839. 857. 859. 860. 862. Oyrillus 495. DB; Daedala, die großen 35. Daedalus 151. 163. 352. Dänen 9. 12. Dajacken 12. Damascius von Damaskus 501. 502. 702. Damasias 137. Damaskus 464. 696. 697. 701. Daraga 131. Daten des Archimed 307. — des Euklid 282—285. 448. 489. 500. 790. 908. Decantare 531. Dechales (Milliet) 146. Decimana quintaria 534. Decimanus 534. 535. 5838. Decker 136. Deecussatio 524. deddusva 282. Dee (John) 2837. Deecke (W.) 524. Definitionen 219. 222. 277. 298. 307. 361. 365. 367. 382. 387. 388. 393. 554. 566. 570. 650. 651. 727. 764. 766. 860. 861. 864. De Gelder 434. Degree 131. Delambre 789. 794. Delisches Problem 212. 232. 233. Delisle 869. Delitzsch 25. 31. 36. Demaratus von Korinth 523. Demetrius von Alexandria 414. Demme 222. Demokritus von Abdera 104. 136. 150. 198. 244. 264. 151. 190. 191—193. 381. 385. Demotische Schrift 81. Dendera 104. Descartes 452. Determination s. Diorismus. Detlefsen 173. Register. Dezimalsystem, Ursprung desselben T. 8. 253. dıadoscıs 287. Diameter = Diagonale 208. 218. 376. Diametralzahlen 436—437. 460. 475. 755. Diels 136. 202. Dieterici 173 516. 738. 740. Differentia 585. 716. 802. Digiti 9. 583. 802. 804. 842. 852. 853. 881. 900. 909. Digits 583. Dikaearchus 257. 293. 381 Dinostratus 196. 197. 243. 246 — 247. 301. 306. Diodor, Geschichtsschreiber 33. 38. 45. 55. 57. 103. 151. 190. 191. 295. 326. Diodorus, Mathematiker 443. Diogenes Laertius 86. 118. 132. 136. 137. 138. 141. 145. 151. 152. 153. 154. 179. 180. 190. 191. 192. 193. 198. 213. 214. 216. 220. 229. 238. 249. 320. Diokles 309® 350. 354—355. 356. 363. 407. 425. Diokletian 441. Dionysius von Syrakus 215. — , bei Heron vorkommend 388. —, Freund des Diophant 469. 471. Dionysodorus 380. 411—412. Diophantus von Alexandria 361. 463— 488. 492. 493. 496. 507. 510. 557. 564. 601. 620. 621. 622. 624. 625. 628. 696. 704. 705. 723. 725. 726. 742. 752. 755. 768. 770. 772. 773. 813. 815. Dioptra 257. 293. 366. 381. 382-383. 537. 542. 544. 750. Diorismus 208. 209. 219. 237. 250. 266. 309. 341. 402. 403. 749. 772 — 773. 776. Dirham 720. 804. Dirichlet 687. Divisio aurea = 891. 902. — ferrea — komplementäre Division 891. 902. Division zur Bildung von Zahlwörtern benutzt 12. — 72. 289. 493—494. 612. 671. 717. 761 — 762. 812— 813. 846. 868. 874. 879. 881—883. 887. 899. 901. 902. 912. Diwäniziffern 709. Dodekaeder 174. 175. 176. 177. 237. Döllinger 849. Dominicus Gondisalvi TIT. Domitianus 550. 551. Domninos von Larissa 500. Doppelmayr 468. Dorer 119. Dorischer Dialekt 296. 309. Dositheus 297. Dragma 804. 901. Drei Brüder 733—734. 799. 908. Dreieck 46. 93. 111. 138. 141—144. 145. 262. 307. 413. gewöhnliche Division Register. 921 Dreieck, gleichschenkliges 93. 97. 111— &xslvog Epa 152., 112. 138. 143. 176. 371. Elam 31. —, gleichseitiges 143. 177. 549. 555. 586. Elementardreieck 176. 177. 184. 225. 865— 866. Elemente der Arithmetik 429. Dreiecke, aneinanderhängende 390. 399. Elementenschreiber außer Euklid 201. 652. 653. 202. 210. 211. 237. 247. 260. 261. 274.. Dreieckszahl 159. 168. 169. 248. 249. 252. 381. 414. 312. 432. 460. 485. 628. 688. 840. Elfeck 378. 865— 866. Elferprobe 766. Dreiteilung eines Winkels 47. 196—197. Elieser 44. 300. 315. 353. 446. 735 — 736. 749— 751. EAı& 326. 7159. 773. Ellatbaw 31. Dreiteilungen 429—430. Elhımeig 168. Dresler 211. Ellipse 98. 171. 244. 283. 288. 290. 291. Dridha 628. 306. 309. 310. 335. 490. 500. 733. 862. Droysen 553. Eußadov 555. Dschäbir ibn Aflah 722. 794—-796. Embadum 555. Dschadwal 812. Emir Abü’l Wafa 415. Dscha‘far as Sadık 722. Empedokles von Agrigent 174. Dschahala 815. Endö (Toshisada) 689. Dschaib 737. s Eneström (Gust.) 716. 737. 756. 891. 912. Dschamschid s. Giüjat eddin Alkaäschi. Engelbert von Lüttich 889. Dschibril ibn Brachtischü‘ 695. Engländer 15. Dschidr 723. 724. 804—815. Einnodius 573. Dschingizchan 778. 821. 822. Enzyklopädien 543. 566. 569. 576. 823. Dschundaisäabür 695. 701. Epakte 572. Düker 855. Epanthem des Thymaridas 158. 286. 455. Duella 530. 462. 624. Dümichen 104. 106. 110. Epaphroditus 552. 553. 556—560. 586. Dümmler 831. 832. 837. 841. 887. 619. 768. 863. 864. 865. 866. Dürer (Albrecht) 641. Epodırov 379. Duhalde 88. 670. Epodog 158. Duhamel 220. Eprigomenzeit 349. 363. Duhem (P.) 254. 294. 424. 704. 909. Epigramme algebraischen Inhaltes 285. Dwuodezimalbrüche 525--526. 530. 551. 286. 312. 462. 463. 465. 510. 566. 830. 868. 869. 874. 877. 881. 883. Emiuogıov 165. 884. 887. 891. 899. 901. 909. 910. Episemen 127. Duodezimalsystem 10. 11. 881. Eratosthenes von Kyrene 211—212. 213. Dupuis 222. 226. 231. 232. 233. 234. 243. 245. Dupuy 502. 257. 260. 293. 327 — 333. 349. 350. Durchschnittspunkte von Kurven 340. 353. 360. 381. 409. 445. 448. 861. 886. Duris 136. Erbteilungen 562—563. 728—729. 799. Övvauıs 207. 470. 723. 767. 838. Erde. eirund 543. E Etrusker 522. 523. 524. 532. 537. 543. “ h Etymologien lateinischer Zahlwörter 824. Ebene Orter 248. Eudemus von Pergamum 334. 340. Eberhard 515. — von Rhodos 118. 135. 138. 144. 152. Ebers 58. 171. 193. 203. 204. 205. 226. 227. 229. Edfu 110—112. 385. 394. 395. 646. 257. 331. 348. Egbert von York 831. 840. Eudoxus von Knidos 151. 196. 212. 231. Eyyıora 310. 232. 233. 234. 238— 243. 248. 260. 269. Eglaos 327. 272. 275. 276. 277. 293. 330. 356. 362. eldog —= Glied 473. 407. Ejectura 555. Euklid von Megara 261. 590. Einheit keine Zahl 158. 165. 435. 507. — 110. 138. 144. 165. 180. 206. 245. 587. 715—-716. 784. 260—294. 297. 301. 304. 305. 315. 316. Einmaleinstabelle 29. 85. 431. 531. 579. 330. 332. 333. 334. 335. 339. 341. 348. 155. 846. 847. 881. 349. 358. 360. 380. 381. 382. 387. 405. Eisenlohr (August) 283. 59. 82 s. Papy- 407. 411. 413. 420. 429. 447. 448. 452. rus Kisenlohr. 455. 462. 465. 489. 564. 567. 571. 581. Ekbatana 38. 586. 590. 597. 657. 696. 702. 704. 725. EußıAndeioa 389. 555. 749. 770. 780. 790. 908, 922 Euklidische Form 275—276. 396. 487. — Irrationalitäten 270. 348. Euklids Elemente 141. 142. 161. 164. 165. 168. 180. 181. 182. 183. 190. 192. 220. 237. 241. 261 — 278. 305. 348. 358. 359. 386. 387. 413. 438. 445. 446. 447. 448. 452. 461. 486. 487. 491. 565. 567. 571. 575. 577. 580. 581. 588. 628. 639. 651. 655. 667. 702. 705. 727. 735. 745. 753. 764. 766. 770. 777. 780. 793 798. 861. 906. 908. 911. Euphranor 239. Euripides 188. 212. 638. Eustathius 131. Euting 125. Eutokius von Askalon 118. 143. 211. 226. 227. 229. 231. 232. 234. 244. 293. 295. 301. 309. 318. 330. 334. 345. 350. 354. 368. 371. 372. 407. 412. 424. 443. 493. 502. 764. 912. Evolute 342. Ewald 9. Examios 136 &önnoora 420. Esxhaustion 204. 221. 242. 247. 269. 272. 305. 307. 310. 321. Experiment, mathematisches 153. 170. 177. 181. 187. 240. £vdvyoauumndg 158. F, Faber Stapulensis 576. Fabricius 260. 327. 332. 333. 360. 411. 491. 492. Fachr al mulk 762. Fachri 762. 767 —1773. Fälschung der Geometrie des Boethius 224. 587. 588. 590. 766. 802. 823. 837. 839. 851. 864. 867. 868. 874. 878. 900. Fälschungen im II. 5. v. Chr. 427. Faktorenzahl 225. Falscher Ansatz, doppelter 372—374. 398. 732— 733. 808— 810. — Ansatz, einfacher 76. 78—79. 95— 96. 480—481. 615. 618. Falsche Sätze scherzweise aufgestellt 310. — Umkehrung eines Satzes 483. Far‘ 753. Favaro (Antonio) 269. 535. 667. Favorinus 145. Fehlen allgemeiner Methoden 349. Jeldereinteilung 28. 68. 92. 328. 550. Feldmesser 144—145. 383. — von Byzanz 144. 364. 506. 510. Feldmeßkunst 294. 381—385. 406. 438 —440. 506. 510. 532. 535—538. 542. 551. 554—555. 667. 676. 677. 688. 785. 799. 860. 862. 863. 864. Feldmepwissenschaft 381. 406. 474. 510. 542. 586. 587. 860. Fenchu 121. 538. Register. Ferdinand der Katholische 794. Fermat (Peter von) 466. Ferramentum 537. Ferrieres 842. F'esta 155. 459. . Feuertelegraphie 440. Figar 698. 699. Figur der Braut 786. — der Gesundheit 178. 206. . Figura alkata 736. Figurenbezeichnung 93. 163. 205. 206. 647. 670. 721. 724—725. 727. 734. Figuren der geometrischen Kunst 576. 581. 582. Figurierte Zahlen 431. 579. Fihrist 693. 701. 703. 704. 718. 736. 748. 796. F'inalbuchstaben 126. 470. Fingerrechnen 6—T. 41. 86—87. 130. 514—515. 527—528. 529. 567. 609. 710. 824. 825. 829. 830. Fingersprache 830. Fingerzahlen s. Digiti. Firmieus Maternus 527. 825. Fischer 45. Flächenanlegung 171. 174. 176. 262. 266-:267. 283. 289—291. 333. Flächenberechnung 28. 92—98. 110 —112. 163. 271. 799. — falsche 172—173. 549—550. 740. Flächenzahl 158. 163. 267. 270. 432. 824. Flaschenzug 326. Flauti 230. Flügel 138. 739. 761. Flurkarten 542. Flupbreite zu messen 383. 439—440. 538. 785. 863. Fong siang schi 676. Formaleoni 40. Fragmente von Kahun 59. 65. 79—80. 94—96. 99. Franco von Lüttich 8T76—878. 897. Französische Bauernregel 528. Franzosen 9. 15. 528. Friedlein (Gottfried) 41. 107. 120. 135 und häufiger. 146. 194. 217. 219. 248. 356. 358. 387. 440. 458. 498. 510. 522. 523. 525. 531. 563. 577 und häufiger. 579. 686. 823. 855. 879. 901. Friedrich II. 778. F'robenius Forster 836. Frontinus 550. 551. 552. 555. 586. 590. 364. Fünfeck 49. 109. 177-179. 265. 273. 376. 393. Fünfeckszahl, falsch berechnet 557 —558. 586. Fü hi 43. 663. 664. 675. 677. Fujisawa (R.) 689. Fulbert von Chartres 846. 873. 889. Fulco 843. Fulda 841. 842. Register. G. Gärtnerkonstruktion der Ellipse 733. Galen, der Arzt 214. Galenus = Pediasimus 510. Galilei 269. Gallier 176. Gallus 826. Ganeca 600. 618. 635. 654. 878. Gangädhara 600. Gartz 260. 702. 780. Gaubi 88. 668. 675. 680. Gauß 156. 317. 687. Gazzera 537. Geber 7122. 794. Geberscher Lehrsatz 796. Gedächtnisverse 803. 804. Gegenbauer (Leopold) 893. yeyove = er blühte 261. Geiger (Lazarus) 5. Gelenkzahlen s. articult. Gellius Aulus 542. Gelon 297. 322. 326. Gelzer 137. Gematria 43—44. 125. 126. 462. 567. Geminus von Rhodos 118. 142. 144. 156. 244. 245. 334. 335. 350. 356. 367. 406 —411. 416. 425. 499. Genocechi (Angelo) 786. (reodäsie unterschieden von 252. 271. 293. 350. 381. Geographie 328. 422. Geographische Länge und Breite 362. 383. 422. Geometrie, Erfindung derselben 55. 57. 59. 86. 102. 105. 135. 389. 853. — des Boethius 571. 576—590. 850. 854. 873. 874. 876. Geometrische Algebra 285. Geometrischer Ort 144. 221. 229. 248. 249. 280. 281. 282. 331. 340. Geometrische Versinnlichung von Zahlen 163. Gerade Zahlen von ungeraden wunter- schieden 64. 159. 160. 161. 224. 430. 507. 824. Gerad und ungerad, ein Spiel 159. Gerald 847. 856. Gerbert, Abt von St. Blasien 844. 899. — (Papst Sylvester II.) 575. 577. 582. 847— 878. 879. 880. 885. 886. 887. 889. 891. 894. 897. 903. 904. Gerbertista 897. Gerbillon 667. Geometrie Gerhard von Cremona 415. 736. 737. 794. 796. 800. 803. 805. 907— 908. Gerhardt (Carl Immanuel) 218. 444. 445. 450. 511. 514. Gerland 894. 898. 899. 902. 910. Gerling 198. Gernardus 909. 923 Geschichte der Mathematik 51. 118. 135. 249. 257. 389. 407. 890— 891. 899 — 900. Gesellschaftsrechnungen 77. 310 — 312. 619. 683. 684. Gesenius 707. Gesetz der Größenfolge 14. 21. 25. 36. 44. 83. 84. 120. 123. 124. 126. 127. 672. Gewichtezieher 369. 450. Ghana 616. Gijät eddin Alkaschi T81—783. 788. @Giübert Maminot von Lisieux 889. Giles 825. 834. Ginzel (F.) 37. s Giordano (Annibale) 449. Gizeh 832. Glaisher 453. Glaukos 211. 212. 638. Gleichgewicht der Ebenen 323. Gleichheitszeichen 75. 472. 815. Gleichungen ersten Grades mit einer Un- bekannten 74. 395. 513. 623. 838. — ersten Grades mit mehreren Unbe- kannten 158. 285—286. 624. 773. — zweiten Grades mit einer Unbekannten 263. 266. 285. 363. 405. 460. 473—A7TT. 617. 622. 624—626. 719—721. 753. — zweiten Grades mit zwei Unbekannten 95—96. 284. — höherer Grade, die auf den zweiten zurückführbar sind 771. 773. — dritten und höheren Grades 309. 314 —315. 354. 477—4783. 527. 685. 687. 749. 750. 773. 776. 781—783. 787. 788. — unbestimmte ersten Grades 312. 478. 628—630. 685— 687. 689. 837. 838. — unbestimmte zweiten Grades 436. 478. 479. 480. 615. 630—633. 724. 772 — 173. — unbestimmte höheren Grades 478. 752. 785. — unbestimmte mit mehr als zwei Un- bekannten 630. 685—687. 689. 752. Gnomon 50. 145. 161—163. 190. 192. 252. 432. 494. 536. 544. 631. 639. 644. 721. 754. 769. Görland 203. 252. Göthe 183. Goldner Schnitt 178—179. 240—241. 263. 265. 292. Goldne Zahl 572. Grolenischeff 59. Goodwin 89. Gordianus 457. Goten 11. Gow 125. 222. 229. 448. Grade der Kreisteilung 37. 47. 50. 131, 360. 361. 366. 416. 681. 682. Gradmessung 328. 360. 713. 886. Graeko-Italer 521—523. Gram 675. Graphische Methoden 362. 924 Gregor der Große 565. 826. — YV. 848. 858. Gregoras (Nikephoros) 508. Gregory 260. 262. 276. 287. 293. Griechen 11. 12. 15. 16. 33. 42. 44. 51. 86. 89. 117—517. 521. 523. 528. 536. 541—543. 544. 545. 554. 559. 570. 619. 620. 621. 622. 624. 627. 676. 701—706. 722—727. 729. 735. 754. 763. 770. 773. 776. 784. 821. 827. 850. 856. 886. 890. 891. 895. Griffith (F'. LI.) 59. Größenverhältnisse menschlicher Körper- teile 214. 544. 740. Groma 536—537. 542. Gromatici 537. Grundzüge des Archimed 320. 321. Gruppe 166. 235. Gruppierung von Zahlzeichen 21. 83. Grynaeus 498. Guarnerius 856. Gubärziffern 712. 811. 816. Günther (Siegmund) 40. 179. 316. 397. 453. 515. 538. 635. 669. 758. 856. 872. Guido von Arezzo 885. Guichart 131. Guignes (de) 88. 675. Guldinsche Regel 450. Gundermann (Gotthold) 711. Gundobad 573. Gurke 786. Haas 597. Habakuk 44. Hadrian 461. 489. 562. Hadschi Chalfa 729. 775. 810. Hadschädsch ibn Iüsuf ibn Matar 702. Haebler 38. 50. Hafs ibn ‘ Abdallah 701. Hagen 835. 839. Hak = Abschnitt (ägyptisch) 97. 111. Hakimitische Tafeln 788—789. Halbieren 85. 319. 717. 761. 764. Halhidada 862. Halley 343. 344. 412. 490. Halma 277. 395. 406. 414. 491 häufiger. Hammer-Purgstall 741. Handasa = Geometrie 809. Han-Dynastie 665. 685. Hankel (Herrmann) 4. 7. 10. 13. 125. . 183. 185. 194. 203. 208. 220. . 260. 277. 420. 463. 467. 634. . 650. 693. 701. 722. 723. 736. . 748. 750. 769. 782. 786. 794. 835. Hansjakob 888. Harmonikalen 490. Harmonische Proportion 166. 338. — Teilung 338. 490. 491. und 123. 219. 479. 732. 789. Register. Harpedonapten, Gensdovdnra —= Seil- spanner 104. 192. 381. 385. 637. Harün ar-Raschid 695. 696. 700. 702. Hatto, Bischof von Vieh 847. 848. 849. Hau = Haufen (ägyptisch) 74. 395. 455. 466. 620. 723. Hawa‘i 816. Hayashi (Tsuruichi) 689. - Heath 192. 299. 463. 470. 471. Hebelgesetz 255. Hebräer 20. 44. 122. 125—127. 145. 173. 412. 427. 665. 668. 709. 728. 823. Heiberg (J. L.) 202. 248. 252. 254. 260 und häufiger. 278. 288. 292. 293. 295. 296 und häufiger. 299. 304. 307. 313. 317. 331. 333 und häufiger. 345. 354. 355. 392. 411. 414. 443. 458. 489. 490. 499. 502. 575. 579. 588. 736. 912. Heirice von Auzxerres 342. Helbert von St. Hubert in den Ardennen 889. Helceph 906. Helikon 232. Helmund 19. Heng ho cha = Sand des (Ganges 669. Henry (C.) 492. 906. Heraklides 295. 334. Heriger von Lobbes 869. 889. Hermeias 500. Hermann (Gottfried) 555. — II., Erzbischof von Köln 817. Hermannus Alemannus 888. — (ontractus 859. 885—889. 8391. 894. 900. 904. Hermotimus von Kolophon 248. Herodianische Zeichen 120 — 121. 129; 183,191; Herodianus 120. Herodorus 203. Herodot 35. 38. 39. 50. 55. 57. 88. 89. 92. 102. 104. 130. 132. 136. 137. 145. 150. 319. 853. Heronische Frage 363—368. Heronas 368. 503. Heron der Altere = Heron von Alexan- dria 368. — der Jüngere = Feldmesser von By- zanz 367. 506. —, Lehrer des Proklus 368. 497. — metriceus 366. 541. — von Alexandria 102. 119. 162. 177. 224. 227. 231. 256. 297. 318. 362. 363 — 406. 408. 409. 411. 412. 423. 426. 429. 440. 443. 450. 454. 455. 462 465. 466. 474. 480. 495. 499. 510. 541. 545 — 547. 554—556. 561. 564. 567. 586. 624. 637. 643. 646. 647. 648. 649. 652. 653. 654. 657. 705. 725. 727. 734. 750. 764. 785. 837. 863. 893. Herons anderes Buch 392—394. 404. — Metrica 318. 362. 364. 370— 382. 385. 392. 393— 394. 399. 548. 647. 733. 125. Register. Herons Sammlungen 117. 224. 242. 297. 356. 388—392. 393—394. 395—405. 484. 488. 489. 513. 548. 647. 727. 837. — Dreiecksformel 371. 374—375. 382. 385. 389. 390. 397. 402. 555. 590. 646. 649. 728..734. 764. 799. Herschel (Clemens) 551. Hertzberg 496. 497. 502. Herzog 122. Hesychius 36. Heteromeke Zahl 160. 163. 183. 184. Hiao wen ti 665. Hidschra 695. Hieratische Schrift 81. 83— 85. 121. Hieroglyphen 81—83. 121. Hieron 295. 311. 326. Hieronymus von Rhodos 138. — 830. Hiksos 57. 58. Hifswinkel 789. Hilgard (Alfred) 122. Hiller (Eduard) 160 und häufiger. 257. 327. 330. 434. Hilprecht (H. V.) 28—29. Himly 34. Himmelsglobus 326. Hincks 24. 26. Hindi = indisch 809. Hindukusch 20. Hin-Dynastie 664. Hinzuzufügende Zahlen 471. Hipparchus 39. 256. 361—363. 364. 365. 367. 377. 378. 383. 399. 407. 408. 411. 412. 413. 414. 416. 422. 496. 743. Hippasus 175. 236. 239. Hippias von Elis 146. 193—197. 198. 246. 306. Hippokrates, der Arzt 194. 597. 701. — von Chios 194. 200—213 214. 219. 226. 242. 247. 269. 271. 272. 300. 652. 790. Hippolytos 461. Hippopede 196. 242. 243. 353. 356. Hischam 794. Hitzig 44. Hoche (Richard) 158 und häufiger. 495. 496. 503. 686. Hochheim (Adolf) 708 und häufiger. 762. Höhenmessung 257. 362. 383. 440. 556 —557. 648. 863. 864. s. Schatten- messung. Hoeiti 665. Hoernle (Rudolf) 598. 614. 615. Hofmann (@.) 137. Hohlfeld (P.) 183. Homer 121. 130. 131. 151. Hoppe (Edmund) 363. 365. 545—547. Horapollon 84. 110. Horatius 10. 235. 299. 561. 590. Horn (W.) 238. Horner 685. Horus 110. 157. Hö tü 674. 675. 925 Housel 336. Hrabanus Maurus 841— 842. Hrotswitha von Gandersheim 856. Huaetberct 828. Huäng ti 664. 669. 671. 674. 677. Hudy nän tse 664. Hugo, bekannt mit Gerbert 870. — (Graf Leopold) 175. — (apet 848. 854. Hülagü 778. Hultsch (Fr.) 128. 129. 133. 164. 192. 222. 223. 246. 293. 317. 326. 363 und häufiger. 411. 441. 442. 443. 444. 447. 450. 460. 492. 498. 502. 505. 536. 545. 553. 561. 724. 731. 767. 823. 912. Humboldt (Alexander von) 45. 328. Hunain ibn Ishak 415. 702. Hunrath 317. 648. Hunu = Feldmesser (ägyptisch) 104. Hurüf aldschummal 709. 757. Hydrostatisches Prinzip 325. Hyginus, Astronom 553. —, Feldmesser 535. 536. 553. 599. 601. — , Militärschriftsteller 553. Hypatia 491. 495—496. Hyperbel 171. 230—231. 244. 283. 288 290. 305. 309. 335. 751. 759. 777. Hypotenuse, das Wort 184. Hypsikles von Alexandria 245. 260. 344. 358—361. 363. 416. 432. 464. 487. 501. 557. 565. 704. 761. I. I bei Figuren vermieden 206. 228. 330. 331. 439. 724—725. 726. 771. Ibdi = Quadratwurzel (sumerisch) 26 —28. Ibn Aladami 698. 701. Ibn Albannd 805—810. 913. Ibn Alhaitam 189—792. Ibn Alhusain 753--755. Ibn Almun’im 805. Ibn Alsirddsch 772. Ibn as-Saffar 793. Ibn as-Samh 793 Ibn Bauwab 708. Ibn Chaldün 729. 735. 805. 806. 913. Ibn Challikan 742. Ibn Esra 730. Ibn Jünus 188—789. 795. Ibn Mukla 708. Ibn Sina = Avicenna T30. Ibrahim 730. — ibn Sindan 749. Ideler 238. 308. 416. 420. 539. 572. Igin 893 flgg. Ilchänische Tafeln 779. Illa = außer 815. 816. Imaginäre Zahlen 402—403. 473—4T4. 626. Imbarür 778. Inkommensurables 268. 277. 926 Inder 15. 39—40. 346. 427. 456. 510. 592. 595—660. 669. 677. 684. 687. 689. 693. 697 —699. — 712. 722—728. 732. 739—740. 745. 754. 757. 762. 763. 773. 784. 804. 877. 878. 893. 909. Indisch- Alexandrinische Beziehungen 427. 457. 466. 596. 599. 600. 605. 609. 621. 622. 624. 638. 643. 646. 648. 649. 653. 724. 740. Indus 19. Ine Sin 28. Innenkreis des rechtwinkligen Dreiecks 556. 586. 589. 590. Interusurium 561. Involution 452. Iran 19. Iran = Heron 705. Irenaeus 127. Iron 366. Irrationales 29. 94. 147. 153. 164. 181. ‚182. 183. 188. 192. 193. 198. 201. 213. 223. 256—237. 247. 252. 269 —270. 285. 8326. 348—349. 474—475. 502. 544. 570. 621. 626—627. 768. 875. Isaak Argyrus 509. Ishta karman 618. 732. Isidorus, fälschlich angenommener Gatte der Hypatia 495. — von Alexandria 500. 501. 912. — von Milet 231. 244. 501. — von Sevilla 429. 563. 822—825. 828. 831. 835. 837. 842. 846. 901. Isis 157. Isisfest 407. 408. looı 472. 622. 815. Isokrates 102. 104. 149— 150. Isoperimetrie 179. 357. 358. 446—447. 549. 706. 740. Isopsephie 461—462. isrogl« moög Ilvdayogov 155. Italien 119. 147. Jvrea, Handschrift von 879—880. 457. 680. 710 744. 801. J. Jacobs (Friedrich) 461. 462. — (Hermann von) 32. Jahja ibn Chalid 702. Jahr 37. 77—78. 328—329. 508. 527. 539—540. 670. 677. 681. 775. Ja'küb ibn Tärik 700. Jamblichus, Philosoph 51. 118. 131. 155. 158. 166. 167. 175. 188. 202. 213. 238. 332. 432. 456. 458—461. 464. 475. 485. 496. 624. 706. 735. 739. — Romanschriftsteller 51. Jan (C. von) 165. 459. 509. 566. Janus 527. 540. Japaner 689—690. Java 607. Jehova 126. 665. Register. Jia 658. 737. Jiärdha 658. Jwa 658. 737. Johann XIII. 849. — XIV. 854. — XV. 849. 858. Johannes von Damaskus 464. 696. 702. 725. — Hispalensis = Johannes von Luna. -— Hispanenis = Johannes von Luna. — von Jerusalem 463. 464. 487. — von Luna 800—803. 804. 838. 903. 9093::918, — Palaeologus 509. — Philoponus 8. Philoponus. — von Sevilla = Johannes von Luna. Jomard 82. Jonier 119. Jonisches Alphabet 121. 127. Jordanus Nemorarvius 911. Josephus, Geschichtsschreiber 32. 86. —, der Spanier 856. 870. —, der Weise 856. Jourdain 797. 888. 889. 890. 906. Jugerum 549. Julianus 8. Salvianus Julianus. — Apostata 457. 464. 495. 596. Julien (Stanislas) 668. 671. Julius Paulus 562. Junge 308. 311. 912. Junier 553. Justinian 502. 503. 505. Jüsuf ibn Harün al Kindi 856. Juvenalis 527. Juventius Celsus 562. 563. Juxtaposition 22. 83. 123. 129. Jyotisham 39. K. K, Zeichen für Cardo 534. Ka‘b 767. 768. 815. 816. Kabbala 43. Kädizadeh ar-Rümi 780. 781. Kaempf 34. 35. Kaestner 4. 507. 780. Kahun s Fragmente von Kahun. xdhauos 385. Kalender der Römer 13. 525. 539—540. Kallimachus 327. 329. Kallisthenes 38. Kalpasütra 636. xaumbhaı yoruucat S. Bogenlinien. Kanghi 668. 688. Kanishka 596. Kanon 214. Kanopus, Edikt von 78. 259. 328—329. 409. Karana 621. 639. Karatheodory 779. Kardaga 698. 699. 737. Karl der Große 832. 833. 879. Karl Martel 822. Register. Karnak 82. Kassi 31. Kassiterdynastie 31. Kasteneinteilung 595. Kategorientafel 160. 183. 236. Kaätyäyana 636. 643. Kegelschnitt 193.196. 244— 245. 288— 350. 490. 638. 751. 776. 777. Kegelschnittzirkel 231. 244. 353. 751. Keil 564. Keilschrift 21. 24. Kelten 9. Kemäl Eddin 778. Kendra = 1, &x xevroov 599. Keou 679. Kepler 308. Kerbholz 83. nsord 438— 440. Kettenbruchalgorithmus 267. 437. 628. 630. Kewitsch (@.) 32. 37. Khe = ungefähr eine Viertelstunde (chi- nesisch) 39. Kia tse 670. Kieou tschan = die neum Abschnitte 670. 674. 682. 690. Kießling 155. 459. Kieu löng 669. Kikuchi (D.) 689. Kimon 215. King yu 679. Kirchhoff (A.) 127. Kiu kong yen 666. Klammerauflösung 387. Klamroth 702. Kleiner Astronom 447. 705. — Sattel 805. Kleobuline 136. Kleopatra 427. Klosterbibliotheken 569. 577. 580 831. 832. 836. 871— 872. Klosterschulen 825. 831. 832. 833. 834. 840. 841. 843. 347. 849. 850. 851. Klügel (Simon) 256. 451. Kluge 501. Kneucker 34. Knoche 183. 237. 241. 242. 346. 498. 499. »oykla 326. Kodrus 214. Koehler 120. Koeppen 895. Körperliche Örter 248—249. 448. Körperzahl 163. 267. 432. 824. Kohl 10. roLLoymvıov 35T. Kombenatorik 249—250. 256—257. 270. 345. 362. 454. 501. 575. 619. 620. - Kommentare zu Euklid 237. 241. 275. 348. 381. 386. 387. 388. 424. 425. 443. 497—499. 502. 509. 736. 780. 793. — zu Nikomachus 368. 429. 459—460. 503. 292. 317. 318. 927 Kommentare zu Ptolemaeus 2717. 357. 416. 442. 443. 491. 492. 512. Komplanation eines Teiles der Kugel- oberfläche 451. Komplementäre Division 528. 585. 718. 762. 765. 785. 812. 868. 869. 885. 902. 910. — Multiplikation, 433. 528—529. 612. 762. 765. 784. 785. 812. 907. Konen (H.) 632. Konoide und Sphäroide des Archimed 297. 304. 306. 309— 310. 335. Konon von Samos 297. 306. 307. 336. Konservative Kraft der Unwissenheit 173. 550. Konstantin der Große 457. 458. 462. 463. 596. — Kephalas 461. Konstantinopel, Eroberung durch das Kreuzheer 508, durch die Osmanen 516. 183. Koordinaten 108. 337. 383—384. 422. 535—534. 872. Kopfrechnen 41. 531. 609. 610. 793. 816. 829. Kopp 566. Koppe 737. Korea 690. xoovorög yocuun 555. xoevgr; 394. 555. Kos 50. Ko schan king 684. x00xıvov 332. Kosmische Körper 153. 174. 175. Kotangententafel 738. Kotijia 658. Krähenindianer 13. Kramajid 659. 699. 737. Kranzrechnung 310. Krates von Mallus 409. Kreis 40. 47. 48. 97. 98. 138. 140. 141. 142. 178. 179. 202— 204. 210. 265. 389. 556. Kreisabschnitt 207208, 378—379. 389. 549. Kreisberührung 307. Kreisbogen 196. 395 — 396. Kreisteilung 37. 47T. 50. Kremer (A. von) 464. 667. 693—697. 708. 713. 729. Kreuzzüge 508. 777—778. 785. 817. 822. 878. 904. 905. Kroll 392. Kronenrechnung 310—312. 325. 462. 544. Krumbacher (Karl) 508. 510. 515. 897. Krummbiegel 312. Krummlinige Winkel 192. 264. 443 —444. Krümmungsmittelpunkt 342. Kschattriyas 595. Ktesibius 364. 367. Kuas 88. 675. Kubatur der 309—310. 612. 882. 586. 910. Konoide und Sphäroide 923 Kubikwurzel 30. 236. 316. 348. 406. 453. 480. 606. 616. 638. 755. 762. 777. 913. Kubikzahl 26. 27. 45. 164. 167. 470. 483. 559. 560. 580. 619. Kubische Reste 632. 756. Kubitschek 133. Kufische Schrift 708. Kugel 175. 176. 179. 237. 425. 865. — und Zylinder des Archimed 226. 261. 266. 297. 308—309. 314. 412. 703. 749. 774. Kugeloberfläche 308. 590. Kugelschnitt 308. 309. 314. 354. 381. 749. 774. Kugler (Franz Xaver) 31. Kujundschik 27. Künpßberg 238. Kurieraufgabe 623. Kurven doppelter Krümmung 229. 450. 451. 780. Kusch 20. Kuschiten 20. Küschjär 761. Kusta ibn Lüka 365. 704. 761. Kuttaka 6283—630. 687. Kuu 679. 680. #bBog 470. 767. Kyros, Freund des Serenus 489. Kyrus, Perserkönig 35. 136. Kyzikenus von Athen 247. Kyzikus 238. 374. 684. 267. 756. 646. L. Lachmann 532. 553. Lacroix 260. Laertius s. Diogenes. Lakedaemon 145. Lalitavistara 612. 613. La Loubere 635. Landkarten 423. Lanfrank 903. Längster Tag 39. 41. Laö tse 665. Larfeld (Wilhelm) 126. Larsam 25. Lassen 39. 605. 635. Latitudines 872. Latus rectum 337. Laufer (Berthold) 34. Lautere Brüder 516. 738—741. 793. Lauth 57. 59. Layard 47. Legendre 156. Lehmann (C.) 37. Leibniz 10. 218. keins 471. Anuue 241. Lemmen des Pappus 279. Lenormant 37. 43. 122. 894. Leodamas von Thasos 194. 220. 235. 237. 380. 733. 432. 865. 786. 241. 330. 412. 411. Register. Leon 237. Leonardo von Pisa 551. 911. Leonas 497. Leonidas von Alexandria 462. Le Paige (C.) 889. Lepsius 25. 37. 39. 57. 78. 84. 87. 89. 92. 110. 112. 328. Letronne 133. Levi ben Gerson 780. Levigild 822. Levy (M. A.) 123. Lex Falcidia 561. 562. — Genueia 561. Le yay jin king 684. Liang Jin 676. Liber augmenti et diminutionis T30—732. Liber Charastonis 704. Libri (Guillaume) 715. 719. 721. 730. 732. 768. 802. 803. Lieow hin 665. 666. 678. Lihn 687. Lilavatı 598. 617. 623. 654. 659. Limes 361. 764. Lindemann (Ferdinand) 175. 176. 178. Lineae 880. 886. Lineae ordinatae 554. Lineal 92. 94. Lineare Orter 248. Liptü = hentov 599. Liu hwuy 684. Livius 295. 299. 522. 565. Loculus Archimedius 297. Loftus 25. Logistik = Rechenkunst 156. 252. 320. 704. Lombarden 905. Loria (Gino) 67. 119. Lo schu 674. 675. Lubna 792. Lucian 169. 178. 214. 428. 429. 564. Luftrechnen = Kopfrechnen 793. 816. Lunula Hippocratis 206. Lupitus von Barcelona 857. 889. 904. Lu pw oei 678. Luzxeuil 826. Lykurg 151. Lysanias 327. M. Machinula 537. Macrobius 87. 527. 539. 566. 825. 828. 846. 886. Madhyama haranam 625. Madschd Addaulah 761. Madschhül 815. Maerker 242. 346. Mafrü‘ 753. Magdeburger Sonnenuhr 858. Magie 45. 457. | Magisches Quadrat 438. 515—516. 635. 675. 688. 740—741. 786. 801. Magnus 320. . Register. Magrib 708. Mahler (Ed.) 137. Mahmüd der Gaznawide 757. Mai (Aug.) 876. Majer 219. 255. 292. 388. 424. 498. 499. Mail 123. 767. 768. 815. Malaien 12. Malchus 45%. Mamerkus 146. 193. Mamertinus 146. Mandschu 667. Mangelhafte Zahlen 168. 430. 507. 835. Manitius (Carl) 360. 362. 406. 410. Manuel Moschopulos 515—516. Maraja 779. Marcellus 296. Marco Polo 667 Mariette 122. Marinus von Neapolis 282. 489. 497. 500. — von Tyrus 422. Marquart 529. — (J.) 12. Marre (Aristide) 710. 726. 805. Marryat 538. Martianus Capella 527. 566—568. 569. 570. 823. 825. 346. Martin (Thomas Henri) 131. 164. 168. 174. 222. 225. 358. 363. 366. 433. 488. 491. 500. 506. 525. 578. 582. 844. 912. Marty 842. Maslama al Madjriti 909. Masoreten 126. Maspero 19. 20. 31. 45. 55. 56. 57. 77.82. Massiver rechter Winkel 105. 440. 556. 863. Mas‘ udi 602. 603. 701. Maßvergleichungen 26. 68. 90—91. 391. 395. 554. 612. 823. 860. uednuare 216. Mathematikerverzeichnis 135. 146. 174. 188. 195. 201. 213. 234. 235. 238. 240. 241. 243. 245. 247. 248. 260. 356. 407. Mathematische Zeichen 14. 74—175. 471. 472. 620. 684. 685. 804. 813. 815. 816. Maithiessen 266. 284. 685. 686. 687. 810. Maximum und Minimum 266. 309. 341 —342. 357. 358. 446 —447. 449. 452 —453. 490. 549. Maximus Planudes 461. 467. 510—513. 514. 515. 603 610. 717. 756. 762. Mayas 9. Mechanik 229. 233. 236. 254—256. 294. 296. 297. 323— 326. 369. 423. 424. 449—450. 545— 547. 704. 780. — des Boethius 575. Mediallinie 270. 348. Medien 19. 45. Mehrfache Lösung einer quadratischen Gleichung 476. 625—626. 720. 726. 770. Meier (Rudolf) 363. 367. 389. CAnNToR, Geschichte der Mathematik I. 3. Aufl. 929 Meinzo von Konstanz 887. Mei wuh gan 688. unnos 395. 422. Melampus 151. Melikschäah 774. 775. Memphis 10%. Mena 56. 77. Menaechmus 196. 212. 226. 229 —231. 233. 243—246. 292. 330. 353. Menant 22. Menelaus von Alexandria 365. 367. 412 —414. 420. 425. 447. 448. 491. 539. 547. 549. 552. 705. 779. 908. 911. Menephtah 1 89. Menes 56. Menge (Heinrich) 260 und häufiger. unvioxog 206. Menkara 56. wegiouog 289. Merit = Hafen (ägyptisch) 93. 97. 205. 394.- Merx (Adalb.) 49. 123. 124. Mesolabium 330. N Mesotäten 165. 238—239. 445. 454. 852. 853. 912. Messer Millione 667. Meßstange 538. Messung mittels der festen Stange 863. Metrodorus 462. 463. Mexiko 9. Michael Palaeologos 508. uIXE0S Lorgovouodusvog 447. 705. Milet 50. 125. 137. Militärische Höhenmessung 863. Milleius = Menelaus 705. Million 22. 23. 124. 126. Minaraja 638. Ming-Dynastie 666. 684. 688. Minos 211. 638. Minuten 416. 682. Minutien = Duodezimalbrüche. Miram Tschelebi 781. Misahät 126728. "Mischungsrechnung von Eßwaren 619. Missionäre 667—668. 688. Mittlere Bücher 705. Mizraim 56. Mnesarchus 147. Mode in der Wissenschaft 259. 428. 505. 516. 872. Modestus 368. Mönchsleben 568—569. 571. 871—872. Mohammed Bagdadinus 287. Mohnkornlänge 521. Molinet (Claude du) 87. 529. Mollweide (Karl Brandau) 256. 317. Molsem 909. Mommsen 523. 525. 526. 553. 564. 573. 826. uovdsg 461. 470. 723. Mondchen 207—210. 790. Mongolen 666. 674. 684. 778, 822. Möng tien 664. 59 930 Monochord 153. 167. 850. Montchal (Charles de) 857. Monte Casino 568. 843. Montfaucon (Bern. de) 320. 857. Montferrier (4A. $8. de) 756. Montucla (Jean Etienne) 43. 255. 325. 333. 360. 407. 509. Moraspiel 90. Morgen als Feldmaß 92. Mortet (Vietor) 552. 568. 570. Moses Matimonides 794. Müller (Ottfried) 523. Muhammed, der Prophet 693. 695. — ibn Kasım 701. — ibn Müsa Alchwarizmi 698. 700. 711. 712—733. 741. 742. 753. 761. 763. 769. 787. 800. 801. 802. 803. 849. 903. 906. 908. — ibn Müsä ibn Schakir 733. Muhurta = = Tag (indisch) 39. Mu‘izz Eddaula 741. ' Mukarrar 806. 807. Mukha 647. Müla = Wurzel (indisch) 616. 723—724. Multiplikation, Alter derselben 8. Multiplikationsverfahren 85. 318—319. 346. 431. 433. 445. 454. 493. 584. 585. 586. 610—611. 671. 688. 717. 761—762. 764. 784. 785. 812. 846. 867—868. 881. 884. 896. 900. Munk 737. Murr (Christian von) 468. Müsa, Feldherr 706. — ibn Schäkir 733. Musaeus 151. Museum in Alexandria 259. Musik des Boethius 165. 575. 577. 578. 583. — der Welten 155. 156. 435. Musikalische Proportion 166. 432. — Schriften aus dem Mittelalter 844. — Zahlenlehre 153. 156. 184. 294. 423, 544. — Zeichen 823. \ N. Nadika — = Tag (indisch) 39. Näherungswerte von Y2 181. 223. 317. 377. 378. 398. 400. 436—437. 475. 640. 641. 642. 643. 645. — s. V2 (Quadratwurzel aus 2). — von V3 223. 316. 318. 372—374. 877. 378. 393. 397. 398. 399. 548. 586. 643, 728. 799. — 8. Y3 (Quadratwurzel aus 3). Nagl 133. 868. 890. Namen bei den Arabern 699-700. — bei den Römern 553. Register. Namenverunstaltungen 705. Naramsin 31. Näräyana 635. Narducei (Enrico) 789. 900. Nasir Eddin 779—780. 787. 795. 796. Navarro 235. Naxatra 39. Nebi = Holzpflock (ägyptisch) 104. Nebka 56. Nebukadnezar 35. 38. Nectanabis II. 238. Negative Gleichungswurzeln 622. 626. 772. — Zahlen 471. 620. 621. 622. 626. 685. 803. Nen = nicht (ägyptisch) 112. Neokleides 237. Neptun 32. Ner = 600 (sumerisch) 36. 37. 40. 42. 133. 532. Nero 127. 462. Nerva 542. 550. Nes-chi Schrift 708. Nesselmann 51. 127. 131. 156. 238. 285. 312. 360. 407. 428. 430. 432. 436. 460. 461. 463. 466. 467. 470. 479. 483. 484. 485. 493. 496. 719. Nestorius 701. Netzmultipl'kation 611. 785. 812. Neue Akademie 428. Neuneck im Kreise 377. 759. Neunerprobe 461. 611. 717. 756. 766. 808. Neuplatoniker 456—461. 496. 507. 574. 584. 890. Neupythagoräer 428. 465. 507. 584. 716. 739. 895. Neuseeländer 10. Newbold (Wm. Romaine) 161. 266. Niccheda 628. Niebuhr 564. Niederbretagner 10. Nietzsche 117. Nikephoros Gregoras 508. Nikolaus Rhabda von Smyrna 513—515. 527. 710. 829. 830. Ntikomachus von Gerasa 158. 165. 166. 169. 170. 225. 332. 363. 368. 428—433. 434.435.455.456.459. 460. 464. 475. 516. 528—529. 559. 563. 564. 567. 570. 576. 579. 580. 581. 586. 686. 706. 716. 724. 735. 755. 824. 881. 906. 910. Nikomedes 195. 196. 350—352. 356. 407. 425. 445. Nikon 308. Nikoteles von Kyrene 336. Nü, Austreten desselben 55. 102—103. 135. 389. 791—792. 852. 853. Neloxenus 138. Ninian 826. Ninive 20. 122. Nippur (Tafeln von) 29. Nipsus 552. 553. 556. 654. 861. 863. Nirapavarta 628. 269. 433. 472. 786. 763. 569. 712. % Register. Nissen 522. 532. 533. 534. 536. Nix (L.) 256 und häufiger. 363. 683. Nizam Almulk 774. Nizze (Ernst) 296 und häufiger. 335. 411. 490. Noah 35. 56. Nokk (A.) 293. 356. 411. Nordamerikanische Naturvölker 538. Null 30. 31. 112. 128. 170. 511. 592. 603. 607. 608. 609. 616. 617. 673. 711 — 712. 762. 851. 885. 897. 899. 900. 901. 904. 909. — als Gleichungswurzel vermieden 772. Numa 526. 527. 539. Numeri figurati 579. 306. 0. Obelisk 390. 402. Ocreatus 433. 906. 910. Odalric 843. Oddos Regeln des Abacus 844. 899— 902. Odo von Oluny 843. 844. 847. 899. — von: Tournay 889. Ofterdinger (Ludwig Felix) 220. 287. Oinopides, der Philosoph 35. — von Ohios 151. 188. 190. 191. 194. Oktaden des Archimed 320—321. 346. Oktodezimalsystem 10. @xvroßoov 346. Okytokion 345. 346. Olleris 847. 854 und häufiger. 871. 898. Omaijaden 696. 697. 701. 707. 741. “Omar 503. 504. 695. “Omar Alchaijämi TT4—TT7T. 787. 788. Omar-Cheian = “Omar Alchaijämi 775. Oppermann 317. 345. Oppert (Jules) 19. 23. 28. 31. 35. 37.41. 48. 50. Oppositio 719. Optik 293. 423. 447. 789. Opuntius s. Philippus Opuntius. Ordinaten 554. Orestes 495. Orientierung 15. 57. 104—105. 535-—537. 599. 601. 635. 636. 637. 676. 677. Sgıouevov 158. Ormis 893 flgg. Orontes 41. öoos 361. 764. Orpheus 151. Ort zu 3 oder 4 Geraden 339—340. ootia 337. Ortstheorem 280. 281. 282. 790. Osiris 157. Össeten 10. Osterrechnung 531. 572—573. 826. 827. 828. 831. 834. 841. 867. 898. 899. Oswin 827. Ottajano 449, Otto I. 849. — LI. 854. — III 577. 854. 855. 856. 858. 931 Ou wäng 43. 662. 676. Ovidius 352. Oxus 19. Örter auf der Oberfläche 288. 448. 451. Östliche Hau-Dynastie 678. pP. x —= 2,25 396. = Y8 507, 3 /11\3 RR ne NN ee “3 r | x—3 48. 109. 379. 403. 404. 507. 544. 643. 647. 681. 683. 7 2 lt 648.977. TU (7) T 7-3, 544. 642: 876. 157 Be 7 #750 = — 3,1416 346. 646. 654. 658. 728 17 — 8 492, 799. 7727498 22 403. 404. 422. 551. 684. 688. 728. 799. ach 303. 378. 393. 590. 648. 654. 657. 875. 877. 878. 887. . 16 2 = (5) 98. 99. 109. 404. 642. 876. rr — V10 647. 648. 649. 728. na — 3,2 48. 99. 9 Au nee Ei 377. n—=4 591. 837. 877. Pachymeres (Georgios) 508. Pada 616. Padmanabha 600. 626. Palaeologen 508—510. Palimpsest von Verona 564—565. 581. 908. Palmyra 123. Pamir 19. Pamphile 136. Pao tschang schi 676. Pappus von Alexandria 118. 119. 197. 220. 225. . 246. 275. 278. 279. . 288. 2 307. 318. 330. .. 835. & 344. 345. 346. . 353. 364. 367. 370. ; . 414. 441—455. 465. 484. 491. 492. . 550. 601. 706. 735. 740. 745. 764. 790. 791. Papyrus Eisenlohr 57—81. 85. 91—94. 96—100. 186. — Sallier 89. Parabel 171. 229—231. 244. 288. 289. 291. 304—305. 309. 323 — 324. 335. 344. 502. 745— 746. 759. Parabelzirkel 231. 244. Paraboloid 98. 196. . 261. . 298. . 343. 3. 357. . 428. 59* 932 naoadofos yorzuun 414. Parallellinien 46. 50. 171—172. 262. 277. 307. 388. 409. 424—425. 499. 554. 780. Parallelogramm der Kräfte 255. Paralleltrapez, gleichschenkliges 96. 97. 108. 376. 389. 394. — mit 3 gleichen Seiten 208. 651. 652. TT7. Paramadicvara 600. Paravey 24. $ Parilienfest 536. Pariser Gemme 529. Parmenides 500. Partsch 541. Pascal (Blaise) 559. Passahfest 572. Pätaliputra 598. Patricius 578. 579. 581. Patrikios 368. 389. 488—489. 557. Pauli (C.) 524. Pausanias 35. Pediasimus 510. Peiper 580. 899. Peithon 489. Pena 411. Pendlebury 453. Pentagramm 178. 206. Perigenes 51. Perikles 120. 178. 188. 213. 214. 259. 867. Peripatetiker 117. 153. 216. 251. 257. 259. 540. 702. mwegıcool 159. Perny 663. 664. 665. 669. 670. 671. 674. Perseus 196. 356. 363. ‘407. Persius 853. Perspektive 108. 190. 310. 423. Pertz 876. 879. Peruaner 88. Pesch (J. G@. van) 497. 499. Petau 408. Petesuchet 57. Petesuchis 57. Petrie 59. Pez 851. Pfahlbauten am Pfäffikon-See 15. ' Pheidias, Künstler 214. — Vater des Archimed 295. Philipp von Mazedonien 169. 213. Philippus von Mende 248. — ÖOpuntius 169. 248. 312. 487. Philo von Alexandria 125. — von Byzanz 364. — von Tyana 414. Philolaus 161. 166. 175. 184. 266. Philoponus 201. 203. 232. 500. 503. 504. Philosophie der Mathematik in der Aka- demie 219. Phöniker 20. 32. 33. 121—123. 135. Phönix 32. Photius 330. Phylai 121. Pick 528. Register. Pietschmann 19. 20. 31. 45. 55. 56. 57. 77. B2. Pihan 608. Pipin 845. Pipping 408. Piremus (ägyptisch) 99—100. Pirmin 826. 836 Pistelli 158 and "häufiger. 459. Planisphaerium 423. Plato von Tivoli 737. 798. 800. 907. Platon 42. 151. 154. 155. 172. 184. 193. 194. 212. 213—234. 235. 238. 240. 243. 243. 249. 250. 251. 259. 260. 270. 316. 329. 353. 361. 380. 389. 390. 428. 430. 434. 575. 589. 890. 900. Briefe 215. Oharmides 319. Euthydemus 157. Gesetze 102. 217. 225. 248. Gorgias 157. Hippias maior 195. Hippias minor 195. Lysis 159. ‚ Menon 171. 185. 217. 218. 219. ‚ Nebenbuhler 188. 189. 190. ‚ Parmenides 219. —, Phaedon 155. 175. 225. ; I - er) w - - - - - 726. Phaedrus 86. 102. Philebus 184. Protagoras 195. Republik 157. 168. 180. 216. 223. 347. —, Sophist 500. —, Theaetet 182. 207. 213. 215. 236. —, Timaeus 154. 164—165. 176. 236. 861. ııdros 395. 422. Plautus 527. 532. Plectoidische Oberfläche 451. nhevod 724. Plinius 38. 50. 57. 138. 146. 163. 365. 412. 527. 539. 540. 541. 543. 872. Plotinus 457. 539. 567. Plutarch 42. 43. 139. 152. 157. 168. 177. 180. 184. 193. 232. 233. 234. 256. 295. 460. 485. nodıoudg 555. Podismus 555. 556. 861. 864. 874. Poggendorff 253. 667. Pol eines sphärischen Bogens 420. — der Konchoide 351. Polardreieck 780. Politische Arithmetik 514. Polos 50. Polybius 132. 173. 319. 362. 409. 864. Polyeder s. Vielflächner. Polygonalzahlen 169. 248. 249. 312. 361. 432. 464. 485—487. 567. 579. 580. 586. 590. 627—628. 840. 864. 865. —, Schrift des Diophant über 361. 466. 467. 485—487. 557. 558. 560. Polyklet 214. 222, 237. 225. 173. 828. 171. 249. Register. Polykrates, Redner 149. Pompevus 409. Porisma 278— 2831. Porismen des Diophant 467. 483. — des Euklid 278. 281—282. 420. 448. 452. 790. Porphyrius 33. 38. 118. 151. 154. 166. 188. 456. 457. 458. 501. 575. 706. Poselger 254. 255. Posidonius von Alexandria 198. 365. 409. — von Rhodos 365. 388. 409. Potentia 207. Potenzen der unbekannten Zahl 47 0. 507. 621. 767—768. Potenzgrößen 207. Potone 249. Pott 4. 5. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 34. 41. 83. 88. 92. Poudra 423. Präci 636. Praecisura 555. Prantl 876. Premare 668. Primzahlen 160. 267. 268. 332—333. 430. 461. 507. 579. Prinzip der virtuellen Geschwindigkeit 253. Priscianus 311. Prisse d’ Avennes 107. Prittüdaka 619. 651. Problem 275. Produkt der Summen zweier zahlen 482. Projektionsmethoden 423. 443, Proklus Diadochus 107. 118. 141. . 146. 152. 156. 161. 173. . 180. 183. 185. 195. . 213. . 220. 241. . 245. . 260. 275. uIV. . 287. 348. . 351. . 356. 381. . 388. . 410. 457. 458. 489. 497 — 500. Proportionenlehre 73. 108. 156. 165—166. 225. 236. 233— 240. 265. 272. 277. 331. 431. 432. 434. 445. 454. 580. 738. 763. Proportionalteile 419—420. Propositiones ad acuendos jwvenes 834 —839. Protagoras 195. 199. Protarch 359. "euuiens 321. Psellus (Michael) 464. 506—508. "bipos 897. Ynpopogie xar "Ivdovg 510. abevddgıe 278. Pseudoboethius 581. Ptolemaeus Euergetes 211. 243. 259. 327. 328. 333. 336. 540. — Lagi Soter 259. — Philadelphus 125. 259. — Philopator 330. 333. — XI. 110. Quadrat- 135. 138. Et4; 933 Ptolemaeus XILI. 366. — Hephaestio 330. — (Klaudius) 39. 119. 128. 318. 333. 394. 412. 414—425. 433. 434. 447. 457. 491. 495. 499! 509. 571. 575. 597. 600. 602. 659. 698. 702. 703. 704. 712. 737. 764. 795. 796. 799. 907. 908. 911. Ptolemaeischer Lehrsatz 416. 764. Puini (Carlo) 680. Punktierkunst 45. 779. Pyramidalzahlen 249, 487. 558—559. 628. 688. 865. Pyramidenwinkel, Konstanz desselben 57. nvosiov 344. 354. Pythagoras 35. 148—188. 189. 223. 224. 238. 247. 270. 389. 390. 428. 429. 432. 457. 459. 464. 521. 567. 570. 575. 583. 639. 644. 645. 696. 725. 726. 735. 824. 861. 899. 900. Pythagoräer 42. 107. 131. 147. 152—188. 193. 196. 198. 200. 201. 202. 213. 215. 216. 220. 235. 238. 252. 291. 335. 348. 428. 460. 559. 624. 755. Pythagoräischer Lehrsatz 152. 179. 181. 184. 185. 218. 263. 274. 371. 636. 638. 639. 640. 647. 655. 656. 680. 684. 726. 744. 877. Pythagoräisches Dreieck 49. 51. 96. 106. 170. 180. 187. 326. 371. 481. 644. 679. 680. 786. 863. Pythmen 347. 348. 461. 585. Q. Qa = Höhe (ägyptisch) 98. 394. Wet — Ähnlichkeit (ägyptisch) 99. Quadrat 92. 177. 183. Quadratische Reste 435. 632. 763. Quadratrix 195—197. 246— 247. 306. 353. 354. 446. 450—451. Quadratur der Ellipse 306. 379. 799. — des Kreises 97. 189. 196. 197. 201. 210. 247. 271. 345 —346. 378—379. 502. 507. 591. 641. 642. 645. 790. 837. 875. 876. 877. 878. — der Parabel 241. 297. 304—305. 323 —324. 379. Quadratwurzel 28—30. 94—96. 112. 182. 223. 236. 302—303. 316— 318. 371— 374. 393. 397. 406. 436—438. 453. 475. 480. 492. 494—495. 502. 511—513. 514. 606. 616. 621. 638. 640. 647. 648. 684. 733. 755. 764. 766—767. 777. 785. 801. 814 — 815. 913. vVi-- 223. 398. 400. 436. 437. 640. 873. = 47 “= 377. 378. 436. 437. 640. 867. 873. 874. 875. 377. 752. 756. V-- 318. 377. 378. 397. v3 -,, 318. 373. 393. 397. 398. 399. 548. 549. 586. 643. 728. 799. 866. vi=-- 223. 867, Quadratzahl 26. 27. 45. 160. 161. 162. 163. 164. 167. 168. 169. 170. 202. 236. 267. 312. 313—314. 432. 435. 460. 470. 479 —480. 481. 485. 502. 529. 559. 619. 756. 840. —, welche um eine gegebene Zahl ver- größert oder verkleinert wieder Qua- dratzahl ist 482. 483. 752—755. Quadruvium 578. 823. Quatuordecimani 572. Quimas 893 flgg. Quinarsystem 8. 9. 10. 32. Quincke (Georg) 15. Quintilian 173. 357. 527. 549—550. 566. Quipu 88. R. Ra-a-us 58. Raab 198. Racechin 877. Rad des Aristoteles 255—256. Radix 724. 804. Radulf von Laon 886. 390—897. 898. 899. 900 902. — von Lüttich 872. 873. 874. 875. 876. 890. Ra-en-mat 58. Rätselfragen 833. 834. 839. Raimund, Stiftslehrer von Aurillac 847. -—— Erzbischof von Toledo 796. Rama Krishwa 601. 616. Raml —= Punktierkunst 45. Ramses II. 92. 102. 108. Randbemerkungen dringen in einen Text ein 276. 368. 862. Ranganätha 601. Rask 603. Ratgar 841. Rationale Gleichungswurzeln allein ge- stattet 473—-475. — rechtwinklige Dreiecke 95—96. 184. 185—186. 187. 224. 270. 389. 390. 481. 484. 485. 555. 589. 628. 638. 645. 653. 752—755. kationalmachen von Brüchen 626-627. 814. Raumkoordinaten 422. Raumschnitt des Apollonius 343. 345. 364. 380. Rawlinson 26. 27. Räazi 695. 908. Rechenbrett s. Abacus. Rechenbuch von Achmim 59. 67. 504-505. Register. Rechenbuch von Bakhstäli 598. 613—615. 618. 620. 621. Rechenknecht 291.531. Rechnen mit Marken 6. 41—42. 88-89, 510. 825. Rechnende Geometrie = Feldmeßwissen- schaft 381. Rechnung auf der Linie 563. Rechteck 49. 92—93. Rechter Winkel 47. 49. 51. 94. 105— 106. 138. 142. 161. 163. 190. 192. 371. 384. 385. 636. 637. 3 Redewendungen, mathematische, der Ägyp- ter 65. 67. 72. 75. 98—100. 276. 394, der Araber 723. 815. 816, der Griechen 138. 158. 159. 190. 275. 393. 394. 470. 487. 555, der Inder 611. 614. 616. 617.620. 621. 622, der Römer 531. 555. Kegeldetri 505. 514. 618. 633. 726. 763. 785. 815. kegimbertus von Reichenau 577. Regimbold von Köln 872. 873. 874. 875. 876. 877. 889. Regiomontanus 467. 468. 780. Regula elchatayn 732. — Nicomachi 433. 528—529. 586. 881. 906. 910. — quatuor quantitatum 795. — sermonis 732. — sex quantitatum 413. 420. 736. 779. 795. Reichenau 577. 580. 836. 842. 888. Reifferscheid 564. 879. Reihen 159. Reihe, arithmetische 25. 78—80. 113. 159. 167. 187. 313. 314. 361. 390. 460. 480. 507. 558. 559. 615. 619. 625. —, geometrische 25. 80—81. 159. 167. 268. 305. 507. 619. 881. — der Biquadratzahlen 731. — der Kubikzahlen 432. 559. 619. 768. 769. 781. 784. 808. 865. — der Quadratzahlen 313—314. 558. 619. 768. 784. 808. Reimer 211. 212. 467. Reinaud 457. 595. 597. 602. 603. 714. 715. Reisen griechischer Philosophen: des Ana- xzagoras 189, des Demokritos 191, des Eudoxus 238, des Oinopides 190, des Platon 215, des Pythagoras 148—152. 176, 644, des Thales 136. Reisner (@.) 11. Rektifikation des Kreises 48. 247. 300 —303. 354. Religiöse Gegensätze bei den Arabern 765. 775. 788. Remigius von Ausxerre 842. 843. 871. — von Trier 854. 870. Remusat (Abel) 672. Repräsentation 561. Res 802. 804. Restauratio 719. 803. Register. entov 182. 269. 764. Reuter (Hermann) 903. Revillout (Eugene) 60. 94. 96. 101. Rhabda s. Nikolaus Rhabda. Rheims : 843. 848. 849. 853. 855. 856. 858. 867. 868. 869. 870. 871. Rhind 57. Rhodos 362. 383. 409. 422. 426. Ricei 667. Richardson 45. kicherus 847. 848. 849. 850. 867. 868. Richter (Adolf) 128. — (August) 344. Riese (Alexander) 523. Rinderproblem des Archimed 312—313. 462. 6lEn 724. Robert von Lincoln 889. Rodet (Leon) 68. 73. 76. 81. 472. 598. 605. 606. 616—625. 628. 645. 646. 648. 657. 677. 718. 822. Roediger 514. Römer 11. 12. 15. 45. 366. 409. 425. 426. 457. 504. 521 — 592. 619. 636. 671. 676. 728. 786. 837. 849. 850. 853. 854. 856. 868. 869. 877. 900. 902. 909. 910. Römische Reichsvermessung 366. 541. Röth 146. 148. 185. Rohde (Erwin) 51. 261. Romaka Pura 600. Romulus 526. 539. Rose (Valentin) 544. Rosen 716 und häufiger. 727. 802. Rossi (de) 522. — (Giovanni) 537. Rothlauf 215. 216. 217. 218. 219. 222. 236. Rouge (de) 89. Rudio (Ferdinand) 202. 205. 206. Rudolf von Brügge 909. ‚Rudorff 532. Rudpert 888. Rüpa 614. 620. 684. 723. Ruska (Julius) 737. 476. 630. 906. 410. 596. 838. 872. 540 — S. Saba 464. 696. Sachau (Eduard) 757. Sacy (Sylvestre de) 707. 709. Safech 104. Sahib al Schorta 798. Sa’id 804. Salaminische Tafel 133-—134. 319. 440. Salemer Algorithmus 910—911. calivov 299. Sallier 89. Salman 702. Salvianus Julianus 562. Sama gödhanam = dnd 6uolwv Öuwoı« 622. Samarkand 781. 935 Sammelwörter verschieden nach der Art des Gezählten 5. Zaun) umovyaons 508. Sandbestreute Tafel 131. 134. 566. 610. 611. 712. 762. 882. 885. Sandrechnung des Archimed 321—323. 612. 758. Sanskrit 595. 596. 605. Saph 897. Sar = 3600 (sumerisch) 36. 42. Sargon I. 31. 38. 45. Saryukin 31. Sasuchet. 57. Sasyches 57. Satz von den sechs Größen 161. 266. 412. 420—421. 736. 779. 795. Sätze des Menelaus 413—414. 420—421. Savilius 276. 277. 509. Sayce 30. 31. 38. 45. 46. Schachbrettartige Multiplikation s. Netz- multiplikation. Schachspiel 635. 758. Schack-Schackenburg 94. 95. Schaewen (Paul von) 480. Schähruch 781. Schai 723. Schall 667. Schaltjahr 78. 328—329. 409. 540. 573. 775. Schams Addin al Mausili 710. Schamsaldin von Bukhara 508. — von Samarkand 508. Schams ed Daula 756. Schang kao 677. 679. 680. Schapira (Herrmann) 24. Scharaf ed Daula 742. Schasu 57. Schatten = Tangente 738. 748. 789. Schattenmessungen zu Höhebestimmungen 138. 139. 144. 294. 390. 557. 648. 785. 862. Schattenzeiger 50. 145. 535. 536. 676. 677. 738. 748. 858. Schaubach 188. Scheffel als Feldmaß 92. Scheil (F. V.) 28. Scheitellinie 93. 394. 647. Scheitelwinkel 138. Schenkel (Daniel) 34. Schenkl (H.) 203. Schepss 576. 577. Schiaparelli 238. 242. Schiefe Ebene 449. Schlagintweit 39. Schlegel 669. Schmidt (J.) 535. -—- (Max C. P.) 184. 244. — (M.) 346. — (W.) 146. 155. 363. 364. 365. 366. 412. 537. 683. Schnitt des rechtwinkligen Kegels 244. 334. — des spitzwinkligen Kegels 244. 334. 936 Schnitt des stumpfwinkligen Kegels 244. 334. Schnitzler 730. Schöll-Pinder 504. 513. Schöne (H.) 363. 364. 537. oxoıwiov 385. 6yoivog 385. Schraube 326. Schraubenfläche 451. Schraubenlinie 411. 450. 451. Schreibfehler im Codex Arcerianus 556. 860. ‚Schrift, Erfindung derselben 13. Schröder (L. von) 636. 644. Schrumpf 6. Schulz (O.) 463. 466. 478. 482. Schun tehi 667. Schwerpunkt 323. 324. 449. 450. Schwimmende Körper des Archimed 325. Sciotherum. 535. Scriverius 552. Scyllacium 568. Seythianus 457. Sechseck 47—48. 50. 109. 376. 393. 548. 740. Sechseckszahl falsch berechnet 557 —558. 586. 864— 865. Sechs Gleichungsfälle 719. 769. Sechsersystem 10. 32. Sechzig als unbestimmte Vielheit 34—-35. Sechzigstel 31. 420. Secundus von Athen 834. Sedillot 781. 789. 790. Sehet! 656. 744. 878. Sehnentafel 362. 367. 399. 412. 416. 419 —420. 799. Seidel 327. Seilspannung 46. 48. 104—106. 113. 384 —385. 637. 680. Sekunden 416. Seldschük 774. Seldschuken 741. onusia. &r tig nagaßohnis 339. Semes —= Schlägel (ägyptisch) 104. Semiten 20. 56. Semuncia 530. Senkereh, Tafeln von 25-30. 36. 755. Sepher Yezirah 43. 603. Segem —= Vollendung (ägyptisch) 71—73. Segt = Ähnlichmachung (ägyptisch) 99. 139. 145. 425. Serenus von Antinoeia 489—491. Sergius 464. 696. Servatus Lupus 842. Sesostris 92. 102. Seti I. 108. 214. 384. Sexagesimalbrüche 23. 31. 32. 366. 416. 492 —495. 718. 764. 801. 885. 909. 913. Sexagesimalsystem 10. 24. 27. 40. 41. 42. 43. 361. 670. 677. 681. 757. 762. Sexcenti = unendlich viele 532. Sextus Empiriceus 146. 510. 512. 526. 613. 634. Register. Sextus Julius Africanus 438—440. 863. Shadvidham = 6 Rechnungsverfahren 616. Sicel 823. 901. Sieilien 119. 128. 147. Sieiliquus 530. Sickel 831. Siclus 823. Siddhänta 599. 602. 699. Stiddhantaciromani 598. Sieb des Eratosthenes 332—333. 507. Sieben als unbestimmte Vielheit 34. — freie Künste s. artes liberales. Siebeneck im Kreise 307. 376—377. 745, Siebenerprobe 461. 611. 808. Sigebert 876. Signal 382. Stilius Italieus 295. Simon (Max) 60. 94. 96. Simplicius 202. 204. 208. 209. 409. 422. 500. 502. 540. 736. Sinan ibn Alfath 730. — ibn Tabit 749. Sind ibn “Ali 730. Sindhind 602. 697. 698. 699. 712. Sinus 423. 658. 737. 789. 796. 907. — von 225° 659. Sinussatz der ebenen Trigonometrie 779. — der sphärischen Trigonometrie 748. Sinustafeln 423. 659. 746—747. 789. Sinus versus 658. Sipos 892 flgg. Sittl 824. Skandinaven 10. Smith AT. _ Smot = Ausrechnumg (ägyptisch) 68. Smyrna 119. Sodscha ibn Aslam 731. Sokrates 202. 214. 215. 216. 217. 218. 219. Solon 120. 134. 151. Sopater 458. Sophienkirche in Konstantinopel 501. Sophisten 193. 194—195. 203. 218. 256. Soranzo 320. Sosigenes 540. Sosikrates 136. Soss = 60 (sumerisch) 36. 42. Spanische Omaijaden 707. 792—793. Species 473. Spengel (L.) 118. 204. Speusippus 216. 249. 487. Sphärik 156. 293. 411. 412. 447. 745. Sphärische Spirale 451. — Trigonometrie 412 — 414. 420 — 421. 658. 684. 738. 780. 789. 794—796.”, Spirale (Maschine) 326. Spirallinien 195. 297. 306—307. 313. 353. 446. 451. Spiren 196. 242, 356. 380. 412. Spirische Schnitte 242—243. 356. Spitzenfigur 786. Sprenger 738. 739. S. ©. 555. 214. Register. St. Emmeran in Regensburg 836. St. Gallen 851. 886. St. Martin bei Tours 833.840.841.842.843. St. Peter in Salzburg 859. 865. 886. Stadtmüller (Hugo) 462. Stammbrüche 61. 62. 83. 84. 85. 125. 128. 166. 319. 395. 504—505. 526. 645. 718. 755. 764. 887. —, algebraische 470. 768. Stein (Lorenz von) 834. Steindorff (@.) 56. 57. 89. 109. Steinhart (Karl) 195. Steinschneider (Moritz) 45. 703. 704. 705. 731. 735. 738. 748. 761. 793. 794. 797. 8505. 907. 909. Stella 537. Stellungswert der Zahlzeichen 27. 30—31. 126. 127. 128. 606. 607. 608. 609. 616. 710. 785. Stereographische Projektion 423. Stereometrie 93—101. 155.225. 229. 241. 271. 308. 350. 358. 390. 391. 401— 403. 535. 565. 645. 646. 649. 728. 786. 799. Stern (Ludwig) 58. Stern = Winkelkreuz 381. 382. 537. 676. Sternvieleck 177—178. 588—589. 786. Stesichorus 146. 147. Stetigkeitsbegriff 200. 203—204. Stobaeus 35. 153. 159. Stoeber 552. Stoiker 198. 365. oroıgeia 201. 261. — xovınd 308. Stoy 87. 129. 130. 134. 514. 829. Strabon 32. 35. 103. 150.- 151. 215. 238. 411. Studemund 206. 565. Sturm (Ambros) 220. 231. 844. Su schw kieow tschang 674. Subtraktion zur Bildung von Zahlwörtern 11. 525. Subtraktionsverfahren 610. 671. 716. 811. 816. Suchet 57. Suetonius 527. Suidas 36. 41. 50. 146. 237. 327. 441. 442. 491. 495. 496. Sumerier 19. 20. 24. 30. 32. Sun tse 685. Sung-Dynastie 666. 674. 678. 680. Sunya 614. 712. Sürya 599. 712. Süryadasa 600. Nürya Siddhänta 599—600. 609. 636. 657. 658. Susemihl 235. 238. 258. Sutek = Leiter (ägyptisch) 80. Suter (Heinrich) 363. 660. 693. 697. 701. 703. 705. 710. 713. 718..730. 731. 7383. 736. 738. 739. 742. 748. 749. 750. 752. 753. 759. 761—763. 774. 775. 778—781. 784. 789. 790. 792—794. 805. 810. 842. 856. 912. 913. 937 Swan fa töng tsang 670. Swan pän 669. 670. 671. 675. Sylvester II. = @Gerbert 858. Symmachus 573. 574. 578. Symbolische Positionsarithmetik 608. cvvayoyrı 444. Synesius 495. Synkellos 36. Synode von Mousson 858. Synthesis 220—221. 230. Syrakus 215. 295. 296. 308. Syrer 124—125. Syrianus 497. 607 — A Tabi 753. Tabit ibn Kurrah 167. 703—704. 734 — 736. 741. 749. 750. 787. 908. Taecitus 523. Tadmor 123. Tae 684 —685. Tageseinteilung 39. Takarrur 806. 807. Talchis = Auszug (arabisch) 806. Talent 132. 133. Talmud 48. 173. Talus 163. 352. Tamerlan 780. 821. Tangente (trigonometrische) 738. 748. 789. Tangentenproblem 265. 307. 749. Tannery (Paul) 155. 158. 165. 198. 200. 202. 222. 249. 257. 293. 299. 319. 346. 372. 411. 414. 458. 461. 465. 464. 466 und häufiger. 490. 496. 504. 507. 510. 514. 552. 555. 559. 581. 857. 862. 872 und häufiger. 873. 875. 876. 912. Tao 665. Tara 812. Taraha 812. Tarh 812. Tarık 706. Tarquinius Priscus 526. Ta schi 666. Tatto 842. Ta yen 685. 689. Taylor 524. Tazy 666. Tehao kun hiang 678. Teheow-Dynastie 664. 678. 682. Teheou = Kreis (chinesisch) 677. 679. Techeou kong 664. 670. 677. 678. 681. — Iy 664. 665. 666. 676. 677. 678. Teheou pei 677—679. 681. 682. Tehin khang tehing 666. Tehin tong 666. Tehintsoe 678. Tehu hi 666. Teilerfremde Zahlen 267. 430. 628. 629. Teilung der Figuren Euklids 287 —288, 380. rehsıoı 168. 938 Temenias 893 flge. Temmnonides 239. Templum 532.533. 534. 540. Tennulius 158 und häufiger. 459. Tepro = Mund (ägyptisch) 93. Terentianus Maurus 542. Terminus 361. 764. Terguem (Olry) 333. Tessareskoidekasiten 572. Teta 56. terayusvog xarnyusvaı 331. 554. rergayavisovoa 195. reroaywvogs 207. Tetraden des Apollonius 346—347. 690. 766. Tetraktys 42. Teuffel 543. Thales von Meilet 136—147. 150. 171. 189. 390. 557. Thang-Dynastie 678. 685. Theaetet von Athen 194. 235. 236—237. 245. 248. 260. 275. 276. 348. Themistios 137. 141. 203. Then wäng 664. Theodolit 382. 750. 862. Theodor, Bischof von Canterbury 827. — Tschabuchen von Klazomenae 514. Theodorich, König der Ostgoten 568. 569. 573. 574. 575. — von Chartres 898. Theodorus von Kyrene 182. 201. 213. 215. 226. | — Meliteniota 415. 509. — von Samos 163. Theodosius I. 441. 491. 495. 821. — von Tripolis 293. 411. 412. 447. 448, 704. 908. 911. Theodulf von Mainz 834. Theon von Alexandria 128. 277—278. 318. 357. 362. 416. 421. 433. 441. 463. 464. 487. 491— 495. 499. 512. 589. 764. — von Smyrna 32. 33. 118. 154. 155. 159. 160. 164. 168. 169. 185. 232. 257. 317. 331. 428. 433—438. 454. 460. 475. 491. 587. 640. 716. 755. 396. Theophanes 709. Theophania 854. Theophrastus von Lesbos 118. 193. 259. Theorem 275. Thevenot 369. 370. Theydius von Magnesia 247. 248. Thibaut 39. 600. 636—641. 643. Thretmar, Bischof von Merseburg 858. Thorbecke (August) 568. 569. — (Heinrich) 693. Thot 77. 86. Thrasyllus von Mende 428. 433. Thukydides 172. 214. Thurot 325. Register. Thymaridas 158—159. 286. 455. 462, 470. 624. »vocog — Schild (als Namen der Ellipse) 292. Tiberius 261. 428. 433. 590. Tibet 607. Tille (Armin) 714. Tim = Seil (sumerisch) 46. 645. Timaeus von Lokri 154. 174. 179. 215. Timür = Tamerlan 780. Tittel (Karl) 363. 406. Titulus 881. Titurel 714. Titus 551. Tma = 10000 (altslavisch) 24. runuera 416. Togrulbeg 774. Toledo 796. tonos 229. Torelli 296. 346, Tosorthros 56. Trajan 457. 461. 542. 551. 552. 553. 561. 564. 596. Treutlein (Peter) 885. 902. roryoroue yavlag Dreiteilung des Winkels 197. Trigonometrie 99. 362. 399. 416—421. 602. 657—660. 684. 738. 746—748. 779—-780. 794—796. Trinitätsbegriff 430. Trisektion = Dreiteilung des Winkels 197. reıondorog 326. Trivium 578. 823. Trugschlüsse Euklids 278. Tsang. kie 664. Tschang tsang 682. Tschu schi kih 687. Tsin- Dynastie 678. Tsin kiu tschau 674. 682. 684. 687. Tsen sche huäng ty, der Bücherverbrenner 665. 678. Tsing- Dynastie 667. Tsw tschung tsche 683. Türken 12. Tu fang schi 676. - Tu kuei 676. Tulyau 622. Tunnu == Erhebung (ägyptisch) 80. Turamaya 599. Turanier 19. 20. Tzetzes 216. 295. 296. 326. Tziphra 511. UV. Uchatebt = Suchen der Fußsohle (ägyp- tisch) 99. 205. Ulpian 561. Ulüg Beg 781. 788. — Begs Tafelwerk 781. Umbra 748. Umkehrungsrechnung 617. 732. . Unbestimmte Vielheit 33—35. Register. - Undezimalsystem 11. Unendlich groß 23—24. 199. 204. 252. 321. 322. 532. 617. — klein 199. 204. 252. 321. Unger 436. Universität zu Athen 496. 497. 500. 503. — von Paris 843. Unmöglichkeit rationaler Lösung von x’ + y’—= 2° 752. 785. Unreine na ich Gleichungen in 3 Fällen behandelt 285. 473. 625. 719. 723. 803. Unze 530. 830. 884. 896. Ursprung einzelner Wissenszweige zu er- mitteln gesucht 117. U schi 688. Usener 202. 442. 508. 568. 573. 574. 577. 582. Usertesen II. 59. 74. Usey 99. Utkramajiä 657. 658. Überragung 389. Überschießende Zahlen 168. 430. 507. 824. Übersetzungen aus dem Arabischen 797. Übersichten: Babylonische Mathematik 45. 50—51, Agyptische Mathematik 112—113, Entwicklung der griechischen Mathematik 117 —119, Thales 147, Pythagoräische Mathematik 186—188, Mathematik der Akademie 250—251, Mathematik der Epigonenzeit 363. 425 —426, Heron 406, Pappus und Dio- phant 487—488, Römische Blütezeit 560—561, Verhältnis der griechischen zur indischen Mathematik 601—602, Ostarabische Mathematik 786 — 787, Westarabische Mathematik 816—817, Unterscheidungsmerkmale zwischen Aba- eisten und Algorithmikern 909—910, Zustand der Wissenschaft um 1200 911. V. Vacca (Giovanni) 680. Vadana 647. Vaityas 595. Vajrabhyasa 611. Valerius Maximus 45. 261. 295. Valkenarius 212. Van Pesch s. Pesch. Varäahamihira 600. Varga = Reihe, Quadrat (indisch) 616.723. Variation 742. Varro 526. 532. 542—543. 549. 566. 570. Vasengemälde 41. 132. 178. Venturi 363. 382. Veränderliche 281. 282. 284. 289. 290. Verbiest 667. 682. Verdoppeln 85. 319. 717. 761. 764. Vergilius 565. Verglichen abgenommene Maße 28. 111. 396. 397. 404. 489. 586. 591. 646. 728. 8337. 939 Verhältnisschnitt des Apollonius 344. 448. 452. Vermeidung von Zahlzeichen 708. 743. 763. 765. Versfüße 257. 619. Vertex 555. Vertranıus Maurus 543. Vespasian 551. Vestaheiligtum kein Templum 533. Vettius Vulens 348. 425. Via qwintana 534. Vietorinus 531. 832. Vietorius von Aquitanien 531. 566. 572. 823. 831. 832. 845. 883. 884. Vielecke, einbeschriebene 202. 203. 273. 358. 376—378. 387. 389. 391. 446. 449. —, umschriebene 203. 358. — mit einspringenden Winkeln 357. Vieleckszahlen s. Polygonalzahlen. Vielflächner, halbregelmäßige 308. —, regelmäßige 153. 174—176. 225. 237. 245. 260. 274. 307. 344. 358. 359. 380. 446. 447. 745. Viereck dem Dreieck vorausgehend 111. 389. 391. 395. 506. 646. 680. Vierecke von 5 Arten 651. 727. Vierecksformel des Brahmagupta 646. 649 —652. Vierzig als unbestimmte Vielheit 34. 43. Vigesimalsystem 8. 9. 123. Vijaganita 598. 654. Vincent 89. 131. 312. 363. 382. 438. 440. 506. 894. Vipsanius 8. Agrippa. Virgilius von Toulouse 3, Vishnuw 619. Vitalian 827. Vitruwvius Pollio 50. 152. 174. 180. 190. 311. 326. 330. 365. 367. 536. 543— 547. 599. 601. 637. 740. 893. — Rufus 552. 553. 556—560. Vogt (Heinrich) 636. Vokale durch Konsonanten —803. 838. Volkmann 258. Vollkommene Zahlen 87. 167—168. 225. 268. 430. 434. 460. 507. 627. 735. 739. 784. 798. 824. 835. Volusius Maecianus 526. Vorbedeutungswissenschaft 38. 45. 46. 457. 634. 735. 741. 786. Vorderasiatische Entwicklung der Arith- metik 456. Vossius 184. 360. 463. 543. Vyäghramuka 699. ersetzt 802 W. Wachsmuth 498. 502. Waeschke 511. Wafk 741. Wagner 505. Wagschalenmethode 732. 809—810. 940 Wahlsätze des Archimed 297. 298—300. Wahrscheinliche Lebensdauer 561. Walafried Strabo 842. Walachische Bauernregel 528. Wallis (John) 780. Walther von Speier 851—853. 886. Wan Iy 688. Wang myan chi 666. — tchao yuw 666. Wappler 886. Wasserwage 382. 676. Wattenbach 832. 840. 851. 888. 906. 909. Wazo, Bischof von Lüttich 873. 877. Weber (Albrecht) 39. 595. 600. 609. 619. 637. — (Heinrich) 465. Wegmesser 544. Wegschaffung des mittleren Grliedes 625. Weigand 862. Weil (Gustav) 693. 695. 696. 701. 704. 706. 707. 741. 765. 774. 778. 780. 794. Weißenborn (Herrmann) 293. 576. 579. 582. 587. 590. 650. 857. 906. Welcker (F. @.) 132. Welid I. 701. 706. 709. Welschen 10. Wenrich 354. 697. 702. 703. 704. Werner 825. 8283. 831. 834. 835. 841. 843. 847. 853. 855. 858. 859. 873. 889. — von Straßburg 889. Wertheim (@.) 372. 466 und häufiger. Westaraber 604. 706—707. 711. 792 — 817. 822. Westermann 169. 502. Wezir = Träger (arabisch) 696. Whitney 39. 599. Wiedemann (Eilhard) 704. Wilhelm von Malmesbury 848—849. 851. — von Straßburg 889. Wilkins 45. Wilkinson 90. 105. 108. Wilson 457. Windisch 595. Winkel, dessen Name in verschiedenen Sprachen 15. 16. . — , ähnlicher 138. 140. —, äußerer und innerer 861. 874—875. 876. 878. —, einspringender 46. —, hornförmiger 192. 264. Winkelsumme des Dreiecks 141 — 144. 171 —172. 252. 262. 506. 873. 876. Winterberg 876. Wisowa 509. Wissenschaftliche Mode s. Mode in der Wissenschaft. Woche 34. 38. Woepcke 167. 209. 287. 348. 363. 446. 457. 604. 608. 613. 657. 698. 701. 709 — 712. 730. 733. 736. 737. 742—746. 749— 753. 756. 761. 762. 775. 781. 789. 809. 810. 811. 816. 891. 893. 894. 896. Register. Woisin 128. 134. Wolf (Christian von) 509. — (Rudolf) 137. 321. 360. 361. 362. 407. 409. 421. 447. 742. 775. Wolverad 888. Würfel, etruskische 524. Würfelverdoppelung 202. 211—213. 226 — 234. 293.309. 340. 449. 453. 510. 638. — des Archytas von Tarent 228— 229. 330, des Diokles 354, des Eratosthenes 330—331. 353. 445, des Eudoxus 231. 243. 330, des Heron 369—370. 385. 445, des Hippokrates von Chios 212 — 213, des Menaechmus 229 —231. 330, des Nikomedes 351 —352. 445, des Pappus 445, des Platon 227. 353. Wüstenfeld 697. 699. 703. 704. 713. 715. 722. 730. 739. 761. 789. 793.: 907. Wurm 181. 2832. 779. Wurzelzeichen 814—815. Wyttenbach 175. X. Xenokrates 118. 216. 249—250. 256. 320. Xenophon 216. 242. Xerxes 35. Xylander 510. Y hy wy 668. Yavana 600. — Pura 600. Yavanegvardcarya 600. 638. Yävattävat 620. 684. 723. Yaxartes 19. Yih hing 685. York 831. 832—833. 8340. dmagkıg 471. omevavria 239. Ömrsorelsıor 168. onroriarwoıg 146. Yrinius = Heron 705. Yron 366. Yu 678. 679. Yuen 684—685. Yuen- Dynastie 666. Yukatan 9. Yun 10 ta tien 669. Yung fang 678. 2. Zählen definiert 4. Zahlenbegriff der Griechen 170. 187—188. 474—475. 628. Zahlenkampf 580. 852. 886. Zahlensymbolik 44. 157. 167. 433, 459. 567. 569. 674. 675. 680. 835. 840. 845. 895 — 896. Zahlensysteme 7—11. 22. 32. 460. 675. Register. Zahlentheoretische Aufgaben in geometrv- scher Einkleidung 391. 454. 484. 485. 513. 631. 724. — 3. Rationale rechtwinklige Dreiecke. Zahlwörter 4—13. 21. 82. 120. 123. 525. 584. 604. 607. 608. 612. 672. 673. 674. 708. 739. 766. 824. 892—897. 898. 900. Zahlzeichen 12. 14. 21—22. 44. 82—85. 120—129. 191. 511. 522—525. 528. 530. 584. 592. 602. 603. 604. 606. 607. 672. 674. 709. 710. 711—712. Zaid ibn Rifa‘a 738. 739. _ Zangemeister 524. 529. Zeichnungen mit geometrischen Anklängen 46. 47. 108. 109. 401. 682. Zeising 179. Zeller (Eduard) 51. 136. 148. 149. 153. 157. 159. 160. 167. 174. 176. 188. 191. 194. 198. 251. 456. 458. 459. 496. 497. Zenis 893 flgg. Zenodorus 356—358. 363. 446—447. 550. 706. 740. Zenodotus 356. —, Bibliotheksvorsteher in Alexandria 329. Zenon von Elea 198—200. 254. 409. 410. — von Sidon 194. 941 Zerlegung von Flächen durch Hifslinien 97. 110. 385. 389. 395. 646. Zerstäubung = Kuttaka. Zeuthen 185. 285. 291. 340. 345. 423. 636. Br Zeuxippus 297. 320. Zimmern (Heinrich) 37. Zins 561. 619. Zirkel (geometrisches Hilfsmittel) 92.352. — 461. — und Lineal, Konstruktionen mittels derselben 197. 234. 270. 316. 474. Zirkulatur des Quadrates 641. 642. Zöppritz 862. Zonaras 296. Zuckermann 173. Zulukaffern 7. Zusammengesetztes Verhältnis 161. 266. 413. Zusammengesetzte Zahlen 267. 430. 580. 583. 766. Zyklen 572. Zyklische Anordnung 515. 516. — Methode 632—633. — Quadratzahl 202. Zylinderschnitt 253. 489. 490—491. et = 2% FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT F FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Fi FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT FOLDOUT Ft 2 en u ee ENTE ve u x RETURN 4stronomy Mathematics /Statistics/Computer Science Library TO=m=$ 100 Evans Hall 642-338] LOAN PERIOD ] 7 DAYS 2 3 A 6 ALL BOOKS MAY BE RECALLED AFTER 7 DAYS DUE AS STAMPED BELOW Subject torrecali after — rn 8 mar UNIVERSITY OF CALIFORNIA, BERKELEY FORM NO. DD3, 5m, 3/80 BERKELEY, CA 94720 ®s anli in >! ar ‚907 v. | MATH/STAT. u uns ichart 2 ut De ) BE E A & ne EEE TET ER i E Bee a er a nn Et EEE et 3 783 n Be N BEA Te A